Autorenseite

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einleitung

Eine ungewöhnliche KorrespondenzMan wird bemerken, daß sämtliche Personen, die im Nachfolgenden das Wort ergreifen, an einem sonderbaren Defekt leiden: sie sind vollkommen unfähig, bei der Stange zu bleiben. Es hat dies seinen Grund darin, daß es sich durchwegs um Angehörige der sogenannten geistigen Berufe handelt. Diese unterscheiden sieh bekanntlich von den übrigen Menschen durch einen erstaunlichen Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Man kann es geradezu als das Hauptmerkmal aller geistigen Arbeiter ansehen, vom Dichter und Metaphysiker mit ›Ewigkeitsgehalt‹ bis herunter zum Nachtreporter und Budenausrufer, daß sie stets vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Als gewissenhafter Berichterstatter fühlte ich mich jedoch verpflichtet, den Briefwechsel in dem vollen Umfang wiederzugeben, in dem er tatsächlich stattgefunden hat. Wer jedoch diese bisweilen fast an Gedankenflucht grenzenden Erörterungen ebenso deplaziert findet wie ich, möge sie und die ohnehin nur für rückständige Dickköpfe geschriebene ›Vorerinnerung‹ so rasch wie möglich überfliegen, um dann sogleich mit der gröberen, aber konsistenteren Nahrung zu beginnen, wie sie die Schilderung der Mißgeschicke und Abenteuer des Helden in den späteren Abschnitten bietet.

1.

Mr. H. G. Wells, London

Wien, am 3. Februar 1908

Hochgeehrter Meister!

Ein begeisterter Verehrer, ja Verschlinger Ihrer sämtlichen Werke gestattet sich, eine bescheidene Anfrage an Sie zu richten, die Sie hoffentlich nicht allzusehr belästigt. Sie haben in Ihrem vor längerer Zeit erschienenen prachtvollen Roman Die Zeitmaschine einen Gelehrten geschildert, der mit einem Apparat seiner Erfindung in die vierte Dimension, nämlich in die Zeit, zu reisen vermag. Er versucht es zunächst nach vorne: in die Zukunft, und die Schicksale, die ihm dabei widerfahren, sind von Ihnen mit einer dichterischen Phantasie ausgesponnen, die jeden Leser entzücken muß. Er kehrt zurück, erzählt seine Erlebnisse, besteigt bald darauf wieder den Apparat, um in die Vergangenheit zu reisen und hier bricht der Roman ab. Sie sagen: »Der Zeitreisende verschwand. Und, wie jedermann heute weiß: er ist niemals zurückgekehrt. Wir können nichts tun als uns darüber wundern. Wird er jemals wiederkommen? Vielleicht ist er, als er in die Vergangenheit zurückwirbelte, unter die blutdürstigen behaarten Wilden der frühen Steinzeit geraten oder in die Tiefen des Kreidemeers oder unter die grotesken Saurier, die riesigen Eidechsenungetüme der Jurazeit. Vielleicht promeniert er eben jetzt – wenn ich mir überhaupt eine Vermutung erlauben darf – auf einem von Plesiosauriern bevölkerten Korallenriff oder am Ufer eines einsamen Salzsees der Triasperiode.« Die Stellen aus der ›Zeitmaschine‹ sind nicht in der deutschen Übersetzung zitiert, die sich im Buchhandel befindet, sondern neu übertragen. Auch der Briefwechsel ist in Übersetzung wiedergegeben, da er in englischer Sprache stattfand. Mr. Wells kann nämlich nicht Deutsch: dies dürfte die einzige Eigenschaft sein, die er mit seinem Übersetzer gemeinsam hat. Dies kann nicht für die 1974 entstandene Neuübersetzung von Peter Naujart zutreffen: H. G. Wells, Die Zeitmaschine, detebe 671111(Anm. d. Verlags). Nun aber sind seit dem Erscheinen des Romans bereits einige Jahre verflossen, während deren ich oft und angestrengt über jene Reise in die Vergangenheit gegrübelt habe. Es gibt meiner Ansicht nach hier nur zwei Möglichkeiten. Entweder: in Ihrem Bericht steckt ein Körnchen Wahrheit: in diesem Falle wäre es doch immerhin denkbar, daß man von dem seltsamen Manne inzwischen Nachricht bekommen hätte. Oder aber: er ist überhaupt eine freie Erfindung Ihrer genialen Feder – warum zögern Sie dann solange mit der Fortsetzung der Erzählung, die doch nur von Ihrer Willensentschließung abhängt? Und es spricht alles dafür, daß diese letztere Annahme die zutreffendere ist: sogar das Verhalten des Zeitreisenden selber und noch mehr das seiner Umgebung. Der Zeitreisende sagt einmal: »Wenn Sie die ganze Wahrheit wissen wollen... ich glaube selber nicht recht an alle diese Dinge«, und ein andermal: »Nein, ich kann nicht verlangen, daß Sie das alles glauben. Nehmen Sie es für eine Lüge – oder eine Prophezeiung. Denken Sie: ich habe es in meinem Laboratorium geträumt. Kurz: nehmen Sie es als Roman; aber was halten Sie davon?« Und der ›Herausgeber‹ Mr. Blank (allem Anschein nach der klügste und seriöseste des Kreises) erwidert seufzend: »Wie schade, daß Sie kein Romanschreiber sind!« und erklärt auf dem Heimweg das Ganze für eine »amüsante Lüge«. Und ein Journalist, »ein ernster schüchterner Mann mit einem Bart, der den ganzen Abend lang den Mund nicht auftut« (Sie verschweigen seinen Namen leider ebenso wie den des Zeitreisenden), hüllt sich in vielsagendes Schweigen. Aber selbst gesetzt, es gäbe den Zeitreisenden, was ja trotz allem immer noch möglich ist, und er hätte seine Zeitreise wirklich vollführt, was mir nach allem mehr als unwahrscheinlich vorkommt: dann hätten Sie erst recht die Obliegenheit, alles, was Sie über ihn in Erfahrung bringen konnten, genau zu berichten, und wenn Sie nichts in Erfahrung bringen konnten, wenigstens dies zu berichten. Es ist das ganz einfach eine Pflicht gegen Ihre unzählbaren Bewunderer, zu denen ich zu zählen bitte

Ihren sehr ergebenen
Egon Friedell

P.S. Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir, Sie auch um ein Autogramm zu ersuchen. Aber bitte keinen bloßen Namenszug, sondern einen schönen, recht langen Sinnspruch, der noch nicht im Druck erschienen ist.

2.

Herrn Egon Friedell, Wien

London, am 11. Februar 1908

Mein Herr!

Ihre Hoffnung war trügerisch: Mr. Wells, in dessen Auftrag ich Ihnen schreibe, fühlt sich durch Ihre Anfrage sogar sehr belästigt. Er hält sie für nichts weniger als »bescheiden«. Gibt es etwas Anmaßenderes (als weibliches Wesen kann ich keinen stärkeren Ausdruck gebrauchen) als den Versuch, unter dem Deckmantel der Verehrung fremde Geheimnisse auszuspionieren? Und noch dazu in so manierloser Form! Denn die ebenso unüberlegten wie ungehobelten Ausdrücke: »bewundernswerte Phantasie«, »geniale Erfindung« und dergleichen, mit denen Sie im Zusammenhang mit Mr. Wells um sich zu werfen belieben, kann dieser doch nur als grobe und aufreizende Beleidigungen empfinden. Selbst wenn sie nicht von boshafter Absicht diktiert sein sollten, was ich in Ihrem Interesse annehmen will, zeugen sie von einer blamablen Verständnislosigkeit und sind jedenfalls geeignet, Mr. Wells aufs tiefste herabzusetzen. Auf solche Verehrer verzichtet Mr. Wells! Wofür halten Sie ihn eigentlich? Sie verwechseln ihn offenbar mit einem Politiker. Deren Beruf ist es, Tatsachen zu erfinden. Und wer erlaubt Ihnen, sein wissenschaftliches Protokoll einen Roman zu nennen? Da verwechseln Sie ihn mit seiner Köchin: die hat Phantasie, wie alle undisziplinierten Gehirne. Mr. G. B. Shaw, der ja bei Euch in Deutschland so beliebt ist, hat allerdings die traurige Kühnheit gehabt, Mr. Wells einen Romantiker zu nennen; er weiß aber nicht, daß er selbst ein unheilbarer Phantast und Lügenverbreiter ist, der unter der täuschenden Emballage des ›Realismus‹ eine neue Ideologie in unsere Literatur geschmuggelt hat. Oder vielleicht weiß er es sogar: das spräche für seine Intelligenz, aber auch für seine besondere Gefährlichkeit! Aber wie dem auch sei: Mr. Wells läßt Ihnen sagen, daß alle Dichter der Teufel holen soll! Poesie ist etwas für Kinder und Naturvölker, und selbst die Kinder sollte eine vernünftige Erziehung vor solchem Gift bewahren. Poesie verleitet zur Ungenauigkeit, zur Denkfaulheit, zur Unsittlichkeit. Wer sich systematisch daran gewöhnt hat, nicht bei der Stange der Wahrheit zu bleiben, ja wohl gar einen Ruhm darin erblickt, sie möglichst kühn zu überspringen, wird sehr bald auch in allen andern Dingen des Lebens die Gewissenhaftigkeit verlieren. »Wer lügt, der stiehlt« lautet ein altbekanntes Sprichwort; und in der Tat sehen wir, daß alle Dichter stehlen. Eure Klassiker haben unsern Shakespeare bestohlen, und er selber war der König der Diebe. Aber selbst wenn die Dichter gelegentlich einmal ihre eigenen Gedanken abschreiben, ist das noch immer ein sehr billiges Geschäft. Denn etwas zu erdichten ist hundertmal leichter als etwas zu entdecken, und etwas auszuspinnen ist hundertmal bequemer als etwas nachzuprüfen. Daher hält es Mr. Wells mit Plato, der die Lektüre Homers verbieten wollte, und mit unserem großen Philosophen Mr. Hume, der gesagt hat: Alle Bücher, die keine Angaben über Experimente oder Zahl, Maß und Gewicht enthalten, gehören ins Feuer! Mr. Wells findet die trockenen, aber soliden Ausgrabungsberichte Schliemanns unvergleichlich spannender als die temperamentvollen, aber unsachlichen Faseleien der Ilias und eine Logarithmentafel bedeutend origineller als die ganze Göttliche Komödie.

Aus alledem werden selbst Sie den Schluß zu ziehen vermögen, welche der zwei von Ihnen angenommenen »Möglichkeiten« allein in Betracht kommt. Von den beiden ist nämlich die letztere (daß es sich um eine freie Erfindung handelt) gar keine; denn ein wissenschaftlicher Berichterstatter, der erfindet, ist ganz einfach unmöglich. Möglich, daß es bei Ihnen zuhause solche unmöglichen Leute gibt; bei uns nicht. Die Gründe, mit denen Sie Ihre Vermutung stützen, zeigen Ihre ganze Ahnungslosigkeit, wie ich es gelinde nennen will. Die zweifelnden Äußerungen des Zeitreisenden sind selbstverständlich alle ironisch gemeint, und zwar von einer Ironie, die jedes bessere Pferd verstehen müßte! Was Mr. Blank anlangt, so ist er mit voller Deutlichkeit nicht als der »klügste und seriöseste«, sondern als der bornierteste und oberflächlichste des Kreises geschildert, wofür allein schon sein Beruf bürgt: haben Sie denn nicht bedacht, daß er Herausgeber einer Zeitung ist, und noch dazu einer großen? Aber Sie scheinen ohne ›Konklusionen‹ zu lesen (wieder einmal weiblich zart ausgedrückt). Und Ihr dritter Kronzeuge, der Journalist Mr. Anthony Transic, schweigt allerdings den ganzen Abend, aber nicht »vielsagend«, sondern aus purer Dummheit!

Aber auch die andere Eventualität, die Sie ansetzen, trifft in der Form, in der Sie es tun, keineswegs zu. Der Bericht über die Zeitreise enthält nämlich nicht etwa »ein Körnchen Wahrheit«, sondern die ganze Wahrheit und nicht ein Körnchen Fiktion. Was für sonderbare Vorstellungen von schriftstellerischer Anständigkeit müssen bei Ihnen verbreitet sein! Sie halten es also allen Ernstes für denkbar, daß ein unbescholtener Autor wie Mr. Wells die Stirne haben könnte, einem Referat über ein wissenschaftliches Experiment von höchster Tragweite etwas hinzuzusetzen oder auch nur wegzunehmen? Ein ingeniöser Gelehrter wie Mr.... (hier war im englischen Originalmanuskript etwas sorgfältig durchgestrichen) hätte seine gefahrvollen Versuche also nach Ihrer Ansicht nur zu dem Zwecke gemacht, um Mr. Wells die Unterlage zu einigen feuilletonistischen Spielereien zu liefern? Sehr gütig, daß Sie die Möglichkeit, es gebe den Zeitreisenden, mit einigem Zögern einräumen; natürlich gibt es ihn. Aber Ihr Betragen ist in jedem Fall unentschuldbar. Denn entweder zweifeln Sie an seinem Dasein: dann ist dieser Zweifel eine kontinentale Ungezogenheit, die mit aller geziemenden Entrüstung zurückgewiesen werden muß; oder Sie glauben an sein Dasein: dann ist Ihre Anfrage eine ebenso ungebührliche Indiskretion, denn nur für den Fall, daß es sich um ein Geschöpf der Phantasie handelt, hätten Sie das Recht, über seine Lebensschicksale Auskunft zu verlangen. Und endlich drittens ist es eine Anmaßung, Mr. Wells über seine Verpflichtung belehren zu wollen. Gerade weil er seine Pflicht gegen den Zeitreisenden und dessen Ruf sehr wohl kennt, verweigert er jede Auskunft. An der Striktheit dieser Ablehnung mögen Sie die geringe Delikatesse Ihrer Anfrage ermessen.

Ihre aufrichtige
Dorothy Hamilton
Sekretärin

P.S. Ihr Ersuchen um ein Autogramm muß Mr. Wells ebenfalls ablehnen. Da er von Beruf Schriftsteller ist, so übt er das Schreiben auch nur beruflich aus und fühlt sich nicht veranlaßt, an Privatpersonen schriftliche Arbeiten zu liefern. Er findet Ihr Ansinnen nicht weniger sonderbar, als wenn Sie von einem Buchhalter, dessen Beruf das Rechnen ist, verlangen wollten, er solle zu Ihrem Privatvergnügen eine Kolonne addieren, und dazu noch eine möglichst lange. Und Sie als Schauspieler wären sicherlich sehr erstaunt, wenn einer Ihrer ›Verehrer‹ Ihnen zumutete, ausschließlich für ihn eine Rolle zu memorieren.

3.

Mr. Anthony Transic, London

Wien, am 19. Februar 1908

Sehr geehrter Herr!

Die beiliegenden beiden Kopien informieren Sie über meinen Briefwechsel mit Mr. Wells. Dieser Korrespondenz verdanke ich auch Ihren Namen, der in dem Roman oder vielmehr dem Protokoll über die Zeitmaschine (ob absichtlich oder aus Versehen, kann ich nicht beurteilen) nicht erwähnt wird. Daß mein Brief Sie, obgleich er einer genaueren Adressenangabe entbehrt, ohne erhebliche Verzögerung erreichen wird, steht für mich außer Zweifel, denn die Londoner Post ist so findig, daß sie sogar eine Depesche ohne Namensnennung, nämlich an den Zeitreisenden, bestellte; man kann aber auch sagen: nicht bestellte. Nämlich so: sogleich nach Empfang des Briefes der Miss Hamilton schickte ich ein Telegramm an Time Traveller London und bekam es prompt zurück mit dem Vermerk »gone on a journey«. Das ist ja bei einem ›Reisenden‹ nicht weiter verwunderlich, daß er sich auf einer Reise befindet; nur was das für eine Reise sei, hätte ich gar zu gern gewußt. Ist er noch immer auf der Zeitreise? Oder schon wieder? Oder nur auf einer ganz gewöhnlichen, wie auch andere Sterbliche sie unternehmen? Aber auf solche Detailfragen pflegt die Post leider keine Auskunft zu erteilen. Immerhin ist damit nunmehr unwiderleglich bewiesen, daß der Zeitreisende existiert. Ich will damit nicht sagen, daß ich in die Angaben, die Mr. Wells mir machen ließ, irgendeinen Zweifel gesetzt hätte. Ich habe Mr. Wells immer für einen besonders honorigen Charakter gehalten und tue es jetzt erst recht. Über sein Talent denke ich allerdings seit den Enthüllungen seiner Sekretärin weniger anerkennend. Wenn er nur ein Protokoll geliefert hat, so bleibt an schriftstellerischer Leistung nichts zurück als die von ihr selbst zugegebene Farblosigkeit und Formlosigkeit. Der menschliche Gesichtskreis wird durch seinen Bericht allerdings erweitert, aber das ist nicht sein Verdienst, sondern das des Zeitreisenden. Er hat gar keinen Anlaß, Bernard Shaw so von oben herab abzutun. Denn selbst zugegeben, daß dieser Ideologie eingeschmuggelt hat, so bliebe ihm immer noch der Ruhm der Emballage. Auch ein gänzlich wertloses Medikament, das in einem delikaten Schokoladenüberzug steckt, oder ein exquisit ausgestattetes Knallbonbon, in dem sich nichts als Luft befindet, hätte noch immer einen gewissen Reiz: nennen Sie das immerhin Luxus. Nun enthält aber das, was Mr. Wells Shaws Ideologie nennt, ebenfalls einen Schatz von Wahrheiten; nur sind es keine physikalischen, sondern moralische.

Mr. Wells tut nämlich sehr unrecht, wenn er meine irrtümliche Vermutung, er sei ein Dichter, als grobe Beleidigung empfindet. Zu einer Beleidigung gehört doch die Absicht, und diese war ganz offensichtlich nicht vorhanden. Zudem gilt das hierzulande gar nicht als Ehrenkränkung.

Nun, die Philosophie des Pragmatism, die der Amerikaner William James begründet hat, ist der Ansicht: unser gesamtes Weltbild ist eine Konvention, die sich durchgesetzt hat, weil sie nützlich ist, eine ›praktische Fiktion‹; und der große französische Mathematiker Henri Poincaré sagt in seinem Buch La valeur de la science, auch das System der Mathematik sei nur eine Konvention, es sei weder wahr noch falsch, es sei bequem; wir haben die euklidische Geometrie akzeptiert, nicht weil sie richtiger, sondern weil sie für uns wichtiger ist als die nichteuklidische. Wenn also sogar Linien, Flächen und Würfel Fiktionen sind, so brauchte Mr. Wells sich in seiner wissenschaftlichen Ehre nicht gar so gekränkt zu fühlen, weil ich auch ihm einige zutraute. Wenn Mr. Wells behauptet, ich hätte ihn, als ich ihm Phantasie zuschrieb, mit seiner Köchin verwechselt, so irrt er sich: seine Köchin hat eben die Phantasie einer Köchin, und er hat die Phantasie eines Wells – oder hätte sie, wenn er den Bericht erfunden hätte. Hingegen könnte man seine Sekretärin sehr leicht für eine Köchin halten, da sie gegen einen Briefschreiber, dessen ganze Schuld ein übergroßes Interesse an den Schriften des Mr. Wells ist, einen solchen Ton anschlägt. Ich möchte nicht gerne wissen, was für Ausdrücke sie gebraucht, wenn sie sich nicht so gelinde ausdrückt, wie sie fortwährend versichert.

Dies führt mich zu dem Zweck meines Schreibens. Der Brief der Miss Hamilton erscheint mir nämlich in mehrfacher Hinsicht verdächtig. Wenn ich einen Brief erhielte, über den ich so dächte wie Mr. Wells über meinen, würde ich entweder gar nicht antworten oder mit ein paar kühlen Zeilen. Dieser Brief ist aber ziemlich lang – wesentlich länger als der meine –, woraus ich schließe, daß Mr. Wells aus irgendeinem Grunde ein schlechtes Gewissen hat. Dies deutet er auch am Schluß selber an, indem er sagt, es sei seine Pflicht gegen den Gelehrtenruf des Zeitreisenden, jede Auskunft zu verweigern. Auf dieselbe Vermutung führt auch die auffallend gereizte Tonart des Briefes, die durch den meinigen nicht im geringsten motiviert ist. Die Geschichte hat zweifellos einen Haken, hinter den ich gerne kommen möchte.

Also der Zeitreisende existiert. denn er ist postbekannt. Und existiert doch auch wieder nicht: denn man weiß nicht, wo er ist und ob er überhaupt ist. Denn »gone on a journey« kann bei diesem Reisenden sehr leicht auch Reise in die Ewigkeit bedeuten oder, was dasselbe ist, eine Reise in Welten, die durch unüberbrückbare Zeiträume von uns getrennt sind. Daß er sich aber noch immer auf der Reise befindet und inzwischen nicht ein einzigesmal wieder gelandet ist, glaube ich nicht, und zwar aus folgendem Grunde. In diesem Falle hätte nämlich Mr. Wells bloß zu sagen brauchen: es hat sich nichts Neues ereignet, der Zeitreisende ist nach wie vor verschollen. Ein Anlaß, die Auskunft zu verweigern, läge nicht vor. Andererseits gebe ich Ihnen folgendes Problem zu bedenken, über das ich oft nachgegrübelt habe: wie ist es überhaupt denkbar, daß der Zeitreisende nach Jahren zurückkehrt? Er kann doch nur sofort zurückkehren oder gar nicht. Denn wenn er sich auch ein halbes Jahrhundert lang in der Vergangenheit oder Zukunft aufhielte, so hätte er durch seine Zeitmaschine dennoch stets die Möglichkeit, wieder genau an den Zeitort zu gelangen, von dem er ausgegangen war. Für uns wäre er also gar nicht weggewesen oder doch nur die unbedeutende Zeit lang, deren er mit seiner blitzschnellen Maschine zum Durcheilen der in Frage kommenden Zeitstrecken bedurfte. Sie sehen, die Sache ist ziemlich kompliziert. Man möchte fast sagen, rätselhaft. Aber rätselhaft ist auch das Benehmen des Mr. Wells.

An diesen kann ich mich nicht gut mehr wenden, und es wäre wohl auch aussichtslos. Also bleiben nur die anderen Freunde des Zeitreisenden. Da wäre nun am naheliegendsten Mr. Blank, der ›Herausgeber‹. Ich habe mich aber für Sie entschieden, und zwar gerade weil Sie den ganzen Abend nicht den Mund auftaten. Solche Personen sind erfahrungsgemäß schriftlich sehr mitteilsam. Zudem sind Sie Journalist: und wenn ein Journalist etwas weiß, so kann er es nicht bei sich behalten. Also wenn Sie etwas wissen, so bitte ich Sie herzlichst, es mir mitzuteilen. Meine übrigen Bemerkungen können Sie ruhig für kontinentale Vorurteile halten.

Hochachtungsvoll
Egon Friedell

4.

Herrn Egon Friedell, Wien

London, am 20. März 1908

Werter Herr!

Ihren Brief habe ich mit großer Aufmerksamkeit gelesen: er steckt in der Tat voll von Vorurteilen. Besonders über schriftstellerische Wahrheitsliebe scheint man bei Ihnen sehr sonderbare Vorstellungen zu haben. Und die Monsterbeispiele, die Sie für die Erlaubtheit der Lügenhaftigkeit anführen, finde ich nicht sehr glücklich gewählt. Den Homer haben schon seine eigenen Landsleute, die alten Griechen, nicht ernst genommen, und nicht erst Plato, sondern schon Heraklit, der ihn einen Schädling und Flausenmacher genannt hat, und Pythagoras, der lehrte, Homer müsse in der Unterwelt büßen für die leichtfertigen Fabeln, die er verbreitet habe. Am gründlichsten hat ihn bereits der Philosoph Xenophanes abgefertigt, als er sagte, wenn der Dichter der Ilias als Ochse auf die Welt gekommen wäre, so hätte er die Olympier als Ochsen geschildert; aber diese Dinge werden wahrscheinlich auf den deutschen Schulen aus ›Idealismus‹ verheimlicht. Daß die Maschine etwas Phantastisches an sich hat, will ich nicht leugnen, aber gerade dies, möchte ich sagen, beweist ihre Realität. Denn die Wirklichkeit ist viel phantastischer und phantasievoller als alle Klügeleien und Stoppeleien der Dichter. Es ist ihnen zum Beispiel noch niemals gelungen, ein Fabeltier zu ersinnen, das zugleich originell und überzeugend wäre; aber in der Natur stoßen wir immer von neuem auf Modelle sowohl vorweltlicher als noch lebender Geschöpfe von phantastischstem Einfall, die sie mühelos komponiert hat. Teleskop-Fische, Rädertiere, Seesterne, Seehunde, Flughunde, Vogelechsen, Schrecksaurier! In einer einzigen kleinen Leberblume steckt mehr Konzeption und Gestaltungskraft als in sämtlichen Künstlergehirnen der Welt. Selbst der Drache ist nicht unsere eigene Erfindung, sondern eine Reminiszenz aus der Zeit der Flugreptilien.

Ich habe längere Zeit geschwankt, ob ich Ihren Brief beantworten soll, aber schließlich sagte ich mir, daß Ihr lebhaftes Interesse Ihnen ein Anrecht darauf gibt, die ganze Wahrheit zu erfahren. Wobei ich allerdings bemerken möchte, daß ich von dem Wert der Neugierde nicht so hoch denke wie Sie. Einer der typischsten Fälle der Weltgeschichte zum Beispiel, die Indiskretion des Kolumbus, der so lange im Atlantischen Ozean herumschnüffelte, bis er Amerika entdeckte, ist uns teuer zu stehen gekommen. Christian Science, Negerfrage, Nikotinvergiftung, Syphilis, Trustwirtschaft: das sind so die Hauptspezialitäten, mit denen dieser Erdteil uns beschenkt hat, den Amerikanismus nicht zu vergessen. Sapienti sat. Und Kartoffeln esse ich nicht.

Aber um ehrlich zu sein: der obige Grund war für mich nicht der entscheidende. Hinzu kam als wichtigstes Motiv die Rücksicht auf meinen Freund, den Zeitreisenden. Ich finde nämlich, daß Mr. Wells eine verfehlte Taktik beobachtet. Die übergroße Schroffheit seiner Ablehnung ist in der Tat geeignet, Verdacht zu erwecken. Er hätte sich zumindest dazu nicht der Miss Hamilton bedienen dürfen, denn nach der Ansicht aller, die sie kennen, ist dieser Rotkopf ein Blaustrumpf, und ein naseweiser dazu. Sie hat die Gelegenheit benützt, um allerhand Halbkenntnisse auszukramen, und sich entschieden im Ton vergriffen. Der Ausfall gegen Mr. Shaw war höchst überflüssig: was kann er denn dafür, daß er wirtschaftlich gezwungen ist, Melodramen zu schreiben (siehe Shakespeare)? Unter diesen Umständen haben Sie vollkommen recht, wenn Sie das Schweigen des Mr. Wells als das versteckte Bekenntnis einer Schuld des Zeitreisenden auslegen. Und um Ihnen zu beweisen, daß Sie unrecht haben, will ich Ihnen alles enthüllen.

Denn von einer Schuld kann hier keineswegs die Rede sein. Eher von Pech. Oder von Zerstreutheit. Schließlich kann man nicht an alles denken, das werden Sie doch verstehen. Das heißt: bis jetzt verstehen Sie noch gar nichts. Aber die Sache war im Grunde sehr einfach – so einfach, wie eben nur die Wahrheit sein kann.

Der beigebogene Bericht hat den Vorteil, daß er sich fast durchwegs aus Aufzeichnungen zusammensetzt, die sogleich nach jedem Ereignis niedergeschrieben wurden. Dies verbürgt bis zu einem fast vollkommenen Grade sowohl ihre Treue wie ihre Lückenlosigkeit. Wo der Zeitreisende spricht, habe ich mich bemüht, möglichst wörtlich zu reproduzieren, und auch dies dürfte mir in hohem Maße gelungen sein, da ich ein sehr gutes Gedächtnis besitze und außerdem als Interviewer in der Wiedergabe mündlicher Äußerungen durch ein jahrelanges Training geschult bin. Im übrigen habe ich natürlich weder das Talent noch den Ehrgeiz, ein Erzähler zu sein, aber auch der Zeitreisende ist, wie Sie bemerken werden, kein guter Erzähler: das pflegen hervorragende Naturforscher höchst selten zu sein. Newton hat zwar bekanntlich große theologische Abhandlungen verfaßt; aber die Erzählungskunst, die er in diesen entwickelt, hätte wohl kaum seinen Weltruf begründet. Mir sind nur zwei Naturforscher von Weltruf bekannt, die zugleich große Darsteller waren: der Franzose Buffon und der deutsche Professor Helmholtz. Aber auch diese beiden Ausnahmen lassen sich erklären: Buffons Gebiet war die beschreibende Naturwissenschaft, die mit Recht Naturgeschichte heißt und daher, wenn sie wahrhaft gemeistert werden will, einen großartigen Erzähler verlangt; und was Herrn Helmholtz anlangt, so war seine Krondomäne die Theorie: es sind ihm zwar einige bewunderungswürdige Erfindungen zu verdanken, zum Beispiel der Augenspiegel, aber in seiner Haupteigenschaft war er spekulativer Physiker, ich möchte sagen: Philosoph. Und der Philosoph stellt dar, der Forscher hingegen, zumal der praktische, stellt fest. Nun aber ist der Zeitreisende so durch und durch Praktiker, daß er nichts als Praktiker ist: ihn interessiert nur die Anwendung, niemals die Theorie. Und von Naturgeschichte versteht er ungefähr so viel, daß ich nicht sicher bin, ob er eine Linde von einer Eiche unterscheiden kann und ob er die Wölfe zum Geschlecht der Hunde oder der Katzen rechnet.

Da ich aus dem miserablen Englisch Ihrer beiden Briefe schließen muß, daß Sie diese Sprache nicht sonderlich beherrschen, so habe ich den Bericht durch meine Gattin Laura, geborene Müller, die selber eine Deutsche ist, übersetzen lassen. Ich setze selbstverständlich voraus, daß Sie die Mitteilungen, da sie zum Teil kompromittierendes Material enthalten, als streng vertraulich behandeln und nicht herumzeigen oder gar der Öffentlichkeit übergeben. Ich hoffe, Sie werden den Eindruck gewinnen, daß ich kein Dummkopf bin, wie Mr. Wells anzunehmen beliebt. Ich habe den ganzen Abend lang weder »aus Dummheit« noch »vielsagend« geschwiegen, sondern weil man mich nichts gefragt hat. Wir Engländer reden nämlich nur, wenn wir gefragt werden. Sie haben gefragt: hier ist die Antwort.

Anthony Transic


   weiter >>