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Das vorliegende Buch ist der Absicht entsprungen, für die deutsche Lesewelt und die deutsche Bühne eine Anzahl von Kleinoden der altspanischen Komödie zu erobern, die bisher völlig unbekannt bei uns geblieben sind.
Verwunderlich genug, daß hierzu noch im weitesten Sinne die Möglichkeit besteht. Hat doch der Weltruhm des klassischen Theaters der Spanier nirgends einen stärkeren Widerhall gefunden als in Deutschland. Aber obwohl seit mehr als einem Jahrhundert immer wieder begeisterte Apostel, darunter solche vom Rang eines Tieck, Schlegel, Grillparzer und Schack, den Wert dieser ungehobenen Schätze gepriesen haben, weist unsere sonst so unübertrefflich reiche Übersetzungsliteratur gerade hier noch klaffende Lücken auf. Keinen einzigen Granden des spanischen Dramas haben wir in einer vollständigen Übertragung; die meisten sind nur in spärlichen, mehr oder minder willkürlich herausgegriffenen Proben herübergelangt.
Hemmend wirkte dabei vor allem ihre unerhörte Fruchtbarkeit, die schon eine umfassende Durchsicht ihrer Werke aufs äußerste erschwert. Sodann ist es nicht einmal leicht, sich diese Werke überhaupt zu verschaffen. Für uns bedeutet es eine Selbstverständlichkeit, daß unsere Klassiker in zahllosen Neudrucken vorliegen; bei den französischen und englischen verhält es sich ebenso. In Spanien dagegen hat man bis jetzt nur sehr vereinzelte moderne Ausgaben der großen heimischen Dramatiker veranstaltet, und selbst von diesen bringen die wenigsten mehr als eine Auswahl. Man sieht sich daher vielfach auf die alten, zu Lebzeiten der Dichter oder kurz nach ihrem Tod erschienenen Erstdrucke angewiesen, die zum überwiegenden Teil sehr selten geworden sind.
Glücklicherweise verfügt die Berliner Staatsbibliothek über eine reichhaltige, wenn auch keineswegs lückenlose Sammlung, namentlich dank dem Ankauf der Bücherei des ausgezeichneten Kenners Ludwig Braunfels, der uns die beste Übersetzung des Don Quijote beschert hat. Ich war dadurch in den Stand gesetzt, die Originale, soweit sie für meinen Zweck in Betracht kamen, einer eingehenden Musterung zu unterziehen, eine Arbeit, die ich ohne die förderlichen Winke des Hispanisten der Berliner Universität, Herrn Professor M. L. Wagner, kaum hätte bewältigen können und die mir durch eine Reihe von überraschenden Funden belohnt worden ist.
Unter diesen habe ich dann die engere Wahl getroffen, und zwar derart, daß jeder der sechs führenden Meister des spanischen Dramas mit einem Lustspiel zu Worte kommt. Nur zwei von den sechs Stücken sind schon zuvor verdeutscht worden: Calderons »Versteckspiel« vor mehr als hundert Jahren von Gries (unter dem wörtlich wiedergegebenen Titel »Der Verborgene und die Verkappte«), Tirsos »Rivalin ihrer selbst« in einer 1913 als Manuskript gedruckten freien Bühnenbearbeitung (unter dem Titel »Tolle Eifersucht«) von Walther von Eynern. Die übrigen vier Stücke erscheinen meines Wissens hier zum erstenmal in deutschem Gewand.
Ludwig Fulda
Das spanische Nationaldrama als Gesamterscheinung hat in der Weltliteratur nicht seinesgleichen. Als die beste deutsche Darstellung hat noch immer die prachtvolle »Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien« von Schack (3 Bände, zuerst 1845 erschienen) zu gelten, wenngleich sie durch die neuere Forschung im Tatsachenmaterial überholt ist. In der geistigen Durchdringung, in der Vereinigung von Gelehrsamkeit und Kunstgefühl, in der flammenden Liebe zum Gegenstand, die nur hier und da in Überschwenglichkeit ausartet, bleibt sie unerreicht. J. L. Kleins fünfbändige »Geschichte des spanischen Dramas« (1871 bis 1875, ein Teil des unförmigen Torsos »Geschichte des Dramas«) ist infolge der geschwätzig verschnörkelten Schreibweise dieses wunderlichen Heiligen kaum lesbar. Schaeffers »Geschichte des spanischen Nationaldramas« (2 Bände, 1890) gibt verläßliche biographische Daten, beschränkt sich daneben aber im wesentlichen auf trockene Inhaltsangaben. Schon allein auf Grund seiner beispiellosen, verblüffenden, überwältigenden Fülle. Seine namhaften Dichter zählen nach Hunderten, seine bedeutenden nach Dutzenden, und die sechs größten ragen nur wie die höchsten Spitzen aus einem unübersehbaren Gebirge hervor, in dem sich Gipfel an Gipfel drängt. Aber auch die durchschnittliche Zahl ihrer Werke – selbst wenn man Lopes sprichwörtlich gewordene Vieldichterei als einen monströsen Sonderfall beiseite läßt – schlägt jeden Rekord. Die Endsumme der von ihnen verfaßten Stücke, mit Ausschluß der Epigonen, wird von Schack nach zuverlässigen Quellen auf mehr als dreißigtausend Feststellung, daß jemand, der täglich je eines dieser Stücke lesen würde, dreiundachtzig Jahre aufwenden müßte, um damit durchzukommen. Nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil ist uns erhalten geblieben, da die Zeitgenossen damit umgingen wie die Winzer mit dem Segen eines allzu üppigen Weinjahrs, den sie mangels hinreichender Fässer der Erde zu trinken geben. Aber dieser kleine Bruchteil übertrifft ziffernmäßig noch immer bei weitem die klassischen Stücke der sämtlichen übrigen Literaturen zusammengenommen.
Auch in bezug auf die Dauer seiner Blütezeit ist das spanische Drama ihnen allen überlegen. Sie erstreckt sich auf ein volles Jahrhundert, gerechnet vom ersten Auftreten Lopes bis zum Tode Calderons. Nicht einmal dann bricht sie plötzlich ab, setzt sich in einer sehr ansehnlichen Nachblüte noch eine geraume Weile fort.
Dazu kommt ein innerer Vorzug, den nur das englische Drama einigermaßen mit ihm teilt. Diese ganze Kunst ist auf rein volkstümlicher Grundlage, ohne Beeinflussung durch ältere Vorbilder, ohne Anlehnung an fremde Muster emporgewachsen. Während man in Frankreich und in Italien durch die mißverständliche Nachahmung der Antike sich einschnürende Fesseln auferlegte, während selbst die Engländer sich vom Respekt vor gelehrten Überlieferungen nie gänzlich befreiten, haben die Spanier im bewußten Gegensatz zu diesen ausschließlich aus nationalem Urborn ihre Kraft geschöpft. Wohl bestand vor ihnen und neben ihnen eine gelehrte Dichtung, deren Vertreter und Verfechter sie dünkelhaft verspotteten und ihre Auflehnung gegen die ehernen Gesetzestafeln des Aristoteles als ästhetischen Hochverrat brandmarkten; aber sie wurde von ihnen spielend verdrängt und der Vergessenheit anheimgegeben. Nicht einmal zeitgenössische Einwirkungen des Auslandes lassen sich bei ihnen entdecken. Lope hat den um zwei Jahre jüngeren Shakespeare neunzehn Jahre überlebt, und als dieser starb, war Calderon noch ein Knabe, Rojas noch ein Kind, Moreto noch ungeboren. Dennoch kann kein Zweifel herrschen, daß der große Brite den großen Spaniern genau so unbekannt geblieben ist wie diese ihm. Vereinzelte Anklänge, unter denen die Ähnlichkeit zwischen dem Monolog des Sancho in den »Vertauschten Rollen« von Rojas (III, 2) und der berühmten Betrachtung Falstaffs über die Ehre einer der merkwürdigsten ist, sind wohl zufälliger Gedankenharmonie entsprungen.
Diesem ungestörten, tief im Heimatboden wurzelnden und nur aus ihm sich nährenden Eigenwuchs verdankt das spanische Drama seine gleichfalls einzig dastehende Allbeliebtheit bei der Mitwelt. Sah sich in andern Ländern die Bühne auf die Gönnerschaft bestimmter Klassen und Schichten beschränkt, so nahm in Spanien an ihr die gesamte Bevölkerung, vom Hof bis zur Gasse, den leidenschaftlichsten Anteil. Sie konnte gar nicht genug haben des bunten Spiels; sie rief in ihrem unersättlichen Theaterhunger ihren Dichtern, wie Goethes Direktor, die Mahnung zu: »Gebt ihr euch einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie.« Man erzog, man zwang sie zu rascher Hervorbringung, kargte dafür aber auch nicht mit dem Lorbeer. Denn obgleich dieses Publikum keineswegs leicht zu befriedigen war, ja sogar in seinen berüchtigten »Mosqueteros« die Ahnherren unserer Premierentiger ins Treffen führte, überschüttete es seine Lieblingsdramatiker schon bei ihren Lebzeiten mit Ehren, wie anderwärts erst die Nachwelt sie sich abringen ließ.
Obendrein erfreute sich ihr Wirken einer fast unbegrenzten Freiheit, die im Lande der Inquisition und des Despotismus doppelt erstaunlich war. Sie wurde nur einmal episodisch durch das Verbot von Theateraufführungen unterbrochen, das Philipp II. 1598, knapp vor seinem Tod, ergehen ließ, doch sein Nachfolger schon nach zwei Jahren wieder aufhob. Im übrigen nichts von den Widerständen und Vorurteilen, mit denen das Theater im puritanischen England zu kämpfen hatte, nichts von den Zensurschwierigkeiten, die ihm das Frankreich Ludwigs XIV. in den Weg warf. Zur selben Zeit, da die englische Bühne den Frauen versperrt war, da in London eine Julia, Ophelia, Desdemona schauderhafterweise von jungen Männern dargestellt wurde, konnten in Madrid hübsche und begabte Schauspielerinnen Triumphe feiern. Kirche und Staat duldeten nicht nur eine unbefangene, oft derbe Erotik, sie drückten ein Auge oder beide zu, wenn sie selber mutwillig gezaust wurden. Dabei muß man bedenken, daß Lope, Tirso, Calderon, Moreto und viele andere Bühnendichter Priester Waren, ohne daß ihr geistlicher Stand sie an den kühnsten Offenherzigkeiten und den ausgelassensten Spaßen verhinderte. Ein Beweis mehr, wie tolerant starre Hierarchien sein können, solange sie als solche nicht angefochten sind.
Gepeitscht von der stets wachsenden Nachfrage, hatten diese Dramatiker schwerlich ein anderes Ziel vor Augen, als den Anforderungen ihrer Kundschaft zu genügen. Sie arbeiteten für den Tagesbedarf und den Tagesgeschmack. Ohne verstiegenen Ehrgeiz fußten sie auf der Grundlage eines soliden, durch die Praxis mehr und mehr geschulten Handwerks, gaben dem Theater, was des Theaters ist. Daß sie aber trotzdem ein so hohes dichterisches Niveau unbeirrt bewahren konnten, ehrt sie und ihr Publikum in gleichem Maß. Ohne sich vor drastischen Mitteln zu scheuen, verfielen sie niemals ins Platte und Gemeine, erhoben vielmehr auch die reale Alltäglichkeit in die Höhenluft geläuterten Stils und heiterer, festlicher Anmut. Sie hatten alle Farben der sprühenden Laune auf ihrer Palette; nicht minder jedoch geboten sie über den Naturlaut echter Empfindung, ermangelten, wo es darauf ankam, nicht der Leidenschaft, Wucht und Größe. Nicht nur sie selbst, auch ihre Figuren atmeten jene feine gesellige Kultur, die in Spanien früher zu Hause war als in Frankreich. Und der inneren Formvollendung entsprach die äußere. All ihre Stücke, mit verschwindenden Ausnahmen, sind in gebundener Sprache geschrieben, in Versen von bestrickendem Wohllaut, oft auch von kunstreichstem Bau in Metrum und Reim.
Doch ihren stolzesten Ruhmestitel bildet ihre unbegrenzte, unerschöpfliche Erfindungsgabe. Wo hätte die »Lust zu fabulieren« mit der angeborenen Begnadung dazu sich glücklicher gepaart als bei ihnen? Sie bewährte sich schon glänzend an gegebenen Stoffen, in der Art, wie sie die dramatische Seele aus ihnen herausspürten oder sie ihnen einhauchten. Ihr Wetteifer, alles zu dramatisieren, was irgend dazu geeignet schien, läßt sich nur mit der heutigen Verfilmungswut vergleichen, vor der ja auch nichts Weltliches und nichts Heiliges, nichts Vergangenes und nichts Gegenwärtiges sicher ist. Aber während sie im ernsten Drama vorwiegend auf Geschichte, Sage, Legende und Anekdote zurückgriffen, zunächst auf die heimatliche, dann auch auf die aller anderen Länder, soweit sie der damalige Gesichtskreis umspannte, und dieses ergiebige Feld bis auf den letzten Halm abgrasten, erschufen sie sich im Lustspiel als dem unmittelbaren Spiegel des zeitgenössischen Lebens ihre gesamte Stoffwelt fast ausschließlich aus der eigenen souveränen Phantasie. Gleichsam aus dem leeren Hut zauberten sie taschenspielerisch ein Wunderding nach dem andern hervor. Ihre Leistung in diesem Punkt erscheint in um so hellerem Licht, wenn wir uns erinnern, wie wenige klassische Stücke der übrigen Literaturen auf freier Erfindung beruhen. Auch Shakespeare hat bekanntlich fast überall Vorlagen benutzt. In der Kunst, eine Handlung zu ersinnen und auszuspinnen, aus bunt durcheinanderlaufenden Fäden einen Knoten zu schürzen und vielfältig zu verwickeln, durch labyrinthische Windungen des Weges Schritt für Schritt eine neue überraschende Aussicht zu eröffnen, sind die Spanier die Lehrmeister aller Späteren geworden. Ja, noch mehr, ihre Werke wurden der Steinbruch, aus dem diese mit Vorliebe ihr Rohmaterial entnahmen. Zahlreicher noch als die Stücke, die sich als Bearbeitungen der ihrigen redlich zu erkennen gaben, sind diejenigen, die sie unbedenklich ausschlachteten, ohne die Bezugsquelle zu verraten.
So außerordentlichen Vorzügen stehen gewiß auch offenbare Mängel gegenüber. Die Schranken der Zeit und des Volkstums, die sich nie und nirgends verleugnen, sind bei den Spaniern besonders augenfällig. Vieles, was uns heute als konventionell bei ihnen anmutet, muß auf das Konto einer Umwelt gesetzt werden, die selber in ihren Sitten und Unsitten durch eine strenge Konvention gekettet war. Dahin gehört die Kluft zwischen Adligen und Nichtadligen als zwei grundverschiedenen Menschengattungen und der starre drakonische Ehrbegriff der ersteren, der sich allerdings in der Offiziersehre bis auf unsere Tage fortgepflanzt hat. Die Degen sitzen locker in der Scheide und fahren beim geringsten Anlaß heraus; kaum ein Stück, worin nicht Duelle eine wichtige Rolle spielen oder wenigstens zum Hebel der Maschinerie dienen. Denn nicht allein der Beleidigte, der schief Angesehene, der Eifersüchtige hat sich zu schlagen, auch jeder Dritte für den Freund, den Verwandten, den ungerecht Angegriffenen, für irgendeine wildfremde Dame, die seinen Schutz begehrt. Nur selten dämmert den Dichtern die Einsicht in die barbarische Unvernunft dieses unerbittlichen Kodex, wie zum Beispiel dem Calderon an einer bemerkenswerten Stelle des »Versteckspiels« (Schluß von I, 6). Auf der anderen Seite ein steifleinenes Höflichkeitszeremoniell, das in blumigen Floskeln und weitschweifigen Komplimenten sich überbietet.
Immerhin haben auch literarische Konventionen dem unverkennbaren Drang des spanischen Dramas nach Einfachheit und Natürlichkeit Hindernisse bereitet. Der Schwulst war damals wie eine ansteckende Seuche von Land zu Land gewandert. Hatte er schon sein Unwesen in den alten Ritterbüchern getrieben, die Cervantes durch seinen unsterblichen Spott verewigt hat, so brachte ihn in Italien Marino (Marinismus), in England Lilly (Euphuismus, nach seinem Hauptwerk »Euphues«), in Spanien Gongora in ein förmliches System, dem dann hinterher auch die Deutschen – fast immer die Nachahmer von bereits abgetragenen Moden des Auslandes – mit den Delirien der zweiten schlesischen Schule ihren Tribut zollten. Und wer weiß, nebenbei gesagt, ob nicht gewisse Extreme der jüngstdeutschen Literatur trotz ihrer angeblichen Niedagewesenheit künftigen Betrachtern wie ein Rückfall in diese Erkrankung des 16. und 17. Jahrhunderts vorkommen werden? Zwar wird der fürchterliche »estilo culto« des Gongora, diese Orgie der Unnatur, von seinem Zeitgenossen Lope und dessen Nachfolgern verworfen, bekämpft und lächerlich gemacht (vielleicht am wirksamsten von Moreto im »Unwiderstehlichen«, II, 8, 9); dennoch aber hat keiner von ihnen ihn bis auf den letzten Rest abgeschüttelt. Die erquickende Ungezwungenheit, mit der sie die Leute aus dem Volk frei von der Leber reden lassen, muß man bei ihren vornehmen Personen vielfach vermissen. Namentlich deren Liebesgespräche verlieren sich allzuhäufig in eine geschraubte, überladene Rhetorik, die wir nicht mehr vertragen.
Schärfer noch macht sich uns der Trennungsstrich fühlbar, der romanisches und germanisches Wesen scheidet. Dieses ist individualistisch eingestellt, jenes gesellschaftlich. Dieses fordert daher als seine dichterischen Ebenbilder Charaktere, jenes begnügt sich mit Typen. Darum konnte Shakespeare für die Deutschen ein Deutscher werden und mußte für die Romanen ein Fremder bleiben. Darum steht von allen romanischen Dramatikern Molière uns am nächsten; denn kraft seines Genies über nationale Bindungen hinausgewachsen, hat er in den Mittelpunkt seiner besten Stücke Charaktere gerückt. Nun hat freilich der Welt die erzählende Dichtung der Spanier im Don Quijote eine der größten und tiefsten Charaktergestalten aller Zeiten geschenkt. Das spanische Drama jedoch hat ihr keine ebenbürtige an die Seite zu stellen. Gerade die einzige Universalgestalt, die aus ihm hervorging, der Don Juan, ist ja weit eher ein Typus als eine ausgeprägte Individualität. Unstreitig haben die Spanier die stehenden Figuren, die ihnen von der Antike über die italienische commedia dell'arte hinweg vererbt waren, selbständig weitergebildet und mit Eigenleben erfüllt, aber nie überwunden. Der edle Liebhaber, die edle Liebhaberin, der harte Vater, der zwischen ihnen steht, haben ebenso teil am eisernen Bestand wie die schelmische Kammerzofe und der drollige Diener. Dieser, von den Spaniern Gracioso genannt, ist ja, ähnlich wie der Shakespearische Narr, nichts anderes als eine der vielen Varianten des alten ehrlichen Hanswurst, der noch auf der heutigen Bühne aus diskreteren Verkleidungen immer wieder hervorlugt. Dennoch hat das spanische Drama sehr beachtenswerte Anläufe zur Charakterkomödie genommen. Einige von den hier wiedergegebenen Stücken legen beredtes Zeugnis dafür ab. Der Titelheld des »Unwiderstehlichen« darf sich getrost neben Molièreschen Geschöpfen sehen lassen, und die schillernde Frauengestalt, die Lope in der Octavia, der Heldin seiner »Liebesheuchler«, gezeichnet hat, gemahnt in ihrer sprunghaften Unberechenbarkeit an die modernste Psychologie. Die Meisterschaft in allem Technischen wird von unserem Standpunkt aus begreiflicherweise dadurch beeinträchtigt, daß sie auf die naivere Illusionsfähigkeit der damaligen Zuschauer und die schlichteren Einrichtungen der damaligen Bühne berechnet war. Wie das englische Theater, kannte auch das spanische noch kaum Dekorationen und hatte daher wie jenes nicht nötig, in der Verwandlung der Schauplätze sich Rücksichten aufzuerlegen. Selten findet man Akte, noch viel seltener ganze Stücke ohne Szenenwechsel. Zumeist begünstigt diese Unabhängigkeit von den beengenden Einheiten des Orts und der Zeit den lebendigen Fluß der Handlung; doch mitunter verführt sie zu Abgehacktheit und Zerfaserung. In auffallendem Gegensatz zu Shakespeare, der sich um die Motivierung der Prämissen nicht viel kümmerte, wird die Exposition mit einer Sorgfalt entwickelt, die zuweilen an Pedanterie streift, die Lösung aber, auf die er die äußerste Gewissenhaftigkeit verwendete, übers Knie gebrochen.
Jedenfalls werden in den besten Werken der besten Dichter alle diese Schwächen von den Vollkommenheiten überstrahlt. Blutwärme und Blutfülle eines südlichen Volkes, das unter blauem Himmel und lachender Sonne rascher und leichtherziger lebt als die Kinder des Nordens, pulst hier in unvergänglichen Kunstgebilden, und nimmt man das spanische Drama, wie es ist, ohne - wie man in Deutschland gerne tut - vom Mandelbaum Walnüsse zu verlangen, so muß auch der nüchterne Beurteiler es zu den köstlichsten Früchten des Menschengeistes zählen.
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Sämtliche spanischen Dramatiker haben gleichmäßig der tragischen und der komischen Muse gedient. Doch haben sie in der Bezeichnung zwischen Trauerspielen, Schauspielen und Lustspielen keinen Unterschied gemacht, vielmehr alle diejenigen Stücke, die man in unserer heutigen Kulissensprache abendfüllend heißt, schlechtweg Komödien genannt. Die alte Einteilung dieser ausnahmslos dreiaktigen Stücke in Comedias heroicas oder de ruido (große Haupt- und Staatsaktionen), Comedias de figuron (Lustspiele mit einer komischen Mittelpunktfigur) und Comedias de capa y espada (Mantel- und Degenstücke) hat für uns keinen zwingenden Sinn mehr. Die letzteren, bei denen das kennzeichnende Merkmal darin besteht, daß sie dem zeitgenössischen Leben entnommen sind, werden in Literaturgeschichten noch immer als Intrigenstücke eingeschachtelt; doch diese Etikette läßt sich nur aufrecht halten, wenn man jede Verwicklung, Verwechslung, Verwirrung, von der die Fabel sich nährt, zur Intrige stempeln will. Außer den Komödien wurden aber noch einige andere Gattungen eifrig gepflegt, denen die Einaktigkeit gemeinsam ist. So namentlich die Autos, Fronleichnams- und Weihnachtsstücke von religiösem Gepräge, mit allegorischen Figuren, die Loas, kleine Vorspiele, und die Entremeses, burleske Zwischenspiele mit Typen der untersten Klassen, die in naturalistischer Prosa oder im Dialekt sprechen.
Daß jeder Dichter sich jeder dieser Gattungen mit annähernd gleicher Liebe und gleichem Können widmete, ist nur einer der vielen übereinstimmenden Züge, die sie untereinander verbinden. Die hochgradige Familienähnlichkeit einer solchen Menge von Autoren wäre aus der nationalen und zeitlichen Gemeinschaft allein nicht zu erklären, hätte nicht eine bis ins letzte ausgebildete Kunstübung sie der Reihe nach in die nämliche Schule genommen. Mit Recht sagt Schack: »Der Einzelne wurde durch die Gesamtheit aller gehoben.« Dennoch sind zwei Stufen voneinander abgegrenzt: die Epoche der Entfaltung mit Lope und die Epoche der Reife mit Calderon an der Spitze. Diesen geschichtlichen Werdegang mögen ein paar knappe Notizen über seine hier vertretenen Führer andeuten.
Lope de Vega (1562–1635) ist ein Phänomen, das in der ganzen Geistesgeschichte einzig dasteht. Mit gutem Grunde nennt kein Geringerer als sein älterer Zeitgenosse Cervantes ihn »das Wunder der Natur«. Dieses Urgenie ist nicht nur der Schöpfer seiner eigenen zahllosen Werke, ist der Schöpfer des spanischen Dramas überhaupt. Mit ihm beginnt es; durch ihn allein würde es fortdauern, wenn es mit ihm geendet hätte. Er hat es sozusagen aus der Erde gestampft. Seine primitiven Vorläufer, mögen sie dieses oder jenes Verdienstvolle hervorgebracht haben, sind erledigt, sind ausgelöscht in dem Augenblick, da er die Arena betritt. Der eine Mann gibt seiner Nation ein Theater und zugleich einen Spielplan, den sie in Jahrhunderten nicht aufbrauchen kann. Von Entwicklungskämpfen, von anfänglichen Irrgängen scheint er nichts gewußt zu haben. Nicht wie Shakespeare, der sich doch besser als er auf schon vorhandene Grundlagen stützen konnte, sucht er den Weg zu sich selbst in tastenden Erstlingen. Gewappnet springt er hervor, wie Pallas aus dem Haupte des Zeus. Kaum lassen sich die Werke seiner Frühzeit von denen seiner Reife unterscheiden.
Dieser Magier, der mehr geschrieben hat als irgendein Mensch vor ihm oder nach ihm, hat nicht etwa ein Schreibtischdasein geführt. Ganz im Gegenteil. Sein Leben war bewegt und abenteuerlich bis ins Alter. Der Krieg und die Frauen haben darin einen nicht minder breiten Raum eingenommen als in dem irgendeines analphabetischen Heißsporns. Man fragt sich nur kopfschüttelnd, wie er zu alledem die Zeit aufgetrieben hat, die ihm doch schließlich auch nicht anders als anderen Sterblichen zugemessen war. Denn der Umfang seines Schaffens ist so unheimlich, so ungeheuerlich, daß einem schon bei der Angabe der bloßen Ziffern der Schädel schwirrt.
Die ungefähr vierhundert Stücke, die uns von ihm erhalten sind, bilden nur einen bescheidenen Bruchteil derer, die er verfaßt hat. Diese belaufen sich nach der üblichen Schätzung auf zweitausend, nach dem Zeugnis eines ihm befreundeten Zeitgenossen gar auf dreitausend! Daß allein die Zahl seiner Komödien mindestens fünfzehnhundert betrug, steht einwandfrei fest. Dazu kommen noch eine Unmenge von Autos und Zwischenspielen. Außerdem aber hat er zwanzig stattliche Bände voll nichtdramatischer Dichtungen hinterlassen. Man rechnet ihm nach, daß er alles in allem 21 Millionen Verse gedichtet hat.
Das märchenhafte Tempo seines Arbeitens ergibt sich ohne weiteres, wenn man diese Verszahl durch die Zahl seiner Lebensjahre dividiert; nämlich nach dem Abzug der ersten achtzehn durch fünfundfünfzig. Dann erhält man für jeden Tag, den Gott werden ließ, mehr als tausend Verse! Fünfzig Komödien im Jahr, also fast genau je eine pro Woche war sein durchschnittliches Pensum. Er selber rühmt sich, mehr als hundert innerhalb von vierundzwanzig Stunden geschrieben zu haben – eine Leistung, die sogar dann unfaßlich wäre, wenn es sich um die rein mechanische Niederschrift handelte. Man suche heut ein Tippfräulein, das eine Lopesche Komödie in einem Tag zu kopieren vermöchte. In der Tat wird uns erzählt, seine Schreiber seien oft nicht imstand gewesen, dem Flug seines Gehirns mit dem Flug ihrer Hand nachzukommen.
Wollte man, wie es bisweilen geschehen ist, des Rätsels Lösung darin erblicken, daß er drauflosgeschmiert oder geschludert hat, so würde man gründlich fehlgehen. Daran hinderte ihn ja schon die gebundene Form, die bei ihm durchgehends von der höchsten Vollendung ist; ja, er bevorzugte mehr als seine Nachfolger den gereimten Vers und diesen wieder in den kunstreichsten und schwierigsten Maßen. Zwar konnte sein improvisatorisches Hervorsprudeln im Großbetrieb nicht ganz ohne Spuren bleiben. Selten hat er wohl vorher einen Plan bis in alle Einzelheiten durchgedacht; wann hätte er das auch tun sollen? Eine Fabel nach einem festgelegten Szenarium folgerichtig durchzuführen, war nicht seine Sache. Er verließ sich während der Arbeit auf seine momentanen Eingebungen, und er durfte sich darauf verlassen. Sie strömten ihm unaufhörlich in solchem Überflusse zu, daß man nirgends auf eine tote Stelle stößt. Wo er unbedenklich von der Linie abweicht, sind die Seitenpfade immer lockend und lohnend, und wo er den Faden zu verlieren scheint, hat er bereits einen oder mehrere Fäden neu angesponnen.
Wenn es nach Hamlet die Aufgabe des Schauspiels ist, »dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen«, so hat Lope diese Aufgabe als Poet und als Spanier gleich trefflich erfüllt. Der Körper der Zeit hat bei ihm eine spanische Seele. Er war wie ein lauterer Spiegel, worin sein Volk das getreue Abbild des eigenen Lebens und Wesens gewahrte. Er verdient den Namen eines Nationaldichters in der vollen Bedeutung des Wortes. Die Mitwelt hat ihn denn auch geradezu vergöttert, und lange hat er das Theater so gut wie ausschließlich beherrscht. Alle Jüngeren sind seine Jünger. Keiner von ihnen hat geleugnet, auf seinen Schultern zu stehen, keiner die von ihm geschaffene dramatische Form erheblich verändert. Die meisten haben es nicht verschmäht, in Stücken, die sie den seinigen nachdichteten, sich auch inhaltlich eng an ihn anzulehnen.
In Deutschland kennt man ihn noch heute so gut wie gar nicht. Wie wäre das anders möglich, da nur wenige seiner Werke übersetzt sind und die wenigsten dieser wenigen von berufener Hand? Bloß in sehr freier Umbildung sind einige auf unsere Bühne gelangt, wie zum Beispiel Friedrich Halms »König und Bauer« (nach »El villano en su rincon«) und namentlich Grillparzers »Jüdin von Toledo«, die lediglich eine dichterische Neugestaltung des gleichnamigen Lopeschen Schauspiels ist. Aber sogar sein eigenes Vaterland hat ihm in neuerer Zeit eine auffallend geringe Beachtung geschenkt. Bis vor kurzem konnte man seine erhaltenen Komödien vollständig nur in den mangelhaften zeitgenössischen Drucken finden. Erst vor einem Jahrzehnt hat Spanien sich auf die Ehrenpflicht besonnen, seinem großen Sohn durch die Gesamtausgabe seiner Werke ein würdiges Denkmal zu setzen. Sie erscheint, herausgegeben von der Königlich spanischen Akademie, seit 1916 in mächtigen Quartbänden, und viele Jahre werden noch vergehen, bis sie abgeschlossen sein wird.
Tirso de Molina (Pseudonym für Gabriel Tellez, 1570 bis 1648), nur acht Jahre jünger als Lope, ist bereits sein bewußter und dankbarer Schüler. An Fruchtbarkeit kommt er ihm am nächsten; denn er hat ungefähr vierhundert Komödien geschrieben, von denen uns siebzig erhalten sind. Aber auch an Genialität gibt er ihm wenig nach; ja, er übertrifft ihn an funkelndem Geist und urwüchsigem Humor. Ungeachtet seiner vielen ernsten Stücke ist er der elementarste Lustspieldichter unter den Spaniern, hinsichtlich seiner Naturgaben einer der stärksten überhaupt. Auch ihn bestürmen die Einfälle; doch hat er auf ihre Ausmünzung offenbar mehr Sorgfalt als Lope verwendet. Seine Fabeln strotzen vom üppigen Gerank der Erfindung; in der Vollsaftigkeit, Schlagkraft und Bilderfülle seines Dialogs wetteifert er mit Shakespeare. Er ganz besonders hat anleihebedürftigen Bühnendichtern späterer Zeit eine wahre Fundgrube von Stoffen geliefert.
Das Werk, das ihm Weltruf eingetragen hat, der »Burlador de Sevilla«, die älteste Darstellung der Don-Juan-Sage, die Urquelle, aus der Molière, Goldoni, Mozart, Byron, Grabbe und unzählige andere geschöpft haben, gehört keineswegs zu seinen besten. Von seinen Lustspielen ist, soviel ich weiß, bisher nur eines: »Don Gil von den grünen Hosen«, bei uns in verschiedenen Bearbeitungen bekannt und aufgeführt worden.
Alarcon y Mendoza (um 1580–1639), in Mexiko geboren und erst als Jüngling ins Mutterland gelangt, tritt hinter diesen beiden blendenden Persönlichkeiten merklich zurück. Doch hat er eine viel zu selbständige Physiognomie und ein viel zu kräftiges Talent, um als bloßer Mitläufer zu gelten. Zudem hat er vor ihnen die feine, allseitige Bildung voraus. Kann er es weder an Phantasie noch an Temperament mit ihnen aufnehmen, so entschädigt er durch den Reichtum der Gedanken. Von allen Spaniern erweist er sich als der weiseste, aufgeklärteste, den herrschenden Beschränktheiten der Zeit am wenigsten unterworfene. Etwas vom sittlichen Pathos seines Landsmannes Posa, wie dieser bei Schiller erscheint, hat in ihm geglüht. Vielleicht gerade darum ward ihm das Ausnahmeschicksal, von den sonst so beifallswilligen Mitlebenden verkannt und erst von der Nachwelt gerecht beurteilt zu werden. In ihm zum erstenmal äußert sich jener tragische Zwiespalt des Dramatikers, der sein Publikum verachtet und doch über dessen Nichtachtung erbittert ist. Dem ersten Band seiner Komödien schickt er eine satirische Widmung an den Pöbel voraus und schleudert ihm darin die Worte zu: »Wenn sie dir mißfallen, so werde ich mich freuen, daraus zu ersehen, daß sie gut sind.«
Wir besitzen von ihm »nur« siebenundzwanzig Stücke. Das berühmteste, »Die verdächtige Wahrheit« (deutsch von Rapp), hat dem Corneille zur Vorlage für sein Lustspiel »Le menteur« gedient; ein Vergleich beider Werke fällt aber sehr zugunsten des spanischen Originales aus.
Calderon de la Barca (1600–1681), der durch den entscheidenden Schritt auf die letzte Höhe die zweite Epoche einleitet und krönt, wird allgemein der größte spanische Dramatiker genannt. In Deutschland konnte ihm bis jetzt schon darum kein anderer diesen Titel streitig machen, weil keiner bei uns so bekannt geworden ist wie er. Doch wenngleich er fraglos neben den ganz Großen der Weltliteratur als Ebenbürtiger steht, bedarf der Superlativ einer gewissen Einschränkung, Die einsame Erhabenheit, in der Shakespeare über seine literarische Umgebung hinausragt, kann ihm keinesfalls zugebilligt werden, und er selbst wäre der erste gewesen, sie zu verneinen. Denn er hat zeitlebens mit rückhaltloser Verehrung zu Lope aufgeschaut, ihm nicht nur als seinem Vorgänger, auch als seinem Meister gehuldigt. In der Tat wurde von ihm Lopes Kunst zwar ausgebaut, verfeinert und vertieft, aber keine wesentlich andere an ihre Stelle gesetzt. Die oft gebrauchte Parallele, wonach beide sich zueinander verhalten sollen wie Aeschylos zu Sophokles, trifft in diesem einen Punkte zu; in allen übrigen müßte sie irreführen. Man könnte wohl auch sagen, daß Lope der Columbus des dramatischen Feenlandes war, Calderon sein bedeutendster und erfolgreichster Conquistador.
Schon ein äußerer Umstand kennzeichnet sein Auftreten als die Eröffnung eines neuen Abschnitts. Es fällt zeitlich zusammen mit dem Regierungsantritt des Mäzens unter den spanischen Königen, Philipps IV. (1621–1665). Das Theater, zu Lopes Zeiten ausschließlich eine Volksbelustigung, wurde durch diesen kunstsinnigen Fürsten mit Hofgunst begnadet. Er ließ in seinem Schlosse Buen Retiro eine prunkvolle Bühne errichten und nahm die von ihm unterstützten und beschirmten Dramatiker dafür in Beschlag. Calderon als sein besonderer Liebling hat daher im .Gegensatz zu den älteren Autoren hauptsächlich für ein Hoftheater gedichtet, dessen Zuschauer den obersten Gesellschaftskreisen angehörten, einen gewählten Geschmack besaßen und forderten. Das erklärt den akademischen Zug in seinen Dramen, die Zügelung und Läuterung der überkommenen Derbheit und Ungebundenheit. Doch was man sich unter einem Hofpoeten vorzustellen pflegt, ist Calderon nie gewesen. Davor hat ihn sein weltumspannender Geist, sein feuriges Herz, dem nichts Menschliches fremd war, sein hohes dichterisches Ingenium bewahrt.
Die naive Unbewußtheit freilich ist ihm verlorengegangen, und seine gewaltige Phantasie quillt nicht aufs Geratewohl frei strömend hervor, sondern wird von der Reflexion in ein schönes, klares Becken geleitet. So aber gelingt es ihm, der glänzende Könner zu werden, der seine Kunst in allen ihren Möglichkeiten überblickt, beherrscht und ausschöpft. Kein anderer Spanier hat mit solcher angestrengten Hingabe an sich und an seinen Werken gearbeitet. Man fühlt, daß diesem wahrhaft frommen Menschen die Dichtung, die heitere wie die ernste, Gottesdienst war.
Nirgends tritt sein genialer Fleiß – und man sollte doch endlich begreifen, daß auch der wirkliche Fleiß ein angeborenes Himmelsgeschenk ist – leuchtender zutage als in der Durchbildung seiner Pläne. In ihr hat er ein nicht zu überbietendes Vorbild aufgestellt. Seine Stoffe sind ungleich an Wert; ihre Behandlung durch ihn, ihre Ausnützung, Auspressung ist allemal mustergültig. Das offenbart sich am deutlichsten in seinen frei erfundenen Stücken, seinen Lustspielen. Er verfügt von Haus aus nicht über den Humor und die übermütige Komik Lopes oder Tirsos; um so witziger ist er in den Verschlingungen der Fabel, im tollen Wirbel der Geschehnisse, der seine Figuren wie Spielbälle hin und her schnellt. Die Jongleurgeschicklichkeit, die wir an modernen Franzosen wie Scribe und Sardou bewundern, bietet nur einen schwachen Abglanz von Calderons Kombinationsgenie.
Angesichts der Sorgfalt seines Schaffens, die von Lopes Schnellfertigkeit meilenweit entfernt war, muß die Zahl seiner dramatischen Werke uns noch immer erstaunlich dünken. Neben Hunderten von kleineren Stücken hat er hundertzwanzig Komödien geschrieben, das heißt reichlich dreimal so viel wie Shakespeare. Auch von ihnen wartet die Mehrheit, obwohl er der am meisten übersetzte Spanier ist, noch der Verdeutschung. Eine ansehnliche Auswahl hat neuerdings Wurzbach mit Benutzung der alten Griesschen Übersetzungen in zehn Bänden herausgegeben (Verlag Hesse & Becker). Von seinen ernsten Dramen haben mehrere, namentlich »Das Leben ein Traum« und »Der Richter von Zalamea« (dessen Stoff einem Stück von Lope entnommen ist), auf unseren Bühnen festen Fuß gefaßt, von seinen Lustspielen bisher nur die »Dame Kobold«.
Rojas Zorrilla>(geb. 1607; Todesjahr unbekannt) gründet den unsterblichen Ruhm, den er in seinem Vaterlande genießt, schon allein auf ein einziges seiner vierundzwanzig Stücke, auf das Schauspiel »Del rey abajo ninguno« (Keiner abwärts vom König). Es nimmt dort als packender Ausdruck nationalen Empfindens in der Volksseele ungefähr denselben Rang ein wie bei uns der »Wilhelm Teil«, wird aber wegen der ausschlaggebenden Rolle, die der altspanische Ehrenkodex darin spielt, uns ewig fremdartig bleiben. Näher rückt uns Rojas in seinen Lustspielen, in denen Lopescher Schmiß und Calderonscher Schliff sich glücklich verschmelzen. Das bekannteste unter ihnen, »Entre bobos anda el juego« (wiederholt übersetzt unter dem Titel »Dummes Zeug wird hier getrieben«), halte ich nicht für sein bestes.
Auch Rojas ist unstreitig ein Vollblutdramatiker von reichem Talent und eigenwilliger Prägung. Seine spröde Unabhängigkeit erweist er schon dadurch, daß er dem landläufigen Brauch zuwider es verschmäht hat, ältere Stücke in den seinigen auszubeuten. Seine Naturanlagen hätten hingereicht, ihm einen Platz dicht an der Seite Calderons zu sichern, wäre ihm dessen künstlerische Zucht beschieden gewesen. Doch er arbeitete ungleichmäßig, ließ von seinem angelegentlichen Streben nach Originalität sich vielfach zum Willkürlichen, Ausgefallenen und Gewaltsamen verleiten. Das schadet vor allem seiner Sprache; in ihr hat er sich von den Geschraubtheiten des Gongorismus, denen Galderon selbst nicht immer ausgewichen ist, am wenigsten freigehalten.
Moreto y Cabaña (1618–1669) schließt die stolze Reihe ab. Er beendet eine Kunstblüte, wie es stets der folgerichtige Gang der Entwicklung bedingt, als deren Virtuose. Alle von seinen Vorläufern nach und nach erschaffenen Hilfsmittel liegen vor ihm ausgebreitet wie die Tasten eines Instruments, in die er nur zu greifen hat, um jede beliebige Weise zu spielen. Er tut es mit der nicht mehr zu übertrumpfenden Meisterschaft, der nichts, gar nichts fehlt, ausgenommen die quellfrische Ursprünglichkeit. Einen Teil seiner etwa siebzig Komödien hat er als einer der frühesten Kompagniedichter in Gemeinschaft mit anderen verfaßt. Kaum eine befindet sich darunter, in der er nicht auf ältere Stücke sich gestützt, aber auch kaum eine, in der er seine Vorlage nicht merklich verbessert hätte. Zu den Vorzügen, die sich bei ihm, dem glücklichen Erben so gehäuften Reichtums, von selbst verstehen, gesellt sich ein neuer: der Fortschritt in der Charakteristik. Er strebt aus dem Typischen heraus nach individueller Gestaltung und schlägt so die Brücke zu dem nur ein paar Jahre jüngeren Moliere, der in seiner »Princesse d'Elide« Moretos berühmtestes Werk nachgebildet hat.
Dieses Meisterwerk, »El desdén con el desdén« (Verschmähung gegen Verschmähung), selbst wieder auf ein Lustspiel Lopes zurückgehend, behauptet sich unter dem Titel »Donna Diana« seit mehr als einem Jahrhundert als das meist aufgeführte spanische Stück auf dem Spielplan der deutschen Bühnen. Der Bearbeiter Schreyvogel-West hat aber neben dem Original die italienische Bearbeitung des Gozzi mitbenutzt und jenes durch romantische Zutaten im Geschmack seiner Zeit versüßlicht. Bei dem Dauererfolg, den er damit errang, ist schwer verständlich, warum man in hundert Jahren nicht den Versuch gemacht hat, auch andere Werke des Dichters der »Donna Diana« in Deutschland einzubürgern.
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Daß die sechs großen Spanier in diesem Buch nur in ihrer Eigenschaft als Lustspieldichter sich vorstellen, würde schon durch die Rücksicht auf Einheitlichkeit begründet sein. Doch andere, triftigere Gründe sprachen dabei mit. Ohne jeden Zweifel gibt es auch unter den tragischen Werken der Genannten noch manches, das die Mühe des Hervorholens vergüten würde. Nur machen sich bei diesen die Abstände der Zeit und der Weltanschauung stärker geltend. Vielerlei, was für diese Dichter und ihr Publikum von zwingender Tragik war, ist es für uns Heutige nicht mehr. Wenn Kastengeist, Kadavergehorsam, Ehrbegriff und Blutrache zu tödlichen Konflikten und Katastrophen führen, so geht unser modernes Empfinden nicht mit; wenn sie dagegen der Anstoß zu scherzhaften Wirrnissen sind, die sich in Wohlgefallen auflösen, dann lassen wir uns willig von ihnen erheitern. Auch die Unvergänglichkeit des Don Quijote beruht ja nicht zuletzt darauf, daß er Zustände, die wir längst überwunden haben, selber lachend überwindet. Ferner begibt sich die Handlung der meisten spanischen Tragödien und Schauspiele auf einem idealen, zeitlich oder räumlich entrückten Schauplatz, während die Lustspiele fast sämtlich auf dem gediegenen Boden der unmittelbaren Wirklichkeit fußen Alle hier dargebotenen Stücke spielen in dem Madrid der damaligen Gegenwart, sind daher im besten Sinne eines oft mißbrauchten Wortes realistisch. Sie packen das Leben des Tages, wo es am nächsten liegt, halten es fest mit getreuem Lokalkolorit in seiner ganzen atmenden Frische und Fülle und verleihen ihm gerade dadurch die dichterische Allgemeingültigkeit, ähnlich, wie der gleichzeitige Velazquez ihm die malerische verlieh. Und noch ein Gesichtspunkt, der wichtigste, verlangt Beachtung. Das ernste klassische Drama der Deutschen hat das der Spanier überholt, während die Armut unserer Literatur an poetischen Lustspielen einen Zuwachs gut gebrauchen kann.
Die von mir ausgesuchten Komödien sollen ihre Verfasser in möglichst würdiger und möglichst bezeichnender Art repräsentieren. Zu den einzelnen wäre noch folgendes zu bemerken.
»Die Liebesheuchler« halte ich für eines der bestgelungenen Lustspiele Lopes, schon weil die Komposition weniger flüchtig ist als die der meisten anderen. Diese überragt es auch in der Durchführung der weiblichen Hauptperson. In ihr hat Lope, seiner Zeit vorauseilend, eine Gestalt von durchaus individueller Physiognomie geschaffen, die Ahnherrin aller irrlichtelierenden Koketten, den verschlagenen Racker, dessen seelische Kompliziertheit schon einen leisen Hauch Strindbergscher Dämonie verspüren läßt. Dieses trotz leicht erkennbaren Mängeln geniale Stück ist bisher so gut wie verschollen gewesen. Weder Grillparzer in seinen »Studien zum spanischen Theater«, die sich vorwiegend mit Lope beschäftigen, noch der redselige J. L. Klein, noch Schaeffer erwähnen es mit einer Silbe. Ja sogar in Spanien selbst hat man es gründlich vergessen. Seit seinem ersten Erscheinen (1621) mußten drei Jahrhunderte vergehen, bevor es durch seine Aufnahme in die Gesamtausgabe der Akademie (Band III) einen Wiederabdruck erlebt hat.
»Die Rivalin ihrer selbst« gehört hingegen in Spanien zu den beliebtesten Stücken Tirsos und wird in bezug auf den kostbaren Einfall, der ihr zugrunde liegt, und dessen meisterhafte Ausnützung von nicht vielen unter ihnen erreicht.
»Das Ehemänner Examen« wird neben der bekannteren »Verdächtigen Wahrheit« als eines der vorzüglichsten Lustspiele Alarcons geschätzt. Der Stoff hat seltsame Berührungspunkte mit den Prüfungen, denen Porzia im »Kaufmann von Venedig« ihre Freier unterwirft. Daß Alarcon von Shakespeares Stück etwas gewußt hat, ist wohl ausgeschlossen, und sollte er mit Shakespeares Quellen (Gesta Romanorum und Fiorentinos Pecorone) vertraut gewesen sein – was gleichfalls recht unwahrscheinlich ist –, dann hätte er aus ihnen bloß eine ungefähre Anregung gezogen.
»Das Versteckspiel« zeigt Calderons Kunst der Erfindung und Verwicklung auf ihrer höchsten Stufe, läßt hierin meines Erachtens auch die »Dame Kobold« hinter sich. Schack nennt es, vielleicht etwas gar zu enthusiastisch, »ein so feines und vollendetes Intrigenstück, daß ihm keine andere Nation Ähnliches zur Seite stellen kann«. Die Griessche Übersetzung hat dem Stück nicht viel Aufmerksamkeit zugeführt; dagegen war es im achtzehnten Jahrhundert in verschiedenen indirekten, französischer Vermittlung entstammten Bearbeitungen unter dem Titel »Der Verschlag, oder: Hier wird Versteckens gespielt« auf deutschen Theatern sehr verbreitet. Wieweit seine Volkstümlichkeit sich damals erstreckte, geht aus einer Notiz Goethes in seiner »Italienischen Reise« (vom 4. Oktober 1786) hervor. Er sah in Venedig eine darauf basierende Stegreifkomödie, die, wie er berichtet, ihm viel Freude gemacht hat. »Mit unvergleichlicher Abwechslung unterhielt es mehr als drei Stunden.«
»Die vertauschten Rollen« scheinen mir das wertvollste und zugleich lustigste Lustspiel von Rojas, auch dem oben erwähnten »Entre bobos anda el juego« entschieden vorzuziehen, besonders weil hier der Gracioso zum erstenmal zu einer komischen Charakterfigur erhoben ist.
»Der Unwiderstehliche« schließlich gilt in Spanien als das Hauptwerk der heimischen Charakterkomödie und erfreut sich dort nicht minderer Berühmtheit als die »Donna Diana«. Das Stück lehnt sich in der Idee an ein älteres von Guillem de Castro an, ist ihm aber weit überlegen. Nirgends ist der Geck, der sich von der Überzeugung nicht abbringen läßt, kein Frauenherz könne ihm Widerstand leisten, mit treffenderen und ergötzlicheren Strichen konterfeit worden.
Im übrigen muß die Auswahl vor dem Leser sich selbst rechtfertigen.
Ich habe jetzt noch Rechenschaft abzulegen über die Grundsätze, die mich bei der Arbeit geleitet haben.
Unter den bisherigen deutschen Übersetzern spanischer Dramen befinden sich neben Unberufenen Träger von anerkannten, ja von erlauchten Namen. Wenn trotzdem nur wenige der Aufgabe ganz gerecht wurden, so liegt das zuvörderst an den besonderen formalen Schwierigkeiten, die gerade bei ihr zu überwinden sind. Aber auch durch irrige Einstellung zu ihr haben manche das Ziel verfehlt, und zwar nach zwei entgegengesetzten Richtungen. Die einen trachteten vor allem nach Treue, ohne zu prüfen, ob die buchstäbliche Wiedergabe ungeachtet der sprachlichen und nationalen Wesensverschiedenheit bei uns denselben Eindruck hervorrufen kann wie der Urtext bei den Spaniern. Sie vergaßen zudem, daß es sich um Bühnenwerke handelt, die nur in zweiter Linie gelesen, in erster gehört sein wollten, und daß der dramatische Dialog als seine Lebensbedingung nicht eine geschriebene, sondern eine gesprochene, eine sprechbare Sprache erheischt. Das Ergebnis mußte sein, daß sie Theaterstücke in Buchdramen verwandelten. Die andern gingen umgekehrt bloß von den Bedürfnissen der Bühne aus, ohne zu bedenken, daß diese Theaterstücke zugleich auch Dichterwerke sind, und hielten sich für befugt, dem Effekt zuliebe nach Gutdünken mit ihnen umzuspringen, indem sie Bearbeitungen oder richtiger Verarbeitungen herstellten, die vom Geiste des Originals nur noch kärgliche Spuren erkennen ließen.
Vor dem einen wie vor dem andern Irrweg habe ich mich sorgsam zu hüten gesucht. Als das oberste Gesetz bei jeder Übertragung von klassischen Dichtungen der Vergangenheit betrachte ich die Wahrung des Stils. Die Distanz von Jahrhunderten verwischen zu wollen, ist ja ohnehin ein vergebliches Unterfangen; denn sie wird uns durch plumpe Modernisierung um so fühlbarer. Auch ist jedes Gebilde von Meisterhand ein Organismus, an dem man nicht beliebige Operationen vornehmen kann ohne die Gefahr, ihn zu zerstören. Was würde man dazu sagen, wenn jemand sich herausnähme, einem spanischen Gemälde der gleichen Epoche dadurch aufzuhelfen, daß er es stellenweise in der malerischen Mode von heut überpinselte? Die Literatur darf den nämlichen historischen Respekt beanspruchen. Andrerseits aber hätte es keinen Zweck, ausländische Werke alter Zeit in unserer Zunge zu erneuern, wenn man sie nicht zugleich lebendig machen kann.
Die frische Lebendigkeit, die in den Spaniern heute noch steckt, läßt sich durch eine ängstlich angeschmiegte, philologisch genaue Verdolmetschung nicht aus ihnen herausholen. Bei aller gebotenen Pietät vor Gehalt und Farbe darf man sie daher nicht so wörtlich nehmen wie den Shakespeare oder Moliere, wenn man das Ewige vom Staub des Zufälligen und Vergänglichen befreien will. Es ist namentlich ihre Phraseologie, gegen die aus schon genannten Gründen der heutige Geschmack sich auflehnt. Ich habe daher oft nur den Sinn, nicht den Wortlaut herübergenommen, ebenso oft, wo der Redeschwall ins Uferlose geht oder sich in breiten Wiederholungen gefällt, mir Kürzungen gestattet. Die Wortspiele, von denen der Dialog manchmal wimmelt, habe ich nur zum Teil nachgeahmt, weil sie in solcher Anhäufung ermüden; aktuelle Anspielungen, die heute eines Kommentars bedürfen, ließ ich fort oder ersetzte sie durch Verständliches. Sodann drückte ich das Beiseitesprechen auf ein erträgliches Maß herab. Die Spanier konnten in dieser Hinsicht ihren naiveren Hörern Dinge zumuten, die wir kaum mehr begreifen. Der Dialog wird, so oft es ihnen paßt, durch derart lange Selbstgespräche unterbrochen, daß man sich fragt, was die daran unbeteiligten Personen währenddessen auf der Bühne angefangen haben. Auch scheute ich mich nicht vor schonungsvollen dramaturgischen Retuschen, wie Vereinfachungen des Szenenwechsels, Umstellungen, Hinüberziehen von Szenen in andere Akte, Zuspitzungen von Aktschlüssen, kleinen vermittelnden Ergänzungen.
Das am schwersten zu lösende Problem wird jedoch dem deutschen Übersetzer durch die metrische Form des spanischen Dramas gestellt. Diese Form, die so erheblich zu seinem poetischen Glanz und Adel beiträgt, ist – ich betonte es bereits – von äußerster künstlerischer Vollendung und Mannigfaltigkeit. Der vierfüßige Trochäus, den man versehentlich bei uns für den durchgängigen dramatischen Vers der Spanier zu halten pflegt, ist zwar der vorwaltende, aber keineswegs der einzige. Er selber kennt zahlreiche Variationen. Er wechselt, ohne daß man in jedem Fall den inneren Anlaß dazu ersehen kann, zwischen reimlosen, assonierenden und gereimten Versen.
Die letzteren wiederum weisen verschiedentlich Reimverschlingungen und Reimhäufungen auf, darunter als gebräuchlichstes Schema die Redondille (vierzeilige Strophe mit Reimfolge a, b, b, a), sehr oft auch die Quintille (fünfzeilige Strophe mit Reimfolge a, b, a, b, a oder a, a, b, b, a oder a, b, b, a, a). Neben den Trochäen werden aber auch in einzelnen Partien oder Szenen jambische Verse verwendet. Man trifft, hauptsächlich bei Lope, auf den reimlosen fünffüßigen Jambus, also den Blankvers Shakespeares und der deutschen Klassik; man begegnet dem gereimten fünffüßigen Jambus in den künstlichen Formen der Oktave, des Sonetts und der Terzine. Dazu gesellt sich noch der Wechsel von drei- und fünffüßigen Jamben in der Lira, einer sechszeiligen Strophe, und der Silva, die keine strophische Gliederung besitzt. Und schließlich gibt es noch eine ganze Reihe von seltener vorkommenden Versmaßen, deren Aufzählung ich mir ersparen kann.
Wie soll der deutsche Übersetzer sich diesem verwirrenden Formenreichtum gegenüber verhalten ? Die Frage aufwerfen heißt zugleich hervorheben, wie heikel ihre Beantwortung ist.
Nicht, als wäre es ihm unter allen Umständen geboten, jede fremdsprachige Versform in der Übertragung beizubehalten. Das kann sich doch nur dann empfehlen, wenn diese Form sich der Sprache, in die er überträgt, ungezwungen anzupassen vermag und in ihr dieselbe oder eine ähnliche Wirkung hervorbringt wie in der Ursprache. Denn der beste Interpret, auch in formaler Beziehung, ist keineswegs, wer nichts verändert, sondern wer nichts verlorengehen läßt. Daher ist es manchmal nicht nur das Recht, ist es geradezu die Pflicht des Übersetzers, den Originalvers mit einem andern zu vertauschen, vorausgesetzt, daß dieser jenem adäquat ist, das heißt: unter den verschobenen sprachlichen Bedingungen ihn sowohl stilistisch wie akustisch mit möglichster Vollwertigkeit vertritt. Es erfordert also jedesmal viel Takt und viel Vorsicht, den richtigen Ersatz zu treffen. Wenn man zum Beispiel den Homer, wie es geschehen ist, in Ottaverime oder den Dante in Hexametern überträgt, so travestiert man sie. Auch nicht wenige Verdeutscher spanischer Dramen sind an einem solchen Mißgriff gescheitert.
Die meisten glaubten sich nämlich am einfachsten dadurch aus der Affäre zu ziehen, daß sie unbekümmert um die Vielgestaltigkeit des spanischen Versbaues den in den Originalen nur ganz gelegentlich auftauchenden, im deutschen Stildrama jedoch seit Lessing allgemein üblichen Blankvers als uniformierendes Einheitsmaß von Anfang bis Ende durchführten. Das aber war, gelinde gesagt, ein dürftiger Notbehelf. Mag diese Form bei uns noch so bewährt, mag sie dem deutschen Ohr noch so bequem und geläufig sein, von den Reizen. der Urform gibt sie nicht die blasseste Vorstellung, da sie deren beschwingten Rhythmus, deren perlende Melodik, deren schwebenden Tanzschritt unterschlägt. Und zwar schon allein durch den völligen Verzicht auf den Reim als ein unentbehrliches Element spanischer Sprachmusik.
Allerdings wird die Kunst des Reimens den Romanen durch ihre Akzentgesetze sehr erleichtert, uns dagegen durch die unsrigen erschwert. Sie betonen größtenteils die Flexionssilben, wir ausschließlich die Stammsilben. Bei ihnen waltet daher Reimfülle, bei uns Reimarmut. Wenn sie zum Beispiel ein spanisches Verbum auf ar, er, ir oder dessen Partizip auf ado, ido an den Versschluß stellen, so haben sie unter vielen Hunderten von darauf reimenden Wörtern die Wahl, während wir im günstigsten Fall deren ein Dutzend zur Verfügung haben, oft genug nur ein einziges. Doch unser äußerer Nachteil wird durch einen inneren Vorteil wettgemacht. Ihr Endungsreim ist Formreim; unser Stammreim ist Sinnreim. Daraus erklärt sich, daß der deutsche Reim den romanischen um so viel an Intensität übertrifft, als er an Geschmeidigkeit hinter ihm zurücksteht. Er wird deshalb in seiner Wirkung ihn niemals decken, ihm aber, recht gehandhabt, auch nichts schuldig bleiben, sofern der Vers als Ganzes dem Urvers entspricht. Das tut indes nicht einmal der gereimte fünffüßige Jambus, den andere Übersetzer statt des reimlosen angewandt haben; denn die federnde Leichtigkeit spanischer Trochäen ist auch ihm versagt.
Wie nun sonst? Fährt man besser, wenn man mit strenger Wahrung der formalen Treue die sämtlichen Versmaße des Urtextes, namentlich also auch die vorherrschenden Trochäen, im Deutschen nachbildet? Eine kleine Minderheit, voran der wackere Gries, hat diesen immerhin rühmlichen Versuch unternommen, und auf den ersten Blick mag er einwandfrei scheinen. Der vierfüßige Trochäus – gereimt oder ungereimt – ist ja sogar in unserer heimischen Dichtung kein allzu seltener Gast. Er war der Lieblingsvers unserer Schicksalsdramatiker; Grillparzer hat in ihm die »Ahnfrau« und den »Traum ein Leben« geschrieben; andere sind ihm darin gefolgt. (Ich selbst in zwei eigenen Bühnenstücken, die in Spanien spielen, dem »Seeräuber« und dem Einakter »Lästige Schönheit«.) Doch trotz alledem läßt sich nicht leugnen, daß dieser Vers niemals ein volles Bürgerrecht bei uns erlangt hat, weil seine Fremdlingsnatur selbst bei geschicktester Behandlung sich verrät. Das Deutsche hat weit eher einen jambischen als einen trochäischen Tonfall. Während also der spanische Trochäus dem Sprachgeist gemäß ist, muß diesem der deutsche erst künstlich angeglichen werden, und auch dann vermag er dessen freien Fluß, dessen unbegrenzte Schmiegsamkeit nicht annähernd zu erreichen, läuft bei längerer Folge Gefahr, auf den Hörer steif, hölzern und eintönig zu wirken. Überdies wird es ihm bei Aufführungen zur Klippe, daß von unseren Darstellern die wenigsten ihn gut sprechen können. Man muß demnach zum mindesten zweifeln, ob man mit seiner Beibehaltung den Spaniern einen Gefallen tut.
Diese Erwägungen haben mich nach langem Schwanken bestimmt, einen bisher unbetretenen Weg einzuschlagen. Ich habe, kurz gesagt, den vierfüßigen Trochäus durch den vierfüßigen Jambus ersetzt, der sich von ihm lediglich durch eine vorgeschlagene Auftaktsilbe unterscheidet. Der Vers, den diese schonende Abwandlung ergibt, ist in Gang und Klang dem deutschen Ohr bei weitem eingängiger, rettet aber zugleich den Schwung und die Leichtflüssigkeit. Ich glaube beinah, die Spanier selbst hätten ihn gewählt, wenn sie als Deutsche auf die Welt gekommen wären.
In allem übrigen bin ich der Urform treu geblieben, habe den Reim, wo er im Original sich findet, bewahrt, das strophische Gefüge der Redondillen, Quintillen, Stanzen, Sonette und so weiter durchgängig nachgebildet.
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Entschlossene Wortführer der Modernität mögen die Erneuerung der alten Spanier für ein ziemlich überflüssiges oder doch rückständiges Unternehmen halten. Daß die dramatische Literatur in der Erkundung und Kündung der Seele weit über sie hinausgeschritten ist, nun ja, wer kann, wer will das bestreiten ? Ebenso unbestreitbar ist es aber, daß sie von ihnen heute noch, heute mehr als je, das Handwerk lernen kann. Eben weil sie dieses vorbildlich beherrschen, sind sie imstand, sich nach Jahrhunderten auf der Bühne einer gänzlich anderen Zeit ehrenvoll und wirkungsvoll zu behaupten, während Experimente von hoher Begabung und dichterischer Kraft, die seiner ermangeln, von vornherein zu einem Eintagsdasein verurteilt sind. Gibt das nicht zu denken? Der Fortschritt der Kunst, ihre Entwicklungs- und Wandlungsfähigkeit, die Vertiefung ihres Schauens, die Verjüngung ihres Gehalts und ihrer Form kennt keinen Stillstand und keine Schranken; ihre handwerkliche Grundlage bleibt sich im großen und ganzen gleich und läßt sich nicht ungestraft verachten. Wer das nicht wahrhaben will, der blicke auf die Architektur. Welche gewaltigen Umwälzungen ihrer vergangenen, welche unabsehbaren Möglichkeiten ihrer künftigen Stilarten! Eines aber haben Antike und Gotik, Renaissance und Zukunftsstil miteinander gemein: die Gesetze der Statik. Wer nicht versteht, wie man einen Stein auf den andern zu setzen, einen Giebel zu stützen, eine Decke zu wölben hat, dessen ausschweifende Phantasie mag die genialsten Luftschlösser ersinnen; doch bei dem ersten praktischen Versuch, sie aufzubauen, stürzen sie ein. Auch das Drama ist seinem innersten Wesen nach Architektur und bedarf deshalb des Aufbaues. Von seinen beiden Hauptfaktoren: Charakteren und Komposition, behandelt man heute den letzteren vielfach als nebensächlich, ja sogar als verdächtig. Man schilt das Dramatische theatralisch und trachtet, es auf der Bühne durch das Lyrische und Novellistische zu verdrängen. Eitles Bemühen! Möglich ist, daß das Theater früher oder später zugrunde geht; nicht möglich aber ist, daß es von undramatischer oder antidramatischer Kost jemals wird leben können. Darum bin ich der Überzeugung, daß ihm gerade jetzt, an einem bedeutsamen Scheideweg, die Spanier als die unübertroffenen Meister der dramatischen Baukunst etwas zu sagen und zu geben haben.