Egon Friedell
Wozu das Theater?
Egon Friedell

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Das Leben als Spiel

Die Überwindung des Theaters

Aphorismen

I

Unter dem despotischen Druck der Theatrokratie ist unser ganzer dramatischer Sinn für das Theater aufgebraucht worden. Auf allen andern Gebieten aber haben wir diesen natürlichen Trieb gewaltsam verschnitten und seiner produktiven Kräfte beraubt. Auf allem, was nicht Theater ist, lastet heute noch der Fluch der Langweiligkeit und der Unlebendigkeit. Alles andere ist ›Arbeit‹, ›Studium‹; nur das Theater gilt als ›Vergnügen‹. Wenn die Wissenschaft und mit ihr das Denken noch als bloße Gehirnangelegenheit kompromittiert ist, so ist nicht zuletzt die Theatrokratie daran schuld. Aber das Denken ist eine Leidenschaft, und wahrscheinlich die furchtbarste und fruchtbarste, die es gibt. Wenn einmal die Herrschaft des Theaters gebrochen ist, wird diese Leidenschaft ihr Haupt erheben und ihre Dramen schaffen, die sich zu den bisherigen Dramen verhalten wird wie tiefe Romane zu Lesestücken aus A-B-C-Büchern. Sie wird Gebiete der Seele entdecken und exploitieren, von denen wir noch keine Ahnung haben. Und auch unser Leben, das heutzutage so undramatisch und unpoetisch verläuft, wird eine höhere Bewegung bekommen, wenn unsre dramatischen Bedürfnisse nicht mehr im Theater eine so billige Befriedigung finden werden. Der dramatische Sinn wird dem Leben direkt zugute kommen, und nicht mehr bloß den Theaterdirektoren.

II

Das Theater hat sich im Laufe der Kulturentwicklung immer mehr von der Kunst entfernt, und allmählich hat sich zwischen beiden ein direkter Dualismus herausgebildet. Das Endresultat dieses Prozesses wird vielleicht die Verschmelzung von Varieté und Theater zu einer ›höhern Einheit‹ sein; denn beide nähern sich einander schon in sehr beachtenswertem Maße: Das Varieté wird immer theatralischer, und das Theater wird immer varietémäßiger . . . Einem Theaterfeind muß dieser Entwicklungsgang eigentlich sympathisch sein, denn je zirkusmäßiger das Theater wird, desto mehr wird die Kunst davon abgeschreckt werden, sich zum Theater zu degradieren.

III

Es steht zu hoffen, daß die Dichtkunst mit der Zeit überhaupt aufhören wird . . . Wenn sie aufhört, wird es mehr Dichter geben und größere. Die Dichter, die wir bis jetzt gesehen haben, haben alle ihre verfügbare Poesie und Romantik auf lyrische Gedichte abgezogen oder in einen Roman eingedünstet. So bleibt nichts für das Leben übrig. (Auch von den Theaterkomikern wird ja behauptet, daß sie im Leben zumeist recht morose Leute seien.) Es ist außerdem auch gar nicht ausgemacht, daß zum Dichten notwendig ›Werke‹ gehören. Ja, es ist noch sehr die Frage, ob jene Genialität nicht höher steht, die sich in den täglichen improvisierten Lebensäußerungen eines Menschen offenbart. Die ›Werke‹ zeigen uns ja immer nur eine präparierte Genialität, die die Frucht langer Erwägungen, Übungen und Versuche ist. Vielleicht wäre der größte Künstler derjenige, der sagen könnte: Das einzige Kunstwerk, das ich geschaffen habe, ist meine Biographie.


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