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Zeitgeist

Gewisse Menschen schmecken fade, gleich chemisch reinem Wasser. Was hilft es uns, daß der Kenner uns versichert, hier sei Wasser, unser Lebensquell, in seiner edelsten, geläutertsten Form, in seiner Idee gleichsam, nichts mehr sei da als reines H und reines O: wir mögen es doch nicht trinken. Lieber noch halten wir die Hand unter die Dachtraufe. Und ebenso geht es uns mit Leuten, die nur die allgemeinen Bestandteile des Menschen haben und weiter nichts. Sie sind uns eben zu destilliert, zu »abgeklärt«, wie wir höflich umschreibend sagen: in Wirklichkeit aber meinen wir damit ganz einfach, daß sie ungenießbar sind. Sie sind ohne Farbe, Geschmack und Nährwert, sie haben keine Salze und keinen Erdgehalt. Dasselbe gilt von ganzen Zeitaltern: sie sind nichts Lebendiges, keine Quellen; alles ist aus ihnen herausgeschlämmt, herausgedämpft; es fehlt ihnen an scharfen Säuren und bitteren, unlöslichen Bestandteilen: an Problemen.

Banalität

Die Bemerkung: »Das ist mir nichts Neues, das habe ich schon irgendwo gehört« wird man am häufigsten im Munde untalentierter, unkünstlerischer, unproduktiver Menschen hören. Der begabte Mensch hingegen weiß, daß er nichts »schon irgendwo gehört hat« und daß alles neu ist.

Liebe

Liebe ist zumeist ein Kontrakt, den zwei Eitelkeiten miteinander schließen; wobei gewöhnlich eine Partei die überfordernde ist.

Bildung

Im Grunde können wir den andern nur sagen, was sie schon wissen. Wir vermögen einem Menschen nur diejenigen Dinge mitzuteilen, die er immer schon latent in sich gehabt hat. Im anderen Falle wird er sie entweder rundweg ablehnen oder so lange »auf seine Art« auslegen, bis sie ihm ähnlich sind und nicht mehr uns.

Mythologie

Unsere Mythologie lesen wir täglich dreimal in der Zeitung.

Schicksal

Dem Menschen bleibt nur die Wahl zwischen Schmutz und Langeweile. (Schiller sagte »Sinnenglück« und »Seelenfrieden«.)

Selbstmord

Die beiden großen Mächte, die uns zwingen, unser Dasein auch unter widrigen Umständen fortzusetzen, sind die Hoffnung und die Neugierde.

Kritik

Die »parteiische«, »subjektive« Kritik ist die objektivste, sie ist die einzige objektive. Die Forderung, »unparteiisch zu sein«, ist gleich der Forderung, sich für eine Sache nicht zu interessieren. Der einzige Zugang zu einer Sache ist aber gerade das »vorurteilsvolle« Interesse.

Evidenz

Jede neue Wahrheit beginnt als Anachronismus, sie wird erst langsam wahr. Es braucht immer eine gewisse Zeit, bis ihre Tiefe heraufsteigt, nach oben kommt und sichtbar, das heißt: oberflächlich wird.

Fortschritt

Der Mensch nimmt zweifellos an Lächerlichkeit zu, das darf als ausgemacht gelten. Ein Mensch aus der Zeit der Sachsenkriege würde sich über einen modernen Europäer den Buckel vollachen. Für Kinder gibt es nichts Komischeres als Erwachsene. Aber wir machen es ja ebenso. Wir haben gegenüber allen Fortschritten des menschlichen Geistes, solange sie noch nicht dem breiten Durchschnitt der gerade vorhandenen Gehirne entsprechen, d.h. solange sie noch nicht von der Mittelklasse eingeholt sind, etwa dieselbe Haltung, wie der Bauer aus den »Fliegenden Blättern«, der sich über die Einrichtungen der »verrückten Stadtleut'« nicht genug lustig machen kann.

Erkenntnis

Es steht nicht in unserer Macht, Irrtümer abzulegen, wie man Kleider ablegt, weil einem andere besser gefallen; sondern erst, wenn wir unsere Irrtümer nicht mehr brauchen, wenn sie wirklich »aufgetragen« sind, erst dann entsteht in uns die Kraft, sie abzulegen.

Menschenmaterial und verschiebbare Letter

Die beiden anderen »Tendenzen des Zeitalters«: das Schießpulver und der Buchdruck haben zweifellos ungleich verderblicher gewirkt als die Alchimie. Durch den Gebrauch der Feuerwaffen ist ein Moment der Verpöbelung, Barbarisierung und Mechanisierung ins Kriegswesen gekommen, wie es bisher unbekannt war. Durch das Pulver wird der Mut demokratisiert, nivelliert, entindividualisiert. Der ritterliche Kampf, Mann gegen Mann, zu Pferde, mit besonderen Schutz- und Angriffsrüstungen, deren Handhabung Sache eines besonderen Talents oder doch zumindest einer durch Jahre und Generationen währenden Übung und Züchtung war, schuf eine bestimmte Gesellschaftsklasse, ja Rasse, deren Beruf der Mut war. Mit dem entscheidenden Auftreten der Feuertaktik und des Fußvolks hört der Krieg auf, Sache einer besonderen Menschenart, Gemütsanlage und Fähigkeit zu sein, der Mut ist allgemein geworden, das heißt: er ist verschwunden. Die Waffe ist nicht mehr ein persönliches Organ des Menschen, gleichsam ein Glied seines Körpers, sondern der Mensch ist ein unpersönliches Organ der Waffe, nichts als ein Glied der großen Kriegsmaschine. Hieraus folgt zweierlei: erstens eine viel größere Skrupellosigkeit und Brutalität in der Kriegsführung, da der einzelne nur noch ein leicht ersetzliches Teilchen des Ganzen, sozusagen ein Stück Fabrikware, ein leicht herstellbarer Massenartikel ist, und zweitens die Ausdehnung der Kriegstätigkeit auf viel größere Teile der Bevölkerung, schließlich auf alle. Der Begriff »Menschenmaterial« ist erst durch die Erfindung des Schießpulvers geschaffen worden, ebenso wie die allgemeine Wehrpflicht, denn eine allgemeine Pflicht kann nur sein, was jeder kann. Daher ist die Geschichte der Neuzeit die Geschichte der fortschreitenden Auflösung des Kriegsbegriffes, seines ursprünglichen Inhalts und Sinns. Die letzte Stufe dieser Selbstzersetzung bildet der Weltkrieg: der Krieg aus Geschäftsgründen.

Eine ähnliche mechanisierende und nivellierende Tendenz wohnt der Druckerpresse inne, die übrigens nie eine so allgemeine Bedeutung erlangt hätte, wenn ihre Erfindung nicht mit der Einführung guten und billigen Papiers zusammengefallen wäre. Gutenberg (oder wer es sonst war) zerlegte die Holztafeln, mit denen man zuerst Bilder, später Unterschriften und schließlich auch schon Bücher gedruckt hatte, in ihre einzelnen Bestandteile, die Buchstaben. Hierin liegt zunächst eine Tat des Individualismus, eine Befreiung aus der Gebundenheit, Assoziation und Korporation des Mittelalters. Die Elemente, die Zellen gleichsam, die den Organismus des Wortes, des Satzes, des Gedankens aufbauen, machen sich selbständig, freizügig, jede ein Leben für sich, unendliche Kombinationsmöglichkeiten eröffnend. Bisher war alles fest, gegeben, statisch, konventionell; jetzt wird alles flüssig, variabel, dynamisch, individuell. Die verschiebbare Letter ist das Symbol des Humanismus. Aber die Kehrseite ist: es wird auch alles mechanisch, dirigierbar, gleichwertig, uniform. Jede Letter ist ein gleichberechtigter Baustein im Organismus des Buches und zugleich etwas Unpersönliches, Dienendes, Technisches, Atom unter Atomen. Ähnliche Erscheinungen hat der neue Geist auch auf anderen Gebieten gezeitigt. Vom Kriegswesen sprachen wir soeben: jeder Ritter war eine Schlacht für sich, der Soldat ist bloß eine anonyme Kampfeinheit. An die Stelle des Bürgers tritt der Untertan, an die Stelle des Handwerkers der Arbeiter, an die Stelle der Ware das Geld. Alle vier: Soldat, Untertan, Arbeiter und Geldstück haben das Gemeinsame, daß sie gleichartige Größen, reine Quantitäten sind, die man nach Belieben addieren, umstellen und auswechseln kann. Ihr Wert wird nicht so sehr durch ihre persönlichen Eigenschaften als durch ihre Zahl bestimmt. Dasselbe zeigt sich auch auf dem Gebiet des Komforts und der ganzen äußeren Lebenshaltung. Der Mensch der Neuzeit hat praktischere Möbel, schnellere Fahrzeuge, wärmere Öfen, hellere Beleuchtungskörper, bequemere Wohnhäuser, bessere Bildungsanstalten als der mittelalterliche, und die und noch hundert andere Dinge garantieren ihm ein freieres, unbelasteteres, individuelleres Dasein: aber alle diese Möbel, Fahrzeuge, Öfen, Beleuchtungskörper, Wohnhäuser und Bildungsanstalten sind vollkommen gleich. Es muß eben in Natur und Geschichte immer für alles bezahlt werden. Es entsteht die Individualität, und es verschwindet die Persönlichkeit.

Die Welt im Gaslicht

Die zweite Etappe des neunzehnten Jahrhunderts beginnt mit der Julirevolution vom Jahre 1830 und endet mit der Februarrevolution vom Jahre 1848. Diese Einteilung bietet sich als so selbstverständlich an, daß es kaum ein Geschichtswerk geben dürfte, in dem sie nicht angewendet wäre. Hieß die Parole der Romantik: weg von der Realität, weg von der Gegenwart, weg von der Politik, so lautet nunmehr das Schlagwort Realismus: das Denken und Fühlen des Zeitalters kristallisiert sich mit prononcierter Ausschließlichkeit um Fragen des Tages, und die europäische Seele stimmt ein millionenstimmiges politisches Lied an. Dieser lärmende Kampfgesang mußte sich erheben, den ganzen Erdteil erfüllend und alles andere übertönend; und daß er sich erhob, war zuvörderst das Werk jener, die ihn mit ebenso unklugen wie unmenschlichen Mitteln zu unterdrücken versucht hatten. In ihm sang das Fatum; aber garstig.

In diesem Geschichtsabschnitt wird Europa zum erstenmal häßlich. Wir sagten im ersten Bande, daß jeder historische Zeitraum in eine bestimmte Tages- oder Nachtbeleuchtung getaucht sei; diese Welt hat zum erstenmal eine künstliche: sie liegt im Gaslicht, das schon in den Tagen, wo der Stern Napoleons sich zum Untergang neigte, in London aufflammte, fast gleichzeitig mit den Bourbonen in Paris einzog und in langsamem und zähem Vordringen sich schließlich alle Straßen und öffentlichen Lokalitäten eroberte. Um 1840 brannte es überall, sogar in Wien. In diesem lauten und trüben, scharfen und flackernden, prosaischen und gespenstischen Licht bewegen sich dicke geschäftige Kellerasseln von Krämern, deren abenteuerlich mißgebaute Kleidung uns nur deshalb nicht voll zum Bewußtsein kommt, weil die unsrige von ihr stammt. Der Oberkörper steckt in der schlotterichten Röhre des Gehrocks, der den Frack in die heutige Rolle des Abendfestkleids verdrängt, der Hals in dem grotesken Kummetkragen. Das triste und unpersönliche Schwarz wird immer mehr dominierend, so daß alsbald jeder Mensch, der Anspruch darauf macht, für seriös zu gelten, einem Notar oder Bestattungsbeamten gleicht; daneben ist nur noch das schmutzige Braun oder Grau zulässig, und höchstens die Weste prangt in allerhand (meist geschmacklosen) Mustern. Die Hosen sind lächerlich weit, gern abscheulich kariert, der »Steg« zieht sie nach Art der Reithosen über die Schuhe, wodurch ihre Fasson vollends unmöglich wird. Über dem Rock erhebt sich der Vatermörder, bis zum heutigen Tage Provinzkomikerrequisit, mit dem gestärkten und gefältelten Vorhemd, in dem zwei gänzlich unmotivierte Goldknöpfe stecken, und der unförmig breiten schwarzen oder weißen Halsbinde, in der zwei durch ein Kettchen verbundene Busennadeln sich höchst barbarisch ausnehmen. Dazu in Friseurlöckchen gebranntes Haar und bei der jüngeren Generation auch bereits allerhand absonderliche Haarbildungen im Antlitz: Backenbärte, Schifferbärte, Seehundsbärte, Bocksbärte, Henriquatres. Neu (zumindest in seiner Allgemeinheit) ist auch das geränderte Monokel am albern wirkenden breiten Band, das kein Dandy entbehren kann, und der »Cigarro«, der eigentlich die Urform des mexikanischen Tabakgenusses war, aber erst jetzt durch die Einführung des Deckblatts mit der Pfeife in siegreiche Konkurrenz tritt, in Preußen auf der Straße zuerst überhaupt verboten, dann durch Polizeiverordnung »wegen Feuersgefahr« in ein Drahtgestell gesperrt, von Byron besungen, von Heine refüsiert, von Schopenhauer beschimpft. Er verhält sich zur Pfeife wie die Nervosität der neuen schnelldenkerischen Zeit zur Behaglichkeit und Nachdenklichkeit der alten: man kann sich einen modernen Börsenmann nur schwer ohne eine dicke Zigarre vorstellen, aber unmöglich mit einer Pfeife. Übrigens wird erst durch die Zigarre das Rauchen salonfähig und verdrängt dadurch schrittweise das Schnupfen, das bisher gerade für elegant galt.

Auch die Damentracht ist durch einige recht unvorteilhafte Neuerungen charakterisiert. Zunächst gelangt wieder der unschöne Reifrock zur Herrschaft, wegen der Wülste aus crin, Roßhaar, die ihn in Fasson halten, Krinoline genannt, dem die drei- und vierfachen Volants noch eine besondere Plumpheit verleihen; er wirkt jetzt nicht mehr als bizarres, aber anmutiges Instrument der Koketterie wie der »Hühnerkorb« des Rokokos oder als Requisit steifer, aber stilvoller Grandezza wie der »Tugendwächter« der Gegenreformation, sondern in der neuen verbürgerlichten und materialistischen Welt als lästige und skurrile Aufdonnerung. Dazu treten allmählich die höchst unkleidsamen Knöchelstiefeletten und die Glacéhandschuhe, die erst jetzt das Naturleder allgemein verdrängen, obgleich die französische Erfindung des Lederglänzens bereits um 1700 von emigrierten Hugenotten über Europa verbreitet worden war: in ihrer Bevorzugung äußert sich die primitive Freude des Parvenüs an allem Satinierten. Das Haar wurde reizlos glatt gescheitelt, am Hinterkopf sehr hoch frisiert und mit monströsen Kämmen festgehalten, was man »chinesisch« nannte, oder in dicken geflochtenen oder gebrannten Wülsten rechts und links um die Ohren gelegt, was man »griechisch« nannte; auch lange Schmachtlocken, die zu beiden Seiten des Kopfes herabhingen, waren öfters Mode. Alles in allem genommen ist das weibliche Kostüm nicht annähernd so abstoßend gewesen wie das männliche, es ist aber auch für den Zeitstil niemals so bezeichnend wie dieses, und zwar ganz einfach deshalb, weil der Satz Weiningers, das Weib sei vom Manne geschaffen, seine sinnfällige Bestätigung unter anderem darin findet, daß der Mann das jeweils herrschende erotische Ideal und damit die Tracht bestimmt, während die Frau sich bloß passiv ausführend verhält; was sich auch darin zeigt, daß die Geschichte ihrer Kleidung überraschend geringere Variationen aufweist und nicht viel mehr ist als ein Turnus einiger viel rascher wechselnder; aber auch viel häufiger wiederkehrender Nuancen: der Länge der Schleppe, der Höhe der Frisur, der Kürze der Ärmel, der Bauschung des Rockes, der Entblößung der Brust, des Sitzes der Taille. Selbst radikale Revolutionen wie das heutige knabenhaft geschnittene Haar sind nur die »ewige Wiederkunft des Gleichen«: schon die italienischen und burgundischen Damen des fünfzehnten Jahrhunderts und die ägyptischen des Alten Reichs kannten die Pagenfrisur: die Sphinx trägt einen Bubikopf. Vor der historischen Phantasie taucht denn auch, wenn man sich den Zeitstil vergegenwärtigen will, fast immer zuerst das männliche Exterieur auf, weil es physiognomischer ist; und tatsächlich macht es auch stets die stärksten und charakteristischsten Veränderungen durch. Im Dreißigjährigen Krieg zum Beispiel hat alle Welt den Ehrgeiz, wie ein martialischer Landsknecht oder provokanter Raufstudent auszusehen; fünfzig Jahre später hat sich der wüste Haudegen in einen bedächtigen, würdevollen Kronbeamten oder Universitätsrektor verwandelt, der stets bereit scheint, eine Testamentseröffnung oder eine Disputation vorzunehmen; und nach weiteren fünfzig Jahren ist aus ihm ein fragiler, verzärtelter Knabe geworden, der an nichts zu denken scheint als an Amouren. Hält man aber die gleichzeitige Frauenkleidung daneben, so sind die Differenzen viel geringer und bisweilen nur von einem Kostümkenner herauszufinden: den Kardinalunterschied macht eigentlich nur die Verwendung des Puders und der Perücke, und auch diese beiden sind männliche Erfindungen.

Betrachtet man nun diese »Söhne der Jetztzeit« »mit Brillen statt der Augen, als Resultat der Gedanken einen Cigarro im tierischen Maul, einen Sack auf dem Rücken statt des Rocks«, wie Schopenhauer sie ohne Wohlwollen, aber recht zutreffend charakterisiert hat, in einer Kleidung, die an Geschmacklosigkeit nur noch von der nächstfolgenden übertroffen wurde, so muß man trotzdem sagen, daß sie einen sehr prägnanten, ausdrucksvollen Stil besaßen, nicht nur weil es, wie wir schon im vorigen Kapitel hervorhoben, ein stilloses Kostüm überhaupt nicht gibt, sondern weil auch gerade sie in der Gestaltung ihrer äußeren Lebensformen eine besondere Energie entwickelten. Es ist die Tracht, wie sie die zur Herrschaft gelangte Großbourgeoisie sich geschaffen hatte: sachlich, wirklich und unspielerisch und daher langweilig, undekorativ und phantasielos wie alles, was der Financier außerhalb seines Kontors tut; praktisch, plebejisch, von tierischem Ernst; eine Tracht für Verdiener, Buchmacher und Geschäftsreisende, die in Qualm und Ruß leben, für Händler und Journalisten, rasche plumpe Agenten des Warenverkehrs oder der Nachrichtenvermittlung. Die Verkleidung ist zur Kleidung herabgesunken.

Lokomotive Nummer eins

Da die Menschen sich aber nicht bloß ihre Kleider machen, sondern auch ihre ganze übrige Lebensvisage bis zur Kontur ihrer Gesten und zum Profil ihrer Landschaft, so verändert sich überhaupt alles ins Nützlich-Häßliche. Durch die blühende Natur beginnen sich hastige schwarze Riesenschlangen zu winden, üble Dämpfe aus ihren Mäulern stoßend, zahllose Feuerschlote recken ihre grauen Hälse in den Himmel, und bald werden auch endlose Drähte, dubiose Zahlennachrichten surrend, dessen Ruhe stören. 1814 hatte Stephenson seine Lokomotive gebaut; aber erst das Walzen der Schienen, das 1820 gelang, machte die Erfindung praktikabel. Fünf Jahre später wurde zwischen Stockton und Darlington, zwei kleinen Städten in der englischen Grafschaft Durham, die erste Eisenbahnlinie eröffnet, und noch heute ist auf dem Bahnhof von Darlington »Lokomotive Nummer eins« zu sehen, die Stammutter jenes Millionengeschlechts von fauchenden Landungeheuern; nach weiteren fünf Jahren verkehrten die Dampfwagen schon zwischen Liverpool und Manchester. Auf dem Kontinent kam es zunächst nur zur Anlage von ganz kurzen Strecken, die man ebensogut mit Pferden, ja zu Fuße hätte zurücklegen können: 1835 zwischen Nürnberg und Fürth, 1837 zwischen Leipzig und Dresden und zwischen Paris und Saint-Germain, 1838 zwischen Berlin und Potsdam, Wien und Wagram; man betrachtete die Neuheit anfangs nur vom Standpunkt der Unterhaltungskuriosität. In Amerika aber verkehrte 1839 zwischen Baltimore und Philadelphia bereits der erste Schlafwagen. Jenseits des Ozeans wurde auch das erste Dampfschiff erblickt: der »Clermont«, der 1807 auf dem Hudsonfluß von New York nach Albany fuhr, und der erste Meerdampfer: der »Phönix«, der die Verbindung zwischen New York und Philadelphia herstellte. Der erste überseeische Dampfer war die ebenfalls amerikanische »Savannah«, die 1818 in sechsundzwanzig Tagen die Strecke New York-Liverpool zurücklegte. England blieb nicht zurück: in dem Zeitraum zwischen dem Wiener Kongreß und der Julirevolution hatte es die Zahl seiner Passagierdampfer von zwanzig auf mehr als dreihundert erhöht und 1833 baute es den ersten Kriegsdampfer. Auf dem Rhein aber wurden Dampfer deutscher Provenienz erst 1825 in Betrieb gesetzt; in demselben Jahre lief bereits der erste englische Dampfer nach Ostindien. Zum großen Weltvehikel wurde das neue Verkehrsmittel durch die Erfindung der Schiffsschraube. Sie gelang bereits im Jahre 1829 dem Triestiner Joseph Ressel; aber die österreichische Polizei verbot die Probefahrten. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurden die Versuche in England wieder aufgenommen, und dort ging, zehn Jahre nach Ressels Fiasko, der erste Schraubendampfer vom Stapel. Nun kam Deutschland langsam nach. 1842 wurde ein regelmäßiger Dampferverkehr zwischen Bremen und New York eröffnet, 1847 wurde die Hamburg-Amerika-Linie gegründet. Aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts überflügelte der Steamer überall das Segelschiff: bis dahin hatte er noch vielfach mit dem Konservativismus des Publikums und der Trägheit der Regierungen zu kämpfen. Auf noch größere Widerstände stieß die Einführung der Eisenbahn. Als in Bayern die erste deutsche Linie gebaut werden sollte, gab die medizinische Fakultät zu Erlangen das Gutachten ab, daß der Fahrbetrieb mit öffentlichen Dampfwagen zu untersagen sei: die schnelle Bewegung erzeuge unfehlbar Gehirnkrankheiten, schon der bloße Anblick des rasch dahinsausenden Zuges könne dies bewirken, es sei daher zumindest an beiden Seiten des Bahnkörpers eine fünf Fuß hohe Bretterwand zu fordern. Gegen die zweite deutsche Eisenbahn, die von Leipzig nach Dresden lief, strengte ein Müller einen Prozeß an, da sie ihm den Wind abfange; und als sie einen Tunnel erforderte, erklärten sich die ärztlichen Gutachten gegen den Bau, da ältliche Leute durch den plötzlichen Luftdruckwechsel leicht vom Schlage gerührt werden könnten. Den entgegengesetzten Standpunkt vertrat der Kaiser Ferdinand bei der ersten österreichischen Linie Wien–Baden, indem er hartnäckig einen Tunnel verlangte, denn eine Eisenbahn ohne Tunnel sei keine richtige Eisenbahn. Der preußische Generalpostmeister Nagler warnte vor der Errichtung einer Linie zwischen Berlin und Potsdam, denn die Diligence, die er viermal in der Woche auf dieser Strecke verkehren lasse, sei ja schon halb leer, und auch der König meinte, er könne keine Glückseligkeit darin finden, daß man einige Stunden früher in Potsdam ankomme. Tieck, dorthin in Audienz berufen, weigerte sich, die Bahn zu benutzen und fuhr im Wagen neben ihr her. Auch Ludwig Richter war ein Gegner der Dampfwagen, Thiers prophezeite, ihre Einführung werde keine großen Veränderungen zur Folge haben, und Ruskin bemerkte: »Das Eisenbahnfahren sehe ich überhaupt nicht mehr als Reisen an; das heißt einfach, an einen andern Ort verschickt werden, nicht viel anders, als wäre man ein Paket.« Der Fürst von Anhalt-Cöthen dagegen war ein so begeisterter Anhänger der neuen Erfindung, daß er erklärte: »Ich muß in meinem Land auch so eine Eisenbahn haben, und wenn sie tausend Taler kosten sollte.« Seit etwa 1845 aber gab es schon allenthalben in Europa Eisenbahnen und Steamer, man verherrlichte die neuen Fahrzeuge in Abhandlungen und Gedichten, und alle Welt wurde von einem wahren Reisefieber erfaßt, das sich auch literarisch äußerte: Reisebilder, Reisebriefe, Reisenovellen waren das bevorzugte Genre der Autoren und Leser. Der dichtere, schnellere und tragfähigere Verkehr, den die Dampfkraft ermöglichte, wurde nicht, wie die meisten vorausgesagt hatten, der Ruin der übrigen Beförderungsmittel, sondern wirkte auf sie indirekt fördernd: zumal in Deutschland hatte er den Ausbau eines Chausseesystems zur Folge, wie es Frankreich schon seit Richelieu besaß. Das dritte große Ereignis auf dem Gebiet der Technik, der Erfindung des Dampfschiffs und des Dampfwagens mindestens ebenbürtig, war die Einführung der Steinkohle, eine Neuerung, die wiederum England am meisten zugute kam, das von diesem Brennstoff die größten Lager besaß und auch seinen Wert zuerst erkannte. Da es außerdem von Anfang an in der Entwicklung des Maschinenwesens an der Spitze gestanden hatte, so besaß es auch die erfolgreichen Mittel zur Gewinnung des neuen Energielieferanten, und es ergab sich die Wechselwirkung, daß die immer zahlreicheren Maschinen immer mehr Kohle förderten und die immer reicher geförderte Kohle die Erzeugung immer stärkerer Maschinen ermöglichte. Engländer waren auch Heathcoat, der 1833 den Dampfpflug erfand, und Nasmyth, der 1842 den ersten Dampfhammer baute.

Die Schnellpresse

Die gewichtigste Maschine aber, die in jener Zeit geboren wurde, war die Schnellpresse, die, den bisher durch Handpressen betriebenen Druck selbsttätig und um ein vielfaches beschleunigt ausführend, zum erstenmal im Jahre 1814, natürlich wiederum in England, obgleich von einem Deutschen namens Friedrich König erfunden, zur Anwendung kam: das erste Zeitungsblatt, das keiner menschlichen Hand seine Herstellung verdankte, war eine Nummer der »Times«. Erst durch diesen Bund mit der Maschine erhält die Zeitung ihren universalen Machtcharakter: ein Wort, Wahrheit oder Lüge, fliegt in die große, stumm lauernde Spinne von Maschinerie es verschluckt, druckt, tausendfach vervielfältigt und in alle Räume speit, wo Menschen hausen: in die Bürgerdielen, in die Bauernschenken, in die Kasernen, in die Paläste, in die Keller, in die Mansarden; und das Wort wird zum Machtwort.

Langsam geht der Siegeszug der Presse von Westen nach Osten; von der englischen Insel zunächst nach Frankreich. Dort ist ihr gewaltigster Potentat Louis François Bertin, vierzig Jahre lang Herausgeber des »Journal des Débats«, unter Ludwig dem Achtzehnten bourbonisch, unter Karl dem Zehnten konstitutionell, unter Louis Philipp orleanistisch, von Ingres in einem genialen Porträt der Nachwelt aufbewahrt, das den Titel führen müßte: »die Macht der Presse«; sein Blatt kann auch darum nicht übergangen werden, weil darin die Kritiken von Berlioz erschienen, die mit messerscharfer Analyse und Polemik das Programm der modernen Musik aufstellten. Ein anderer Großmeister des Zeitungsgewerbes war Emile de Girardin, der in der Mitte der dreißiger Jahre in seinem Organ »La Presse« drei entscheidende Neuerungen einführte: den Nummernverkauf an Stelle des bisherigen teuern Jahresabonnements, wodurch die Zeitung erst als Allerweltsartikel jenes Wesen von einzigartiger Zugänglichkeit und Zudringlichkeit wird, den Annoncen- und Reklamebetrieb, wodurch die Verbindung mit der anderen Universalmacht des Zeitalters, dem Merkantilismus, hergestellt wird, und den Feuilletonroman in Fortsetzungen, wodurch die Presse mit der Literatur verschmilzt. In der Tat haben fast alle französischen und viele englische Romanschriftsteller von Namen in dieser journalistischen Form ihre Produktion begonnen und nicht selten zeitlebens daran festgehalten. Sie bedeutet dadurch, daß sie zur groben Spannung und Zufallsarchitektur, hastigen Terminarbeit und stilistischen Oberflächlichkeit verleitet, zweifellos eine Degradierung der Erzählerkunst, übt aber andrerseits auf sie einen wohltätigen Zwang zur Popularität und verleiht ihr einen eigentümlichen Elan: die unvergleichliche Frische, die zum Beispiel Thackerays weltberühmte Snobporträts besitzen, ist sicher zum Teil darauf zurückzuführen, daß sie zuerst im »Punch« erschienen.

Deutschland blieb auch auf diesem Gebiet in der Entwicklung zurück. Dort gab es nur die offiziöse Presse, die übrigens ebenfalls eine französische Erfindung ist, denn das erste Organ dieser Art repräsentierte Napoleons »Moniteur«, indem er unter der Maske der Objektivität nur jene Nachrichten und Meinungen brachte, die die kaiserliche Regierung für nützlich hielt. Diese Institution baute Metternich aus, indem er in allen Hauptstädten Blätter ins Leben rief, die, scheinbar unabhängig, nur von oben Inspiriertes brachten; dabei verstand er es, viele von den publizistischen Talenten des Zeitalters teils durch Schikanen, teils durch Bestechungen in seinen Dienst zu bringen. Außerhalb dieser Zwangspolitik befaßten sich die Journale nur mit futilem Tagesklatsch. Hoffmann von Fallersleben hat den typischen Inhalt der damaligen Gazetten in Versen persifliert, die in ihrer stumpfen Harmlosigkeit selber ein Zeitdokument sind: »Portepeefähnrich ist Leutnant geworden, ein Oberhofprediger erhielt einen Orden, die Lakaien erhielten silberne Borten, die höchsten Herrschaften gehen nach Norden, und zeitig ist es Frühling geworden –wie interessant! wie interessant! Gott segne das liebe Vaterland!« Mit dem Auftreten der Dichterschule des »jungen Deutschland« begann aber, trotz aller Pressionen und Kastrationen, selbst im Gebiet des Deutschen Bundes die Zeitung jenen Geist der Aktualität und Politisierung zu verbreiten, der das Zeitalter charakterisiert, und jene Ubiquität eines unentrinnbaren Gefährten zu erlangen, der sich durch jede Tür zwängt, in jede Tasche schleicht und dem modernen Menschen ebenso unausstehlich und ebenso unentbehrlich ist wie dem Faust der Mephisto.

Das Makartbukett

Die Menschen der siebziger und achtziger Jahre hatten in gewisser Hinsicht etwas Rührendes: sie waren von einem gierigen Durst nach Realität erfüllt, hatten aber das Malheur, diese mit der Materie zu verwechseln, die nur die hohle und täuschende Emballage der Wirklichkeit ist. Sie lebten daher dauernd in einer armseligen und aufgebauschten Welt aus Holzwolle, Pappdeckel und Seidenpapier. In allen ihren Schöpfungen herrscht die Phantasie der putzenden Künste: des Tapezierers, Konditors, Stukkateurs, die Phantasie der kleinsten Kombinationen.

An den Interieurs irritiert zunächst eine höchst lästige Überstopfung, Überladung, Vollräumung, Übermöblierung. Das sind keine Wohnräume, sondern Leihhäuser und Antiquitätenläden. Zugleich zeigt sich eine intensive Vorliebe für alles Satinierte: Seide, Atlas und Glanzleder, Goldrahmen, Goldstuck und Goldschnitt, Schildpatt, Elfenbein und Perlmutter, und für lauter beziehungslose Dekorationsstücke: vierteilige Rokokospiegel, vielfarbige venezianische Gläser, dickleibiges altdeutsches Schmuckgeschirr; auf dem Fußboden erschreckt ein Raubtierfell mit Rachen, im Vorzimmer ein lebensgroßer hölzerner Mohr. Ferner geht alles durcheinander: im Boudoir befindet sich eine Garnitur Boullemöbel, im Salon eine Empireeinrichtung, daneben ein Speisesaal im Cinquecentostil, in dessen Nachbarschaft ein gotisches Schlafzimmer. Dabei macht sich eine Bevorzugung aller Ornamentik und Polychromie geltend: je verwundener, verschnörkelter, arabesker die Formen, je gescheckter, greller, indianerhafter die Farben sind, desto beliebter sind sie. Hiermit im Zusammenhang steht ein auffallender Mangel an Sinn für Sachlichkeit, für Zweck; alles ist nur zur Parade da. Wir sehen mit Erstaunen, daß der bestgelegene, wohnlichste und luftigste Raum des Hauses, welcher »gute Stube« genannt wird, überhaupt keinen Wohnzweck hat, sondern nur zum Herzeigen für Fremde vorhanden ist; wir erblicken eine Reihe von Dingen, die trotz ihrer Kostspieligkeit keineswegs dem Komfort dienen: Portieren aus schweren staubfangenden Stoffen wie Rips, Plüsch, Samt, die die Türen verbarrikadieren, und schön geblümte Decken, die das Zumachen der Laden verhindern; bildergeschmückte Fenstertafeln, die das Licht abhalten, aber »romantisch« wirken, und Handtücher, die zum Abtrocknen ungeeignet, aber mit dem Trompeter von Säckingen bestickt sind; Prunkfauteuils, die das ganze Jahr mit häßlichen pauvren Überzügen, und dünnbeinige wacklige Etageren, die mit permanent umfallenden Überflüssigkeiten bedeckt sind; Riesenprachtwerke, die man nicht lesen kann, weil einem nach fünf Minuten die Hand einschläft, und nicht einmal lesen möchte, weil sie illustriert sind; und als Krönung und Symbol des Ganzen das verlogene und triste Makartbukett, das mit viel Anmaßung und wenig Erfolg Blumenstrauß spielt.

Dies führt uns zu einem der Hauptzüge des Zeitalters: der Lust am Unechten. Jeder verwendete Stoff will mehr vorstellen, als er ist. Es ist die Ära des allgemeinen und prinzipiellen Materialschwindels. Getünchtes Blech maskiert sich als Marmor, Papiermache als Rosenholz, Gips als schimmernder Alabaster, Glas als köstlicher Onyx. Die exotische Palme im Erker ist imprägniert oder aus Papier, das leckere Fruchtarrangement im Tafelaufsatz aus Wachs oder Seife. Die schwüle rosa Ampel über dem Bett ist ebenso Atrappe wie das trauliche Holzscheit im Kamin, denn beide werden niemals benützt; hingegen ist man gern bereit, die Illusion des lustigen Herdfeuers durch rotes Stanniol zu steigern. Auf der Servante stehen tiefe Kupferschüsseln, mit denen nie gekocht, und mächtige Zinnhumpen, aus denen nie getrunken wird; an der Wand hängen trotzige Schwerter, die nie gekreuzt, und stolze Jagdtrophäen, die nie erbeutet wurden. Dient aber ein Requisit einer bestimmten Funktion, so darf diese um keinen Preis zum Ausdruck kommen. Eine prächtige Gutenbergbibel entpuppt sich als Nähnecessaire, ein geschnitzter Wandschrank als Orchestrion; das Buttermesser ist ein türkischer Dolch, der Aschenbecher ein preußischer Helm, der Schirmständer eine Ritterrüstung, das Thermometer eine Pistole. Das Barometer stellt eine Baßgeige dar, der Stiefelknecht einen Hirschkäfer, der Spucknapf eine Schildkröte, der Zigarrenabschneider den Eiffelturm. Der Bierkrug ist ein aufklappbarer Mönch, der bei jedem Zug guillotiniert wird, die Stehuhr das lehrreiche Modell einer Schnellzugslokomotive, der Braten wird mittels eines gläsernen Dackels gewürzt, der Salz niest, und der Likör aus einem Miniaturfäßchen gezapft, das ein niedlicher Terrakottaesel trägt. Pappendeckelgeweihe und ausgestopfte Vögel gemahnen an ein Forsthaus, herabhängende kleine Segelschiffe an eine Matrosenschenke, Stilleben von Jockeikappen, Sätteln und Reitgerten an einen Stall.

Romantik

Je ferner wir einer Sache stehen, desto tiefer wirkt sie auf uns, desto poetischer erscheint sie uns. Die Natur hat immer etwas Poetisches, weil sie uns so fremd ist, weil wir so gar nichts von ihr wissen. Ein Tier ist schon nicht mehr so poetisch wie eine Pflanze, weil uns die Tiere etwas näher stehen. Aus demselben Grunde erscheint uns ein Kind poetischer als ein Erwachsener, ein fremdes Volk poetischer als das eigene, ein Toter poetischer als ein Lebender. Und dasselbe gilt natürlich von der Vergangenheit. Schon unsere eigene Vergangenheit hat einen eigentümlich halbromantischen Charakter: wir denken an frühere Erlebnisse, selbst wenn sie peinlich waren, immer mit einem gewissen Neid und finden, das Leben sei damals schöner gewesen.

Die »deutsche Renaissance«

Diese angeblich so realistische Zeit hat nichts mehr geflohen als ihre eigene Gegenwart. Der berühmte Architekt und Lehrer der Baukunst Gottfried Semper stellte das Programm auf, der Stil jedes Gebäudes bestimme sich durch historische Assoziation: so solle ein Gerichtshaus etwa an einen Dogenpalast, ein Theater an eine römische Arena, eine Kaserne an eine mittelalterliche Befestigung erinnern. In Anlehnung an diese Prinzipien errichtete man zum Beispiel in Wien ein Rathaus, das wirkt, als ob es nach der Vorlage eines Kindermodellierbogens gebaut wäre, die Votivkirche, die wie ein Riesenspielzeug aus Zuckerguß aussieht, und vor dem Parlament eine enorme Pallas Athene, von der jedermann überzeugt ist, daß sie aus Stearin besteht. Als Gehäuse für die Londoner Börse wählte man (und zwar mit vollem Recht) einen veritabeln Tempel.

Ein Magistratshaus mußte immer gotisch sein, infolge einer (falschen) Assoziation von Mittelalter und Stadt, ein Abgeordnetenhaus immer antik, infolge einer (ebenso falschen) Assoziation von Altertum und Repräsentativverfassung, ein Bürgerpalais barock, offenbar weil man in diesem (gefälschten) Stil am protzigsten ornamentieren konnte, ein Bankhaus florentinisch, aus einem (vielleicht unbewußt) gefühlten Zusammenhang des modernen Börsenkondottieres mit der Amoralität des Renaissancemenschen.

Der geschätzteste Stil war aber nicht die italienische, sondern die deutsche Renaissance. Man versieht Türen, Fenster, Zierschränke mit Pilastern und Gebälk und bevorzugt das Cuivre poli, eine Legierung aus Kupfer und Zink, die schon im sechzehnten Jahrhundert vielfach verwendet wurde. Auch die beliebten Butzenscheiben und Lutherstühle, Sitztruhen und Bauernöfen, Sockel und Podeste, Gitter und Beschläge, Holzmalereien und Sinnsprüche, Brunnenmännchen und Leuchterweibchen wiederholen jene Zeit. Auf den Kostümfesten wimmelte es von Landsknechten und Ritterfräulein. Wir haben im ersten Band die Reformationsära als das Zeitalter der Völlerei bezeichnet, auch diese Jahrzehnte könnte man ähnlich benennen. Die Titelhelden der beiden Zeitalter, Bismarck und Luther, waren ungemein starke Esser und Trinker; und die kompakte Genußsucht der Gründerzeit war in der Dosierung der Speisen und Getränke um so skrupelloser, als das romantische Ideal des ätherischen Menschen, das im Vormärz geherrscht hatte, längst einer erotischen Auffassung gewichen war, die sich an Rubens orientierte. Vier Gänge zur Mittagsmahlzeit waren in wohlhabenden Bürgerhäusern das Gewöhnliche; bei festlichen Anlässen wurden daraus acht bis zwölf. Das Menü eines Banketts aus dem Jahr 1884 enthält zum Beispiel: gemischte Vorspeisen, Kraftbrühe, Seezunge, gedämpftes Huhn, gespickte Rindslende, Gefrorenes mit Kümmel (um neuen Appetit zu bekommen), Fasanenbraten, Yorker Schinken, Ananasbombe, Schweizer Törtchen, Nachtisch, Kaffee; ein »Kapitäns-Dinner« besteht aus: Hummercocktail, frischer Erbsensuppe, Rheinlachs, garniertem Kalbnierenstück, Austernpastete, Erdbeersorbet, Schnepfen mit russischem Salat, Ochsenzunge mit Stangenspargel, Rehziemer mit Kompott, Rahmeis, Käseplatte, Früchten, Kaffee. Es herrschte auch tatsächlich eine innere Verwandtschaft zwischen jenen beiden Zeitaltern, die sich in einer Reihe gemeinsamer Seelenzüge ausspricht: ihrer Spießbürgerlichkeit und Schwerlebigkeit, ihrem Hang zum Verkräuselten und Endimanchierten, Kleinkram und Ornament, ihrem Mangel an Maß und Einfachheit, Rhythmus und Harmonie. Doch fehlt der Gründerzeit vollkommen jene selige Naivität, poesievolle Enge und bastelnde Verspieltheit, die die Welt Hans Sachsens und Dürers so anziehend macht und in den »Meistersingern« ein Denkmal von einer Kraft erhalten hat, wie sie nur die vergebliche Sehnsucht zu verleihen vermag.

Der Eiffelturm

Auch die Weltausstellungen mit ihrem Prinzip des Bric-à-brac, der erdrückenden Massenwirkung durch Zusammenschleppen aller erreichbaren Raritäten, passen durchaus ins Zeitalter. Auf ihnen entstanden einige sehr charakteristische architektonische Schöpfungen: 1873 wurde in Wien die Rotunde errichtet (doch machte diese Ausstellung ein klägliches Fiasko, nicht nur wegen des Krachs und der Cholera, sondern auch weil die Stadt sich für den Empfang der vielen Gäste mit nichts gerüstet hatte als dem festen Willen, sie auszuplündern); 1878 erstand in Paris, als die Kopierwut schon über das Abendland hinauszugreifen begann, der Trocadéropalast im sogenannten »orientalischen« Stil, 1889, wiederum in Paris, der Eiffelturm, eine dreihundert Meter hohe Eisenkonstruktion von neun Millionen Kilogramm Gewicht, die auf ihrer ersten Plattform ein Variété, ein Restaurant und ein Café, in ihrem höchsten öffentlichen Raum, dem Aussichtssaal, noch immer Platz für achthundert Personen und darüber noch ein großes Laboratorium für Meteorologie und Astronomie enthält; dazu kamen ursprünglich Anlagen für optische Signale zu militärischen Zwecken, doch sind diese durch die inzwischen erfolgte Erfindung der drahtlosen Telegraphie gegenstandslos geworden. Für dieses berühmteste Bauwerk des Zeitalters ist es bezeichnend, daß es bei aller Riesenhaftigkeit seiner Dimensionen doch nippeshaft wirkt, was eben daher kommt, daß die subalterne Kunstempfindung der Epoche überhaupt nur im Genregeist und in Filigrantechnik zu denken vermochte; daher ließ es sich auch verkleinern und tatsächlich als Nippesgegenstand verwenden, was bei wirklich groß konzipierten Kolossalbauten unvorstellbar ist: die Sphinx wäre als Nußknacker, die Cheopspyramide als Nadelkissen unmöglich.

Das Kostüm

In der Damenkleidung machte sich das Penchant für das »Altdeutsche« darin geltend, daß Ende der siebziger Jahre die Rembrandthüte auftauchten, Anfang der achtziger Jahre die Puffärmel und die Gretchentaschen; männliche Personen trugen gern zuhause und, wenn sie sich als Künstler fühlten, auch auf der Straße ein Samtbarett. Nach dem Zusammenbruch des Empire verschwindet die Krinoline, um einem noch groteskeren Kleidungsstück Platz zu machen: dem cul de Paris, der, in den achtziger Jahren enorm, bis 1890 herrscht, obschon mit Intervallen, in denen das später allgemein akzeptierte philiströse Prinzeßkleid erscheint; der Rock ist während des ganzen Zeitraums sehr eng, oft so anschließend, daß er im Gehen hindert; denselben Effekt haben die extrem hohen Stiefelabsätze. Seit 1885 beginnen sich die Puffärmel zu den abscheulichen Schinken- oder Keulenärmeln zu erweitern; auch der Kapotthut fällt bereits in diesen Zeitraum. Die Haare werden an der Stirnwurzel abgeteilt und als »Ponylocken« in Fransen nach vorn gekämmt. Vortäuschung eines abnorm entwickelten Gesäßes und zu hoher Schultern, chinesischer Watschelgang, Großmutterhaube, Schafsfrisur: man muß sagen, daß die damalige Mode alles getan hat um das Exterieur der Frau zu verhäßlichen. Zugleich setzte eine Prüderie ein, wie sie vielleicht von keiner bisherigen Zeit erreicht worden ist: weder von der Brust noch von den Armen durfte das geringste Stück zu sehen sein; die Waden, ja auch nur die Knöchel zu zeigen, war der »anständigen Frau« aufs strengste untersagt; auch im Seebad stieg sie von Kopf bis Fuß bekleidet ins Wasser; mit einem Herrn allein im Zimmer zu bleiben oder ohne Gardedame die Straße zu betreten, war ihr unter keinen Umständen gestattet; Worte wie »Geschlecht« oder »Hose« durften sich in ihrem Vokabular nicht vorfinden.

Die Herrentracht hat längst darauf verzichtet, ein Ausdruck des Zeitgefühls zu sein, und zeigt nur ganz unwesentliche Schwankungen. Ende der siebziger Jahre werden die Beinkleider vom Knie ab ganz weit und erhalten, trichterförmig über die Stiefel fallend, etwas Elefantenhaftes; später werden sie wieder ganz eng, indem sie wie Trikots anliegen: für einen Dandy war es damals keine Kleinigkeit, in seine Pantalons zu kommen. Das Offizierskorps machte diese Moden getreulich mit; und es ist bezeichnend, daß sogar dieser Stand von der Falschmünzerei des Zeitalters ergriffen wurde: sich schnürte, wattierte Brüste und Schulterstücke, erhöhte Stiefelabsätze und Perücken trug. Wie der gesamte Hausrat des Bürgers, so ist auch fast jeder Bestandteil seiner Toilette Surrogat: über dem Jägerhemd fingieren die umdrehbaren »Röllchen« und der auswechselbare »Serviteur« blütenweiße gestärkte Wäsche, die genähte Krawatte ahmt die geknüpfte nach, der Zugstiefel ist mit Scheinknöpfen versehen. Das »Toupet« war bei soignierten älteren Herren fast selbstverständlich, auch das Färben des Bartes, der nur an Priestern, Schauspielern und Lakaien vermißt wurde, sehr verbreitet. Nur das Genie entziehen. Als Moltke (der übrigens auch zu den wenigen Damaligen gehörte, die freiwillig rasiert gingen) von einem Hoffriseur, der ein Künstler seines Fachs war, ein vorzügliches Toupet geliefert wurde, sagte er indigniert: »Was haben Sie mir denn da gebracht? Das kann ich nicht aufsetzen, das hält ja jeder für echt.«

Wilhelm Busch

Wie der deutsche Bürger in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausgesehen hat, werden spätere Zeiten nur von einem Meister zuverlässig erfahren, der auf seine Weise auch eine Art »Gesamtkunstwerk« geschaffen hat: von Wilhelm Busch. Über ihn ist aber schwer etwas zu sagen. Ludwig Speidel bemerkt einmal über den Schauspieler Fichtner: »Sonst ist der Tadel die Handhabe, an der man auch das im Grunde Vortreffliche zu ergreifen pflegt; Fichtner aber, als eine durchaus abgerundete Erscheinung, ist so schwer zu fassen wie eine Kugel. Das Einfachste wäre, ihn in Bausch und Bogen zu bewundern, sich in Superlativen zu ergehen und die Ausrufungszeichen nicht zu sparen.« Ebenso verhält es sich mit Busch. Er ist die personifizierte Vollkommenheit; und man kann das eigentlich bloß konstatieren.

Nachdem sein Oeuvre jahrzehntelang als ein harmloses Kasperltheater gegolten hat, gut genug für die Kinderstube und den Nachmittagskaffee, ist es neuerdings Mode geworden, ihn als dämonischen Pessimisten und Nihilisten aufzufassen. Beides ist gleich irrig. Die unvergleichliche, undefinierbare Wirkung, die von Wilhelm Busch ausgeht, beruht einfach darauf, daß er niemals selber etwas macht, sondern das Leben machen läßt. Wirklichen Humor hat nämlich nur das Leben, und das einzige, was die Humoristen tun können, besteht darin, daß sie diesen Humor abschreiben. Das tun sie aber fast niemals, sondern sie denken sich allerlei verzwickte Situationen und Konflikte aus, die bar jeder echten Lustigkeit sind. Sie erreichen damit nur eine imitierte, konstruierte, zusammengeklebte Lustigkeit, die nichts Lebendiges und Überzeugendes hat, eine Panoptikumlustigkeit. Nehmen wir zum Beispiel jene Dichtung Buschs, die vermutlich seine allerbeste ist, obgleich sie verhältnismäßig am wenigsten bekannt ist: den Zyklus »Die Haarbeutel«. Busch schildert darin eine Reihe von typischen Formen der Betrunkenheit; es sind geradezu klassische Studien, bis ins kleinste Detail lebensechte Kopien der Wirklichkeit. Busch setzt nichts hinzu und nimmt nichts weg, er schreibt einfach ab, welche Komplikationen sich ereignen, wenn der Mensch betrunken ist. Er läßt den Humor des Lebens in sich einströmen, ohne etwas aus seinem eigenen Ich dazuzutun; denn das wäre nur eine Abschwächung. Er sitzt da und wartet, ob das Leben sich entschließen will, lustig zu sein: geschieht dies, so trägt er diese Lustigkeit einfach ein.

Andererseits gibt es eine ganze Reihe von typischen Redewendungen und Situationen, über die jeder, auch der Gebildetste und Feinfühligste, unwillkürlich lachen muß, ohne daß er damit im geringsten zu erkennen geben will, daß er diese Dinge für humoristisch oder gar für geschmackvoll hält. Wenn jemand sich neben den Stuhl auf den Boden setzt, so ist das zweifellos zum Lachen; noch lächerlicher wird die Wirkung, wenn ihm bei dieser Gelegenheit die Hose platzt. Gibt ein Mensch einem anderen eine kräftige Ohrfeige, so ist das unleugbar köstlich erheiternd; und wie erst, wenn es der falsche war! Wer auf der Bühne böhmisch, jüdisch, sächsisch radebricht, kann sicher sein, daß ihn, was er auch immer sage, wiehernde Fröhlichkeit begleiten wird. Aber mit Ausnahme der allerordinärsten Theaterbesucher findet das heute kein Mensch auf der ganzen Welt mehr im entferntesten komisch. Die Sache läßt sich vielleicht durch Atavismus erklären. Unsere rohen Vorfahren haben über diese Dinge wirklich ehrlich gelacht, und unser Zwerchfell hat sich nun diese Erschütterungsanlässe gemerkt. Da es sich hier aber gewissermaßen um ein peripherisches, ein vegetatives Lachen handelt, das unserer Willkür ebenso entzogen ist wie unsere Verdauungstätigkeit, so fühlen wir uns nachher tief beschämt und verärgert. Man wird daher beobachten können, daß bei derlei Albernheiten zwar sehr viel gelacht, aber sehr wenig geklatscht zu werden pflegt.

Wie bei allen großen Künstlern ist man auch bei Busch in Verlegenheit, wohin man ihn eigentlich rangieren soll. Ist das Primäre seiner Kunst die eminente zeichnerische Begabung, die eine ganz neue Technik der Karikaturistik geschaffen hat, nach der höchsten Kunstregel: »le minimum d'effort et le maximum d'effet«? Mit sechs Bleistiftstrichen umreißt er einen ganzen Lebenstypus, eine ganze Gesellschaftssphäre, ein ganzes Menschenschicksal. Ein gleichschenkliges Dreieck als Mund drückt mit der Spitze nach unten freudiges Entzücken aus, mit der Spitze nach oben herzliches Bedauern, ein schräges Linienpaar über den Augen ernsteste Bedenken, ein Punkt in der Mitte des Antlitzes bitteren Seelenschmerz. Oder war auch bei ihm im Anfang jene unbegreifliche Fähigkeit, der Sprache durch die allereinfachsten und allernatürlichsten Satzbildungen die ungeahntesten Wirkungen zu entlocken? Wie etwa in dem schlichten Referat: »Heut bleibt der Herr mal wieder lang. Still wartet sein Amöblemang. Da kommt er endlich angestoppelt. Die Möbel haben sich verdoppelt.« Die höchste Meisterschaft der Lautbehandlung zeigt er unter anderem auch in der Erfindung der Namen. Bisher hatte man die Komik auf diesem Gebiet in Begriffsassoziationen gesucht, was aber bloß witzig ist. So verfährt selbst Nestroy, wenn er zum Beispiel einen Wirt Pantsch oder einen Dieb Graps nennt. Buschs Namen hingegen sind gefühlsdeskriptiv, onomatopoetisch, sie malen nicht mit Anspielungen, sondern mit Klängen, wie dies der große Lyriker und das kleine Kind tut. Ein milder salbungsvoller Rektor heißt Debisch, ein barscher plattfüßiger Förster Knarrtje, ein grauslicher alter Eremit Krökel, ein dicker Veterinärpraktikant Sutitt, ein flotter Kavalier Herr von Gnatzel. Schon bei dem einfachen Namen Nolte steigt die ganz muffige und doch anheimelnde Hinterwelt eines kleinen deutschen Landnestes auf.

Man wird Busch vielleicht noch am ehesten gerecht werden, wenn man ihn einen großen Philosophen nennt. Sein frommer naturnaher Panpsychismus erinnert an Andersen. In der Beseelung aller Wesen und Dinge erreicht er das Äußerste. Gibt es eine rührendere oder intimere Tierbiographie als »Hans Huckebein« oder »Fips der Affe«? Neben ihnen schrumpft der dicke Brehm zum dürren Nachschlagewerk zusammen. In dem Gedicht »Die ängstliche Nacht«, dessen Anfangsverse soeben zitiert wurden, bildet das Mobiliar eine förmliche organisierte Gegenpartei, und zwar eine anarchistische: Kleiderhaken, Wanduhr und Stiefelknecht befinden sich in voller Revolution; der unparteiische Bericht über den Kampf mit den boshaften hinterlistigen Geschöpfen verursacht Herzklopfen. Zudem besitzen Buschs Porträts, wie gesagt, auch einen außerordentlichen kulturhistorischen Wert. Da steht er vor uns, der deutsche Philister, mit seinen Konventionen und Schrullen, seinen täglichen Wünschen und Meinungen, seiner Art zu gehen, zu stehen, zu essen, zu trinken, zu lieben, zu leben und zu sterben. Karikiert, und merkwürdigerweise: doch nicht im geringsten verzerrt, ein Gesamtbild, an dem die verstehende Güte ebenso mitgearbeitet hat wie die scharfe Kritik. Denn der Künstler kann nicht polemisieren, befeinden, er ist ein Verklärer und Rechtfertiger des Daseins, und wenn die Menschen und Dinge durch sein Herz hindurchgegangen sind, so kommen sie schöner wieder ans Tageslicht, als sie jemals vorher gewesen sind. Goethe war nur dadurch imstande, aus seinem Leben ein so vollendetes Kunstwerk zu machen, weil er es immer als berechtigt anerkannte, in allen seinen Bildungen: deshalb vermochte er es zu beherrschen. Shakespeare konnte nur darum die menschlichen Leidenschaften so faszinierend gestalten, weil er sie alle gelten ließ. Hätte er sich pharisäisch und hochnasig über seinen Falstaff gestellt und ihn als einen Auswurf der Menschheit betrachtet, so hätte er ihn niemals schildern können. Aber er hat ihn geliebt, in allen seinen Infamien, Hohlheiten und Verkommenheiten, und so wurde dieser miserable Kerl ein Liebling der ganzen Menschheit. Und er hat seinen Macbeth geliebt, seinen Jago, seinen Richard Gloster, all diese schwarzen Schurken waren ein Stück von seinem Herzen. Franz Moor dagegen wird an allen Ecken und Enden zur Psychose, wir glauben nicht recht an ihn. Und warum? Weil sein Erzeuger selbst nicht recht an ihn glaubte, weil er ihn nicht genug lieb hatte. Haßt der Zoologe den Maulwurf? Nein, das überläßt er dem Gartenknecht. Busch macht sich über den deutschen Bürger ununterbrochen lustig. Aber man hat alle diese Menschen gern: den Tobias Knopp, den Vetter Franz, den Balduin Bählamm, den Pater Filucius sogar. Das Gegenstück ist die Konzeption des goethischen Mephisto. Mephistos Ironie ist die echte satanische Ironie, die in der Bosheit ihre Wurzel hat, und darum kann sie auch nicht lachen machen; denn die Bosheit ist das Ernsteste und Traurigste, was es auf der Welt gibt. Und darum muß Mephisto immer wieder unterliegen, er ist zu ewiger Sterilität verurteilt. Denn der Haß ist niemals produktiv, sondern immer nur die Liebe.

Nachwort

Lieber Leser!

Wenn schon ich mir so oft widerspreche, so ist es wirklich gänzlich überflüssig, daß auch du mir widersprichst!


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