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Der rote Komiker

Sein Name war Lux. Man sollte diesen Namen mit lateinischen Lettern schreiben: LUX – das Licht. Er trug diesen Namen mit Recht. Denn er leuchtete wie der Tag. Nein, wie die Morgenröte! So feuerfarben!

Wahrhaftig, er hatte ein brandrotes Fell. Und war ein Dackel.

Ein junger.

Das blieb er auch. Alt ist er nicht geworden.

Sein Schicksal war ihm vorherbestimmt. Er hat es erfüllt. Nach zwei vergeblichen Versuchen gelang es ihm. Und das kam so, weil er auf die Welt eine Marotte mitgebracht hatte, keinem Ding des Lebens aus dem Wege zu gehen. An einem Menschen nennt man es Mut und Unerschrockenheit – besonders, wenn dieser Mensch das Glück hat, daß die harten Dinge des Lebens ihm aus dem Wege gehen. Doch an dem kleinen Luxerl mußte man dieses wunderliche Beharrungsvermögen als Dummheit bezeichnen. Unleugbar war es auch eine.

Als wir ihn bekamen, war er noch kaum ein Vierteljährchen alt. Und so klein! Meine hohle Hand diente ihm häufig als bequemer Fauteuil. Aber ich hütete mich stets, dieses Kunststück übermäßig lange auszudehnen. Und da wäre nun gleich eine passende Gelegenheit, um zu registrieren, daß er sich die Stubenreinheit niemals völlig aneignete. Nicht aus angeborener Liebe zum Unsauberen. Er wurde nur leider für dieses Erziehungsresultat nicht alt genug. Nun ist er bereits seit fünfundzwanzig Jahren tot, und man könnte ihn vergessen haben, ohne den Vorwurf der Pietätlosigkeit befürchten zu müssen. Doch immer noch, so oft ich den alten Smyrnateppich meiner Arbeitsstube sinnend betrachte, muß ich an den Luxerl denken. Das hat seine Gründe. Sie sind gelblich.

Diese Farbe erinnert mich wieder an sein Fell. In frühester Jugend war es zart und lind wie Samt. Drum streichelte man den Luxerl so gern. Er gewann die Menschen nicht etwa durch Seele oder tiefere Geistesgaben, sondern durch den Flaum seiner Epidermis. In diesem Punkte hatte er etwas Weibliches, obwohl er ganz ausgesprochen ein Männchen war. Er verführte und wirkte durch den Zauber seiner Haut. So etwas wie Seele hab ich nie an ihm entdeckt. Und bestechende Geistesgaben besaß er wahrhaftig nicht. Oder es müßte sein, daß sie noch nicht entwickelt waren, als er in der Blüte seiner Jugend die Augen schloß.

Er wurde im Februar geboren. Seine Wiege, die ein Korb war, stand in Wien. Kurz vor Weihnachten begruben wir ihn. Wir? Nein. Ich weiß nicht, wer es tat.

Es gibt Zoologen, welche behaupten, daß die Minderwertigkeit eines Sinnes bei Tieren die außergewöhnliche Entwicklung eines anderen Sinnes bedinge. Tiere mit schlechten Augen haben eine vorzügliche Nase, Tiere mit mangelhaftem Witterungsvermögen sehen ungemein scharf. Etwas Ähnliches war bei Luxerl auf intellektuellem Gebiete zu beobachten. Er war wirklich kein Genie, war wesentlich dümmer, als gemeinhin die jungen Hunde zu sein pflegen. Dafür besaß er aber einen frühreifen, außerordentlich entwickelten, unbewußten Humor. Man liebt zu sagen, Humor wäre eine Quintessenz des sublimsten Verstandes. Vielleicht ist das bei den Menschen so. Bei den Dackeln stimmt es nicht. Luxerl bewies es.

Wenn er in seiner brandroten Kleinheit so dastand, mit den dummglotzenden Augen, mit den hängenden Ohrlappen, mit den verdrehten Beinchen, die X- und O-förmig zugleich waren – dann brauchte er an dem starr gestreckten Schwänzlein nur die Spitze ein bißchen krumm zu biegen, und man konnte Tränen lachen.

In Wahrheit ist nichts von ihm zu erzählen. Aber dieses Nichts war immer so komisch – so komisch, daß sich über den Luxerl die Redensart zu bilden begann: ›Das ist doch ein ganz unglaubliches Vieh!‹

Neben seinem Humor besaß er noch eine zweite rühmenswerte Eigenschaft: eine Gutmütigkeit, die keine Grenzen kannte. Ob man Ball mit ihm spielte, ob man ihn auf dem beschädigten Smyrnateppich als Rollwalze in Aktion brachte, ob ihn unser kleines, blondes Mädel an einem Ohrlappen, an einer harmonikaförmigen Hautfalte, am Schwanz oder an einem der vier ungleichen Beinchen in die Höhe hob und herumschleppte – alles ließ er sich gefallen, ohne zu mucksen. Ein Denker behauptete, Luxerl wäre so dumm, daß er, obwohl er täglich alles Eßbare kurz und klein zernagte, seine Zähne noch immer nicht entdeckt hätte.

Im Juni, als Luxerl vier Monate alt war, übersiedelten wir mit ihm zur Sommerfrische an den Königssee. Und wie das kleine rote Kerlchen da die großen grünen Berge anbellte – das war eines von den sieghaften Lustspielen des Lebens.

Am Königssee gab's immer vom Morgen bis zum Abend einen lebhaften Wagenverkehr. Und da entwickelte sich Luxerl zu einem chronischen Kommunikationshindernis. Er sperrte die Einfahrt zur Schiffslände, stellte sich, so oft ein Wagen heranrollte, mitten auf die Straße hin, blieb da unerschrocken stehen und bellte sehr heftig. Nach jeder Bellstrophe schüttelte er energisch die Ohren, als wären diese hohen Zanklaute seinem eigenen Trommelfell nicht angenehm. Die Pferde waren immer klüger als der Luxerl und blieben barmherzig vor dem brandroten Kläffer stehen. Der Rosselenker schmunzelte, die Leute im Wagen standen auf und lachten, und dann umfuhr die große Kutsche in vorsichtigem Bogen den Luxerl, der das Feld behauptete, sich nur umdrehte und weiter zankte.

Beim nächsten Wagen, der gefahren kam, war's wieder so. Alle Lohnkutscher von Salzburg, Reichenhall und Berchtesgaden wurden mit dem kleinen, roten Komiker vertraut, huldigten seiner Unerschrockenheit und behandelten ihn nach dem berühmten Rezept vom vergeblichen Kampf der Götter.

Einmal aber kam einer, der keinen Sinn für Humor hatte. Ein Metzger von Unterstein. Und ehe Luxerl nach der ersten Bellprobe die Ohren schütteln konnte, waren schon die zwei Räder über ihn weggegangen. Ein Glück, daß der humorlose Metzger nur ein leichtes Berner Wägelchen hatte, dem auch die zarten Knochen eines erst halbjährigen Dackels zu widerstehen vermochten! Luxerl überkollerte sich hinter dem Wagen noch ein paarmal, rannte hurtig und mit eingekniffenem Schwänzlein davon, schüttelte den weißen Staub aus dem roten Fell, ließ sich auf seine Schattenseite nieder und guckte stumm, neugierig und verwundert dieser unbegreiflichen Sache nach, die da über sein junges Leben hinweggerattert war.

Trotz der sorgfältigsten Untersuchung vermochte ich an Luxerl nicht die geringste Verletzung zu entdecken. Eine halbe Stunde später hatte er den sonderbaren Schreck bereits vergessen, sperrte wieder die Straße, bellte, schüttelte die Ohren und verursachte jedem Wagen einen kleinen Aufenthalt.

Das Schicksal, das dem Luxerl seit Ewigkeiten vorbestimmt war, hatte mit dem Metzger von Unterstein eine ernste Warnung geschickt.

Luxerl verstand sie nicht.

Und da war's an dem Tag, an welchem Prinz Luitpold nach Antritt der Regentschaft seinen Einzug in Berchtesgaden hielt. An das Volksfest, das da gefeiert wurde, sollte sich eine feenhafte Illumination mit Bergfeuern anschließen.

Es ist nicht zu verkennen, daß das Schicksal, wenn es sich auch als unerbittlich erwies, die schwere Lebenskatastrophe dem Luxerl doch wenigstens mit einem Zug ins Große inszenierte.

Bei sinkendem Nachmittage wanderte ich mit meiner Frau von Königssee nach Berchtesgaden. Immer hörte man Böllerschüsse und ihr rollendes Echo, immer vernahmen wir die verwehten Klänge einer Blechmusik, sehr deutlich den Ton der großen Trommel, der wie ein aufgeregt pumpender Herzschlag war.

Luxerl zappelte nach seiner Gewohnheit auf der Straße weit voraus. Zuweilen blieb er am Wiesenrande stehen, besah sich das wundervolle Panorama der Berge, bellte ein bißchen und trottete weiter.

Ich war in Erinnerungen versunken. Bei diesem rollenden Echo der Freudenschüsse dachte ich an eine seichte Stelle im See von Starnberg. Und sah zwei große, schöne, vom Wahn umschleierte Augen. Und ein kleines Erlebnis fiel mir ein von jenem Tag, an dem die Kunde dieses tragischen Fürstentodes nach Königssee gekommen war. Damals am Nachmittage war ich zu Berg gestiegen. Es hatte mich hinaufgetrieben, hoch hinauf über die Täler der Menschen. Ein Gewitter zwang mich, Unterstand in einer Sennhütte zu suchen. Da waren noch andere, die der Regen hereingepeitscht hatte unter das steinbeschwerte Schindeldach: ein Jagdgehilf, ein paar Holzknechte, die Sennerin, der Hüterbub und ein wohlhabender Bauer aus der Ramsau, der Nachschau nach seinen Kalben gehalten hatte. Die Leute wußten noch nichts von dem Grauenvollen, das am Starnberger See geschehen war. Von ihm erfuhren sie's. Lange schwiegen sie, weil sie vor Schreck und Kummer nicht reden konnten. Das Volk der Berge liebte diesen schönen König. Und dann gab's ein aufgeregtes Reden rings um das flackernde Herdfeuer. Einer der Holzknechte schwatzte von den vielen Schulden, die der König nimmer hätte zahlen können. Und der schwere Bauer aus der Ramsau – ich werde seine Stimme nie vergessen – sagte bekümmert: »Jesus, Jesus, warum hat er's denn mir net eingstanden! I hätt eahm doch geben, was er braucht hätt! Gern aa no!«

Damals wünschte ich, die Dinge der Welt so sehen zu können, wie dieser Bauer sie sah – ohne Maßstab!

Aus solchen Erinnerungen fuhr ich auf, als ich plötzlich das wohlbekannte Bellkommando des kleinen Komikers hörte: »Wer da? Halt!«

Unerschrocken stand Luxerl inmitten der Straße und ließ den Wagen, der da gefahren kam, an sich herankommen. Schlief der Kutscher? Waren die Pferde durch die Böllerschüsse und ihr Echo nervös gemacht?

In böser Ahnung fing ich zu rennen an und brüllte: »Luxerl! Luxerl! Ob du hergehst!«

Er ging nicht her. Das ist bei den Dackeln eine erbliche Belastung.

Und bevor ich den Wagen erreichen konnte, war der Unerschrockene unter klappernden Pferdehufen und blitzenden Rädern verschwunden.

Meine Frau tat einen gellenden Schrei. Ich beschimpfte in Zorn den Kutscher, der mit der Peitsche auf die Gäule losschlug, um rasch vom Fleck zu kommen.

Ein schwerer, sehr schwerer Landauer war's. Und die fünfe, die im Wagen saßen, schienen aus fruchtbarer Gegend zu stammen. Mit neun Zentnern war ihr Gewicht nicht überschätzt.

Als Luxerl hinter dem Wagen aus der verdampften Staubwolke heraustauchte, ging er langsam und ernst auf den Straßengraben zu und legte sich nieder. Die Mitte der Straße schien ihm nicht mehr zu gefallen. Das rote Zünglein lechzte, und die einfältigen Augen guckten traurig ins beschädigte Leben.

Meine Frau weinte, während ich das Hundl prüfend auf seine vier sinnwidrigen Beinchen stellte. Luxerl legte sich gleich wieder hin. Eine Wunde war nicht zu finden. Doch der Brustkorb hatte eine vertiefte Stelle, die mürb und schlottrig war. Drei Rippenbrüche.

Ich trug den Luxerl zu einem nahen Bauernhof, hielt ihn unter den Brunnenstrahl, wusch ihn im Trog, umwickelte ihn mit meinem Lodenmantel – und dann fingen meine Frau und ich zu laufen an. Luxerls Augen träumten an meiner Brust sehr weltschmerzlich aus einer Falte des Mantels heraus.

Atemlos erreichten wir bei Anbruch der Nacht den festlichen Trubel, der unter dem Glanz der aufbrennenden Illumination den Marktplatz von Berchtesgaden füllte. Bunte Trachten, schmucke Forstmannsuniformen, die schwarzen Stollenkleider und Federhüte der Salzknappen – und überall Musik, fröhliches Gedränge, übermütige Heiterkeit. Und rings in der dämmrigen Ferne leuchteten große, prachtvolle Sterne auf, als wären sie vom reinen Himmel auf die Gipfel der Erde gefallen – die Bergfeuer.

In mir war alle Freude an diesem Glanz zunichte geworden. Mit vorgebogenem Arm den leidenden Luxerl schützend, bahnte ich für uns einen Weg durch dieses Gewühl und fragte nach einem Tierarzt. Zu Berchtesgaden gab es keinen. Da waren Vieh und Menschen so gesund, daß sie ärztlicher Hilfe nicht bedurften.

Endlich, im Gasthause zur Post, erfuhr ich, daß eine halbe Stunde von Berchtesgaden entfernt, gegen Salzburg hin, ein altes Weiblein wohne, das sich auf die Heilung blessierter Tiere verstünde. Ich wollte gleich zu dieser weisen Frau, kannte aber den Weg nicht und hätt mich im Dunkel der Nacht sehr übel verlaufen können. Doch niemand wollte mich führen, kein Wagen wollte fahren. Ein Kutscher sagte: »Wann's Tag is, fahr i um fünf Markln aussi, bei der Nacht net um hundert.«

Diese weise Frau hieß die ›Freimännin‹ und war die Enkelin des letzten fürstpröpstlichen Henkers von Berchtesgaden. Alle Nachkommen dieses letzten Freimanns waren gestorben oder ausgewandert; nur diese Enkelin war noch übrig und hauste einsam auf dem ehemaligen Schindanger, durch den Aberglauben vom Leben der übrigen Menschen abgezäunt, von allen Leuten scheu gemieden, im Ruf einer ›Solchenen‹, vor der man sich hüten muß.

Da war nichts zu wollen. Wir mußten den geduldigen, klaglosen Luxerl auf den Morgen vertrösten und verbrachten die Nacht damit, dem vor Fieber scheuernden Tierchen kalte Umschläge zu machen. Luxerl blieb auch jetzt noch immer komisch. Wenn er zwischen dem Wechsel der Umschläge auf dem Rücken lag, schnitt er so drollige Grimassen, machte mit den aufwärts gestreckten Beinchen so unwahrscheinliche Zuckbewegungen und knickte das leisbewegte Schwänzlein zu so wunderlichen geometrischen Figuren, daß wir bei aller Sorge um das kleine Kerlchen immer wieder lachen mußten.

Als der Morgen graute, saß ich im Einspänner mit dem Luxerl auf meinem Schoß.

Nach halbstündiger Fahrt hielt der Wagen auf der Straße, neben einem von Erlenzeilen und Stauden bewachsenen Bachtal. Der Kutscher deutete mit der Peitsche über die Wiesen hinunter. »Da drunt steht 's Freimannshäusl. Einifoahrn tu i net.«

Mit dem Luxerl auf den Armen lief ich zum Bach hinunter, fand eine kleine morsche Brücke, einen mit Gras bewachsenen Weg, einen mannshohen Plankenzaun, über den man nicht hinübersehen konnte – und durch ein Pförtlein, das in alten, schwergeschmiedeten Angeln knarrte, kam ich zu einem hübsch mit rötlichem Sand bestreuten Pfad. Eine gemähte Wiese, ein kleiner, braun verwitterter Holzstall, der nach Ziegen roch, ein Gemüsegarten mit vielen Blumen – und unter Obstbäumen, deren Aste sich vom Gewicht der Früchte zu biegen begannen, stand das winzige Haus, das, nach der Verschränkung des Gebälks zu schließen, aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts stammen mußte. Der Platz vor dem Haus war sorgsam gepflegt. Überall Blumen. Und ein Immenstand mit schwärmenden Bienen.

Ich öffnete die Haustür, sah einen kleinen, mit allerlei Gerümpel vollgepfropften Vorraum, sah die offene Tür eines engen Stübchens und einen Winkel, der als Küche wunderlich eingerichtet war.

Beim Herd, auf dem ein Feuerchen von dürrem Reisig brannte, stand die Freimannsenkelin, ein gebeugtes, etwas buckliges Weiblein, klein, sehr bunt gekleidet, nicht altmodisch, aber auch nicht so, wie die Leute zu Berchtesgaden sich trugen.

Eine Vision von zweihändigen Schwertern, von Ketten und Daumschrauben, von Strickschlingen, Blutgeruch und verzerrten Gesichtern huschte mir durch das Gehirn.

Die Freimännin kam schnell auf mich zu, als möchte sie mich über die Hausschwelle zurückdrängen. Sie mußte schon über Fünfzig sein, war aber noch nicht grau, sondern hatte tiefschwarzes Haar, das wuschelig herumhing um das derbknochige, runzelreiche Altjungferngesicht. In den grauen, mißtrauischen Augen war die müde Klugheit eines einsamen Lebens, und der breite, häßliche Mund schien versteinert zu einem spöttischen Lächeln. Diese Gemiedene brauchte nicht zu reden. Auch ihr Schweigen erzählte. Ich hörte eine Geschichte von Dingen, die man schwer erträgt.

Ohne eine Frage zu stellen, nahm sie den Luxerl von meinen Armen, und neben der Haustür, die sie zugezogen hatte, setzte sie sich mit ihm auf eine sonnige Bank hin. Geschickt und vorsichtig begann sie den Patienten zu untersuchen. Ihre Finger berührten ihn so zart, wie eine Mutter das leidende Kindchen behandelt, das sie liebt. Luxerl, geduldig auf dem Rücken liegend, mit schlappen Beinchen, betrachtete aufmerksam das Gesicht des alten Weibleins und schnupperte gegen den roten Brustlatz hin.

Nach einer Weile sagte die Freimännin mit einer harten Stimme: »Nach drei Wochen kann man 's Hundl wieder abholen.«

In Freude fragte ich: »Glauben Sie, das Hundl wird wieder?«

Sie nickte, nahm den Luxerl achtsam in ihre Schürze und verschwand durch die Haustür. Drinnen klirrte ein großer Riegel.

Ich blieb noch stehen und besah mir den stillen Platz. Zwanzig Jahre später sind mir die Gedanken dieser fünf beschaulichen Minuten zu Bildern für den ›Mann im Salz‹ geworden. –

Meine Frau und ich und unser kleines Mädel, wir konnten den Ablauf der drei Kurwochen kaum erwarten.

Einen Tag, bevor die festgesetzte Frist zu Ende ging –, an einem wundervoll milden Vormittag im September –, fuhr ich zur Freimännin hinaus. Das Laub der Ulmen und Ahornbäume begann sich schon gelblich zu tönen, die Farbe der Berge war wie Samt, die höchsten Gipfel waren zart beschneit, glitzernde Fäden flogen in der Luft, und der Himmel hatte ein Blau von geheimnisvoller Tiefe.

Wieder blieb der Einspänner auf der Straße stehen und wollte nicht ›einifoahrn‹.

Als ich zu dem winzigen Häuschen kam, sah ich die Freimännin im Schatten eines welkenden Apfelbaumes sitzen, der auf einem kleinen Hügel stand. In ihrem Schoße hatte sie den Luxerl liegen, von dessen Leib sie langsam einen schmalen, langen Leinwandstreifen herunterwickelte.

In meiner Freude mußte ich schreien: »Luxerl! Luxerl!« Beim Klang meiner Stimme fing der kleine Kerl zu winseln und zu zappeln an, entwand sich den zwei alten Händen, die ihn halten wollten, machte einen Sprung, überschlug sich, kollerte über den grünen Hügel herunter, wickelte sich dabei selber aus der langen Leinwandbinde heraus und kam unter schrillem Gebell und schwänzelnd auf mich zugesprungen, mit einem schwärzlichen Pechstreif um den Leib herum.

Wahrhaftig, der kleine Kerl war völlig geheilt! Und ich mußte gleich wieder lachen über ihn.

Gern hätte ich über diese Wunderkur und auch sonst noch über mancherlei Dinge mit der Freimännin geschwatzt. Doch das Weiblein schien sich in der Einsamkeit des Redens entwöhnt zu haben. Ein paar leere Worte; sonst nickte sie nur oder schüttelte den Kopf. Und dennoch glaubte ich zu merken, daß sie fröhlicher wäre als vor drei Wochen. Hatte der kleine rote Komiker auch dieser Einsamen ein bißchen Heiterkeit in das müde Leben geschwänzelt?

Ich gab ihr die Hand. »Was bin ich schuldig, Frau?«

Gleichgültig sagte sie: »Wieviel S' halt mögen.« »Ach, nein, sagen Sie doch, ich möchte Ihnen nicht zu wenig geben.«

»No also, vier Markln halt.«

Das war mir zu wenig. Ich gab ihr ein Goldstück. Damals waren zwanzig Mark für mich eine Sache, die mir Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte verursachen konnte. Aber der Luxerl war mir's wert.

Die Frau betrachtete verwundert das Goldstück, lächelte ein bißchen, während sie die Münze irgendwo an ihrem bunten Mieder versteckte, und sah mich mit unverhehlter Geringschätzung von oben bis unten an.

Der Luxerl rannte wie verrückt in dem kleinen Hof herum, schnappte nach den Bienen und biß in die Gräser.

Das Gesicht der Freimännin wurde wieder so ernst und müde, wie es vor drei Wochen gewesen. Sich niederbeugend, ließ sie einen leisen Lockruf hören. Und der Luxerl, der noch nie einem Menschen gehorcht hatte, kam herangeschwänzelt wie ein folgsames Lämmchen.

Die Einsame nahm ihn mit beiden Händen, hob ihn zu ihrem Gesicht hinauf und schmiegte die runzlige Wange an seinen roten Kopf. So stand sie eine Weile unbeweglich. Dann stellte sie den Luxerl wieder auf den Boden hin, gab ihm einen Klaps, ging zum Haus hinüber und verschwand durch die niedere Tür. Drinnen klirrte der Riegel.

Luxerl kratzte an der Schwelle und bellte sehr aufgeregt.

Aus freien Stücken wäre er nicht mit mir gegangen. Ich mußte ihn auf den Arm nehmen.

Als ich über den hübsch mit rötlichem Sand bestreuten Pfad davonging, krabbelte er zu meiner Schulter hinauf, streckte sich immer länger, guckte nach dem winzigen Haus und fing zu winseln an.

Am Königssee wurde Luxerls Genesung mit Jubel gefeiert. Doch eine Woche mußte vergehen, bevor er sich gründlich zu Hause fühlte, die Frelmännin vergessen hatte und wieder ganz der unbewußte Komiker wurde. Und einen Monat brauchten wir, bis wir ihm die schwarzen Reste des Pechverbandes völlig aus den roten Haaren herausgezupft hatten.

Sein unheimlich schreitendes Schicksal verzögerte den mörderischen Schritt. Der Verkehr am Königssee begann abzuflauen, und mit dem nahen Winter wurden die Metzgerwägelchen und die schweren Landauer immer seltener.

Ende November kehrten wir heim nach Wien, und Luxerl wurde da der Liebling aller Menschen, die in unser Haus kamen. Wenn wir Gäste hatten, brauchten wir zu ihrer Belustigung kein Schrammelquartett, keinen Kunstpfeifer und keine Volkssänger zu engagieren. Luxerl genügte. Er sorgte nach dem Souper für allgemeine Heiterkeit. Auf die einfachste Weise. Wir setzten uns in einem großen, dichtgeschlossenen Kreis auf den Smyrnateppich meiner Arbeitsstube. Luxerl kam in die Mitte. Erst guckte er drollig, machte possierliche Sprünge, spielte den ›trockenen Schleicher‹, manchmal auch den feuchten, und plötzlich begann er wie verrückt im Ring herumzurasen, überschlug sich, raste weiter, und immer, immer, immer so zu – es war so wahnsinnig komisch, daß wir uns schüttelten vor Lachen.

Aber das ist so, nach den Gipfeln kommen die Abstürze.

Mit dieser roten Heiterkeit war es plötzlich aus. Ein paar Tage vor Weihnachten.

Da hatte die Köchin den Luxerl wieder einmal – zu spät – auf die Straße geführt. Es war überflüssig, aber man tat es doch. Aus Prinzip der Pädagogik.

Und da kam das Mädel heulend in die Wohnung gelaufen: »Jesus Mariand, den Luxerl haben s' überfahren.«

»Lebt er noch?«

Das Mädel schüttelte den Kopf wie die wortkarge Freimännin.

Im ersten ratlosen Schreck telephonierten wir um die Freiwillige Rettungsgesellschaft.

Sie war sehr beleidigt.

Fremde Menschen begruben den Luxerl. Ich weiß nicht, wer. Ich weiß nicht, wo. Sein vorgesetztes Schicksal hatte sich erfüllt. Und das unberechenbare Fatum verband sich bei dieser Mordtat – da ein Komiker doch nicht traurig sterben darf – mit einem überraschenden Witz des Lebens. Das elegante Vehikel, das den unerschrockenen Haltrufer stumm gemacht hatte, gehörte dem ›Herrn Hofrat‹, jenem berühmten Gynäkologen, der zu Wien zwischen 1860 und 1890 vielen Tausenden von Kindern mit seiner zarten Hand den Eintritt in das helle Leben erleichterte.

Meinen Luxerl hat dieser segensreiche Lebenshelfer hinausbefördert in den dunklen Tod. Aber – das muß man zugestehen – auf möglichst schmerzlose Weise.


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