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Erstes Kapitel

Die Tiefe der Leere

Wir sehnen uns nachhause
Und wissen nicht, wohin?
Eichendorff

Der innerste Höllenkreis

Wir gelangen zum dritten Teil unserer Trilogie. Der »erste Abend« schilderte die Geburt des Menschen der Neuzeit, der zweite die Blüte dieser sonderbaren historischen Varietät, das Thema des letzten Abends ist der Tod der Neuzeit. Vermochten wir die »Inkubationszeit«, in der die Giftfrucht des modernen Gedankens ausgetragen wurde, nur im fahlen Schein einer gruseligen Winternacht zu erblicken, hatte für uns die Welt der Renaissance die Unwirklichkeit eines funkelnden gottfernen Fiebertraums und die Menschheit der Reformation nur die Realität eines dumpfen zerknitterten Holzschnitts, sprach das Leben der Barocke zu uns wie die fremde Grimasse eines starren Marionettenspiels und die Seele des Rokokos wie der ferne Klang eines müden Herbst- und Abendlieds, erschien uns sogar das vertraute Milieu der Klassiker im Halblicht eines verdämmernden Spätnachmittags und die so nahe Französische Revolution im gespenstischen Strahlenkegel einer Zauberlaterne, so verschwindet mit dem Untergang des letzten Märchenkönigs, den Europa erblickt hat, jede magische Fernwirkung, der entkörpernde Glanznebel fällt von den Gestalten und Ereignissen, alles wird intim, familiär, kompakt, konkret, die Helden, die das Drama »Weltgeschichte« weiterspielen, verwandeln sich aus unheimlichen Gerüchten, dunkeln Legenden, Schattenbildern, die der Weltgeist auf einen mysteriösen Hintergrund wirft, in Privatexistenzen, fix Angestellte, Straßenbekannte, die sich ansprechen lassen und auf alles antworten, denn sie sind aus demselben Material gemacht wie wir selbst. Mit dem Wiener Kongreß beginnt die Geschichte der Gegenwart.

Man hat nun oft und mit Emphase behauptet, daß unser Dasein zwar grauer und alltäglicher, aber dafür vernünftiger, wohnlicher, menschlicher, wohlhabender geworden sei; aber es ist ein Irrtum. Das neunzehnte Jahrhundert ist das inhumane Jahrhundert par excellence; der »Siegeslauf der Technik« hat uns völlig mechanisiert, also verdummt; durch die Anbetung des Geldes ist die Menschheit ausnahmslos und rettungslos verarmt; und eine Welt ohne Gott ist nicht nur die unsittlichste, sondern auch die unkomfortabelste, die sich ersinnen läßt. Mit dem Eintritt in die Gegenwart gelangt der Mensch der Neuzeit in den innersten Höllenkreis seines ebenso absurden wie notwendigen Leidensweges.

Die unwirkliche Gegenwart

Man sollte nun meinen, daß wir über diese Entwicklungsphase unseres Erdengangs wenigstens genauer, zuverlässiger, klarer informiert seien als über die vorhergehenden. Aber selbst dieser Trost wenn es überhaupt einer wäre wird uns nicht zuteil. Wir haben den »Zweiseelenmenschen«, der die Neuzeit eröffnet, mit einer gebrochenen Zahl verglichen, die nicht mehr einheitlich, aber doch noch voll erfaßbar ist, den Barockmenschen mit einer irrationalen Zahl, deren Wert sich nur annähernd durch einen unendlichen Dezimalbruch ausdrücken läßt; setzen wir diese Parallele fort, so müßten wir den Menschen des neunzehnten Jahrhunderts einer imaginären Zahl vom Typus -1 gleichsetzen, die überhaupt nicht reell ist, zu der wir durch keinerlei Denkoperationen gelangen können. Unser ganzer Darstellungsversuch nahm seinen Ausgang von der Behauptung, daß Geschichte keine Wissenschaft sei; aber wenn für den exakten Forscher die Aussichten bei der Vergangenheit höchst problematisch sind, so sind sie bei der Gegenwart hoffnungslos: Vergangenheitsgeschichte ist kaum möglich, Gegenwartsgeschichte unmöglich, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: eben weil sie von der vorhandenen, sichtbaren, körperlichen Gegenwart handelt. Denn es gibt nichts Unverständlicheres als den Augenblick und nichts Unwirklicheres als die physische Existenz. Der Nebel der Ungewißheit, statt sich zu lichten, verdickt sich mit jedem Tage der Annäherung an das Heute, und wir haben von Zeitläuften, Personen, Ereignissen, die »zu uns gehören«, ungefähr ebenso treffende Bilder wie von unseren nächsten Familienangehörigen, denen wir Liebe oder (seit Freud) Haß entgegenbringen, aber niemals Erkenntnis.

Poetische, historische, journalistische Wahrheit

Der Wille zur Historie, der elementar in jeder »Nachwelt« lebt (die Historiker sind nur seine mehr oder minder ehrlichen Vollstrecker), vollzieht einen fortschreitenden Destillationsprozeß. Was sehr weit zurückliegt, ist bereits vom silbernen Glanze der Poesie umflossen und tritt mit jenem unwiderleglichen Identitätszeugnis vor unser Antlitz, das nur sie besitzt: es ist vollkommen »wahr« geworden. Was einigermaßen zurückliegt, hat im ausscheidenden, ausgleichenden, fällenden, reinigenden Gange der Kollektiverinnerung Wahrscheinlichkeit erlangt: es ist »historisch« geworden. Die Geschichte der Gegenwart aber befindet sich erst im Status eines schwebenden Prozesses, in dem bloß die vertuschenden Advokaten, die gehässigen Ankläger, die einfältigen oder boshaften Sachverständigen, die falschen oder voreingenommenen, eingeschüchterten oder wichtigtuerischen Zeugen zu Worte kommen. Wenn, wie ich in der Einleitung dieses Werks darzulegen versuchte, alle Geschichte der Vergangenheit nur Legende ist, so ist Geschichte der Gegenwart Reportage, also die allerunwissenschaftlichste, subalternste, suspekteste Form menschlicher Berichterstattung. Ist Geschichte alt genug geworden, um zur reinen Poesie zu kristallisieren, so spricht aus ihr unmittelbar das Wesen des Weltgeists, der niemals irren kann, das Wort Gottes; und in diesem Sinne ist die Bibel nicht nur das erhabenste, sondern auch das zuverlässigste Geschichtswerk der Weltliteratur. Ist Geschichte neueren Datums, so redet aus ihr der Volksgeist, der zwar nur örtlichen, irdischen Ursprungs ist, aber von dem instinktsichern Wissen der Gattung geleitet wird. Die Geschichte der Gegenwart jedoch hat zu ihrem Mundstück bloß den Geist des »Herausgebers«, eines verschlagenen, zelotischen, mit der eisernsten Entschlossenheit zur Lüge gepanzerten Geschöpfes, das nur sich und seinem Parteidogma dient: ob es sich hierbei um die Herausgabe von Schulbüchern oder Blaubüchern, diplomatischen Noten oder Generalstabsberichten oder aber um wirkliche Journale handelt, macht keinen Unterschied: alle Beiträge zur Gegenwartsgeschichte haben den Wahrheitswert der Zeitung.

Um zur historischen Wahrheit zu gelangen, hat man daher nur dreierlei stets und gewissenhaft zu beobachten: gläubige Ehrfurcht vor der Heiligkeit der poetischen Geschichte, leichtgläubiges Vertrauen in das sichere Taktgefühl der überlieferten Geschichte und tiefstes Mißtrauen gegen die Blödsichtigkeit und Falschmünzerei der »Zeitgeschichte«. Der ganze Sachverhalt läßt sich auch in aller Kürze in den Ausspruch eines englischen Schriftstellers zusammenfassen: «very nearly everything in history very nearly did not happen«; weniger lakonisch, aber ebenso unmißverständlich sagt Nietzsche: »Ein Geschichtschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu tun ... Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive ... Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung.«

Der Geisterstrom

Man muß sich nur einmal resolut fragen, welche Materialien denn überhaupt der sogenannten Geschichtswissenschaft zur Unterlage dienen. Es sind dies erstens: »Akten« und »Urkunden« wie: Gerichtsfaszikel und Parlamentsprotokolle, Kundmachungen und Regierungsverordnungen, Verwaltungspapiere und Geschäftsverträge, Steuerlisten und Zollrollen, Briefe von Amtscharakter und Gesandschaftsberichte und noch vielerlei ähnliche Relikte, die das Hauptforschungsgebiet der Diplomatik bilden; zweitens: »Denkmäler«, vornehmlich Inschriften, mit denen sich die Epigraphik, und Münzen, mit denen sich die Numismatik beschäftigt; drittens: die Zeugnisse der »Tradition«, die mit Bewußtsein und Absicht die historische Erinnerung festhalten wollen, also: Kalender und Stammbäume, Annalen und Chroniken, Tagebücher und Memoiren, Biographien und Geschichtswerke. Alle diese »Quellen« (von den nicht fixierten oder nicht fixierbaren sprechen wir überhaupt nicht) werden zu historischen Dokumenten erst durch die Auffassung und Beurteilung des Betrachters; ohne diesen sind sie ein chaotischer Haufen von Interpolationen, Erfindungen, Selbsttäuschungen und zufälligen »Richtigkeiten«: erst er weist ihnen ihren Platz an (und sehr oft einen falschen), erst er verbindet sie zu einem Zusammenhang und macht so aus ihnen Geschichte. Sie sind bloße Zeichen und Symbole für Tatsachen; diese Tatsachen selbst aber sind weder wahr noch unwahr, indem sie nämlich beides sind: alle gleich unwahr (denn wahr im naturwissenschaftlichen Sinne waren sie nur im Augenblicke ihres Geschehens) und alle gleich wahr (denn als Ausdruck eines bestimmten Lebensmomentes können sie gar nicht »falsch« gewesen sein). Sie werden zu bleibenden Erscheinungen erst durch ihre Aufnahme in ein historisches Bewußtsein, und zwar in irgendein historisches Bewußtsein: der Irrtum macht sie ebenso unsterblich wie die Erkenntnis.

Genau genommen gibt es für den Historiker nur Indizienbeweise. »Man befindet sich in einer Selbsttäuschung«, bemerkt Hermann Paul in seinen »Prinzipien der Sprachgeschichte«, »wenn man meint, das einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können. Man spekuliert eben nur unbewußt, und es ist einem glücklichen Instinkte zu verdanken, wenn das Richtige getroffen wird.« Es heißt, die Natur sei, im Gegensatz zum Menschen, immer stumm; aber für den Forscher verhält es sich gerade umgekehrt: die Natur gibt ihm Antworten, der Mensch keine oder, was dasselbe ist, zu viele: jedem eine andere. Jakob Burckhardt sagt in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«: »Die Quellen sind unerschöpflich, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des einzelnen ... Es ist dies auch gar kein Unglück, sondern nur eine Folge des beständig lebendigen Verkehrs.« Es ist sogar ein Glück; denn der Reiz und Wert der Historie beruht ja eben darin, daß sie niemals von »natürlichen« Dingen handelt, die der Rechnung und dem Experiment unterworfen werden können, sondern immer nur von geistigen Dingen, das heißt: von lebendigen Dingen, die sich ununterbrochen verwandeln und an jedem Ort und zu jeder Stunde eine andere Sprache reden. Ein stygischer Geisterstrom, ewig und unterirdisch, fließt von dem, was war, zu dem, was ist: das nennt man »Weltgeschichte«. Sie ist das Kollektivwerk einer myriadenköpfigen Poetengilde, die man Menschheit nennt. Alle Erinnerung, die die Menschen besitzen, können sie nur in der Form der Dichtung aufbewahren: jedes Lied, das von einem Mund zum anderen springt, jede Anekdote, die von Ohr zu Ohr läuft, jede flüchtig hingekritzelte Nachricht, ja jedes einzelne Wort bereits ist eine Dichtung; und eine jede Dichtung ist von Natur etwas Tausenddeutiges. Dichtungen, empfangen, erhöht, verdrängt, verdichtet, verzerrt, bereichert von anderen Dichtern: in diesem Kontakt zweier poetischer Kraftwirkungen besteht die »historische Erkenntnis«.

»Kritische« Geschichtschreibung

Schopenhauer sagt nicht ohne Schärfe: »Zu den Unvollkommenheiten der Geschichte kommt noch, daß die Geschichtsmuse Klio mit der Lüge so durch und durch infiziert ist wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neue, kritische Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kurieren, bewältigt aber mit ihren lokalen Mitteln bloß einzelne, hier und da ausbrechende Symptome; wobei noch dazu manche Quacksalberei mitunterläuft, die das Übel verschlimmert.« Diese ungeschickte, anmaßende und nicht selten schwindelhafte Kurpfuscherei hat in der Schule Rankes, der ein historiographisches Genie war, aber nicht wegen seiner Wissenschaftlichkeit ihren Gipfelpunkt erreicht und in ihren Auswirkungen nicht wenig zu der Abwendung von aller Historie beigetragen, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Mode wurde. Nur die zunehmende Phantasielosigkeit und Talentlosigkeit, das Schwinden der natürlichen schöpferischen Instinkte hat die »wissenschaftliche« Geschichtschreibung erzeugt. Die antike Historiographie erfand Reden und Situationen, die sie für charakteristisch ansah, mit der größten Unbefangenheit und ohne das Bewußtsein, damit eine Fälschung zu begehen, indem sie von dem gesunden Gefühl ausging, daß eine Tatsache um so wahrer sei, je prägnanter, sinnfälliger, porträtähnlicher sie in ihrer individuellen Einmaligkeit der Erinnerung eingebrannt werde: man suchte nach ihrer lebendigen künstlerischen Gestalt, nicht nach ihrer toten szientifischen Beschreibung. Die Ilias galt den Griechen nicht als »Literatur«, sondern als Geschichtsquelle, und ebenso hielt es das Mittelalter mit seinen Heldengedichten, während seine Chroniken mit ihrem Bestreben, krude Tatsachen im Rohstoff aufzubewahren, bereits einen primitiven Versuch »exakter« Geschichtschreibung darstellen; doch machen sie, wie auch noch zahlreiche Werke der Renaissancehistoriker, zwischen der symbolischen Wahrheit der Sage und der Kolportage des »realen« Berichts keinen grundsätzlichen Unterschied, und bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein herrscht noch vielfach die Neigung, in der Stoffbehandlung dem menschlichen Hang zum Fabulieren und Ausschmücken nachzugeben und in der Formgebung sich der Rhetorik und Novellistik anzunähern. Die Geschichtschreibung der Aufklärung hat doch noch wenigstens insofern einen phantastischen Charakter gehabt, als sie bestimmten Tendenzen huldigte, die sie durch die stark gefärbten Ereignisse bunt illuminierte; sie war ein Stück Geschichte, gesehen durch ein Temperament, und im Prinzip von der theologischen Geschichtsauffassung gar nicht so entfernt, weshalb Montesquieu Voltaire vorhielt, er schreibe wie ein Mönch für seine Kirche. In der »kritischen« Geschichtsforschung ist aber die Philologie ebenso die Herrin der Poesie geworden, wie dies der Alexandrinismus der Neuzeit bereits längst in der Literaturforschung vollbracht hatte. Das Wesen dieser Schule, die jahrzehntelang als die einzig legitime und der höchste Triumph des »historischen Jahrhunderts« galt, besteht ganz einfach darin, daß in ihr der kindische Respekt vor allem Geschriebenen und Gedruckten, der sich von dem Aberglauben des Ungebildeten an den Zeitungsbericht nur dem Grad nach unterscheidet, methodisch geworden ist. Eine historische Tatsache galt von nun an für um so sicherer, je mehr »Belege« für sie aufzutreiben, also je mehr Buchstaben auf ihre Überlieferung verwendet waren, während doch gerade die Häufung der Berichte, wenn sie sich widersprechen, die Sache nur zu verwirren vermag, und wenn sie sich nicht widersprechen, erst recht geeignet ist, zu einem Fehlurteil zu führen, weil sie dann gewöhnlich voneinander abgeschrieben sind; ja man ging sehr bald so weit, überhaupt nur »Originalquellen« gelten zu lassen, also im wesentlichen sogenanntes »diplomatisches« Archivmaterial, womit man glücklich im finstersten Höllenpfuhl der Lüge angelangt war und, in konsequenter Weiterverfolgung des Systems, schließlich bei der Zeitung landete, die nicht wenigen gewissenhaften Historikern, weil sie den Ernst ihres verantwortungsvollen Geschäfts nicht durch die Willkürlichkeit philosophischer Konstruktionen und die Frivolität psychologischer Konjekturen zum Feuilletonismus zu erniedrigen wünschen, als die würdigste Geschichtsquelle gilt.

»Exakt« feststellen läßt sich an allen diesen Relationen, Depeschen, Noten, Bulletins, Zirkularen, Denkschriften nur, daß ihre Verfasser entweder gottverdammte Lügner oder ahnungslose Tölpel waren, indem sie den Sachverhalt entweder entstellten oder nicht kapierten. Das Einzige, was ein wirklich kritischer Kopf aus diesen Dokumenten entnehmen könnte, wäre also, daß überhaupt nichts passiert ist; außer Schurkerei und Dummheit. Daß sie genau so eingetreten sind, läßt sich überhaupt nur von jenen vergangenen Ereignissen beweisen, von denen man auch beweisen kann, daß sie immer wieder genau so eintreten werden. Ich kann zum Beispiel wissenschaftlich, das heißt: völlig präzis und eindeutig konstatieren, daß Jupiter und Mars in Opposition gestanden sind, daß ein elektrischer Strom aus einem Kupfervitriolbad ein gewisses Quantum Kupfer ausgeschieden hat, daß eine Kanonenkugel ihre Flugbahn mit einer mittleren Geschwindigkeit von 500 Metersekunden beschrieben hat, daß ein Infusorienschwarm, dem Lichtreiz folgend, nach dem besonnten Tropfenrande gewandert ist. Das sind aber lauter Vorgänge, die sich wiederholen können, ja müssen: wir glauben, dieselben Bedingungen vorausgesetzt, an ihre zukünftige Existenz ebenso felsenfest wie an ihre vergangene. Von einem historischen Geschehnis können wir uns aber nicht einmal vorstellen, daß es eine Repetition erleben könne, geschweige denn daß wir davon überzeugt wären, und das hat seinen Grund darin, daß es ein individuelles Ereignis ist oder, was dasselbe heißt, ein seelisches Ereignis. Von seelischen Vorgängen gibt es keine Dubletten. Nicht für die Zukunft und nicht für die Nachwelt! Von seelischen Vorgängen gibt es keine Wissenschaft (denn sie sind nicht physische, sondern metaphysische Tatsachen), und wer es leugnet, besitzt selber keine Seele oder vielmehr: er hat vergessen, daß er eine besitzt. Ja selbst bei Naturdingen versagt die exakte Methode, wenn wir versuchen, sie nicht bloß nachzudenken, sondern nachzugestalten. Wenn ich zum Beispiel das Bild einer bestimmten Eiche, mit der ich persönlich gut befreundet bin, in mir erzeugen will, so habe ich zwei Möglichkeiten: ich kann mich zu ihr hinbegeben und »Quellenstudien« machen, indem ich alle ihre Einzelheiten gewissenhaft erforsche und aufzeichne, und ich kann ihr wohlbekanntes Porträt vor der inneren Vision meiner Erinnerung aufsteigen lassen: im ersten Fall bin ich »philologisch« verfahren, im zweiten »historisch«. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß die letztere Darstellungsweise den größeren Anspruch auf »Wahrheit« hat.

Geschichte wird erfunden

Der italienische Philosoph und Historiker Benedetto Croce, einer der weisesten und redlichsten Denker der Gegenwart, sagt über die »philologische« Geschichtsforschung: »Wenn man die Methode der Zeugnisse in ihrer ganzen Strenge anwendet, so gibt es kein Zeugnis, das nicht verdächtigt und entkräftet werden könnte ... wenn man willkürlich und um äußerer Merkmale willen gewisse Zeugen gelten läßt, so gibt es nichts Verschrobenes, das man nicht annehmen müßte, denn es gibt nichts Verschrobenes, das nicht die Autorität von rechtschaffenen, reinen und intelligenten Männern auf seiner Seite hätte: mit der philologischen Methode kann man nicht einmal die Wunder zurückweisen, da sie sich auf ebenso beglaubigte Zeugnisse stützen wie die Kriege und Friedensschlüsse«; und über die historische »Kritik« bemerkt er: »Die Hyperkritik ist die natürliche Fortsetzung der Kritik, die Kritik selbst ... Es gibt keine sicheren und unsicheren Autoritäten, sondern alle sind gleich unsicher, und zwar in ihrer Unsicherheit auf eine ganz äußerliche und mutmaßliche Weise abgestuft. Wer schützt uns vor dem Falschen, das ein sonst genauer und gewissenhafter Zeuge aus Zerstreutheit oder vorübergehender leidenschaftlicher Erregung behauptet?«

Da also alle Zeugnisse gleich dubios sind (und andererseits alle gleich brauchbar, denn auch die handgreiflichsten Irrtümer, Lügen, Nichtigkeiten sind Material für den Historiker, und nicht selten ein sehr sprechendes, schlagendes), wodurch bestimmt sich die historische Wahrheit? Die Antwort lautet: wir wissen es nicht; es ist ein Mysterium wie alles andere. Gewisse Ereignisse, Gestalten, Ideen werden langsam im Gange der Geschichte wahr, andere werden falsch; oder, vielleicht korrekter ausgedrückt: die einen werden historisch existent, die anderen historisch nichtexistent. Sie können auch in der Erinnerung der Nachwelt ihre Rollen tauschen, unvermutet emportauchen wie Korallenriffe und plötzlich verschüttet werden wie Vesuvstädte:. Sie sind Geburten; und ebensolche Geheimnisse. Aber die Annahme, daß ihr Dasein von der Rüsseltätigkeit des kollationierenden, kompilierenden Archivschnüfflers, Aktenwühlers, Bücherbohrwurms abhängig sei, wäre ein ebenso skurriler Fehlschluß wie die Meinung des Hahnes Chantecler, daß sein Krähen den Sonnenaufgang bewirke, während es ihn doch bloß nützlich, obschon lästig, überlaut und mißtönig anzeigt (und auch das nur gelegentlich, da sein Kikeriki nicht selten Selbstzweck ist). Überall und immer hat die Wissenschaft bestenfalls die Funktion des Geburtshelfers, der, weit entfernt, an der Geburt beteiligt zu sein, sie bloß komfortabler macht, und des Naturaliensammlers, der eine blühende Fauna in seinem ziemlich ordinären Spiritus konserviert, nachdem er sie vorher getötet hat.

Geschichte wird erfunden: täglich neuentdeckt, wiederbelebt, uminterpretiert nach dem jeweiligen Bedürfnis der Weltkonstruktion. Wir stoßen hier wiederum auf jenes Gesetz, das wir schon mehr als einmal hervorgehoben haben: daß nämlich der Geist das Primäre ist und die Wirklichkeit nur seine Projektion und Materialisation. Amerika stieg in dem Augenblick aus dem Ozean herauf, als der europäische Mensch sich von den Geheimnissen seiner Seele den Rätseln seines irdischen Wohnplatzes zuwandte; in dem Moment, wo er nicht mehr von Gott, sondern von der Welt zu wissen begehrte, reckte sich vor ihm der babylonische Turm des Teleskops empor und richtete sein Riesenauge auf die Gestalt und Bewegung der fernsten Gestirne; und nachdem er sich entschlossen hatte, zum Maschinenwesen zu werden, füllte sich der Planet mit lauter toten Ebenbildern der neuen Menschenrasse, mit dem Tumult stampfender Kolben und ratternder Räder, kreischender Kurbeln und kreisender Riemen und unendlichen Wolken von Ölrauch und Dampf. Als das Italien der Renaissance sich für seine römische Vergangenheit begeisterte, öffnete der »heilige« Boden ganz von selber seinen Bauch und warf Hunderte von »Denkmälern« vor die beglückten Kunstfreunde. Als die Deutschen um Goethe das Land der Griechen mit der Seele suchten, trat es wie durch Zauber in vollem Sonnenglanz aus vielhundertjährigem Nebel. Womit sonst hätten sie es suchen sollen als mit der Seele? Und heute sehen wir mit Staunen, wie ein ganzer Erdteil, den wir bisher den »dunkeln« nannten, ins Licht tritt und gleich der Memnonssäule, vom Strahl unseres Wunsches getroffen, von fernen Jahrtausenden zu tönen beginnt. Auf einmal sind die »historischen Zeugnisse« da! Sie sind da, weil der Geist der Empfängnis da ist, der sie schafft. Alle »geschichtlichen Tatsachen« sind da, aber die meisten liegen tot oder scheintot in tiefem Märchenschlaf und warten auf ihre Wiedererweckung. Geschichte ist nicht etwas, das ist, wie naive Wissenschaftlichkeit glaubt, sondern etwas, das stetig wird, mit jedem Tage neu wird, sich wandelt, umkehrt, umschafft, verjüngt, verleugnet, entwickelt, rückentwickelt, wie jeder Mensch täglich ein neuer wird, für sich und für die andern.

Die Rangerhöhung der Geschichte

Im Jahr 1919 erschien ein sehr merkwürdiges Buch von Theodor Lessing: »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«, ein luziferisch kühner Versuch, ergreifend in seiner bleichen Nachtschönheit und eisklaren Logizität, vielleicht der erste, die Frage, was denn eigentlich Geschichte sei, zu Ende zu denken; mit jener Schärfe, aber auch Zweischneidigkeit vollzogen, die solchem ehrfurchtslosen, sich zum Selbstzweck setzenden Beginnen anhaftet, und denn auch in der Geschichtsphilosophie zu demselben Resultat seiner rasanten Folgerichtigkeit gelangend wie Spinoza in der Naturphilosophie: zum Nichts, einem kalten Pyrrhussieg des Geistes, der im Selbstmord seinen letzten und raffiniertesten Triumph feiert; ein Werk, von dem das Wort jenes anderen Lessing gilt: »groß und abscheulich«, voll von giftigen Tiefgasen und nur in der Hand eines vorsichtigen Abschreibers, wie ich es bin, ohne ernste Gefahren. Seine Grundidee liegt bereits im Titel: daß sich nämlich durch die Geschichte ein Zusammenhang von Ursachen und eine Entwicklung in der Zeit nicht unmittelbar und ohne menschliche Zutat offenbart. »Sondern Geschichte ist die Stiftung dieses Sinnes; die Setzung dieses Zusammenhangs; die Erfindung dieser Entwicklung. Sie vorfindet nicht den Sinn der Welt, sie gibt ihn.« Geschichte ist logificatio post festum. Der Begriff der »Wirklichkeit«, sagt Lessing, sei nicht so einfach, wie der Historiker meint, der nur das für wirklich hält, was sich »aktenmäßig nachweisen läßt«, und alles andere für »bloße Sage« erklärt; man werde eines Tages bemerken, »daß außerhalb der Mechanik überhaupt keine exakte Wirklichkeit aufweisbar ist und daß Lebendiges eben nur gelebt, nicht aber festgestellt werden kann.« »Schließlich besitzt der Mythos eine wesenhafte Wahrheit metaphysischer Art, der gegenüber historische Wirklichkeit als durchaus unwahr und verlogen erscheint.« »Alle Geschichte hat das Bestreben, bei der Tatsache anzufangen und beim Sinnbild zu enden«, welches wahr ist, während die Tatsache bloß wirklich ist. Wenden wir diesen sehr einleuchtenden Satz auf die Gegenwart an, so müssen wir sagen: ihre Tatsachen sind noch nicht einmal wirklich. »Erst dann«, sagt Lessing an einer anderen Stelle seines Werks, »wenn das Gedächtnis mehrere Jahrtausende zu einem Ganzen zusammenfaßt, empfinden wir deutlich die dichterische Gewalt der Geschichte«; »Großes erkennt man erst, wie Moses Gott erkannte: wenn es vorübergewandelt ist.« Und schon hundert Jahre früher sagte Wilhelm von Humboldt in seiner Abhandlung »Über die Aufgabe des Geschichtschreibers«: »Wenn man die unbedeutendste Tatsache zu erzählen versucht, aber nur streng das sagen will, was sich wirklich zugetragen hat, so bemerkt man bald, wie ... Falschheiten oder Unsicherheiten entstehen ... Daher ist nichts so selten als eine buchstäblich wahre Erzählung . . . Daher gleicht die historische Wahrheit gewissermaßen den Wolken, die erst in der Ferne vor den Augen Gestalt erhalten; und daher sind die Tatsachen der Geschichte in ihren einzelnen verknüpfenden Umständen wenig mehr als die Resultate der Überlieferung und Forschung, die man übereingekommen ist, für wahr anzunehmen.« Wie aber diese Wolkengebilde in ihrer Pracht und Größe sich ballen, der Nachwelt zur Verwunderung, Lust und Erhebung, das ist ein transzendenter Prozeß: der Geist Gottes wirkt dies Gewebe, »den wir erst erkennen, wenn er vorübergewandelt ist«.

Die Erkenntnis, daß Geschichte Dichtung sei, ist dem Bewußtsein der Menschheit niemals gänzlich entschwunden gewesen; sie ist aber der heutigen Zeit in höherem Maße eigen als manchen früheren, zumindest der unmittelbar hinter uns liegenden, die, vom blinden Aberglauben an die Wirklichkeit beherrscht, auf allen Gebieten, und sogar auf dem historischen, nach Tatsachen jagte. Diese Einsicht hat aber die Geschichte keineswegs entthront, sondern bloß von ihrem Scheinthron entfernt und ihr dafür eine höhere Krone verliehen, als sie bisher besaß. Die Geschichtschreibung der letzten Generationen, die sich die »positivistische« nannte, war in Wirklichkeit eine extrem negativistische, destruktive, skeptische. Sie erlitt das Schicksal, das dem »Wirklichkeitssinn« auf allen Gebieten zuteil wird, indem er erfahren muß, daß er seine intensivere Kenntnis gewisser subalterner Erlebensausschnitte mit dem Verlust aller anderen erkaufen muß und daher kein schärferer und reicherer, sondern ein unendlich ärmerer und stumpferer Sinn ist. Oder, um es in aller Kürze zu sagen: daß der Verfasser eines Geschichtswerks kein Historiker ist, wird heute niemand anders mehr beunruhigen als die Historiker.

Dumas père hat über Macaulay die geistreiche Bemerkung gemacht, er erhebe die Geschichte zum Range des Romans. Aber es bedurfte dieser Rangerhöhung durch Macaulay gar nicht, denn sie vollzieht sich ganz von selbst, wenn eine gewisse Zeit verstrichen ist. Daß man das Weltalter, das um zwei bis drei Jahrtausende jünger ist als das unsere, das Altertum nennt, beruht auf derselben naiven Optik, nach der wir uns unseren Großpapa unter allen Umständen als alten Herrn vorstellen, während er doch in Wirklichkeit zweifellos jünger war als wir, nämlich wärmer, unkomplizierter, kindlicher. Der »Mensch der Vorzeit«, etwa der merowingische oder der medizeische, ist in ähnlichem Sinne jünger als wir, wie Drachen und Fisch jünger sind als das Nagetier, dem gegenüber sie infantil wirken, obgleich oder vielmehr weil sie früher da waren. Und daher ist alte Geschichte in höherem, echterem, reinerem Sinne Geschichte als neuere oder gar Geschichte der Gegenwart, in demselben Sinne nämlich, in dem die Geschichte unserer Kindheit und Jugend wahrer ist als die Geschichte unserer reifen und überreifen Jahre: jedermann hat das unabweisbare, obschon unbeweisbare Gefühl, daß sein Leben damals realer, beglaubigter, stärker, seiender gewesen ist, wenngleich die »Quellen« viel interrupter, spärlicher, trüber fließen und »Urkunden« so gut wie ganz fehlen. Daher die Begeisterung, die das Altertum als Gegenstand der Geschichtsleidenschaft zu allen Zeiten ausgelöst hat, und die Kühle, die die Betrachtung gegenwärtiger Zustände umweht. Und doch werden auch diese Zeiten einmal Jugend sein und in Wahrheit und Schönheit erglänzen. Jedes Zeitalter wird einmal zum goldenen Zeitalter unter unserem vergoldeten Blick: es muß nur lange genug vergangen sein. Dann auch ist es erst wahrhaftig gegenwärtig, an dem einzigen Orte, wo Dinge wahrhaftig gegenwärtig zu sein vermögen: im Geiste.

Die Gegenwart aber, die der Nebel der Nähe grau und undurchsichtig macht, muß der Farbe ebenso entraten wie der Klarheit; auf sie fällt nur der gläserne Blick der Idiosynkrasie.

Was ist Romantik?

Schon gleich der erste Abschnitt des Zeitraums, den wir noch zu durchmessen haben, das halbe Menschenalter von 1815 bis 1830, vom Wiener Kongreß bis zur Julirevolution, steht in auffallendem Maße unter dem Gesetz der historischen Ungerechtigkeit. Man bezeichnet diese Periode im allgemeinen als die Ära der Reaktion oder der Restauration. In dieser Doppelbenennung ist bereits der ganze Widerstreit der Beurteilungen enthalten, die sie erfahren hat und noch erfährt. Betrachtet man sie als reaktionär, rückläufig, so kann man in ihr nur den satanischen Versuch sehen, die Uhr der Geschichte gewaltsam zurückzudrehen und alle Finsternis, Torheit, Verderbtheit überwundener Epochen wieder heraufzubeschwören. Betrachtet man sie als restaurativ, wiederherstellend, so muß man in ihr die Rückkehr der entthronten Ordnung, Vernunft und Gesittung erblicken. Aber es gibt keinen wahren Rückschritt in der Geschichte, immer nur einen scheinbaren. Der europäische Geist macht in der Tat in jener Zeit eine rückläufige Bewegung, er läuft zurück wie ein Springer, der sich einen Anlauf nimmt. Die Restauration ist nur das Vorspiel einer ungeheuern gesamteuropäischen Revolution, einer nicht bloß politischen, sondern alle Gebiete des menschlichen Daseins umackernden, die viel tiefer ging, viel weiter griff und viel länger währte als die französische.

Am zutreffendsten wären wohl diese anderthalb Jahrzehnte als die Zeit der Romantik zu bezeichnen. Ich habe im ersten Buche behauptet, daß es eigentlich eine Inkorrektheit sei, von einer englischen oder französischen Renaissance und einer dänischen oder polnischen Reformation zu reden, denn im strengen Verstande des Wortes habe es nur eine italienische Renaissance und eine deutsche Reformation gegeben. Ebenso läßt sich nur im uneigentlichen Sinne von einer Romantik vor dem Wiener Kongreß und nach der Julirevolution sprechen. Wir werden später sehen, daß die sogenannte französische Romantik, die erst um 1830 einsetzt, sogar die völlige Umkehrung und Auflösung der romantischen Idee bedeutet; und daß andrerseits die sogenannte Frühromantik nur eine anders gefärbte Varietät des alleinherrschenden antikischen Zeitgefühls gewesen ist, ein bloßer Absenker des Klassizismus, ganz ebenso aus dem Rationalismus und Hellenismus geboren wie dieser, habe ich bereits am Schlusse des vorigen Buches darzulegen versucht. Wir müssen daher, auch auf die Gefahr hin, die Dinge ungemischter und geordneter darzustellen, als sie in Wirklichkeit waren, zwischen »Frühromantik« und »Spätromantik« einen scharfen Trennungsstrich ziehen, indem wir nur die letztere als legitime Romantik anerkennen, obgleich wir uns natürlich aus Gründen der Bequemlichkeit und Verständlichkeit der eingebürgerten Terminologie: Frühromantik, ältere oder Jenaer Romantik und Spätromantik, jüngere oder Heidelberger Romantik ruhig weiterbedienen werden (die Städtebezeichnungen leiten sich von dem »Hauptsitz« der beiden Schulen her, obwohl dieser eigentlich in beiden Fällen Berlin war). Wenn man die Romantik als eine einheitliche lineare Bewegung von etwa 1790 bis 1830 faßt, so gelangt man zu der Ungereimtheit, die erste Schule, die etwas sehr Spätes, nämlich die letzte, überreife und schon etwas wurmstichige Frucht der Aufklärung war, als »Blütezeit« und die zweite Schule, die etwas ganz Neues, eine Geburt war, als »Verfall« zu bezeichnen, wie dies Ricarda Huch in ihrem zweibändigen Werk, einem sonst sehr liebevollen und verständnisreichen Versuch weiblicher Einfühlung, getan hat.

Wir sind jedoch nicht in der Lage, eine einigermaßen erschöpfende und eindeutige Definition des Begriffs »Romantik« zu geben, und müssen uns im wesentlichen darauf verlassen, daß jedermann ohnehin weiß, worum es sich handelt, wobei wir einen gewissen Trost darin erblicken dürfen, daß es niemandem weder Anhängern noch Angreifern, weder Zeitgenossen noch Nachgeborenen gelungen ist, das Wesen des Romantikers klar zu umschreiben. Vielleicht aber gehört gerade dies zu seinem Begriff. Ludwig Tieck, der als der Stifter der ersten romantischen Schule gilt, äußerte sich noch um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als es längst keine Romantik mehr gab, zu Köpke: »Wenn man mich aufforderte, eine Definition des Romantischen zu geben, so würde ich das nicht vermögen. Ich weiß zwischen poetisch und romantisch überhaupt keinen Unterschied zu machen.« Diese weite Fassung des Begriffs, mit der Tieck nicht allein steht, gestattet es, schlechterdings jedes gesteigerte Weltgefühl als romantisch zu bezeichnen und Ibsen und Zola ebensogut unter die Romantiker zu zählen wie Kalidasa und Homer. Außerdem muß angemerkt werden, daß die Romantiker, obgleich sie alle das Gefühl und Bestreben hatten, eine abgeschlossene geistige Gruppe und militante literarische Faktion zu bilden, sich niemals als »romantische Schule« bezeichnet haben. Erst zwischen 1810 und 1820 taucht dieses Etikett auf, und zwar zunächst bei den Gegnern.

Das »Organische«

Die »Spätromantik«, die um die Jahrhundertwende mit ihren allerersten Vorläufern einsetzt und in dem Zeitraum, von dem wir reden, zur vollen Herrschaft gelangt, läßt sich, obgleich sie sehr einheitlich und eine große paneuropäische Bewegung war, eigentlich nur negativ charakterisieren: eben als Reaktion, diesmal im Sinne von Rückschlag genommen. Die Frühromantik war, wie gesagt, noch genau so rationalistisch wie die Französische Revolution, der Napoleonismus, der Empirestil, das Drama der Klassiker, der kantische und kantianische Idealismus und alle übrigen bedeutenden Zeitphänomene vor 1815; die Spätromantik erhebt zu ihrem Kardinalbegriff das Irrationale oder, wie sie mit Vorliebe sagt, das »Organische«, das Gewachsene, Gewordene, das Leben in seiner Unausrechenbarkeit und Unbegreiflichkeit, Macht und Heiligkeit, als Gegensatz zum Mechanischen, das sich unter Verstandesformeln bringen läßt. Daher ist der Romantiker ein Anhänger der Tradition auf allen Gebieten (denn Tradition ist überall der Ausdruck einer langsamen, im dunkeln Schoß der Zeit gereiften Entwicklung, die nicht ein Werk des willkürlich schaltenden Verstandes, sondern des geheimnisvoll wirkenden Lebens ist); daher blickt er voll Ehrfurcht auf alles Unbewußte und Erdvermählte: auf die Natur, auf das »Volk«, das für ihn kein sozialer, sondern ein naturhistorischer Begriff ist, auf den volksgeborenen Mythos, auf das Weib, das aus dem unterirdischen Reich der »Mütter« kommt; daher empfindet er, und er eigentlich zum erstenmal, eminent historisch, indem er die Geschichte nicht pragmatisch auffaßt: als eine Kette menschlicher Motivationen und Handlungen, sondern wiederum organisch: als eine Entwicklungsreihe von Emanationen des in ihr waltenden »Geistes«, die alle in ihrer Art vollkommen und berechtigt sind. Die Vergangenheit wurde von der Aufklärung an der Gegenwart gemessen oder einer Zukunft, die eine idealisierte Gegenwart war, vom Klassizismus an der Antike, von der Frühromantik am Mittelalter: alle nahmen ihren Standort und Blickpunkt außerhalb der Geschichte und betrachteten sie dogmatisch; die Spätromantik erblickt in jedem Volk und Zeitalter ein Lebewesen, das, indem es seine ihm bestimmte Form und Idee verwirklicht, einen absoluten Wert darstellt: hierin, wie in vielem andern, nahm sie die kurzlebige Bewegung wieder auf, die zu Anfang der siebziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts so verheißungsvoll eingesetzt hatte: die Gedanken Herders, Hamanns und der »Geniezeit«. Alle Objekte ihrer neuartigen Betrachtungsweise sucht sie schließlich in dem letzten Oberbegriff der »Totalität« zusammenzufassen, indem sie sämtliche Lebensfunktionen und deren Wechselbeziehungen: Politik, Religion, Kunst, Sprache, Sitte als die Auswirkungen dieser geheimnisvollen Totalität ansieht. In dem Begriff der Totalität und des Organischen setzen und lösen sich alle Widersprüche, die die romantische Weltanschauung enthält: sie ist gleichzeitig katholisch und national, mystisch und naturalistisch, evolutionistisch und konservativ.

Die kranke Gans

Obgleich diese »zweite Romantik« keineswegs das Programmatische, Konstruierte und Ressentimenthafte der älteren Schule an sich hatte, so war sie doch infolge ihres unvermeidlichen Intermezzocharakters und ihrer forcierten Abkehr von der Zeit und Welt, in die sie gesetzt war, ebenfalls keine gesunde Bewegung. Clemens Brentano hat dies in genialer Selbsterkenntnis folgendermaßen ausgedrückt: »Ein jeder Mensch hat, wie Hirn, Herz, Magen, Milz, Leber und dergleichen, auch eine Poesie im Leibe; wer aber eines seiner Glieder überfüttert, verfüttert und mästet und es über alle anderen hinaustreibt, ... hat das Gleichgewicht verloren, und eine übergroße Gansleber, sie mag noch so gut schmecken, setzt immer eine kranke Gans voraus.« Zweifellos litt jene Zeit, zumal in ihren repräsentativen Persönlichkeiten, an Hypertrophie des poetischen Organs: es fehlte ihr völlig an Harmonie; aus Mangel an jeglicher äußeren Betätigung schlug sich alles nach innen. Jede Übertreibung deutet auf einen Defekt, der kompensiert werden will; und man kann alles übertreiben, auch die Geistigkeit. Nietzsche sagt: »es gibt zweierlei Leidende, einmal die an der Überfülle des Lebens Leidenden ... und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem Doppelbedürfnisse der letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen.« Und damit stoßen wir auf die tiefste Bedeutung, die das Wort »Reaktion«, angewendet auf jene Zeit, besitzt: sie reagiert auf die erzwungene Lebensverarmung durch Selbstbetäubung im Krampfe des Rausches oder der Erstarrung.

Rahel Levin nannte den Gesellschaftszustand »die unendliche Tiefe der Leere«, was ein sehr kompetenter Beurteiler, nämlich Metternich, als »eine wahrhaft genialische Inspiration« bezeichnete.

Der Kongreß

Dieser Zustand wurde künstlich erzeugt durch den Wiener Kongreß. »Europa«, schreibt eines seiner Mitglieder, »hat den Glanz seiner Throne und Höfe, das Machtansehen seiner Staaten, die Spitze seiner politischen und militärischen Verherrlichung, die höchste Bildung seiner Geselligkeit, ja die reichsten Blüten aller Vornehmheit, Schönheit, der Kunst und des Geschmacks hierher geliefert.« In der Tat war in jenen Monaten so ziemlich alles in Wien versammelt, was mit Recht oder Unrecht, im Guten oder Schlimmen einen europäischen Namen besaß. Unter den Potentaten, die sich eingefunden hatten, befanden sich zwei Kaiser und vier Könige, deren Tätigkeit in einem Bonmot, das damals umlief, folgendermaßen übersichtlich zusammengefaßt war: »Der Kaiser von Rußland liebt für alle, der König von Preußen denkt für alle, der König von Dänemark spricht für alle, der König von Bayern trinkt für alle, der König von Württemberg frißt für alle und der Kaiser von Österreich zahlt für alle.« Daneben waren eine Menge kleinerer Regenten erschienen, unter ihnen Karl August von Weimar; und um sie herum die Beautés und die Berühmtheiten: Erzherzog Karl und Wellington, Stein und Hardenberg, Metternich und Gentz, Jakob Grimm und Wilhelm von Humboldt, der Bildhauer Dannecker und der Maler Isabey, kurz alles, was es gab, bis zu der »göttlichen« Tänzerin Bigottini, die im Nebenberuf für Talleyrand Horchdienste betrieb, und dem guten Vater Jahn mit dem langen Bart und den dicken Stiefeln, die ihn, so wollte es seine demokratische Überzeugung, auch zu den vornehmsten Soireen begleiteten und stets mit Kot bedeckt waren, so daß man behauptete, er erhalte sie künstlich schmutzig.

Den Gästen wurde aber auch nicht wenig geboten. Kaiser Franz, sonst überaus sparsam, hatte diesmal keine Kosten gescheut, und ihm folgte darin der gesamte österreichische und ungarische Adel. Die ganze Kongreßzeit war denn auch nichts als ein ununterbrochenes und überaus glänzendes Fest. Alles, was man in jenen Tagen an Vergnügungen und Schaustellungen kannte, wurde aufs prachtvollste und erlesenste arrangiert: fabelhafte Bälle und Soupers, öffentliche Volksbewirtungen, Monsterkonzerte mit tausend Musikern, »Karoussels« (unter denen man damals eine andere und wesentlich kostspieligere Sache verstand als heutzutage, nämlich mit höchstem Pomp ausgestattete Aufzüge und Evolutionen zu Pferde), Schlittenfahrten, lebende Bilder, Wettrennen, Truppenrevuen, Jagden, Illuminationen, Pirutschaden; Beethoven dirigierte vor fünftausend Besuchern und den Prominenten des Kongresses seine Schlachtensymphonie »Wellingtons Sieg bei Vittoria« und siegte im Kärntnertortheater mit seinem zehn Jahre früher durchgefallenen Fidelio; im Leopoldstädter Theater spielte Ignaz Schuster über hundertmal seinen »Staberl«; in der Stephanskirche hielt Zacharias Werner unter ungeheuerm Zulauf seine Predigten, die auch nur eine Art Theater waren; daneben gab es täglich Opern oder Lustspiele im Burgtheater, Ballette im Wiedener Theater, Possen im Josefstädter Theater, Tanzfeste im Apollosaal; die Straßen waren Tag und Nacht voll von Equipagen, Militärs, Dandys, Livreedienern, Musikbanden, Kokotten, Fackelläufern: nichts erinnerte daran, daß die Menschheit einen zwanzigjährigen Weltkrieg hinter sich hatte.

Talleyrand

Die Seele dieses Kongresses, dessen Ergebnisse durch die »hundert Tage« nicht wesentlich verändert wurden, war der Herzog von Talleyrand. Es läßt sich nicht behaupten, daß dieser Diplomat auf eine einheitliche politische Karriere zurückblicken konnte. Er hatte vier verschiedene französische Regierungsformen mitgemacht, und es war ihm gelungen, unter jeder von ihnen eine leitende Stellung einzunehmen. Er war Bischof unter den Bourbons, Gesandter unter der Gironde, Großkämmerer unter Napoleon gewesen und amtierte jetzt wieder als bourbonischer Minister des Äußeren unter dem zurückgekehrten Ludwig dem Achtzehnten. Er hat später sogar noch den Übergang zum Bürgerkönigtum überdauert, ohne an Ansehen zu verlieren. Er selbst sagte von sich mit geistreichem Zynismus, er habe keine Regierung eher verlassen als sie sich selbst, nur etwas früher als alle anderen Menschen, da seine Uhr ein wenig vorgehe. Er war es auch, der das folgenschwere Schlagwort »Legitimität« in den Kongreß warf, das alsbald von Gentz in ebenso genialer wie gewissenloser Weise exploitiert wurde. Ein Mensch, der imstande war, zwischen ancien régime und Guillotine, Bonapartismus und Heiliger Allianz, Restauration und Julirevolution immer in der Mitte durchzusegeln und dabei seine Rechnung zu finden, mußte wohl über nicht gewöhnliche Fähigkeiten der Verstellungskunst, Elastizität und Menschenbehandlung verfügen. Und er hat mit diesen Gaben auch auf dem Wiener Kongreß erreicht, was er gewollt hat, obgleich seine Stellung mehr als prekär war, denn anfangs wollte man einen französischen Bevollmächtigten überhaupt nicht zulassen und auch nachher behandelte man ihn mit größtem Mißtrauen, aus Verdacht, daß er gekommen sei, um unter den Mächten Unfrieden zu stiften und daraus seinen Vorteil zu schlagen. Dieser Verdacht war sehr gerechtfertigt, hat aber nicht verhindert, daß Talleyrand seine Absichten vollkommen erreichte: er stiftete Unfrieden und fand seinen Vorteil.

Es waren zwei Zwecke, die er verfolgte und, wie die Dinge lagen, als französischer Vertreter auch verfolgen mußte. Er mußte versuchen, Frankreich ohne Einbuße an Territorium und Prestige aus dem Kongreß zu lotsen, und er mußte verhindern, daß Deutschland jene politische Machtstellung erreiche, zu der es infolge seiner geographischen Lage, seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner militärischen und kulturellen Leistungen berufen war. Jedermann weiß, daß ihm beides gelungen ist. Vom Wiener Kongreß datiert für Deutschland ein fünfzigjähriger Zustand völliger Ohnmacht und Verkümmerung und ein hundertjähriger Zustand quälendster Beunruhigung durch ein hochmütiges und ungenügsames Nachbarvolk, das seinerseits, obschon vom Ausland entscheidend geschlagen und im Innern hoffnungslos zerrüttet, aus diesem Weltkrieg ungeschmälert und siegreich hervorging.

Die neue Landkarte

Die beiden Fragen, über die am längsten und erbittertsten gestritten wurde, waren die Aufteilung Polens, das Rußland, und Sachsens, das Preußen gänzlich verschlucken wollte. Die gegenseitige Verärgerung war so groß, daß der Zar einmal nahe daran war, Metternich zum Duell zu fordern, und offen mit dem Krieg drohte, indem er immer wiederholte: »ich habe Polen mit zweimalhunderttausend Mann besetzt und will sehen, wer mich daraus vertreiben kann«, während der Kaiser erklärte: »der König von Sachsen muß sein Land wieder haben, sonst schieße ich.« Obgleich von diesen Gefahren nur unsichere Gerüchte in die Öffentlichkeit drangen, erregte die lange Dauer des Kongresses an sich schon in der Bevölkerung Spott und Erbitterung; dazu kam die zunehmende Teuerung, hervorgerufen durch die Anwesenheit der zahlreichen Kongreßteilnehmer und ihrer Angestellten, die die Stadt nur schwer unterbringen und verpflegen konnte, und die Überzahlung der Waren und Lebensmittel durch die reichen Ausländer: Holz, Fleisch und Bier erzielten fast unerschwingliche Preise und die Wohnungsmieten erreichten eine solche Höhe, daß viele Häuser sich während des Kongresses amortisierten. Die Diplomatenintrigen wurden von Tag zu Tag verwickelter und aussichtsloser; der ihnen ein Ende machte, war Napoleon durch seine Rückkehr von Elba.

Die Bestimmungen des Wiener Kongresses waren ein Rückfall in die tristesten Zeiten dynastischer Kabinettspolitik. Auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerungen wurde weder bei der inneren Organisation noch bei der äußeren Territorialgestaltung der neugeschaffenen Staaten Rücksicht genommen. Die vorrevolutionäre Landkarte konnte man indes doch nicht vollständig wiederherstellen. Die wichtigsten Veränderungen bestanden darin, daß Österreich Belgien verlor und dafür Venetien erhielt, Preußen Schwedisch-Pommern und etwa drei Fünftel des Königreichs Sachsen bekam und im Westen erheblich vergrößert wurde und Rußland durch die »vierte Teilung Polens« den größten Teil des napoleonischen Herzogtums Warschau als »Kongreßpolen« gewann, während an Preußen bloß das Großherzogtum Posen und an Österreich der südliche Teil Galiziens zurückgelangte und Krakau zum Freistaat erklärt wurde. England sicherte sich Helgoland, das Kapland, Ceylon, Malta und die Ionischen Inseln. Aus Holland und Belgien wurde ein »Königreich der Niederlande« gebildet; Schweden und Norwegen wurden durch Personalunion vereinigt. Piemont fiel, vermehrt um Nizza und Genua, als »Königreich Sardinien« wieder an das Haus Savoyen, Parma kam an Marie Luise, die Gemahlin Napoleons und Tochter des Kaisers von Österreich, Toskana an einen Sohn Leopolds des Zweiten, Modena an einen Enkel Maria Theresias. In Neapel, Spanien und Portugal und im Kirchenstaat wurden die alten Regierungen wiederhergestellt. Die »Wiener Bundesakte« konstituierte an Stelle des früheren Deutschen Reiches eine Fürstenvereinigung, den »Deutschen Bund«, und als dessen Organ den Bundestag zu Frankfurt am Main, eine Versammlung aller Gesandten der Einzelstaaten unter dem Präsidium Österreichs, das aber mit seinen ungarischen, polnischen und italienischen Besitzungen nicht zum Bund gehörte, während der König von England als König von Hannover, der König von Dänemark als Herzog von Holstein und Lauenburg, der König der Niederlande als Großherzog von Luxemburg Bundesfürsten waren. Der Paragraph 13 der Bundesakte log: »In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden.« Wie man sieht, handelte es sich fast durchwegs um Schöpfungen reiner Potentatenwillkür. Völker, die einander seit Jahrhunderten abgeneigt waren, wie die Belgier und Holländer, die Schweden und Norweger, wurden gewaltsam amalgamiert, Freistaaten von welthistorischer Macht und Dauer wie Polen, Venedig und Genua wurden brutal annektiert, der ganze romanische Süden wurde der alten tödlich verhaßten Fremdherrschaft unterworfen und Deutschland durch die Bundesakte, »eine Zangen- und Notgeburt, tot ans Licht getreten und gerichtet, ehe sie geboren«, wie Görres sie im »Rheinischen Merkur« nannte, zu einem pohtischen Ungetüm gemacht, das noch viel unbehilflicher, chaotischer und absurder war als das Heilige Römische Reich. Der Sieger über Europa war, wie in allen Weltkriegen der neueren Zeit, England.

Die Heilige Allianz

Kurz nach der Auflösung des Wiener Kongresses schlossen, auf Anregung des Zaren, der eine slawisch vertrackte Mischung aus Mystiker und Machtpolitiker, Pietist und Autokrat war, »halb Narr, halb Bonaparte«, wie man ihn in England nannte, Rußland, Österreich und Preußen die »Heilige Allianz«, in deren Akte es unter anderem hieß: »Ihre Majestäten ... erklären feierlich ... ihre unerschütterliche Entschließung . .. sich nur die Vorschriften der heiligen Religion zur Regel zu nehmen, Vorschriften der Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens... Demzufolge sind Ihre Majestäten übereingekommen: gemäß den Worten der Heiligen Schrift, welche allen Menschen befiehlt, einander als Brüder zu betrachten, werden sie durch die Bande einer wahren und unauflöslichen Brüderschaft vereinigt bleiben und einander wie Landsleute bei allen Gelegenheiten und in allen Fällen Beistand leisten; ihren Untertanen und Armeen gegenüber werden sie sich als Familienväter betrachten und sie in demselben Geiste der Brüderlichkeit leiten, von dem sie beseelt sind . .. Die drei verbündeten Herrscher fühlen sich nur als die Bevollmächtigten der Vorsehung, um drei Zweige derselben Familie zu regieren ... Alle Mächte, die sich zu diesen Grundsätzen bekennen, werden mit Freuden in diese Heilige Allianz aufgenommen werden.« In der Tat schlossen sich ihr alle europäischen Potentaten an, mit Ausnahme des englischen Prinzregenten, der erklärte, daß sie mit der Verfassung seines Landes unverträglich sei, des Papstes, der fand, daß er von jeher im Besitze der christlichen Wahrheit gewesen sei, und des Sultans, der ebendiese christliche Wahrheit nicht anerkannte. Dafür schloß England mit Rußland, Preußen und Österreich am Tage des zweiten Pariser Friedens die Quadrupelallianz: ihr Zweck war »Erhaltung des Bestehenden«, also: »Gleichgewicht« in der äußeren Politik, »Ruhe und Ordnung« im Innern.

Die Bedeutung der »Heiligen Allianz« ist sehr überschätzt worden. Sie fußte auf keinerlei reellen Friedensgarantien, sondern bloß auf romantischen Phrasen, an die man sich halten oder auch nicht halten konnte. »Sie ist«, erkannte ein scharfer und illusionsfreier Kopf wie Gentz schon 1816, »eine politische Nullität und wird nie zu einem ernstlichen Resultate führen; sie ist eine im Geiste übel angebrachter Devotion oder einfacher Eitelkeit erfundene Theaterdekoration, für Alexander nichts als ein Werkzeug, um den Einfluß zu üben, der ein Hauptziel seines Ehrgeizes ist«, und auch Metternich betrachtete sie als eine bloße Wortmacherei ( un verbiage). In der Tat sah der Zar, der pathologisch eitel war, in ihr nur einen Vorwand, sich zum Schiedsrichter Europas aufzuwerfen und als »Bevollmächtigter der Vorsehung« in seinen Staaten keinen Willen neben dem seinen zu dulden. Dem Wortlaut nach gab es freilich kein vollkommeneres politisches Programm als das der Heiligen Allianz: »daß«, wie es in dem Vertragsentwurf hieß, »ein christliches Volk in Wahrheit keinen anderen Herrscher hat als den, dem allein die Macht gehört, weil in ihm allein der Schatz der Liebe, der Erkenntnis und der Weisheit ruht, das heißt: Gott, unsern göttlichen Erlöser Jesus Christus«; aber selten ist ein Ideal in solchem Maße Redensart geblieben wie damals. Daß der Heiland auf Erden herrsche, ist, seit er auf Erden erschienen ist, der Wunsch und Traum aller Christen: aber ihn zu erfüllen, sind kaltherzige Habsburgerkaiser, größenwahnsinnige Russenzaren, kleingläubige Hohenzollernkönige und zynische Lügenfürsten à la Metternich kaum die richtigen Werkzeuge. In der schönen Absicht, ihre Völker wie Familienoberhäupter zu regieren, machten sie aus Europa eine Kinderstube, und obschon ihre Liebe, nach den Züchtigungen zu schließen, sehr groß gewesen sein muß, erzeugten sie durch ihr väterliches Regiment nichts als einen ungeheuern Ödipuskomplex.

Die Front nach innen

Daß es gleichwohl in Europa fast vierzig Jahre lang zu keinem größeren kriegerischen Zusammenstoß kam, lag nicht an der Heiligen Allianz, die bereits nach zehn Jahren durch die liberale Politik des englischen Ministeriums Canning gesprengt wurde, sondern an etwas anderem. Es ist nämlich ein Hauptcharakteristikum jener Jahrzehnte, daß in ihnen die innere Politik dominiert. Die Geschichte der vorhergegangenen Jahrhunderte war in erster Linie von Motiven der äußeren Politik bestimmt gewesen, und zwar im wesentlichen von dem großen Gegensatz Frankreich Habsburg: er entwickelt sich bereits während der Reformation und beherrscht die Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs, Ludwigs des Vierzehnten, der Revolution, Napoleons. Europa besteht, in großen Zügen gesehen, dauernd aus zwei Fronten, einer östlichen und einer westlichen, die sich deutlich voneinander abgliedern, obgleich sie fortwährend ihre Form wechseln, indem sie sich bald ausdehnen, bald zusammenziehen und sogar vorübergehend verschmelzen (wie im Siebenjährigen Krieg, um gemeinsam Preußen zu erdrücken, und unter Napoleon, der sie als gesammelte Kontinentalmacht gegen England zu kehren sucht). Nach dem Wiener Kongreß aber bildet das europäische Staatensystem eine einzige zusammenhängende Front, die sich nach innen richtet. Der Gegensatz lautet jetzt nicht mehr: Ostmächte und Westmächte, sondern: Regierung und Volk. Die vereinigten europäischen Staatenlenker kämpfen also, genau genommen, auch nach Leipzig und Waterloo noch immer gegen Napoleon: gegen den Geist der Revolution, der sich durch ihn über Europa verbreitet hatte.

Eine der ersten Regierungshandlungen des restituierten Königs von Spanien war die Wiedereinführung der Inquisition; in mehreren Ländern wurde der Zopf, das Symbol der Gegenrevolution, wieder obligat, und codino, Zopfträger, war noch nach Jahrzehnten in Oberitalien die Bezeichnung für einen Reaktionär. In Piemont war sogar der Analphabetismus zum Teil Untertanenpflicht, denn die Erlaubnis zur Erlernung des Schreibens und Lesens war an ein Mindesteinkommen von 1500 Lire geknüpft. In Lombardo-Venetien herrschte der österreichische Stock, il bastone tedesco; Zensurschikanen, Hausdurchsuchungen, Verletzungen des Briefgeheimnisses, heimliche Überwachungen durch »Spitzel« und »Vertraute«, alte österreichische Spezialitäten, waren nicht nur in allen Habsburgerländern gang und gäbe, sondern auch in Preußen, wo »Egmont«, »Wilhelm Tell« und die »Räuber«, ja sogar Fichtes »Reden an die deutsche Nation« und der »Prinz von Homburg« verboten waren und der Bürokratismus eine Zeitlang fast noch verkalkter war als in Österreich: »wir werden«, sagte der Freiherr vom Stein, »von besoldeten, buchgelehrten, interessenlosen, ohne Eigentum seienden Büralisten regiert. Diese vier Worte enthalten den Geist unserer und ähnlicher geistlosen Regierungsmaschinen ... sie erheben ihr Gehalt aus der Staatskasse und schreiben, schreiben, schreiben im stillen, mit wohlverschlossenen Türen versehenen Bureau, ohnbekannt, ohnbemerkt, ohnberühmt, ziehen ihre Kinder wieder zu gleich brauchbaren Schreibmaschinen auf und sterben ohnbedauert.« Selbst im freien England folgte ein Toryministerium dem andern, und der führende Minister Lord Castlereagh, der »geistige Eunuche«, wie ihn Byron nannte, unterdrückte durch Ausnahmegesetze, die sogenannten »Knebelbills«, jeden Versuch der Selbsthilfe, bis sein aktiver Verfolgungswahnsinn in passiven umschlug und ihn in den Selbstmord trieb. Die englische Handelsflotte war 1815 um ein Viertel stärker als die gesamte festländische; aber die wirtschaftliche Blüte war durch ungeheures Elend der Enterbten erkauft: es galt schon als großer Fortschritt, als das Mindestalter der Fabrikskinder auf neun Jahre und die Arbeitszeit auf zwölf Stunden bestimmt wurde (wobei jedoch Überstunden erlaubt waren), und noch im ersten Viertel des Jahrhunderts stand auf Diebstahl Todesstrafe. Die romantische Staatstheorie, auf die die Reaktion sich stützte, hat überhaupt in England ihren Ursprung: ihr Schöpfer ist Edmund Burke, der 1790 in seinen »Reflections on the revolution in France« die These aufstellte, der Staat sei kein Mechanismus, sondern ein von mystischen Kräften beseelter Organismus, dem die Staatskirche die religiöse Weihe gebe.

In Frankreich hatte der Bruder Ludwigs des Sechzehnten, Ludwig der Achtzehnte, ein undekorativer und gefräßiger, aber weder dummer noch bösartiger Mensch, dem Lande eine gemäßigte Verfassung nach dem Muster der englischen gegeben, vermochte aber, obgleich er, durch die Leiden der Revolutionszeit gewitzigt, nicht eigentlich reaktionär war, dem frechen und kopflosen Treiben der remigrierten »Ultras« nicht Einhalt zu tun; besonders im Süden wütete der »weiße Schrecken« gleichermaßen gegen Protestanten, Bonapartisten und Republikaner, und die konstitutionelle Charte wurde in der Praxis von Jahr zu Jahr bedeutungsloser: der König war, wie Saint-Simon sich ausdrückte, »le prisonnier des anciens nobles«; und noch schlimmer wurde es, als sein Bruder Karl der Zehnte ihm 1824 auf dem Throne folgte, der eine heuchlerische Pfaffenherrschaft etablierte und ganz offen nach dem Absolutismus strebte, so daß selbst Metternich sich angesichts dieser Zustände zu der Äußerung genötigt sah: »die Legitimisten legitimieren die Revolution«. Dabei hörte, obgleich Frankreich bei den Friedensschlüssen sehr glimpflich behandelt worden war und nicht einmal Elsaß-Lothringen hatte herausgeben müssen, das Geschrei nach dem linken Rheinufer nicht auf; eine beliebte Damenfrisur hieß » à la chemin de Mayence«.

Der Napoleonmythus

Auf diesem schwarzen Hintergrund erhob sich die magische Gestalt des Imperators zu neuem Glanz. Man dachte nicht mehr an seinen autokratischen Vernichtungswillen, an die zwei Millionen, die er seinem gefräßigen Machtwahn geopfert hatte, an die stählerne Kasernierung, die er über den Geist Frankreichs verhängt hatte, sondern nur noch an seinen demokratischen Fortschrittsdrang, die Märchensiege, die er mit seinen Volksheeren erfochten hatte, die freie Bahn, die seine Weisheit jeglichem Talent geöffnet hatte, die souveräne Genialität, mit der er alles verjüngt und neugeordnet hatte. Er hatte zwanzig Jahre lang den Erdteil in ein unmenschliches Schlachtfeld verwandelt, aber auch der Welt das langentbehrte Schauspiel eines Wesens von übermenschlicher Geistesmacht und Herrscherkraft geschenkt: zwei Millionen Tote, aber tote Helden, Frankreich eine Kaserne, aber voll Luft und Licht. Sein Untergang war ein »Gottesgericht«, aber über einen gefallenen Engel; und die es vollstreckten, waren nicht einmal Menschen, sondern Schatten: abgetakelte Puppenkönige und seelenlose Zwergfürsten. Der Sieg der Mittelmäßigkeit über das Genie hat niemals etwas Erhebendes, auch wenn das Genie ein Dämon ist; und als sein Lauf sich erfüllt hatte, ward es klar, daß auch dieser apokalyptische Reiter von Gott ausgesandt worden war, um eine geheime Mission zu vollbringen. Er hat es selbst gesagt: »Die großen Menschen sind wie Meteore, die glänzen und sich selbst verzehren, um die Welt zu erleuchten.« Wie ein blutiger Komet erschien er in der irdischen Nacht, drohend und leuchtend, furchtbar und wunderbar; und die Jahrtausende werden seiner Feuerspur gedenken.

Napoleons Prophezeiung in der Kammer der »hundert Tage« erfüllte sich: »Ihr werdet bittere Tränen um mich weinen.« Jedes Wort, das er gesprochen oder nicht gesprochen hatte, wurde aufbewahrt, Büsten und Stiche, Jahrmarktsbuden und Kinderbücher, Stockknöpfe und Tabaksdosen zeigten allenthalben sein Bild, seine Reliquien wurden zu Heiligtümern. Man scheute nicht davor zurück, Sankt Helena mit Golgatha, Lätitia mit der Schmerzensmutter zu vergleichen; er hieß kurzweg »l'homme«. Thiers veranlaßte die Überführung seiner Leiche in den Invalidendom und schuf in glänzend geschriebenen Geschichtswerken die Napoleonlegende, die in einem gewissen Grade bis heute in Frankreich klassisch geblieben ist; in Berangers Liedern erstand er zur unsterblichen Genrefigur: als der schlichte Soldatenkaiser in der grauen Redingote und dem kleinen Hut, dessen Herz dem Volk gehört; die Malerei verherrlichte die Taten und Leiden der großen Armee; Victor Hugo feierte ihn als »Mahomet des Abendlandes« und selbst Beyle-Stendhal, der große Zweifler und unerbittliche Durchschauer aller menschlichen Masken, erklärte: »Beyle respektiert einen einzigen Menschen: Napoleon.« Ja man glaubte überhaupt nicht, daß er gestorben sei. Das Bergvolk auf Sizilien erwartete seine Rückkehr; die Araber verschmolzen ihn mit Alexander dem Großen zu einer Gestalt und erzählten einander von dem Wiederauftauchen des Frankensultans Iskander; in Thüringen hieß es, im Kyffhäuser sitze nicht mehr Barbarossa, sondern Napoleon. Wie sehr er bereits zum Mythos geworden war, zeigte ein diametral entgegengesetzter Vorgang: ein gewisser Pérès versuchte in einem Buch, von dem man nicht recht weiß, ob es ein Produkt des Schwachsinns, der Satire oder des Gelehrtenscharfsinns ist, den Nachweis, daß Napoleon niemals gelebt habe, vielmehr nichts anderes sei als eine Personifikation der Sonne: der Name Napoléon deute auf Apollon, was sowohl Zerstörer wie Sonnengott besage; die Mutter des Kaisers hieß Lätitia, was soviel wie Freude oder auch Morgenröte bedeute; seine vier Brüder seien die vier Jahreszeiten, seine zwölf Marschälle die zwölf Zeichen des Tierkreises, die unter dem Befehl der Sonne stehen, seine zwölf Regierungsjahre die zwölf Stunden des Tages; seine Lebensbahn von Korsika bis Helena ging, gleich dem Lauf der Sonne, von Osten aus und endete im Westen. Hier haben wir ein lehrreiches Beispiel, wohin unbestechliche historische Kritik führen kann, und ein gar nicht so außergewöhnliches, sondern bloß wegen der Nähe des Objektes besonders krasses, wenn man bedenkt, daß auch der angesehene französische Gelehrte Sénart die gesamte Buddhatradition auf »Solarmythen« und der zweifellos vollsinnige Karlsruher Philosoph Arthur Drews die Geschichte Jesu auf »Astralvorstellungen« zurückzuführen versucht hat und daß es eine ganze Gruppe von strengen Forschern gibt, die erklären, Bacon habe die Dramen Shakespeares, ja, wie die neuesten behaupten, auch noch der Einfachheit halber den »Don Quixote« geschrieben.

Die Altteutschen

In Deutschland gedachte man, unter dem frischen Eindruck der Befreiungskriege, des fremden Unterdrückers zunächst mit teutonischem Haß: die politischen Schlagworte hießen »Freiheit«, »Einheit« und »Deutschheit«; es sollte sich aber bald zeigen, daß es nicht bloß welsche Tyrannen gab. 1815 entstand in Jena die erste Deutsche Burschenschaft; ihr folgte drei Jahre später die »Allgemeine Deutsche Burschenschaft«, »gegründet auf das Verhältnis der teutschen Jugend zur werdenden Einheit des teutschen Volks«, als Versuch, wenigstens unter den Studenten eine deutsche Einheitsfront herzustellen: ihre Farben waren schwarz-rot-gold, nach dem Lützowschen Freikorps. »Zufrieden mit dem, was ihnen der Schneider an Deutschheit verlieh«, wie Immermann sagte, legten die Burschenschafter den Hauptwert auf die »Wichs«, eine Tracht, die sich »altteutsch« nannte: geschlossener verschnürter Rock, meist schwarz, breiter offener Hemdkragen, farbige Schärpe, federgeschmücktes Barett aus schwarzem, violettem oder rotem Samt mit goldener Borte und Eichel, dazu langwallendes Haar und am Gürtel ein republikanischer Dolch mit Totenkopf. Sie nannten die Greise »Nachburschen«, die Professoren »Lehrburschen«, das Vaterland »Burschenturnplatz«, die Universität »Vernunftturnplatz«, verschworen Raufen, Saufen und Tanzen und verachteten Weiber und Juden. Wenn sie einem stutzerhaft oder sonstwie unteutsch angezogenen Menschen begegneten, so bildeten sie um ihn einen Halbkreis und schrien »Eh! Eh!« Auf einem Fest, das sie am 18. Oktober 1817, dem Jahrestage der Reformation und der Leipziger Völkerschlacht, am Fuße der Wartburg veranstalteten, entzündeten sie ein Sonnwendfeuer und verbrannten darin feierlich einen hessischen Zopf, einen österreichischen Korporalstock, einen preußischen Gardeschnürleib und einige reaktionäre Bücher. Schon dies erregte bei den Regierungen erhebliche Bedenken, die auf dem Mächtekongreß zu Aachen einer angelegentlichen Erörterung unterzogen wurden. Am 23. März 1819 ereignete sich aber etwas Ernsteres. Ein Burschenschafter namens Karl Ludwig Sand drang in Kotzebues Wohnung in Mannheim und stieß ihm mit den Worten »hier, du Verräter des Vaterlands!« den Dolch ins Herz. Kotzebue war russischer Staatsrat und als solcher natürlich konservativ gesinnt, was er in seiner Zeitschrift, dem »Literarischen Wochenblatt«, nicht verhehlte; einen Grund, ihn umzubringen, hätte man aber höchstens in seinen miserabeln und gemeinen Theaterstücken finden können. Eine Verschwörung, der Sand angehört hätte, konnte nicht nachgewiesen werden; gleichwohl ergriff die Heilige Allianz die Gelegenheit, um in einer neuerlichen Ministerkonferenz die berüchtigten »Karlsbader Beschlüsse« zu fassen: Bücher und Zeitungen wurden unter Zensur, die Universitäten unter strenge Aufsicht gestellt, alle Burschenschaften und Turnerverbände verboten. Damit setzten die grausamen Demagogenverfolgungen ein, deren Organ die »Zentraluntersuchungskommission« in Mainz war. Sie trafen jedermann, der in irgendeiner Beziehung zur deutschnationalen Bewegung gestanden hatte: einen waschechten Patrioten wie Vater Jahn, der sechs Jahre lang von einer Festung zur andern geschleppt wurde, so gut wie den eingefleischten Monarchisten Ernst Moritz Arndt, der seiner Professur enthoben wurde; dasselbe widerfuhr dem hervorragenden Bibelforscher de Wette, weil er an die Mutter Sands einen Trostbrief geschrieben hatte. Schließlich wurde alles verdächtig: demokratischer Schnurrbart, carbonarihafter Filzhut, revolutionäres Reckspringen, ja sogar ein sandfarbener Flaus.

Die unverständige und unmenschliche Härte, mit der der »Aufruhr« im gesamten deutschen Bundesgebiet unterdrückt wurde, läßt sich nur aus einer Art Angstneurose erklären, die die regierenden Kreise erfaßt hatte: Gentz zum Beispiel zitterte, wenn er in einer Gesellschaft einen Bart erblickte, und konnte, wie er selbst versicherte, beim Anblick eines blanken Messers in Ohnmacht fallen. Und dazu kam der Unwille über das bübische und kulturlose Treiben der Jahnriegen. Denn alles vermag die Menschheit zu verzeihen: Torheiten, Lügen, Laster, ja sogar Verbrechen, nur eines nicht: die Taktlosigkeit.

Befreiung Südamerikas und Griechenlands

Indes: überall brodelte die Revolution unterirdisch weiter: bei den jakobinischen Exaltados in Spanien, bei den »Unbedingten« in Gießen, die die radikale Republik anstrebten, bei den Carbonari in Italien, den »Köhlern«, die sich zusammentaten, »den Wald von Wölfen zu reinigen«, in der »Hetärie der Philiker«, die den alten hellenischen Freistaat wiederherzustellen suchte, in der »Nationalen Patriotischen Gesellschaft«, die ein freies und geeintes Großpolen forderte.

Zu den ersten offenen Unruhen kam es im Norden und im Süden Italiens: in Piemont und in Neapel, und die Kongresse zu Troppau und Laibach ermächtigten Österreich zum Einmarsch, das den Aufruhr alsbald niederschlug; bald darauf erhob sich Spanien gegen den heimtückischen und grausamen Ferdinand den Siebenten: auch dort wurde mit fremden Truppen der Absolutismus wiederhergestellt, diesmal durch Frankreich, das der Kongreß von Verona dazu designiert hatte; aber »man kann Sekten nicht durch Kanonen vernichten«: das hatte schon Napoleon aus dem Verhör mit dem jungen Staps, der ein Attentat auf ihn geplant hatte, resigniert erkennen müssen. In Rußland kam es bei der Thronbesteigung des neuen Zaren zum Aufstand der Dekabristen oder »Dezembermänner«. Paul dem Ersten war zunächst sein ältester Sohn Alexander der Erste auf den Thron gefolgt; nach dessen Tode wäre der zweite Sohn, Konstantin, der legitime Herrscher gewesen; dieser hatte aber auf die Krone verzichtet, und so ergriff der dritte Sohn als Nikolaus der Erste die Regierung. Die Tatsache, daß die Verzichtleistung Konstantins nicht offiziell geschehen war, benützte ein Teil des Offizierskorps und der Garde zum Versuch eines Staatsstreichs, der jedoch mißlang. Das Volk hatte so wenig Ahnung, worum es sich handelte, daß es die »Konstitution«, die die Malkontenten begehrten, für die Frau des Großfürsten Konstantin hielt.

Die ersten greifbaren Erfolge errang die revolutionäre Bewegung jenseits des Ozeans. Alle spanischen Festlandbesitzungen in Südamerika fielen nacheinander vom Mutterland ab. 1810 machte sich Uruguay selbständig, in demselben Jahr Paraguay, im darauffolgenden Venezuela, 1816 Argentina, 1819 Columbia, 1820 Chile, 1821 Peru, 1822 Ecuador, 1825 Bolivia. Auch die portugiesische Kolonie Brasilien konstituierte sich 1822 als unabhängiges Kaiserreich. In Mittelamerika wurde der General Don Augustin de Iturbide zum Kaiser von Mexiko ausgerufen, das aber zwei Jahre später die republikanische Staatsform annahm. Die übrigen fünf zentralamerikanischen Staaten: Guatemala, Honduras, Salvador, Nicaragua, Costarica sagten sich ebenfalls los; der ganze Kontinent südlich der Union war, mit Ausnahme des Küstenstreifens von Britisch-, Niederländisch- und Französisch-Guayana im Nordosten der südamerikanischen Halbinsel und des kleinen Gebiets von Britisch-Honduras östlich von Guatemala, von der europäischen Herrschaft befreit. Die Seele dieser Emanzipationsbewegungen war der Kreole Simon Bolivar, dessen weitausschauender Plan auf die Zusammenfassung aller neugeschaffenen Republiken zu einer großen Föderation abzielte, den »Vereinigten Staaten von Südamerika«. Er berief zu diesem Zweck einen Kongreß nach Panama, konnte aber gegen die kleinliche Eifersucht und politische Unreife der bornierten Spanier und der geistesträgen Mestizen nichts ausrichten, und seitdem ist die Geschichte Südamerikas eine fast ununterbrochene Kette von Volksputschen, Militärrevolten und Grenzraufereien geblieben.

Die Losreißung wäre vielleicht nicht so rasch gelungen, wenn ihr nicht die beiden angelsächsischen Großmächte ihre Unterstützung geliehen hätten. Die Heilige Allianz wollte auch in der Neuen Welt die alte Ordnung aufrechterhalten: aber die Vereinigten Staaten von Nordamerika verkündeten 1823 durch ihren Präsidenten die nach ihm benannte folgenschwere »Monroedoktrin«, in der sie erklärten, daß jegliche Einmischung Europas in die politischen Verhältnisse Amerikas unzulässig sei; und der liberale Minister Lord Canning, der Nachfolger Castlereaghs, erkannte im Namen Englands die neuen Freistaaten an, wobei er zum Teil von der öffentlichen Meinung, vornehmlich aber von handelspolitischen Interessen geleitet war. Er förderte auch die zweite erfolgreiche Revolutionsbewegung jener Zeit, den achtjährigen griechischen Freiheitskampf, der, in Geheimbünden lange vorbereitet, 1821 zum Ausbruch kam, von den romantischen und klassizistischen Sympathien ganz Europas begleitet, obgleich die Neugriechen eigentlich mit den Landsleuten Platos und Polyklets nur noch eine sehr entfernte Ähnlichkeit hatten. Das furchtbare Blutbad auf der Insel Chios, die heldenmütige Verteidigung der Festung Missolunghi erregte allgemeine Teilnahme; Freiwillige, »Philhellenen«, eilten aus Deutschland, Frankreich, Italien herbei, Wilhelm Müller dichtete seine Griechenlieder, Byron landete mit zwei Schiffen und fand in der ätolischen Sumpfluft den Fiebertod. Die Regierungen verfolgten zunächst, gemäß ihrem Erhaltungsprinzip, den Kampf mit Mißbilligung; erst der neue Zar entschloß sich zum Eingreifen. England, Frankreich und Rußland schlossen auf Betreiben Cannings ein Bündnis zum Schutze der Griechen und veranstalteten vor dem Hafen von Navarino eine Flottendemonstration, die sich aber, ohne daß einer der beiden Teile es eigentlich beabsichtigt hätte, zu einer der mörderischsten Seeschlachten der neueren Geschichte entwickelte: die türkisch-ägyptische Flotte wurde vollständig vernichtet. Russische Landtruppen besetzten die Donaufürstentümer und Adrianopel, in Asien Kars und Erzerum. Im Frieden von Adrianopel gab die Türkei im voraus ihre Zustimmung zu den Beschlüssen der Londoner Konferenz, in der die Schutzmächte die Unabhängigkeit Griechenlands aussprachen und den Sohn des Königs von Bayern als Otto den Ersten zum König der Hellenen erhoben.

Die österreichische Infektion

Die Heilige Allianz hatte also in diesem Kriege, obschon äußerlich siegreich, mit ihrem Prinzip Bankerott gemacht. Gentz, der Urheber der Karlsbader Beschlüsse, hatte es gleich beim Ausbruch des griechischen Freiheitskampfes eingesehen: »Ich war mir stets bewußt, daß der Zeitgeist zuletzt mächtiger bleiben würde ... und daß die Kraft der Diplomaten so wenig als die Gewalt dem Weltrade in die Speichen zu fallen vermag.« Und doch war auch er der österreichischen Infektion erlegen; und teilte dieses Schicksal mit ganz Europa. Denn der Herrscher über den Kontinent war in jenem Zeitraum der Kaiser Franz, an dem bereits sein Oheim Josef der Zweite ein Menschenalter vor dem Wiener Kongreß »ein gutes Gedächtnis, aber ohne Frucht«, »empfindliche Scheu vor der Wahrheit«, »Unentschlossenheit, Schlaffheit, Gleichgültigkeit im Tun und Lassen« und »Unfähigkeit zu großen Sachen« beobachtet hatte. Die österreichische Blickenge, nie auf etwas anderes gerichtet als das Nächste und Konkreteste, war in ihm repräsentiv ausgeprägt; daher kam auch seine Rückständigkeit: wie fast alle seine Landsleute klebte er mit träger und ängstlicher Zähigkeit an der Realität, und die Realität ist immer rückständig. Seine trockenen, sehr gescheiten Mots, die ihn als Landsmann und Zeitgenossen Nestroys zu erkennen gaben, vermochten unter einem Volke, das für einen guten Witz alles verzeiht, über seine Hinterlist und Herzensarmut hinwegzutäuschen. Der Vollstrecker seines Willens war der Fürst Metternich, der »Arzt im großen Weltspital«, wie er sich selbst nannte, der, merkwürdig, es sagen zu müssen, einer der Helden des Zeitalters war. Dieser war sich klar darüber, daß der Durchbruch der nationalen und liberalen Ideen die habsburgische Monarchie unfehlbar in Trümmer gelegt hätte, weshalb er seine reaktionäre Politik auch den anderen Staaten teils aufoktroyierte, teils aufredete: ein Land sei nichts als ein »geographischer Begriff«, dessen Bevölkerung eine Versammlung von Untertanen. Vielleicht mußte er als österreichischer Staatskanzler so handeln. Aber vor dem Forum der Geschichte, die ja zum Glück nicht bloß österreichische Geschichte ist, steht sein »System« als der aberwitzige Versuch da, aus einem Gebäude, weil eine seiner Wohnungen ein Kranker innehat, ein Spital zu machen; und das Aberwitzigste daran war, daß der Versuch gelang.

Im Grunde war seine Ansicht vom Staat eine späte Frucht der Aufklärung, in der er auch seiner geistigen Herkunft nach wurzelte: eine Regierung habe nicht symptomatisch, sondern dogmatisch zu verfahren, nicht zu auskultieren, sondern zu dekretieren; es war der Absolutismus des achtzehnten Jahrhunderts, nur mit einem vorgesetzten Minuszeichen: statt Zwangsfortschritt Zwangsrückschritt, ein antijosefinischer Josefinismus. Seine politische Anschauung war extrem antiromantisch, indem sie in den Vereinigungen der Menschen nicht Lebewesen erblickte, die ihre Gesetze in sich tragen und sich nach ihnen organisch entwickeln, sondern Maschinen, die man nach Belieben regulieren und arretieren kann; und es war eine verhängnisvolle Lüge zahlreicher Staatstheoretiker, die sich »romantisch« nannten, daß sie diesen Antagonismus absichtlich nicht sehen wollten.

Psychologisch betrachtet, war seine Liebe zur »Stabilität« nur Denkbequemlichkeit. Er schrieb einmal an die Gräfin Lieven: »Ich verabscheue jeden Jahreswechsel. Ich neige so sehr dazu, das, was ich kenne, dem vorzuziehen, was ich lernen muß, daß ich meine Anhänglichkeit sogar auf die vier Ziffern übertrage, die ich zu schreiben gewohnt bin.« Talleyrand nannte ihn denn auch den »Wochenpolitiker«. Sein System war in den bekannten Worten seines intimsten Mitarbeiters Gentz beschlossen: »mich und den Metternich hält's noch aus.« Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß er auf die Ausübung dieses Systems ein hohes Maß von Esprit und Geschicklichkeit, Finesse und Erfindungsgabe verwendet hat. »Die große Weltkomödie«, sagt Albert Sorel, »die hohe Intrigue des europäischen Theaters hat niemals einen so fruchtbaren Autor und einen so vollendeten Schauspieler gefunden.« Dieser »Zugereiste« war eine der vollkommensten Verkörperungen des Wiener Geistes. »Sie können dieser Stadt«, sagt Ferdinand Kürnberger, einer der besten Kenner der österreichischen Seele, »ein wirkliches und unverdientes Unrecht tun, wenn Sie sie an deutschem Maße messen und als deutsche Stadt in Anspruch nehmen. Dagegen wird alles licht und klar, faßlich und verständlich, gerecht und billig, wenn sie Wien nehmen als das, was es ist - eine europäisch-asiatische Grenzstadt! ... Unbegreiflich ist also Österreich nicht; man hat es als eine Art Asien zu begreifen. Was aber Europa und Asien bedeuten, das sind sogar sehr scharfe und präzise Begriffe. Europa ist das Gesetz, Asien ist die Willkür; Europa ist die Pflicht, Asien die Laune; Europa ist das Streng-Sachliche, Asien ist das Rein-Persönliche; Europa ist der Mann, Asien das Kind und der Greis.« Dies war die Seele Metternichs: Willkür als Gesetz, Erfüllung der Laune als Erfüllung der Pflicht, persönliche Velleität zur Sache der Welt gemacht, infantil-verantwortungsloses Spiel mit dem Heute, senil-phantasieloses Haften am Gestern oder, um es kürzer zu sagen: sein Wesen war die vollendete Frivolität.

Die »modernen Ideen«

Metternich hat sein ganzes Leben lang einer unsichtbaren Heer- schar von Feinden nachgestellt, die ihn mit vernichtungssüchtigem Argwohn erfüllte: er nannte sie »die modernen Ideen«. Aber wie kann ein Mensch, der ein Staatsmann sein will, wie kann irgendein denkender Mensch »moderne« Ideen bekämpfen, da sie doch die einzigen Ideen in jedem Zeitalter sind und alle anderen nicht nur ohnmächtig gegen sie, sondern in Wahrheit gar nicht vorhanden, außer in schiefen, schwachsichtigen, alterswurmstichigen Köpfen, die gar keine Köpfe sind! Und da doch, wie jeder denkende Mensch und vollends jeder Staatsmann wissen müßte, nur eine siegreiche Kraft existiert: die Idee, gegen die zu kämpfen eine hoffnungslose Donquichotterie ist oder unfehlbar früher oder später werden muß! Es gibt nicht zwei Wahrheiten auf ein und derselben Entwicklungsstation der Geschichte, sondern immer nur eine, die allein lebensfähig und lebensberechtigt ist, und eine andere oder viele andere, die keine sind. Legitimität und Gottesgnadentum: höchst edle Begriffe, vielleicht die erhabensten, die wir kennen! Aber legitim durch ihre innere Wahrheit und von Gott begnadet als Stufe im unerforschlichen Erziehungsplane der Menschheit ist immer und überall nur die »moderne Idee«.

Als das Moderne (oder so ähnlich) bezeichnete man zu allen Zeiten den herrschenden oder vielmehr erst um die Herrschaft ringenden Zeitgeist, und zwar immer gleichzeitig im Sinne eines Schimpfwortes und eines Lobestitels: die einen fanden stets, es erschüttere alle sittlichen, geistigen, sozialen Grundfesten, sei absurd, verlogen, lasterhaft, häßlich, trivial, pervers, kurz pathologisch, die andern, es sei die Moral, die Kunst, die Reform, die Zukunft, kurz das definitive Ideal. Allemal hatten beide unrecht. Auch die jeweils herrschende Tracht heißt »Mode«, und wiederum im huldigenden und im verdammenden Sinne, von den einen als Gipfel der Schönheit und Zweckmäßigkeit gepriesen, von den andern als Exzeß der Abgeschmacktheit und Torheit verabscheut. Und wiederum haben beide unrecht. Denn das Phänomen der Mode läßt sich keinerlei ästhetischen oder gar logischen Kategorien unterwerfen: es wäre dies geradeso sinnwidrig, wie wenn man eine bestimmte Fauna oder Flora nach solchen Gesichtspunkten beurteilen und etwa die Körperbildung des Känguruhs geschmacklos, die Blumenblätter der Seerose kleidsam, die Erscheinung der Giraffe manieriert nennen wollte. Jede Mode ist vernünftig: als der sinnfällige Extrakt bestimmter Körperideale und Schönheitsbegriffe, ausgedrückt in dem Arrangement, der Korrektur, der Verbergung oder Bloßstellung der äußeren Erscheinung, vergleichbar dem, was der Naturhistoriker den Habitus nennt; womit auch die Tatsache zusammenhängt, daß jede Generation, obgleich sie es nie weiß und erst nach ihrem Tode enthüllt, eine nur ihr eigentümliche Pose und Attitüde besitzt. Wir haben dies bereits an einem Spezialfälle etwas näher erörtert: beim Barockmenschen, dessen geheimes Ideal die Marionette war; in unseren Zeitläuften ist der Vollstrecker dieses Willens zur »Stellung« niemand anders als der Photograph. Noch nie hat eine »gute Gesellschaft« sich natürlich benommen und noch jede hat es geglaubt; deshalb wirkte, wer sich gegen ihre Gesetze auflehnte, erst recht unnatürlich. Ebenso wirkt jeder, der die Kleidermode ignoriert, ridikül; und aus einem tieferen Grunde, als man gemeinhin annimmt. Denn während er glaubt, gegen einige »sinnlose Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten des Tages« zu kämpfen, kämpft er in Wahrheit gegen den Geist des Tages; und Kampf gegen den Geist ist stets etwas Lächerliches. Daher widerstreben die Frauen, die im allgemeinen mit dem Zeitgeist auf viel vertrauterem Fuße stehen als die Männer, fast niemals der Mode. Denn sie wissen, daß die Mode nicht vom Schneider gemacht wird und überhaupt von keinem einzelnen Individuum (wenn es bisweilen so aussah, so war der angebliche Arbiter elegantiarum immer nur der verständnisvolle Mandatar des Zeitgeists); daß es sich so verhält, stellt sich mit unwiderleglicher Evidenz heraus, wenn eine Mode historisch, nämlich zum Kostüm geworden ist. Dann enthüllt es sich, daß sie keine willkürliche Diktatur des Snobismus oder der Geschäftsspekulation war, sondern ganz einfach der Stil der Zeit. Man kann Kostüme schön oder häßlich, gefällig oder unvorteilhaft finden (obgleich schon dies eigentlich eine falsche Optik ist); aber in der ganzen Weltgeschichte, von der Pyramidenzeit bis zur Gründerzeit, hat es noch niemals ein, »stilloses« Kostüm gegeben,

Der Mephisto der Romantik

Woher kam es nun, daß ein so feiner Menschenkenner, geistreicher Raisonneur und [gewiefter] Realist wie Mettemich so einfache Zusammenhänge nicht erkannte, sich allen Ernstes bis zuletzt im Rechte glaubte und damit vor dem Tribunal der Geschichte zum Gelächter machte? Es kam einfach daher, daß er unfähig war, die Welt und ihr Wesen mit dem Herzen zu erfassen, daß er eine bis zur Absurdität ausschließliche Verkörperung der sterilen Intelligenz darstellte, des reinen Verstandes, der gar nichts versteht. Und darum könnte man ihn den Mephisto der Romantik nennen, dessen Tragödie ebenfalls die Tragödie des bloßen Gehirnwesens ist, der genialischen Ichsucht und radikalen Skepsis, die allemal unterliegen muß. Er war ein vollendeter Kavalier wie Mephisto, ein witzreicher Causeur wie Mephisto, ein Teufel mit Bildung und Manieren, ein Teufel aus dem achtzehnten Jahrhundert. Er rang um die romantische Seele Europas, zog sie in den Abgrund und verlor die Wette.

Romantische Wissenschaft

Seine großen Eroberungen machte der romantische Geist mehr auf den Gebieten des Denkens und Forschens als im Reich der Kunst und Poesie. Nahezu alle Geisteswissenschaften wurden durch originelle und fruchtbare Gedanken neu belebt. Mehrere Disziplinen wurden überhaupt erst damals geschaffen, zum Beispiel die Rechtsgeschichte durch Karl Friedrich Eichhorn, der zum erstenmal das deutsche Recht als ein einheitliches, im Volke gewordenes Ganze darstellte. Sein Lehrer war Friedrich Karl von Savigny, der Begründer der »historischen Rechtsschule«, dessen Grunddoktrin lautete, daß alles Recht auf die Weise entstehe, »welche der herrschende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet«: »durch innere stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkür des Gesetzgebers«; erst sei der Brauch da, der Volksglaube, das selbstverständliche, nicht weiter ableitbare Rechtsgefühl, dann erst ergebe sich als ein spätes Produkt die Kodifikation des schon längst Vorhandenen in Gesetzbüchern, juristischen Formen und Formeln. In dieser Anschauung erscheint das Recht als etwas Gewachsenes, gewissermaßen ein Bodenprodukt, die natürliche Blüte und Frucht der Volksseele und fällt in den gleichen Kreis wie Poesie, Kultus, Sitte, Sprache. In demselben Sinne begriff Adam Müller den Staat als Organismus und lebendige Individualität, als »Totalität der menschlichen Angelegenheiten«: »Der Staat ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantilische Sozietät; er ist die innige Verbindung des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation zu einem großen energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen.« Allein dies konnte leicht dazu führen, den Staat zu vergöttern und alles zu sanktionieren, was er tat und unterließ; und es führte auch dazu, wie sich an Karl Ludwig von Haller erwies, der dekretierte, alle Könige und Fürsten seien Machthaber und es sei gottgesetzte und gottgewollte Naturordnung, daß der Macht gehorcht werde: sie seien nicht Diener des Staates, sondern unabhängige Herren und der Staat ihr Eigentum, wie das Hauswesen dem Familienvater gehöre; Staatsrecht sei von Privatrecht nicht wesentlich verschieden. Adam Müller schrieb sogar über »die Notwendigkeit einer theologischen Grundlage« des Wirtschaftslebens. Doch war dies keine Tartüfferie: der Geist des Zeitalters war tief religiös. Es zeigte sich dies unter anderem auch in der größeren Annäherung der christlichen Konfessionen: es gab nicht wenige gläubige Katholiken, die ganz in pietistischen Vorstellungskreisen lebten, und viele fromme Protestanten, die gewissermaßen im katholischen Dialekt sprachen; und zur Trizentenarfeier der Reformation versuchte Friedrich Wilhelm der Dritte, zunächst nicht ohne Erfolg, Lutheraner und Calvinisten in der »evangelischen Union« zu vereinigen. Während Haller das patriarchalische Regiment des Mittelalters als göttliche Ordnung pries, schwärmte Raumer in einer ziemlich ledernen »Geschichte der Hohenstaufen« für das alte deutsche Innungswesen und Niebuhr in seiner epochemachenden »Römischen Geschichte« für die agrarische Mittelalterstufe des antiken Rom: »als Roms Bürger Bauern waren und ihre Äcker selbst bestellten, verkörperte sich in ihrem Staate das Ideal, von dem er sich so weit entfernt hat.«

Eine völlig neue Wissenschaft begründete Karl Ritter in seiner »Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen«, indem er die Gestalt und Entwicklung der Staaten als Funktion geographischer Bedingungen darstellte, langsamer stiller Einwirkungen, in deren Gesetzmäßigkeit einzudringen es »einer gleich stillen Seele« bedarf. Der Geschichtskreis wurde in ungeahntem Maße erweitert. Georg Heinrich Pertz begründete auf Anregung des Freiherrn vom Stein die »Monumenta Germaniae historica«, ein umfangreiches Quellenwerk zur deutschen Geschichte des Mittelalters; August Böckh edierte im Auftrag der Berliner Akademie der Wissenschaften das »corpus inscriptionum graecarum«; Grotefend, ein deutscher Gymnasiallehrer, entzifferte an der Hand persischer Königsnamen die Keilschrift, die man lange Zeit für eine bloße Verzierung gehalten hatte; und Champollion löste das Rätsel der Hieroglyphen, die man bisher als eine Bilderschrift angesehen hatte: mit Hilfe eines Steins aus der Ptolemäerzeit, der eine Inschrift in ägyptischer und griechischer Sprache enthielt, gelang es ihm, das Alphabet zu rekonstruieren, zahlreiche Texte zu übersetzen und sogar die Grundzüge einer Grammatik zu geben: »ein einzelner Mann«, sagt der Ägyptologe Adolf Erman, »hat in einem Jahrzehnt ein ganzes Volk wieder in die Weltgeschichte eingeführt.« Der Orient trat überhaupt in den Vordergrund des Interesses. »Nach dem Morgenlande, an die Ufer des Ganges und Indus, da fühlt unser Gemüt von einem geheimen Zwange sich hingezogen«, schrieb Görres, der auf Grund persischer Sprachstudien eine »Mythengeschichte der asiatischen Welt« erscheinen ließ; Friedrich Schlegels Werk »Sprache und Weisheit der Indier« gab den Anstoß zu gründlichsten und fruchtbarsten Sanskritstudien; Rückert übersetzte, zum Teil meisterhaft, chinesische, persische, indische, arabische Poesien; und Goethe dichtete seinen »west-östlichen Diwan« als »Versammlung deutscher Gedichte mit stetem Bezug auf den Orient«. Großer Anteilnahme begegnete auch bei ihm, den Brüdern Grimm, Chateaubriand und anderen bedeutenden Zeitgenossen die Entdeckung oder vielmehr Erfindung der böhmischen Nationalliteratur durch Wenzeslaus Hanka, den Herausgeber der Königinhofer Handschrift, einer Sammlung tschechischer Gedichte und Epenfragmente, die er im Gewölbe des Kirchturms von Königinhof gefunden haben wollte; ihre Unechtheit, noch heute von Chauvinisten bestritten, wurde erst siebzig Jahre später einwandfrei festgestellt.

Der »dichtende Volksgeist«

Ein Produkt der Hyperkritik war die »Liedertheorie« Karl Lachmanns, die auf den Homerforschungen des hervorragenden Alt-Philologen Friedrich August Wolf fußte. Schon der Abbé d'Aubignac hatte in einem 1715, lange nach seinem Tode erschienenen Werk »Conjectures académiques ou dissertation sur l'Iliade« behauptet, ein Mensch namens Homer habe gar nie existiert, die Ilias sei eine Sammlung einzelner Stücke ohne Gesamtplan, von einem Redaktor zusammengefügt. So weit ging nun Wolf allerdings nicht; aber er leugnete, daß sie eine ursprüngliche Einheit sei und einen einzigen Verfasser habe. Lachmann hingegen bekannte sich zu der extremen Auffassung, daß zwischen den einzelnen Gesängen der homerischen Epen keinerlei Zusammenhang bestehe, wofür er geltend machte, daß sie gewisse topographische und psychologische Widersprüche enthalten, als ob deren Vermeidung die Hauptpflicht eines Dichters und bädekerhafte Korrektheit das Haupterfordernis eines Epos wäre. An Lachmann zeigt sich die Kehrseite der romantischen Theorie vom »dichtenden Volksgeist«, die an sich ein vertieftes Verständnis gewisser Phänomene bedeutet, aber, ohne Takt gehandhabt, zur Auflösung des Begriffs »Kunstwerk« führen muß, indem man alles, was historisch unkontrollierbar ist, einfach von selbst gedichtet sein läßt. Wolfs Hauptargument, das Lachmann wiederholte, war das Zeugnis des Altertums, Peisistratos habe die sogenannten homerischen Gedichte (also offenbar einzelne Lieder) gesammelt. Er hat sie aber bloß wiedergesammelt. Die Rhapsoden pflegten einzelne Stücke vorzutragen, wir würden heute sagen, Bücher oder Kapitel des Werks, und in Athen wurden diese wieder zusammengestellt, als eine Art »Neuauflage«: man kann also bestenfalls von einer Rekonstruktion sprechen. Allerdings hat der Dichter in echt griechischer Relieftechnik aus jedem der Gesänge ein abgerundetes Kunstwerk gemacht, was sich übrigens schon dadurch notwendig machte, daß sie viel mehr durch Rezitation als durch Lektüre verbreitet wurden und daher im Hörer nicht die stete Vergegenwärtigung des Gesamtwerks voraussetzen konnten. Aber die zahlreichen eingewirkten Anspielungen, Rückbeziehungen, Prophezeiungen weisen unverkennbar auf ein solches hin. Die spätere Forschung hat denn auch die superklugen Skeptizismen der Liedertheorie ihrem Schicksal überlassen und glaubt wieder an einen Dichter Homer aus Smyrna, das gewaltigste epische Genie aller Zeiten, der um 700 die Ilias komponiert hat. Aber nicht die philologischen und archäologischen Beweise, auch wenn in sie noch so viel Fleiß, Sachkenntnis und Scharfsinn investiert ist, sind in dieser Frage das Entscheidende, sondern das für jeden gesunden und vorurteilslosen Menschen unabweisbare Gefühl, daß dieses Werk nur einem großen Künstler seine Entstehung verdanken kann. Es hat zu allen Zeiten »tiefgründige Köpfe« gegeben, die hinter jedem noch so simpeln Tatbestand etwas suchen, das noch »aufzudecken« und »aufzuklären« sei. Sie decken diesen vermeintlichen Hintergrund auf, sie erklären diesen zweiten Sinn, den die Sache angeblich hat; und nun ist die ganze Angelegenheit für jedermann rettungslos unverständlich geworden. Der »homerische Sagenkreis« war allerdings schon vor Homer da, aber leider ohne Homer! Die »Bausteine« waren da, aber der Baumeister nicht, das Genie, das aus dem Chaos den Kosmos macht. Shakespeare hat aus dem Chaos der kühnen und phantasievollen, aber dunkeln und wüsten Figurenwelt seiner Vorläufer den Kosmos seiner Dramenwelt gemacht. Homer hat aus rhapsodischen Bruchstücken unbewußter Dichter die sinnreich und lichtvoll geordnete bewußte Dichtung seiner Ilias gemacht. Statt aber die Taten dieser Lichtbringer anzustaunen, sagt man: sie haben nicht existiert! Ebensogut könnte man uns glauben machen, daß der Zeus, den wir bisher dem Phidias zugeschrieben haben, von einem Gremium von Steinklopfern und Farbenreibern geschaffen worden sei. Und wenn eines Tages jede genauere Kunde von Goethe verschwunden sein sollte, werden sich wahrscheinlich scharfsinnige Gelehrte finden, die behaupten, daß sein Name die Personifikation eines untergegangenen Volksstamms bedeute und der Faust, wie schon aus seinen zahlreichen Widersprüchen und der Uneinheitlichkeit der Titelfigur hervorgehe, aus Bruchstücken dieser »gothischen« Volkspoesien zusammengeleimt sei, die man irrtümlich goethisch nannte.

Wir haben daher auch zu der zweiten, von der Wissenschaft noch heute zum Teil akzeptierten Theorie Lachmanns, die sich mit dem »Nibelungenlied« befaßt, kein rechtes Vertrauen. Auch hier behauptete er, daß bloß romanzenartige Lieder kompiliert worden seien, und zwar zwanzig, die er reinlich voneinander sonderte. Aber Wilhelm Scherer, der, ihm beipflichtend, dezidiert erklärt: »der Dichter des Nibelungenlieds ist unfindbar«, sieht sich gleichwohl zu der Bemerkung genötigt: »indem unser Gedicht aus dem Stoffe nicht bloß Episoden herausgreift, sondern ihn erschöpft, gewinnt es äußerlich eine höhere Einheit als die Ilias.« In wem anders aber könnte diese Einheit hegen als in einem großen Dichter? Das Hauptargument Lachmanns und seiner Schule (das bei Homer nicht anwendbar war) besteht diesmal darin, daß das Nibelungenlied »stümperhafte« Partien enthalte, was sich aber sehr leicht aus verderbter Überlieferung erklären läßt und überhaupt gar nichts beweist, denn ein Künstler ist keine Fabrik von Vortrefflichkeiten und gerade die »Ungleichmäßigkeit« unterscheidet ihn vom geschickten Talent: es lassen sich bei Schiller mehr mißlungene Partien finden als bei Wieland, und ein so miserables Theaterstück wie Maeterlincks »Bürgermeister von Stilmonde« hätte Ludwig Fulda niemals geschrieben. Jakob Grimm charakterisierte denn auch Lachmann sehr treffend, indem er sagte, er sei der geborene Herausgeber und schenke dem Inhalte nur insoweit Beachtung, als er daraus Regeln und neue Griffe für die Behandlung seiner Texte schöpfen könne; ließen sich alle Philologen in solche teilen, die die Worte um der Sachen, und solche, die die Sachen um der Worte willen treiben, so gehöre Lachmann unverkennbar zu den letzteren.

Der Zauberstab der Analogie

Die Brüder Grimm waren Männer von ganz anderem Schlage; sie vereinigten die wärmste Einfühlung ins Objekt und das feinste Ohr für die Regungen der Sprache mit geduldigster Sorgfalt und mikroskopischer Strenge. Ihre »Andacht vor dem Unbedeutenden«, von Friedrich Schlegel verspottet, war nicht Pedanterie und Kleinlichkeit, sondern künstlerischer, ja fast religiöser Herkunft. In seiner »Deutschen Grammatik« erforschte Jakob Grimm mit zartestem Verständnis die Psychologie der Sprachbildung, in den »Deutschen Rechtsaltertümern« und der »Deutschen Mythologie« grub er tief in den dunkeln Schacht des nationalen Lebens; Wilhelm Grimm ging der deutschen Heldensage nach und gab altdänische Balladen, den Freidank, den Rosengarten, das Rolandslied und vieles andere heraus; gemeinsam edierten die beiden Brüder die berühmten »Kinder- und Hausmärchen«, irische Elfenmärchen, verschollene heimische Dichtungen wie das Hildebrandslied und den Armen Heinrich und begannen das Riesenwerk des »Deutschen Wörterbuchs«. Görres, dem Philosophen des Ultramontanismus und »katholischen Luther«, verdankte das Publikum die Bekanntschaft mit den »Deutschen Volksbüchern«, und Uhland, hierin fast größer als in seinen Dichtungen, versenkte sich hebevoll in die Poesie der französischen Troubadours und Walthers von der Vogelweide.

Das Wort, mit dem die Wissenschaft jener Zeit alle Siegel zu lösen hoffte, hieß »vergleichend«: es bezeichnete den Versuch, die Methode, die Cuvier in seiner »anatomie comparée« so fruchtbar auf Gegenstände der Naturhistorie angewendet hatte, auf alle Historie auszudehnen. Durch Vergleichung der Konjugationsformen aller ihm zugänglichen alten Sprachen endeckte Franz Bopp die Abstammung des Persischen, Griechischen, Lateinischen, Gothischen vom Sanskrit und wurde damit der Schöpfer der allgemeinen vergleichenden Sprachwissenschaft, Jakob Grimm begründete die vergleichende germanische Philologie, Friedrich Diez die vergleichende historische Grammatik der romanischen Sprachen, deren gemeinsame Herkunft aus dem Lateinischen er nachwies, und Wilhelm von Humboldt zog auf Grund ausgedehnter Studien, sogar des Chinesischen und der javanischen Kawisprache, in seiner Schrift »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts« aus den linguistischen Forschungen der Romantik das philosophische Resümee. Karl Ritter, den wir bereits erwähnt haben, schuf die vergleichende Erdkunde, Johannes Müller, von dem wir sogleich hören werden, die vergleichende Sinnesphysiologie, Niebuhr wurde der Cuvier der römischen Geschichte, indem er wie dieser aus vorhandenen Resten auf korrespondierende untergegangene schloß und so die Fossilwelt eines grauen Altertums rekonstruierte. Wie die Sprachen wurden auch die übrigen Produkte der menschlichen Kollektivseele einer vergleichenden Betrachtung unterzogen: die antiken und neueren Verfassungen, nicht als Konstruktionen einzelner Gesetzgeber, sondern als Schöpfungen des Lokalgeists; die arischen und semitischen Mythologien, nicht als Erfindungen listiger Priester, wie die Aufklärung geglaubt hatte, auch nicht als Kristallisationen der Volkspoesie, wie Herder gemeint hatte, sondern als Erinnerungen an wahrhafte historische Zustände, an Lebensformen verschollener Urzeiten. Kurz: es war der »Zauberstab der Analogie«, der überall neue Quellen des Verständnisses zum Fließen brachte.

Wie man sieht, war der historische Blick durchaus nicht ausschließlich auf das Mittelalter fixiert, an das allein man bei der Romantik zu denken pflegt. Im großen Publikum war dieses Interesse allerdings dominierend. Raumers »Geschichte der Hohenstaufen« verdankte ihren großen Erfolg in erster Linie dem Stoff. Raupach erkannte mit seinem sicheren Theaterflair, daß man sich diese Panoptikumfiguren auch auf der Bühne gefallen lassen werde, und dramatisierte Raumer in einem Zyklus von sechzehn Abenden, der in Berlin vor ausverkauften Häusern in Szene ging. Er hatte sogar den Plan, in Gemeinschaft mit anderen die ganze deutsche Geschichte von Heinrich dem Ersten bis zum Westfälischen Frieden zu verarbeiten. Aber auch der geniale Grabbe schrieb einen »Friedrich Barbarossa« und »Heinrich den Sechsten«, Immermann verfaßte einen »Friedrich den Zweiten«, Eichendorff einen »Ezzelin«, und Rethel malte in den vierziger Jahren suggestiv und kraftvoll, in einer eigenartigen Verbindung von historischer Einfühlung und Gegenwartssinn, die Fresken, die die Geschichte Karls des Großen erzählen, an den Aachener Krönungssaal.

Geburt der romantischen Dichtung

Wollte man die entscheidenden Dichtwerke jener Zeit mit einem Hauptzug charakterisieren, so könnte man vielleicht sagen: sje hatten Tiefe. aber es war eine gemalte Tiefe. Die repräsentativen Poeten konnten, und zum Teil wundervoll, tiefe Menschen darstellen; sie selbst waren keine. Es war eben die »Tiefe der Leere«.

Im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts erschien die erste Dichtung, die in der legitimen Bedeutung des Wortes romantisch genannt werden darf: Chateaubriands »Atala«, eine Indianergeschichte, aus feuerfarbigen exotischen Naturbildern, süßtrauriger Erotik und katholischer Frömmigkeit virtuos gemischt; alle drei Elemente nicht echt: der Landschaftshintergrund grandiose Kulisse, Liebe und Religion künstliches Opiat. Sie infizierte sogleich alle Köpfe und Herzen, die primitiven so gut wie die dekadenten, wurde dramatisiert, illustriert, parodiert, in Wachsfigurenkabinetten gezeigt. Zwei Jahre später folgte die Novelle »René«; im Mittelpunkt der Handlung steht eine geheimnisvolle Geschwisterliebe, das Lieblingsthema der damaligen Dichtung, das Byron, der Titelheld des Zeitalters, sogar gelebt hat (der Liebesroman mit seiner Halbschwester Augusta, der wahrscheinliche Grund seiner Scheidung und Flucht aus England, wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tode unter ungeheuerm Aufsehen enthüllt, dann wiederum jahrzehntelang von ehrbaren Literarhistorikern ins Reich der niedrigen Verleumdung verwiesen und neuerdings, unter der Einwirkung psychoanalytischer Modeströmungen, wieder hervorgeholt; das Faktische einer so heikeln Affaire läßt sich niemals »dokumentarisch« ergründen, sondern nur charakterologisch: durch das instinktive Gefühl, daß zu einer titanischen Halbgottsnatur wie Byron der Inzest sozusagen mythologisch gehört). In René ist der Typus des esprit romanesque geschaffen, der, mit sich und der Welt zerfallen, gefühlvoll und skeptisch, zärtlich und ironisch, voll Sehnsucht nach Liebe und Glauben, aber ohne die Kraft dazu, nach allen Früchten langt und in jeder den Wurm erblickt: alles, sagt René, predigt mir Vergänglichkeit. In Chateaubriands Kunst, die in Byron gipfelt, wird die Literatur giftig: ein prachtvolles goldgrünes Gewächs, schillernd und verführerisch, aber voll auszehrender Betäubungssäfte.

Es gab innerhalb des Romantismus aber auch eine wesentlich harmlosere Fraktion, die sich an der bloßen Farbe genügen ließ. Ihr namhaftester Vertreter war in England William Wordsworth, Haupt der lake-school, die sich an der Schönheit der üppiggrünen Hügel und malerischen Bergseen von Westmoreland inspirierte, in Italien der Graf Alessandro Manzoni, Haupt des romanticismo und Verfasser der berühmten »Promessi sposi«, einer von ihm (wie er zur Erhöhung der Illusion erklärte) nach einer alten Handschrift bearbeiteten Historie aus dem spanischen Mailand des siebzehnten Jahrhunderts. Ihr literarisches Organ fand die italienische Romantik im Mailänder »Conciliatore«, die Seeschule in der »Quarterly Review«, der Zeitschrift der Torypartei, zu der sich die Lakisten, ursprünglich Tyrannenfeinde, bekehrt hatten, seit einer ihrer Führer, Southey, poeta laureatus geworden war. Abseits stehen: Shelley, das cor cordium, wie seine Grabschrift ihn nennt, dessen Dichtung ein aufgeregter Sommernachtstraum ist, pantheistisch, ja atheistisch, menschenfeindlich und doch ganz und gar Gefühl; Charles Lamb, ein poetisch-humoristisches Genie aus der Deszendenz Lawrence Sternes; und der großartige Leopardi, der die Welt in so ergreifend schönen Versen [entwirft], daß er zu ihr bekehrt. Zu den Autoren von Weltgeltung, die damals in englischer Sprache dichteten, muß auch der Amerikaner Cooper gezählt werden, dessen Lederstrumpferzählungen noch junge Herzen entflammen werden, wenn die Seeschule längst vergessen sein wird.

Im Jahre 1814 begann die Waverleyserie zu erscheinen, achtzehn Jahre lang unermüdlich fortgesetzt und mit ihren prächtigen Buntdrucken die abendländische Phantasie erfüllend: nicht bloß in Buchform, sondern auch als Schauspiel, als Oper, als Ballett, als Kostümfest. Scotts Romane kommen deutlich von der Ballade her, die er auch ursprünglich pflegte und nur wegen der überlegenen Konkurrenz Byrons aufgab. In ihnen mischen sich menschlich liebenswürdig und naiv raffiniert Sentiment und Humor, Torytum und Volksliebe, Folklore und Meiningerei. Sie schildern, wie der Tiefblick Carlyles sogleich erkannte, nur die Haut und dringen nie bis zum Herzen vor.

Mit dem Jahr 1806 setzt die deutsche Romantik ein. In diesem Jahr erschien »Des Knaben Wunderhorn«, herausgegeben von Clemens Brentano und Achim von Arnim, die sich später durch Bettina, die »Sibylle der romantischen Literaturperiode«, verschwägerten. »Von Schatten und Klängen genährt« nannte Immermann diese ganze Dichterschule; und über ihren Führer, den wirren, kapriziösen und anmutigen Brentano, sagte Eichendorff, er sei nicht eigentlich ein Dichter, sondern ein Gedicht gewesen. Die breiteste Popularität erlangten Fouqué, der in der »Undine« eine der schönsten romantischen Erzählungen und in seinen zahlreichen Ritterromanen für ein halbes Jahrhundert das Klischee des blechernen »idealen« Mittelalters schuf, und der klare und kräftige, aber ganz unproblematische Uhland. Von Fouqué sagt Brandes ebenso boshaft wie treffend, seine Menschen seien nichts als ausgestopfte Rüstungen und das einzige, was er psychologisch bemeistere, seien die Pferde, und Heine noch boshafter und noch treffender: »Seine Rittergestalten bestehen nur aus Eisen und Gemüt, sie haben weder Fleisch noch Vernunft.« Als Uhland im Jahr 1815 die erste Ausgabe seiner Gedichte erscheinen ließ, die mit den Worten beginnt: »Lieder sind wir. Unser Vater schickt uns in die offene Welt«, ereignete sich ein fataler Druckfehler, indem der erste Satz lautete: »Leder sind wir«; diese Kritik des »Setzkastenkobolds« ist ein wenig zu streng: zum mindesten müßte man sie insoweit mildern, daß man an schöngepreßte, aber schon etwas verschlissene Goldledertapeten denkt. Das Genie der Schule, der Novalis der Spätromantik, ihm an Reinheit, Zartheit und Ursprünglichkeit vergleichbar, aber an Tiefe und Universalität nicht entfernt gleichkommend, war Eichendorff. Während Brentano und Arnim anonyme Volkslieder sammelten und zur Literatur zu erheben suchten, gingen Eichendorffs Gedichte den umgekehrten Weg: aus Kunstprodukten wurden sie zu allverbreiteten Liedern, die das Volk singt, als habe es sie selbst gemacht. Worin besteht nun das Genie Eichendorffs und seines unsterblichen »Taugenichts«? Es besteht in dem frommen Gefühl für die Heiligkeit des Nichtstuns, in der zugleich demütigen und übermütigen Lust an Gottes Schöpfung: einer sehr deutschen und vielleicht nur deutschen Art von Genialität. Thomas Mann hat es in einer wunderschönen, hellseherischen Betrachtung ausgesprochen: »Er ist ein Mensch, und er ist es so sehr, daß er überhaupt nichts außerdem sein will und kann: eben deshalb ist er der Taugenichts. Denn man ist selbstverständlich ein Taugenichts, wenn man nichts weiter prästiert, als eben ein Mensch zu sein.« In der Geschichte vom Taugenichts lebt auch bereits ein ganz neues Italien: nicht das klassische, das Meister- und Musterland der geschlossenen Form, sondern das romantische der aufgelösten und zerfallenen, zerbröckelten und geborstenen Form, das Land »der Trümmer und Blüten«, wie Zacharias Werner es nannte, das verzauberte und pittoreske, schwermütige und leichtsinnige Italien der schönen verliebten Menschen, des blauen Meeres und Mondscheins, der verwitterten Kirchen und verödeten Plätze, der duftenden verwilderten Gärten und umschatteten rauschenden Brunnen, der stillen Tage und hellen Nächte, das schlafende, träumende Italien der Ruinen.

Grillparzer und Raimund

Gibt es auch eine romantische Dramatik? Man denkt dabei zunächst an das sogenannte »Schicksalsdrama«: an Zacharias Werners »Vierundzwanzigsten Februar« und dessen viel schwächere Kopien: Müllners »Schuld« und »Neunundzwanzigsten Februar«, Houwalds »Bild« und Grillparzers »Ahnfrau« und an das geistreiche Pamphlet auf diese Tragik, die aus der zunächst eher komischen Tücke des Objekts fließt, Platens »Verhängnisvolle Gabel«. Die Literarhistoriker haben dekretiert, daß der »Vierundzwanzigste Februar« ein absurdes Machwerk ist; und seit hundert Jahren redet es einer dem andern nach. In Wirklichkeit ist er wahrscheinlich einer der stärksten und suggestivsten Einakter der Weltliteratur, von einer Stimmungskraft, die in die Nähe Maeterlincks gelangt. Den Gesetzen der bürgerlichen Wahrscheinlichkeitsrechnung entspricht seine Handlung allerdings nicht. Auch Werners umfangreicheres Drama »Die Söhne des Thals«, das die Katastrophe des Templerordens schildert, ist in all seiner Sentimentalität und Chaotik, Süßlichkeit und Perversität voll narkotischen Kulissenzaubers. Und sogar Raupachs verrufener »Müller und sein Kind« verdient höchstwahrscheinlich nicht den niedrigen Platz, den theaterfremder Professorenhochmut ihm angewiesen hat: ein Stück, das bereits hundert Jahre lang Galerie und Parkett erschauern macht, kann nicht ohne Bühnenqualitäten sein.

Das Theater Grillparzers gehört nur mit einigen sehr äußerlichen Merkmalen zur Romantik, ist vielmehr eine feine, nicht mehr ganz lebensfähige Nachblüte der Weimarer Klassik. Schon in der Wahl des Versmaßes war Grillparzer nicht sehr glücklich, indem er anfangs von Calderon den sehr leicht zu handhabenden, aber im Deutschen auch sehr leicht banal, ja komisch wirkenden Trochäus übernahm; noch unglücklicher war er in seinen Titeln: »Weh dem, der lügt« könnte über einem Lustspiel von Blumenthal stehen, »Ein treuer Diener seines Herrn« über einem Roman von Sacher-Masoch, »König Ottokars Glück und Ende« über der Historie einer reisenden Schmiere, und vollends ein so lächerlicher Stückname wie »Des Meeres und der Liebe Wellen« dürfte selten gedruckt worden sein. Nun ist aber gerade bei dramatischen Schöpfungen die Titelfrage durchaus nichts Nebensächliches und Äußerliches: in ihrer Lösung verkündigt sich sehr ausdrucksvoll der Geist des ganzen Werkes. Ibsen zum Beispiel war auch hierin ein Genie: es lassen sich kaum schlagendere Etiketten für das Gesamtproblem finden als: »Ein Puppenheim«, »Die Stützen der Gesellschaft«, die norwegischen Titel der »Kronprätendenten« (unübersetzbar, etwa: »Königsmaterie« oder »Der Ton, aus dem Könige geformt werden«) und der »Gespenster« (vergröbert übersetzt, etwa: »Geister, die wiederkehren«; »Die Revenants«), und eine Bezeichnung wie »Die Wildente« ist von unergründlicher Grandiosität; dabei ist kein einziger von ihnen abstrakt, kein einziger ganz eindeutig und erschöpfend, sondern jeder kompaktes und zugleich unwirkliches Theater.

Romantisch, aber mehr noch österreichisch, war an Grillparzer nur seine Flucht vor der Wirklichkeit. Es geht die Sage, er habe eine ungewöhnliche Intensität der Empfindung und Anschauung besessen, der aber keine ebenso große Denkenergie gegenübergestanden sei; in Wahrheit verhielt es sich gerade umgekehrt: sein Verstand war außerordentlich, aber von keiner ebenbürtigen Gefühlskraft genährt. Es fehlte ihm, banal ausgedrückt, an Courage zu sich selbst. Kürnberger hat zwei Tage nach Grillparzers Tode in seinem Essay »Grillparzers Lebensmaske« das Letzte über ihn gesagt. »Während sie Grillparzers Totenmaske abgießen, will ich ein Wort von seiner Lebensmaske hinwerfen ... Das ist die Lebensmaske Grillparzers: ausgesandt als ein flammendes Gewitter, um die Luft Österreichs zu reinigen, zieht er über Österreich hin als ein naßgraues Wölkchen, am Rande mit etwas Abendpurpur umsäumt. Und das Wölkchen geht unter...! Seine starken Leidenschaften, seine großen Fähigkeiten rufen ihm zu: schicke Plagen über Ägypten; tritt hin vor Pharao, sprich für dein Volk, führe es aus ins gelobte Land!... Aber in einem Winkel seines Herzens fängt nun der Österreicher selbst zu seufzen und zu lamentieren an: Herr, schicke einen andern! Ich fürchte mich ... Laß mich lieber Pharaos Hofrat werden!... Ein Phänomen ohnegleichen und nur in Österreich möglich! Zur Psychologie Österreichs ist die Biographie Grillparzers unentbehrlich. Man wird diese Biographie jedenfalls schreiben, aber verdorren soll die Hand, die nicht ihre ganze Wahrheit schreiben wird!«

Neben ihm lebte ein Stärkerer, der zeitlebens zu ihm als dem unerreichbaren Ideal emporblickte: Ferdinand Raimund. Auch er wurzelt nicht eigentlich in der Romantik, sondern in einer älteren Kunstwelt, nämlich in der Barocke. Sein Feenreich ist aus Zuckerguß und Terracotta, erinnert an die billigen Waren, die die italienischen Figurinihändler in seiner Vaterstadt feilboten, und an die süßen glitzernden Kunstwerke des Konditorgewerbes, dem er in seiner Jugend oblag, rührt aber gleichwohl durch eine bestrickende Vorstadtnaivität; und seine charakterkomischen Schöpfungen, gesteigerte und verklärte Typen seines Heimatbodens, Volkshelden aus einer Art Wiener Walhall, sind unübertrefflich. Szenen wie die des »hohen Alters« im »Bauer als Millionär«, der Verdoppelung Rappelkopfs in »Alpenkönig und Menschenfeind«, des Bettlers im »Verschwender«, wie er Flottwell auf seinem Kahn übers Meer folgt, sind von shakespearischem Wurf.

Kleist

Das stärkste dramatische Genie des Zeitalters, ja vielleicht Deutschlands, Heinrich von Kleist, müßte man einen Vollromantiker nennen, wenn er nicht gleichzeitig zwischen Lessing und Ibsen der schärfste psychologische Naturalist des Theaters gewesen wäre: gerade in dieser paradoxen Mischung besteht ja seine gigantische Einmaligkeit. Es findet sich, wie oft hervorgehoben worden ist, in allen seinen Dramen ein irrationales, ja pathologisches Moment: der Somnambulismus im »Prinzen von Homburg«, der Sadismus Thusneldas und Penthesileas, das Halluzinieren Käthchens und des Grafen vom Strahl; und auch wo sie auf direkte Wunder verzichten, haben sie den Charakter von Bühnenmysterien.

Kleists durchgängiges höchst romantisches Thema ist die »Gefühlsverwirrung«. Daneben aber (und eigentlich sind das gar keine Gegensätze) ist er der erste, der den modernen Menschen auf die Bühne gebracht hat, als Problem der »Tiefenpsychologie«, in seiner unendlichen Differenziertheit und Vielbodigkeit. Man betrachte nur als ein einziges Beispiel, wie Kleist eine verhältnismäßig so einfache Figur wie den Kurfürsten im »Prinzen von Homburg« gestaltet. Schiller hätte ihn vermutlich als harten, schließlich erweichten Soldatenfürsten dargestellt, Goethe als edeln, pflichterfüllten Staatslenker. Kleist schildert ihn als Opfer eines »Brutuskomplexes«. Es liegt dem Kurfürsten natürlich ganz fern, etwa einen Brutus in Kanonenstiefeln posieren zu wollen; trotzdem darf man sagen: hätte es nie einen Brutus gegeben, so würde der Kurfürst anders handeln. Der Prinz tut ihm sicher unrecht, wenn er an einer herrlichen Stelle des Dramas (die beweist, wie im Munde eines Dichters die trivialsten Worte sich zum strahlendsten Pathos steigern können) den Ausruf schmettert: »Und wenn er mir in diesem Augenblick wie die Antike starr entgegenkömmt, tut er mir leid, und ich muß ihn bedauern!« Aber die Brutus Vorstellung lebt in ihm dennoch als versunkenes Erinnerungsbild seiner Jugend, seiner Träume, ja seiner Väter und Vorväter und wirkt als stärkstes Motiv seines Handelns.

Wie eminent modern Kleist auch in der Form war, zeigt der »Robert Guiscard«, von dem Wieland sagte: »Wenn der Geist des Äschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, so würde das sein, was Kleists Tod Guiscards des Normannen, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ. Von diesem Augenblick an war es bei mir entschieden, Kleist sei dazu geboren, die große Lücke in unserer Literatur auszufüllen, die, nach meiner Meinung wenigstens, selbst von Schiller und Goethe noch nicht ausgefüllt worden ist.« Er ist bekanntlich nur als Fragment erhalten: Kleist hatte das Manuskript verbrannt und schrieb vier Jahre später die ersten zehn Auftritte neu. Es ist aber gar kein Fragment, sondern ein vollendetes Kunstwerk, gerade dadurch, daß er nicht im klassischen Sinne »fertig« geworden ist, sondern über sich hinausweist. Man erlebt in den wenigen Szenen dieses »Torsos« eine restlose tragische Gefühlsauslösung und versteht, warum Kleist das komplette Drama vernichtete: nicht in einer »Aufwallung von Schwermut«, sondern als Künstler.

Es ist begreiflich, daß Goethe hier weder folgen konnte noch wollte. Offenbar beleidigt ihn an Kleists Dichtung gerade das, was ihre Eigenart ausmachte: ihre hellseherische Psychopathologie, ihr Wille zur Irrationalität in Form und Inhalt und ihre Überlebensgröße. Die Art, wie die Menschen Leben in Gestalt umsetzen, kann sich auf dreierlei Weise vollziehen. Die meisten bleiben unter dem Leben: ihre Personen sind leerer, törichter, unpersönlicher als die Wirklichkeit. Und zwar liegt dies nicht daran, daß sie nicht richtig sehen können (daß sie es können, beweist der Traum: in keinem Traum der Welt kommt eine verzeichnete Figur vor), sondern es fehlt ihnen lediglich die Gabe der Übersetzung. Nur darum ist das Dichten eine »Kunst«. Wer benimmt sich so albern und uninteressant wie die Figuren einer Operette oder eines Provinzblattromans? Dann gibt es Künstler, in deren Phantasie sich die Menschen in Megatherien verwandeln, in Fabeltiere von überwirklichem Wuchs und Seelenraum; man denke an Dante, Äschylus, Shakespeare, Michelangelo. Und schließlich gibt es Gestalter, denen das Selbstverständlichste und Seltenste gelingt: die Maße des Lebens zu wiederholen. Zu ihnen hat Goethe gehört; und darum hat es so lange gedauert, bis er es über sich brachte, sich Schiller zu nähern, und darum mußte er sich von Kleist ebenso abgestoßen fühlen wie von Kotzebue, den beiden Gegenpolen, zwischen denen er sich in der goldenen Mitte seiner natürlichen Lebensgröße befand.

Farbenlehre und vergleichende Sinnesphysiologie

Übrigens brachte er der Poesie nach Schillers Hingang überhaupt nicht mehr das Hauptinteresse entgegen. »Dichten« genügte ihm nicht mehr; er war ein Kompendium der Welt geworden. Der zweite Teil des Faust ist kein Drama mehr, eher noch ein Universalepos, aber der Begriff »Kunstwerk« ist dafür überhaupt zu begrenzt. Er ist eine Biographie der Menschheit, ein Weltpanorama, eine philosophische Kathedrale, eine Seelenenzyklopädie und manchmal sogar ein Konversationslexikon. Hätte man aber Goethe um das Hauptwerk seines Alters gefragt, so hätte er wahrscheinlich die Farbenlehre genannt: »ich bin«, sagte er, »dadurch zu einer Kultur gelangt, die ich mir von einer anderen Seite her schwerlich verschafft hätte.« Der historische Teil des Werks ist eine großartige Darstellung des Wesens und Wandels der Naturauffassung von der Urzeit bis zur Gegenwart, der theoretische Teil schuf die Grundlagen einer neuen Wissenschaft, der physiologischen Optik: hier ergründete Goethe mit feinstem Verständnis die Eigenschaften des Auges, zum Beispiel das Wesen der Kontrastempfindungen, deren Entstehung darauf beruht, daß das Helle gefordert wird, wenn das Dunkle geboten wird, und umgekehrt, und daß jede Farbe ihre Gegenfarbe verlangt: Gelb das Violette, Orange das Blaue, Rot das Grüne. Was er schilderte, waren, wie er selbst es im Vorwort so schön ausdrückte, »die Taten und Leiden des Lichts«. Doch hat er die letzte und fast unvermeidliche Folgerung aus seiner Theorie nicht gezogen: er erblickte in den Farben noch immer »Naturphänomene«, nicht bloße Empfindungen des Auges. Dazu hätte er Kantianer sein müssen wie Schopenhauer, einer der frühesten und begeistertsten Verehrer der Farbenlehre, der diesen Schritt tat: in seiner Abhandlung »Über das Sehen und die Farben«, die von Goethe abgelehnt wurde. Es verhielt sich hier ähnlich wie mit Kleist: Goethe wollte nicht verstehen; eine Auflösung der ganzen farbigen Lichtwelt in bloße Affektionen der Netzhaut hätte sein Weltbild und Weltempfinden, das im höchsten Sinne gegenständlich war, auf den Kopf gestellt. Seine Forschungen wurden von der zünftigen Wissenschaft selbstverständlich verworfen; aber einige geniale Gelehrte erkannten ihre epochemachende Bedeutung, unter ihnen Purkinje, der Begründer der experimentellen Physiologie, und Johannes Müller, der 1826 in seiner Schrift »Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes der Menschen und der Tiere« erklärte: »Ich meinerseits trage kein Bedenken zu bekennen, wie sehr viel ich den Anregungen durch die Goethesche Farbenlehre verdanke, und kann wohl sagen, daß ohne mehrjährige Studien derselben ... die gegenwärtigen Untersuchungen nicht entstanden wären.« Diese Abhandlung enthielt die Lehre von den sogenannten »spezifischen Sinnesenergien«.

Zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts stellte eine Münchener Zeitschrift die Rundfrage, was die wichtigste deutsche Säkularerscheinung gewesen sei. Es kamen allerhand Antworten: man nannte den »Faust«, den »Zarathustra«, den »Tristan«, die »Neunte«, die meisten Kaiser Wilhelm. Es ist merkwürdig, daß niemand auf den Gedanken kam, Johannes Müller zu nennen. Denn seine Entdeckung der »spezifischen Sinnesenergien« bedeutet nichts Geringeres als den experimentellen Beweis der kantischen Philosophie. Müller gelangte durch eine Reihe sehr sinnreicher Versuche zu zwei überraschenden Fundamentalsätzen. Erstens: ein und derselbe Reiz bringt verschiedene Empfindungen hervor, wenn er auf verschiedene Sinnesnerven einwirkt; zweitens: verschiedene Reize bringen dieselben Empfindungen hervor, wenn sie auf denselben Sinnesnerv einwirken. Es ist zum Beispiel für den Empfindungseffekt des Auges ganz gleichgültig, ob es von einem Schlag, vom elektrischen Strom oder von Ätherwellen getroffen wird: es wird in allen drei Fällen mit einer Lichtempfindung antworten; ganz ebenso wird das Ohr auf jeden erdenklichen Reiz immer nur mit Schall reagieren. Umgekehrt erzeugen ein und dieselben Ätherwellen auf der Haut Wärmeempfindungen, im Auge aber Lichtempfindungen und je nach ihrer Länge die verschiedenartigsten Farbenempfindungen, wie ein und dieselben Lufterschütterungen von der Hand als Schwirren, vom Ohr je nach ihrer Länge als tiefe oder hohe Töne empfunden werden: der reine Quantitätsunterschied der Äther- und Schallwellenlänge wird durch den Aufnahmsapparat zum einschneidenden Qualitätsunterschied. Daher ist »die Lichterzeugung im Auge nicht etwa so zu denken, als wenn durch die Reibung und dergleichen physisches Licht erzeugt würde. Nie wird durch solche Reize in dem Auge ein dem fremden Beobachter erkennbares Licht entwickelt, wie stark auch die subjektive Lichtempfindung in dem eigenen Auge sein möge... Es ist also unrecht zu sagen, die Körper würden auch ohne das empfindende Organ leuchten, als habe das schon außerhalb ganz und gar fertige Licht nur zu warten, bis es die Netzhaut berühre, um als fertiges empfunden zu werden. Wir mögen uns die Mahnung gelten lassen, daß Licht, Dunkel, Farbe, Ton, Wärme, Kälte, die verschiedenen Gerüche und der Geschmack, mit einem Worte, alles, was uns die fünf Sinne an allgemeinen Eindrücken bieten, nicht die Wahrheiten der äußeren Dinge, sondern die Qualitäten unserer Sinne sind.« Es soll damit natürlich nicht geleugnet werden, daß es »draußen« irgend etwas gibt (wie ja auch Kant es nicht geleugnet hat); was aber dieses Etwas sei, darüber fehlt uns jede Vermutung.

Elektrische und chemische Entdeckungen

Johannes Müller hätte seine Experimente nicht so exakt und variabel gestalten können, wenn ihm im elektrischen Strom nicht ein so ausgezeichnetes Untersuchungsinstrument zur Verfügung gestanden hätte, wie denn überhaupt die Elektrizitätslehre sich zur physikalischen Zentralwissenschaft zu entwickeln begann. 1820 entdeckte der Däne Hans Christian Oersted, Professor der Physik in Kopenhagen, den Elektromagnetismus, indem er konstatierte, daß der elektrische Strom eine Magnetnadel ablenkt, und zwar auch durch Wasser, Holz, Ton, Stein, Metall hindurch; seine Feststellungen ergänzte Gay-Lussac durch den Nachweis, daß der Strom eine unmagnetische Stahlnadel magnetisiert, und Ampère durch die »Schwimmerregel«: stellt man sich vor, daß man in der Richtung des elektrischen Stromes schwimmt, das Gesicht der Magnetnadel zugekehrt, so wird der Nordpol der Nadel nach links abgelenkt. 1823 gelangte Seebeck zur Entdeckung der Thermoelektrizität, indem er eruierte, daß zwei Streifen aus verschiedenem Metall, die mit ihren beiden Enden aneinandergelötet sind, ein Thermoelement darstellen, weil nämlich, wenn man einen von ihnen erwärmt, sie also auf ungleiche Temperatur bringt, in dem geschlossenen Kreis, den sie bilden, ein elektrischer Strom entsteht: hiermit war der Nachweis erbracht, daß auch durch Wärme Elektrizität erzeugt werden kann. 1827 stellte Ohm das nach ihm benannte Gesetz auf, das auf den beiden Gleichungen beruht: Stromstärke gleich elektromotorische Kraft, dividiert durch Widerstand; Widerstand gleich spezifischer Widerstand mal Länge durch Querschnitt; das heißt also: die Stärke eines elektrischen Stroms (gemessen an der Größe seiner magnetischen Wirkung) steht zu der treibenden Kraft, die ihn zum Fließen bringt, im geraden Verhältnis, zu dem Widerstand, den er vorfindet, im umgekehrten Verhältnis; dieser Widerstand selbst ist um so größer, je geringer die spezifische Leitungsfähigkeit des Stoffes ist, durch den der Strom geht, je länger dieser Leiter ist und je dünner er ist, oder: einen je kleineren Querschnitt er besitzt. Damit wurden die elektrischen Erscheinungen erst exakt meßbar gemacht und der Totalität der Naturwissenschaften ebenbürtig eingegliedert.

1828 veröffentlichte Karl Ernst von Baer sein Werk »Über die Entwicklungsgeschichte der Tiere«, das, wie dies der Untertitel anzeigt, in wahrhaft wissenschaftlicher Weise »Beobachtung und Reflexion« vereinigend, die Grundlinien der gesamten Embryologie zog. Der geniale Optiker Fraunhofer schuf durch die Entdeckung der nach ihm genannten dunkeln Linien im Sonnenspektrum die Voraussetzungen für die Spektralanalyse und verbesserte die Konstruktion des Fernrohrs in so entscheidender Weise, daß seine Grabschrift von ihm sagen durfte: » approximavit sidera; er hat uns die Gestirne nähergebracht«. Der Franzose Dutrochet und der Engländer Graham erforschten die Grenze der Diffusion, der Vermischung einander berührender Gase (wobei sie feststellten, daß die Diffusionsgeschwindigkeiten den Quadratwurzeln der spezifischen Gewichte umgekehrt proportional sind) und der Osmose, des Austauschs zweier Flüssigkeiten durch eine poröse Scheidewand: dieser Prozeß ist von besonderer Wichtigkeit, weil der Stoffwechsel in den Zellen des Pflanzen-, Tier- und Menschenkörpers auf ununterbrochenen osmotischen Vorgängen beruht. Im Winter 1827 auf 1828 hielt Alexander von Humboldt in Berlin unter größtem Aufsehen seine Vorlesungen über physische Weltbeschreibung, aus denen sein »Kosmos« hervorging, ein erstaunliches Werk, wie es noch nie vorher geschaffen wurde und so bald nicht wiederholt werden wird. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Gemälde der Welt, eine Universalgeschichte der Natur, alles Sichtbare und Erforschbare vom Mooslager bis zum Sternhaufen, vom Stein bis zum Menschenhirn umfassend und im schönsten Zusammenhang erblickend, die Lebensfrucht eines Weltreisenden, der zugleich ein Philosoph war, in der erlesenen Popularität und reinen Plastik der Darstellung ebensosehr der Literaturgeschichte angehörend wie der Wissenschaftsgeschichte. Das Werk wurde in elf Sprachen übersetzt, und ein Menschenalter lang galt Humboldt als der größte Ruhm Deutschlands.

Eine Reihe sehr eigentümlicher Phänomene erforschte die Chemie. Klaproth, Professor an der neugegründeten Berliner Universität, entdeckte die Dimorphie, die Tatsache, daß Körper von gleicher chemischer Zusammensetzung in ganz verschiedenen Gestalten auftreten können. Er beobachtete dies zuerst am Kalkspat und am Aragonit, die beide aus kohlensauerm Kalk (CaCO) bestehen. Das bekannteste und auffallendste Beispiel dieser Art bilden der Diamant, der das härteste, und der Graphit, der das weichste Mineral ist: beide sind kristallisierter Kohlenstoff; auch Essig und Zucker, für unsere Geschmacksnerven sehr verschiedene Stoffe, besitzen dieselbe chemische Konstitution. Der junge Liebig konstatierte, daß auch das gefährliche Knallsilber und das harmlose zyansaure Silber chemisch identisch sind. Der schwedische Forscher Berzelius, der Lehrer Klaproths und Liebigs und führende Chemiker des Zeitalters, versuchte die sonderbare Erscheinung der Dimorphie (die man, wenn es sich um einfache Elemente handelt, auch Allotropie nennt) dadurch zu erklären, daß bei den äußerlich verschiedenen Körpern die innere Zusammensetzung nur eine relativ gleiche sei, während die einzelnen Moleküle aus einer verschieden großen Anzahl von Atomen gebildet seien, und prägte dafür den Ausdruck »Polymerie«. Indes gab es auch Fälle, wo die dimorph auftretenden Stoffe absolut gleich konstituiert waren, also in ihren Molekülen dieselbe Anzahl von Atomen enthielten; für sie stellte Berzelius die Hypothese auf, daß in ihnen die Atome verschieden gelagert seien: dies nannte er »Metamerie«. Bei den Experimenten über Isomerie (welches Wort Berzelius als Gesamtbezeichnung für alle diese Phänomene eingeführt hatte) gelangte aber ein dritter seiner Schüler, Friedrich Wöhler, zu einem noch merkwürdigeren Resultat: es gelang ihm nämlich, aus anorganischen Stoffen zyansaures Amnion: (NH)CNO herzustellen, das dem Harnstoff: (NH)CO isomer ist, so daß er an Berzelius schreiben konnte: »Ich muß Ihnen erzählen, daß ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Tier nötig zu haben.« Damit war die Grenze zwischen organischer und anorganischer Chemie aufgehoben. Es war jedoch ein sehr voreiliger Schluß, wenn man aus diesen und zahlreichen ähnlichen Homunkulusvergnügungen folgerte, daß durch sie auch der Vitalismus widerlegt sei, der annimmt, daß zur Entstehung der Stoffe, die der Organismus produziert, eine besondere Lebenskraft notwendig sei; gerade die Tatsache der Isomerie hätte darauf hinweisen müssen, daß das, was man die »Erscheinung« nennt (einerlei, ob man als Mineralog und Chemiker spricht oder als Theolog und Philosoph), schlechterdings unbegreiflich ist: zyansaures Ammon ist eben nicht Harnstoff, und die Strukturhypothese ist eine Mythologie des neunzehnten Jahrhunderts, das heißt: ein zeitgemäßer Versuch, die Wunder der Wirklichkeit dichtend zu deuten.

Homöopahie

Die Lehre vom »punktuellen Seelensitz«, die Annahme, daß die Seele sich an einem bestimmten Punkte des Gehirns befinde, mit der aber der Vitalismus keineswegs steht und fällt, wurde durch Frans Josef Gall widerlegt, der in der Gehirnanatomie die moderne »Lokalisationstheorie« begründete, indem er zeigte, daß die verschiedenen Teile der Hirnoberfläche verschiedene Funktionen haben. Neid und Verständnislosigkeit der Fachkollegen verschworen sich jedoch gegen ihn in einem Grade, daß noch heute seine Doktrin in gewissen Kreisen mit dem Stigma des Scharlatanismus behaftet ist; er hat allerdings seiner Verurteilung durch die eigensinnige Phantastik, mit der er sein System auszubauen versuchte, einen gewissen Schein von Berechtigung verliehen. Dasselbe gilt von der Homöopathie, die Samuel Hahnemann 1810 in dem »Organon der rationellen Heilkunde« begründete. Entgegen dem Grundsatze Galens »contraria contrariis« statuierte er das Prinzip »similia similibus«: »Wähle, um sanft, schnell, gewiß und dauerhaft zu heilen, in jedem Krankheitsfall eine Arznei, die ein ähnliches Leiden (homoion pathos) für sich erregen kann, als sie heilen soll.« Hierfür brachte er zahlreiche praktische Beispiele vor: die Behandlung erfrorener Gliedmaßen mit Schnee und leichter Verbrennungen mit heißen Tüchern, die Kurierung von Kopfschmerzen durch (kopfschmerzerzeugenden) Kaffee, die Verhütung der Menschenpocken durch Kuhpockenimpfung. Außerdem gelangte er zu der Überzeugung, daß Medikamente nur in außerordentlichen Verdünnungen zu verabreichen seien, die er Potenzen nannte. Jeder dieser Potenzen schrieb er nun eine Reihe von Wirkungen zu, oft bis zu tausend »Nummern«, zum Beispiel dem Salz in der dreißigsten Potenz: Unlust zur Arbeit (Nummer 40), ein ungeduldiges Kopfkratzen (Nummer 45), ein Jucken am Ohrläppchen (Nummer 287), Liebesträume (Nummer 1240). Nach dem Grundsatz »similia similibus« verordnete er gegen jedes Leiden das Mittel, das es erzeugt, und so gab es Arzneien gegen alles: Neid, wollüstige Träume, unglückliche Liebe, Ungeschicklichkeit, Versemachen. Die Verdünnungen gingen bis ins Unendliche, oft genügte bloßes Riechen. Gleichwohl beruhte die Homöopathie auf einem gesunden und tiefen Gedanken. »Arzneistoffe sind nicht tote Substanzen im gewöhnlichen Sinne«, sagt Hahnemann, »vielmehr ist ihr wahres Wesen bloß dynamisch geistig, ist lautere Kraft. Die homöopathische Heilkunst entwickelt zu ihrem Behufe die geistartigen Arzneikräfte.« Die materialistische Medizin, die das neunzehnte Jahrhundert beherrschte, erblickte im menschlichen Körper einen bloßen Chemismus und Mechanismus, also eigentlich etwas Totes, und demgemäß in den Medikamenten bloß physikalische Potenzen; die Homöopathie sieht in ihm ein magisches Kräftespiel mit Eigenwillen und Zweckidee und demgemäß in der Therapie einen seelischen Eingriff. Daher das »similia similibus«: geheimnisvolle Verwandtschaften, Affinitäten sollen zur Hilfe im Genesungskampf aufgerufen werden, Krankheit durch Krankheit geheilt werden: durch jenen gesteigerten Ausnahmezustand, in dem der Organismus seine letzten Energiereserven und Reaktionskräfte einsetzt. Die Homöopathie hat nicht zufällig Novalis und Kleist, Fichte und Schelling zu Zeitgenossen: sie ist eine romantische Medizin.

Rossini, Weber und Schubert

Seinen vollen Ausdruck hat der romantische Geist natürlich nur in der Musik gefunden: sie allein war imstande, seinen Willen zur Irrationalität Gestalt werden zu lassen. Bei zahlreichen Opern ist schon die Stoffwahl bezeichnend, sie haben geheimnisvolle Naturwesen, unterirdische Seelen gleichsam, zu Helden: Marschner komponierte den »Vampyr« und »Hans Heiling«, Konradin Kreutzer eine »Melusina«, Meyerbeer »Robert den Teufel«, Lortzing, dessen Talent allerdings mehr auf dem Gebiet der komischen Oper lag, eine »Undine«. Viele Lieder sind denselben Weg gegangen wie die Gedichte Eichendorffs: aus Opernstücken wurden sie zu Volksgesängen; zum Beispiel: »Ein Schütz bin ich« aus Kreutzers »Nachtlager von Granada«, »Du stolzes England, freue dich« aus Marschners »Templer und Jüdin«, »O selig, ein Kind noch zu sein« aus Lortzings »Zar und Zimmermann«. Eine ungeheure Popularität erlangten Webers »Du Schwert an meiner Linken« und »Das ist Lützows wilde verwegene Jagd«, Schuberts »[Heideröslein]« und »Das Wandern« und Hans Georg Nägelis »Freut euch des Lebens«; und Friedrich Silcher hat überhaupt nur derartige Lieder komponiert, die in jedermanns Munde leben, während der Urheber längst vergessen ist: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, »Ännchen von Tharau«, »Morgen muß ich fort von hier«, »Ich hatt' einen Kameraden«.

Als den Initiator der romantischen Musik pflegt man Rossini zu bezeichnen, obgleich er eigentlich mit seiner ersten Schaffensperiode noch zum Rokoko gehört und mit seiner zweiten zur französischen Romantik. Die Uraufführung seines »Barbiere di Seviglia« wurde 1816 in Rom ausgepfiffen. Nach der Vorstellung eilten Freunde in seine Wohnung: er schlief aber bereits, entweder weil er in seiner geistigen Souveränität sich aus dem Fiasko nichts machte oder weil er von dem schließlichen Erfolg seines Werkes zu sehr überzeugt war. In der Tat wurde er schon am nächsten Abend durch einen schrecklichen Lärm geweckt: es waren Hunderte von Menschen, die ihm eine rauschende Ovation darbrachten. Nicht zufällig war Rossini einer der größten Köche, die je gelebt haben: auch in seiner Musik ist er der feinschmeckerischste, gaumenschmeichelndste, gastlichste Mischkünstler, der sich denken läßt. In sie, die in ihrer Zartheit und Fülle, Grazie und Beschwingtheit in die Nähe Mozarts gelangt, trug er auch die liebenswürdige Gauloiserie und Selbstironie, die ihn im Leben auszeichnete. Der vortreffliche Kulturhistoriker Riehl sagt allerdings nicht mit Unrecht, sie habe bloß aus »Schlummerliedern zum Schlafen und Träumen« bestanden; aber im »Tell« bewies er, daß er noch etwas anderes zu schaffen wisse als »anmutigsten, wollüstigsten Schlafgesang«.

E. Th. A. Hoffmann, der frappante Entdecker der Pathologie des Alltags und der Unwirklichkeit des Philisters, jenes merkwürdige Universalgenie, das der Geschichte der Tonkunst und der Malerei ebenso angehört wie der Literaturgeschichte (er war Graphiker, Karikaturist und Dekorationsmaler, Kapellmeister, Musiklehrer und Musikkritiker und komponierte zwölf Opern, eine Symphonie und zahlreiche kleinere Stücke), erklärte in Übereinstimmung mit fast allen romantischen Musikästhetikern, konkrete Gegebenheiten, ja auch nur bestimmte Empfindungen darzustellen, sei nicht Aufgabe der Musik. Vom romantischen Standpunkt aus war dies theoretisch vollkommen richtig; in der Praxis aber ist man keineswegs so weit gegangen: einer der bedeutendsten Komponisten des Zeitalters, Louis Spohr, trieb sogar in seinen Symphonien die Programmusik auf die Spitze.

Der größte Musiker nicht nur, sondern auch der größte Maler und Lyriker der deutschen Spätromantik ist Karl Maria von Weber. Längere Zeit verdunkelte ihn der großartige, aber auch großsprecherische Gasparo Spontini, der zuerst der Liebling Napoleons war (ihm auch in der Tat verwandt durch das entrainierend Rattenfängerische und lateinisch Zweckhafte, die Mischung aus Theaterpathos und Realpolitik) und später (obgleich die Verkörperung der typisch französischen Tradition der »heroischen Oper«) als Generalmusikdirektor und Hofkomponist in Berlin eine solche Diktatorstellung einnahm, daß die Zensur verbot, ihn zu tadeln. Weber, der im höchsten Maße war, was Nietzsche einen »Tänzer« nennt, hinkte; wie die geflügelte Feuerseele Lord Byron, wie der aalgeschmeidige Schnelldenker Talleyrand: wir erinnern uns aus den drei ersten Büchern an zahlreiche ähnliche »überkompensatorische Minderwertigkeiten«: an den buckligen Lichtenberg, den Linkshänder Lionardo, den Stotterer Demosthenes, den Phthisiker Watteau. Man könnte den »Freischütz«, ja selbst den »Oberon« vielleicht am ehesten als geniale Singspiele bezeichnen. In ihnen beginnen Waldhorn, Harfe, Bratsche, Klarinette, Oboe geheimnisvoll, hinreißend, neu, entscheidend zu klingen. Ihre Ouvertüren, nur scheinbar Potpourris, sind ganze Dramen, Charaktergemälde, die das Kommende in plastischer Zusammenfassung antizipieren. Die Uraufführung des »Freischütz« vom Jahre 1821 eröffnet einen neuen Abschnitt in der deutschen Musikgeschichte. Staunend vernahmen die Menschen, wie der deutsche Wald in seinem gespenstischen Dunkel und jubelnden Sonnenglanz, mit seinen sanften träumenden Wiesen und bösen lauernden Schluchten plötzlich anhob zu tönen, zu lachen und zu weinen, sich zu sehnen und zu fürchten und als leibhaftiges Geistwesen zu unsterblichem Leben zu erwachen. Im »Freischütz« und im »Oberon« singt die Natur selbst, der magische Urgrund alles Seins, dem die Menschen nur wie dunkle oder helle Blüten entsteigen. »Höhere Mächte« gab es auch im klassizistischen Musikdrama, aber dort ist ihr Eingreifen antikisch: personell, mechanisch, körperhaft, hier romantisch: kosmisch, dynamisch, geisterhaft.

Weber und Schubert haben dies gemeinsam, daß sie die echtesten Romantiker und die deutschesten Musiker waren, die sich ersinnen lassen. Aber während Weber auch in Not und Obskurität immer der Baron und Kavalier blieb, war Schubert zeitlebens der Eichendorffsche Taugenichts, der faule Hans vom Dorfe, der seine Freiheit gern mit Armut erkaufte. Und wie der »Taugenichts« war er eigentlich gar nicht faul, sondern sehr fleißig, freilich ohne daß er es selbst wußte: indem er immerzu sang, ein halbes Tausend Lieder! Ein linkischer bebrillter Dickkopf von Vorstadtlehrer, seine einzige Freude und Welt der »Heurige«; und seit er in die Menschheit getreten ist, weiß sie erst richtig, was ein Lied ist. Wie von den Brüdern Grimm das deutsche Märchen geschaffen, nämlich nicht erfunden, aber zum Kunstwerk erhoben wurde, so hat Schubert das Volkslied geadelt und ebenbürtig neben die höchsten Tonschöpfungen gestellt. Das Lied wird von ihm zumeist nicht mehr strophisch vertont, sondern durchkomponiert, die Begleitung löst sich von der Singstimme und wird fast zur Hauptsache: zwei epochemachende Bereicherungen und Vertiefungen des musikalischen Ausdrucks. Schubert dokumentiert sich unter anderm auch darin als absolutes Genie, daß man bei ihm niemals den Eindruck von etwas Absonderlichem und Außergewöhnlichem hat. Ein genialer Mensch verhält sich nämlich zu den anderen wie das Normalgebilde zu den Mißgeburten: sie sind die »Ausnahmen«; er ist der Kanon. Wenn es in der Welt richtig zuginge, müßten alle Menschen einen ebensolchen Weltblick besitzen wie Bismarck, ein ebensolches Gehirn wie Kant, einen ebensolchen Humor wie Busch, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ebensolche Lieder singen können wie Schubert. An allen diesen Männern ist nichts von »Kunst« zu spüren; niemand kann ihnen irgendwelche Handgriffe abmerken, denn sie haben gar keine angewendet. Wie ein Vogel des Feldes, ein seliges Instrument Gottes ließ Schubert seine Lieder ertönen, eine unscheinbare graue Ackerlerche, aus der niederen Erdfurche aufsteigend, für einen kurzen Sommer in die Welt gesandt, um zu singen.

Biedermeier

Zu der Tischrunde, die sich um Schubert versammelte, gehörte Moritz von Schwind, ihm geistig verwandt durch die Zartheit und Wärme seiner Musikalität. Mit Weber ist ihm gemeinsam, daß auch sein Held der deutsche Wald ist. Er hat mit Stift und Pinsel, in immer gleicher Tonart und doch unerschöpflich variiert, das ganze deutsche Leben seiner Zeit erzählt, nicht bloß das äußere, sondern auch das innere, wie es sich in den Traum- und Phantasiegestalten des Volksgemüts auswirkt. Dasselbe tat noch schlichter und anspruchsloser Ludwig Richter. Er imitiert nicht mit raffinierter Artistik Kindlichkeit wie die »Heidelberger«, versucht nicht krampfhaft, sich auf Infantilität zurückzuschrauben wie die »Nazarener«, sondern ist ein Kind: achtzig Jahre lang; selbst wo er leer ist, hat er jene liebliche Leere, die aus einem Kinderauge lächelt. Er will gar nichts, hat keinen »Stil«, sondern plaudert; von einer problemlosen Welt, die atavistisch und doch ewig ist. Der Bauer mit seiner Familie ist bei ihm nicht sozial gesehen, nicht einmal ethnographisch, sondern kommt direkt aus dem Märchen, zeitlos, idyllisch, unwirklich und doch ein Gewächs der deutschen Erde. Über seinen Bildchen liegt der Zauber einer dörflichen Jahrmarktsschau oder kleinstädtischen Nachmittagsvorstellung, jener anheimelnde Duft von Kaffeekanne und Tabakspfeife, wachsbetropftem Tannenbaum und knisterndem Ofenreisig, frischgeplätteter Wäsche und frischgebackenem Kuchen, wie er bei dem Worte »Biedermeier« aufsteigt.

Heinrich Heine charakterisierte diese Kultur mit den Worten: »Man übte Entsagung und Bescheidenheit, man beugte sich vor dem Unsichtbaren, haschte nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagte und flennte.« Die Resignation hatte nicht bloß politische, sondern auch wirtschaftliche Gründe. Die überlegene Konkurrenz Englands, wo sich während der Festlandssperre ungeheure Warenmengen angesammelt hatten, drückte die deutsche Industrie zu einer Art ohnmächtiger Heimarbeit herab. Dazu kam, daß die britische Regierung, um die inländische Landwirtschaft zu schützen, einen hohen Zoll gegen fremdes Getreide errichtet hatte und die Überschüsse der nord- und ostdeutschen Agrarproduktion nicht abströmen konnten. Die Folge war, daß die bürgerliche Kultur Deutschlands sich in Lebensführung und Gesichtskreis beträchtlich verengte: es kam zu einer Rückbildung in die Daseinsformen der vorklassischen Periode; die Seelenhaltung, verwaschen, wehleidig und affektiert und auf den Kultus von Privatgefühlen konzentriert, erinnert an die Ära der Empfindsamkeit. Das Symbol des Zeitalters ist der Nachtwächter, die Bildungsquelle der Lesezirkel und das Theater. Die Lieblingslektüre des Mittelstands sind die kindischen Moralitäten Christoph von Schmids, die rührseligen Lügen Julius Lafontaines, die für damalige Ansprüche »pikanten« Albernheiten Claurens, die Köchinnenromane Spindlers. Auf der Bühne herrschen Kotzebue und Iffland, bis 1828 die Birch-Pfeiffer mit der »Pfefferrösel« ihren ersten Riesenerfolg hat und von nun an mit ihrem verstaubten Trödellager das Publikumsbedürfnis nach billigen Luxusgefühlen befriedigt.

Im Kostüm macht sich die notgedrungene Einfachheit durch eine wohltuende Neigung zur Diskretion bemerkbar. Beim Frack werden ruhige Farben bevorzugt: hellgrau, kastanienbraun, dunkelblau, flaschengrün (der »Rock«, der im wesentlichen der heutigen Redingote entspricht, ist auf der Straße und in Gesellschaft noch nicht de rigueur); das einzige, worin die Herrenkleidung individuellen Geschmack entwickeln konnte, war die Seidenweste. Das Jabot weicht langsam der Krawatte, deren elegante Knotung nicht leicht und Gegenstand eigener Lehrkurse war. Die Fußbekleidung bestand in halbhohen Stulpenstiefeln (für die Reise) und ausgeschnittenen Schuhen, die die hellen Strümpfe sehen ließen, da die engen Trikothosen nur bis zum Knöchel reichten; »en escarpin«: in Kniehosen, Strümpfen und Schnallenschuhen ging man nur noch, wenn man an Höfen oder in konservativen Gesellschaftskreisen in Gala erschien. Unerläßlich für den Stutzer war die Lorgnette am Seidenband. Der Bart war verpönt, höchstens eine dünne Linie an den Wangen gestattet. Der Arbiter elegantiarum war George Bryan Brummel, der die umwälzende Theorie aufstellte, daß das Wesen der Eleganz darin bestehe, nicht aufzufallen, sie äußere sich nur in Schnitt und Sitz; hierauf aber wendete er die größte Sorgfalt: er hielt sich drei Friseure, einen für den Hinterkopf, einen für die Stirnlocken und einen für die Schläfen, und ließ die Daumen und den übrigen Teil seiner Handschuhe von verschiedenen Fabrikanten herstellen. Durch ihn erlangte London die Führung in der Herrenmode, die es bis zum heutigen Tage behalten hat.

Bei den Damen setzte sich nach 1815 wieder der Schnürleib durch, und die Taille, die im Empire knapp unterhalb der Brust angesetzt war, rückte wieder an ihre alte, richtige Stelle; auch die Herren trugen vielfach Korsetts, bei den preußischen Gardeoffizieren gehörten sie sogar zur tadellosen Adjustierung. Nach 1820 nahmen die Damenärmel ungeheuerliche Formen an: als »Hammelkeulen« und »Elefanten«, die nur mit Hilfe von Fischbeingestellen ihre Fasson zu behalten vermochten. Nur in der Musterung entwickelten die Stoffe zahlreiche Nuancen: changeant, moiré, ombré, damasziert, geblümt, quadrilliert, besonders bei den Bändern, die sich sehr reichlich an Hauben, Hüten, Röcken befanden. Richtige Mäntel waren infolge der Riesenärmel unmöglich: man trug Spitzenkragen, die sogenannten Berthen, Shawls aus allen möglichen Stoffen, am liebsten aus Kaschmir und Crêpe de Chine, und gegen Ende des Zeitraums kommt die Pelzboa auf. Ebenso abenteuerlich wie die Ärmel waren die Schuten, eine Art Pferdehüte, sehr groß und sehr unpraktisch, das Gesicht wie Scheuklappen einhüllend, so daß man in ihnen am Hören und Sehen verhindert war; trotzdem hat sich diese Kopfbedeckung länger gehalten als irgendeine frühere oder spätere. Daneben trug man auch große Hauben und, seit der Orient Mode geworden war, Turbane; nach der Eroberung Algiers kam von Frankreich aus auch der algerische Burnus in Gunst. Da Ludwig der Achtzehnte sich gern mit Heinrich dem Vierten verglich, von dem er behauptete, daß er bei seiner Thronbesteigung eine ähnliche politische Situation vorgefunden habe, trug man in Paris und anderwärts eine Zeitlang Halskrausen und Federntoques à la Henri quatre. Eine Reminiszenz aus derselben Zeit war die Ferronière, ein Edelstein, der durch ein dünnes Goldkettchen in der Mitte der Stirn festgehalten wurde: auch sonst liebte man auffallende Schmuckstücke: lange Ohrgehänge, große Broschen und Gürtelschnallen, breite Armbänder über den Ärmeln.

Der Möbelstil des Biedermeier ist sehr geschmackvoll: noch einfacher als der Empirestil, aber nicht so nüchtern und geschraubt. Er übernahm von ihm die glatten Flächen, geraden Linien und schlichten Motive, vermied aber seinen parvenühaften Materialprunk. Während dieser ein kalt forcierter Opernspartanismus und gequält antikisierender Artefakt ist, ersteht hier ein wirklicher Stil, der der organische und konforme Ausdruck des inneren Lebens, der seelischen Haltung eines ganzen Zeitalters ist.

Die Nazarener

In Berlin haben damals zwei Künstler von echt preußischem Wuchs und Geist gewirkt, schlicht und herb und doch von einer verschleierten Gemütswärme und strengen Anmut: Rauch und Schinkel. Rauch hat dem deutschen Volk das Bild Friedrichs des Großen und der Königin Luise, Yorks und Scharnhorsts, Blüchers und Gneisenaus für immer eingeprägt. Schinkel war ein Kopf von michelangelesker Großräumigkeit, in dem der komplette Plan einer ganz neuen Stadt lebte; die Enge der Zeit hat ihn das meiste und Beste nicht ausführen lassen: das Schauspielhaus, in einem reinen, vornehm kargen Stil mit geschmackvollstem Takt für Proportionen erbaut, gibt nur eine bescheidene Teilprobe seines viel machtvolleren Könnens. Die übrigen deutschen Architekten waren mehr vom Schlage Klenzes, des Schöpfers der Regensburger Walhalla, die ein dorischer Tempel ist, und zahlreicher anderer Prunkbauten »hellenischen« Stils, den er für den einzigen wirklichen hielt, die anderen nur für »Bauarten«.

Von Cornelius, den er ebenfalls an seinen Hof gezogen hatte, sagte Ludwig der Erste von Bayern: »er kann nicht malen«; auch Genelli konnte es nicht und war stolz darauf. Trotzdem steckt in den großzügigen Gedankendichtungen des ersteren, die so tief sind, daß man dabei einschläft, echte Dramatik, es ist nur leider eine Buchdramatik. Josef Anton Kochs Naturstudien haben etwas Rührendes, indem sie in ihrer geschachtelten Komposition und saubern Kleinarbeit ein wenig an die »Modellierbogen« erinnern, aus denen man reizende Lampenschirme macht. An John Flaxmans trockenen Illustrationen zu Dante und Homer merkt man, daß er ursprünglich Bildhauer war. Ziemlich matt und temperamentlos gerieten auch Prellers Odysseelandschaften und Rottmanns »Reminiszenzlandschaften«, die ein geschichtlich bedeutsames Lokal, zum Beispiel Marathon, malerisch zu suggerieren suchten, obgleich dies ein rein literarischer Einfall ist. Das Lieblingsgenre war überhaupt die »historische« oder »heroische«, das heißt: in ein vergangenes und als monumental gedachtes Empfinden zurückstilisierte Landschaft, die nicht einfach Wiedergabe eines Natureindrucks ist (das hätte man als roh und kunstlos verachtet), sondern eine »Idee« enthält. In Wirklichkeit erschien natürlich nicht ein Gedanke (da ja in der Malerei der »Gedanke« in nichts anderm bestehen kann als in der Darstellung des Gegenstands), sondern eine Abstraktion.

Die Sitte, Rom als die Kapitale der Kunst anzusehen und sich von dort alle Anregungen zu holen, blieb bestehen; nur spalteten sich die »Deutschrömer« in zwei Parteien: die nach wie vor antikisch Orientierten und die Romantischen, die von jenen, anfangs spottweise, »Nazarener« genannt wurden. Sie bildeten eine Art Malerorden, indem sie in San Isidoro bei Rom, einem von Napoleon aufgehobenen Kloster, als »Lukasbrüderschaft« lebten, in Mönchszellen schliefen und gemeinsam im Refektorium malten. Ihr Führer war Friedrich Overbeck. Das Wesen dieser Schule bestand in einer Art freiwilligem Verzicht auf alle Fortschritte, die das Sehen in den letzten drei Jahrhunderten gemacht hatte. Ihr Ideal waren die »Primitiven« des deutschen Spätmittelalters und der italienischen Frührenaissance: Perugino, Raffael in seinen Anfängen, Hans Memling, Stephan Lochner. Aber da diese Rückkehr künstlich gemacht und programmatisch gewollt war, fehlte ihr die Überzeugungskraft und der Zauber der Ursprünglichkeit, der jene echten Primitiven ausgezeichnet hatte. Was zwischen diesen und ihnen lag, verachteten sie: damals ist für das Rokoko die Bezeichnung »Zopf« aufgekommen und hat das Wort »barock« die Bedeutung des Widersinnigen, Abgeschmackten, Schwülstigen, Überladenen angenommen. Hierin waren sie mit den Klassizisten, die sie im übrigen erbittert bekämpften, vollkommen einer Meinung. Im Grunde waren aber beide nur feindliche Brüder, einander zum Verwechseln ähnlich in der Temperamentlosigkeit und Blutarmut ihrer blaß erdachten und dogmatisch abgeleiteten Kunst. Es ereignete sich in ihnen wieder einmal das typische Schauspiel, daß jede »Wiederbelebung« eine Abtötung des eigenen Lebens ist. Da man im Mittelalter noch an Gott glaubte, so verlangten die Nazarener vom Künstler »Frömmigkeit«, worunter sie eine süße leere Bravheit verstanden. Die breiteste Popularität unter ihnen errang Julius Schnorr von Carolsfeld mit seinen ganz albumhaften Holzschnitten, die in keinem Bürgerhaus fehlten, wie sie denn alle vorwiegend eine Welt in Goldschnitt konzipierten. In der Genremalerei dominierten die »Düsseldorfer«, die angeblich aus dem Leben schöpften, in Wirklichkeit neben dem Leben hergingen, indem sie philiströse Bilderbogenlügen erfanden und schließlich ihren Schulnamen zum Kunstschimpfwort degradierten, in der Art, wie sich dies in unserer Zeit mit den »Meiningern« wiederholt hat. Für das allein Vornehme galt jedoch die »Historie«, die novellistische und womöglich tendenziöse Darstellung irgendeines akkreditierten geschichtlichen Vorgangs.

Guéricault, Saint-Simon und Stendhal

Indes zeigten sich in Frankreich auch schon die Anfänge einer ganz entgegengesetzten Kunst. 1819 stellte Théodore Guéricault sein »Floß der Medusa« aus: Schiffbrüchige auf dem Ozean, von den Wogen fast verzehrt; da zeigt sich im letzten Augenblick am fernen Horizont das rettende Segel. Delacroix malte 1822 die »Dantebarke«: Dante und Virgil über den Styx setzend, Verdammte klammern sich verzweifelt an den Kahn, und 1824 das »Gemetzel auf Chios«, einen Vorgang aus der allerjüngsten Vergangenheit; auch das »Floß« behandelte ein wirkliches Geschehnis: 1816 war die Fregatte Medusa an der afrikanischen Küste gescheitert und zwölf Tage lang trieben die Überlebenden auf dem Notfloß umher. Das waren also ebenfalls »historische« Gemälde, aber wesentlich anderer Art: keine gelehrten oder sentimentalen »Reminiszenzen«, sondern blutigste Gegenwart, leidenschaftlichste Aktualität, schäumendste, feuerfarbigste Wirklichkeit. Man nannte das »Massacre de Chios« höhnisch ein Massaker der Kunst, es war aber noch mehr: ein Massaker des ganzen romantischen Weltbilds. In Guéricault und Delacroix kocht bereits die Julirevolution.

Auf Guéricault, der schon 1824 starb, läßt sich das Wort Laotses anwenden: »wenn ein Edler zu seiner Zeit kommt, so steigt er empor, kommt er aber nicht zu seiner Zeit, so verschwindet er wie eine fortgeschwemmte Pflanze«; und dasselbe gilt von Saint- Simon und Stendhal. Der Graf Claude Henri de Saint-Simon, Nachkomme Karls des Großen, Enkel des Herzogs von Saint- Simon, der den Hof Ludwigs des Vierzehnten in seinen Memoiren unsterblich gemacht hat, und Schüler d'Alemberts, ist der Erfinder des modernen Sozialismus. Er nimmt seinen Ausgang vom Begriff des »Industriellen«. Was ist ein »industriel«? Ein Mensch, der arbeitet, um Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse oder Genüsse zu erzeugen oder zugänglich zu machen. Folglich ist jeder Mensch, der arbeitet, ein Industrieller. Welchen Rang aber haben diese Industriellen in der Gesellschaft? Den letzten. Und welchen müßten sie einnehmen? Den ersten; denn niemand ist so wichtig wie sie. Ihre Gegenspieler sind die »bourgeois«, die Besitzer des arbeitslosen Einkommens, der »Adel der Gegenwart«. Solange diese herrschen, ist die Revolution nicht vollendet, die Freiheit nicht verwirklicht; dies geschieht erst durch das »régime industriel«, die Herrschaft der Arbeit über die Staatsgewalt. Diese Gedanken einer »sozialen Physik« wurden von Charles Fourier weiter ausgebaut, der selber von begüterten Bourgeois abstammte. Für alle Entwicklung, für alle Freiheit, sagt Fourier, ist Reichtum die unerläßliche Vorbedingung. Dieser Reichtum ist aber nicht von selbst da, er muß erworben werden, und zwar durch Arbeit. Nimmt man nun an, daß jeder nur so viel zu produzieren vermag, als er selbst braucht, so kann, wenn ein Drittel der Gesellschaft nur konsumiert, ein anderes Drittel seine Bedürfnisse nicht befriedigen. Dies ist der Grundfehler der Zivilisation. Die Freiheit ist unmöglich, solange man der Sklave seines Mangels ist; daher muß, wer die Freiheit will, für jedermann den Reichtum wollen oder das, was Fourier das »Minimum« nennt: jenes Maß an Gütern, das jedem volle materielle Unabhängigkeit zusichert. Dieses Ziel ist nur erreichbar durch Vergesellschaftung der Arbeit und des Besitzes, denn nur hierdurch kann jene hohe Produktivität erlangt werden, die nötig ist, um alle reich zu machen. Im übrigen lasse man jeden arbeiten, aber jeden, wie er will, denn es ist eine Tatsache, daß jeder Mensch zu irgendeiner Tätigkeit Lust hat. Diese Anschauungen Saint-Simons und Fouriers decken sich mit dem Kommunismus und dem, was man später unter Sozialismus verstand, zwar in der philosophischen Grundlage, weichen aber in wichtigen Punkten von ihnen ab; denn erstens lassen sie das Privateigentum bestehen, zweitens kennen sie den Begriff des Proletariats nicht, sondern nur den des Arbeiters, der keineswegs ein manueller zu sein braucht, und drittens erwarten sie alles vom guten Willen der Regierenden, der Einsicht der Besitzenden, der unvermeidlichen friedlichen Entwicklung.

Was Stendhal anlangt, so hat er den »Übergangenen«, den Lieblingstypus der damaligen Literatur, aufs vollkommenste im Leben verkörpert. Er prophezeite: »ich werde erst gegen 1900 verstanden werden« und hat es fast auf den Tag erraten. Man könnte von ihm Ähnliches aussagen wie von Lichtenberg und Goya. Mit jenem ist ihm gemeinsam, daß sein gestaltendes Grundpathos eine Art Zuschauerleidenschaft war, mit diesem, daß er den ganzen Impressionismus vorweggenommen hat, mit beiden, daß er von den Zeitgenossen für einen bloßen Karikaturisten und Sonderling gehalten wurde. Er selbst glaubte, daß er mit Pascal die meiste Ähnlichkeit habe. Indes verkörperte er mit seiner staunenswerten psychologischen Witterungsgabe und analytischen Geistesschärfe nur die eine Seelenhälfte Pascals: die der Erde zugekehrte. Stendhal ist einer der feinsten und reifsten Meister der Seelenanatomie, ein genialer Vivisektor, auch von der Kälte und Grausamkeit, die dieser Beruf erfordert; sein einziges Ziel die rauhe Wahrheit: »La vérité, l'âpre vérité!« Mit seinem französischen Entdecker Taine teilt er die Passion für die »petits faits«, für die strenge und reine Deskription und den Glauben ans Milieu, die soziologische Betrachtungsart, mit seinem deutschen Entdecker Nietzsche den rasanten Skeptizismus, den Kulturaristokratismus, die Verherrlichung des Renaissanceraubmenschen.

Der Titelheld des Zeitalters

Der Titelheld des Zeitalters aber, wie wir ihn schon vorhin nannten, war Lord Byron. Wie ein berühmtes Gemälde sich in vielen Tausenden von Reproduktionen unter die Menschen verbreitet, in groben und feinen, billigen und kostbaren, getreuen und schleuderhaften, so bevölkert sich Europa mit zahllosen Byronkopien, die mehr oder minder glücklich, mehr oder minder aufrichtig, mehr oder minder äußerlich die Wesenheit dieses außerordentlichen Geschöpfes zu wiederholen suchten. Das Seelenleben der ganzen Epoche war auf ihn gemünzt: und alle Münzen, die großen und die kleinen, auch die gefälschten und die bloßen Spielmarken, trugen das Antlitz Lord Byrons.

Jedermann weiß, daß Byron der Erfinder des »Weltschmerzes« ist, eines Schmerzes, der an der Welt leidet und daher unheilbar ist, denn um ihn zu stillen, müßte man die Welt selbst aufheben. Dieser Schmerz müßte unfehlbar zur Verneinung des Lebens führen, wenn er nicht zugleich der Schmerz wäre, der sich selbst genießt. Daher ist die Frage nicht so einfach zu beantworten, ob Byron, der als der klassische Typus des unglücklichen Menschen und Dichters gilt, auch wirklich unglücklich war; sie ergibt eine doppelte Lösung wie die Quadratzahlen, die eine positive und eine negative Wurzel haben. Als Thorwaldsen in Rom Byrons Büste vollendet hatte, rief dieser indigniert: »Nein, das ist gar nicht ähnlich, ich sehe viel unglücklicher aus!« Aber ein Glück hat er jedenfalls zeitlebens besessen, vielleicht das höchste, das einem Künstler widerfahren kann: das, was der Franzose »la vie à grande vitesse« nennt. Sein Dasein war ein ununterbrochenes Drama, man wäre fast versucht zu sagen: ein Film, geladen mit Peripetien, Spannungen, Krisen, Jagden; Heldentaten und Salonsiegen; Anbetung und Skandal. Selten sind einem Menschen so starke Gefühle entgegengebracht worden wie ihm. Eine englische Dame fiel in Ohnmacht, als er unvermutet bei Madame de Staël eintrat; eine andere verliebte sich in ihn zehn Jahre nach seinem Tode bis zum Selbstmord. Gedanken an Achill und Alexander werden wach, die schönen tragischen Erobererjünglinge; und auch er hatte seine todbringende Ferse. Macaulay sagt über ihn: »Sämtliche Feen waren an seine Wiege geladen, bis auf eine. Alle Taufgäste hatten verschwenderisch ihre Gabe ausgestreut. Eine hatte Adel verliehen, eine andere Genie, eine dritte Schönheit. Die boshafte Elfe, die nicht eingeladen worden war, kam zuletzt, und außerstande umzustoßen, was ihre Schwestern für den Liebling getan hatten, verwob sie in jeden Segen einen Fluch ... Er entstammte einem alten und edeln Hause, das aber durch eine Reihe von Verbrechen und Torheiten heruntergekommen war ... Er besaß große geistige Fähigkeiten, aber es war ein krankhafter Zusatz in seinem Geiste ... Er besaß einen Kopf, den Bildhauer nachzubilden liebten, und einen Fuß, dessen Verkrüppelung die Bettler auf der Straße nachahmten.« Ja; er hatte seine Achillesferse: wir denken dabei nicht an seinen Klumpfuß. Die verwundbare Stelle dieses Helden saß in seiner Seele, sie war die Krankheit der Zeit: im Genuß verschmachtete er nach Begierde, im Sein witterte er das Nichtsein, Faust und Hamlet in einer Person. Ein Leben voll Ruhm, Liebe, Reichtum und Schönheit machte ihn zum Weltverächter. Es ist ganz gleichgültig, was das Schicksal einem Menschen bringt, ihm widerfährt doch immer nur, was ihm widerfahren muß. Der Regenwurm frißt Erde und gedeiht dabei, denn er weiß die Nahrungsstoffe, deren er bedarf, auch im toten Erdreich aufzuspüren; und ebenso: wer Freude braucht, wird Freude finden, auch in Tod und Finsternis. Jeder menschliche Organismus ist auf ein spezifisches Quantum Freude und Leid gewissermaßen geeicht. Die Kuh macht aus allem Milch und Dünger, die Biene Wachs und Honig, der Künstler Schönheit, der Melancholiker Trauer, und der Genius macht aus allem etwas Neues. Nichts ist draußen.

Man könnte, wenn man dem Wort keine abfällige Bedeutung beilegt, Byrons Lebenswerk als ein gigantisches Feuilleton bezeichnen. In der Handlung ist er niemals sehr erfinderisch; sie ist ihm nur das gleichgültige Notgerüst, woran er seine prachtvollen Feuerwerksfiguren abbrennt. Das Staunenswürdige, Nochniedagewesene war seine Palette; und was sie malt, ist immer der Maler, er, Lord George Gordon Noël Byron, der glänzende traurige Löwe der Romantik. Man hat ihm oft vorgeworfen, daß er die Menschen und Dinge viel zu schwarz male; aber wenn das wahr ist, so hat er die Gesetze der Optik auf den Kopf gestellt, denn nie noch hat ein Künstler dem Dunkel so viele leuchtende Nuancen entlockt. Er selbst pflegte auf solche Einwände zu antworten: »Ich fühle, daß ihr Recht habt, aber ich fühle zugleich, daß ich aufrichtig bin.« Er weiß, daß Wissen tötet, daß der Baum der Erkenntnis vergiftet ist: »sorrow is knowledge!« Das klingt anders als der jubelnde Siegesruf seines Landsmannes vor dreihundert Jahren: »wisdom is power.« Zwischen Lord Bacon und Lord Byron liegt der Erkenntnisweg der europäischen Neuzeit. Ihm ist der Gedanke »der Mehltau des Lebens«: »and know, whatever thou hast been, 't is something better not to be.« Goethe hat ihn mit dem schönen Wort charakterisiert, sein Wesen sei »reiche Verzweiflung« gewesen. Er ist, wie man weiß, Euphorion, der Sohn des faustischen Weltdrangs und der hellenischen Schönheit. Als dieser aus den Lüften zu Boden gestürzt ist, lautet die geheimnisvolle Regiebemerkung: »man glaubt in dem Toten eine bekannte Gestalt zu erblicken.« Euphorion ist die moderne Poesie, ikarisch, lebensunfähig und doch voll Leben, »nackt, ein Genius ohne Flügel, faunenartig ohne Tierheit«.

Der Byronismus

Das Zeitalter war vom Byronismus buchstäblich infiziert; er warf sogar seine Schatten voraus. Schon Chateaubriands René sagt: »Alles ermüdet mich: ich schleppe mühsam meine Langeweile mit mir herum, und so vergähne ich überall mein Leben.« 1804 erschien Sénancours »Obermann«, mit dem die Figur des »Übergangenen« in die französische Literatur eintrat, eine Art Werther, der ebenfalls manche Leser zum Selbstmord trieb, obgleich er selbst nur in Gedanken das Leben verneint; er ist, im Gegensatz zu René und ehrlicher als dieser, Atheist. Sein Grundpathos ist le désenchantement de la vie, die Enttäuschung am Leben. Zahlreiche ähnliche Romane folgten; ihre Helden sind alle, was Benjamin Constant von seinem Adolphe sagt: »das Opfer einer Mischung aus Egoismus und Sensibilität«, ihre Philosophie ist die Leopardische: »Schmerz und Langeweile ist unser Sein und Kot die Welt sonst nichts«, weit und breit kein Sinn und keine Frucht: »uso alcuno, alcun frutto indovinar non so«. Auch die slawische Dichtung bemächtigte sich des »Überflüssigen«: Mickiewicz dichtete den »Pan Tadeusz«, Puschkin den »Jewgeni Onjägin« und Lermontoff seine moderne Ballade vom Festungsoffizier Petschorin, »einem Helden unserer Zeit«. Selbst Metternich wußte ganze Gesänge des »Childe Harold« auswendig; alle Welt war von der »maladie du siècle« ergriffen. Es kam zu wahren Selbstmordepidemien, und die achtundzwanzigjährige Charlotte Stieglitz erdolchte sich, um ihren Gatten durch dieses erschütternde Erlebnis zum großen Dichter zu machen; das Experiment mißlang natürlich, es kam, was Relling von Hjalmar Ekdal prophezeit: »Keine dreiviertel Jahr, und sie ist für ihn nur noch ein schönes Deklamationsthema.« Andere Romantikerinnen gingen nicht so weit und begnügten sich damit anzudeuten, daß sie nicht von dieser Welt seien: zu diesem Zweck fielen sie gern in Ohnmacht, litten an dauernder Migräne und waren allen körperlichen Strapazen und Genüssen abhold. Besonders das Essen galt als unromantisch: Byron hatte sich eine eigene Hungerdiät ausgedacht, um ganz vergeistigt zu erscheinen, und ließ eine Marchesa, für die er sich interessierte, sofort fallen, als er sah, wie sie mit Appetit ein Kalbskotelett verzehrte, sein Freund Shelley lebte von Wasser und Brot, und seine Geliebte, die Gräfin Guiccoli, aß überhaupt nichts. Da sich in der Geschichte nichts wiederholt, so war diese »zweite Empfindsamkeit« einerseits viel weniger ursprünglich, nämlich rein literarisch, andrerseits doch wieder viel echter, nämlich ehrlich nihilistisch, und in dieser Mischung viel komplizierter als die erste. »Es ist«, sagte Immermann in den »Epigonen«, »als ob die Menschheit in ihrem Schifflein auf einem übergewaltigen Meere umhergeworfen, an einer moralischen Seekrankheit litte, deren Ende kaum abzusehen ist.«

Das Sebstbewußtsein des Zeitalters

Der Byronismus hat seine Herrschaft über die Zeit nur mit dem Hegelianismus geteilt, der übrigens seine volle Macht erst in der Schule des Meisters entfaltete. Die Philosophie, die Hegel selbst gelehrt hat, war nicht der äußerste Gegenpol der Romantik, wie sehr oft behauptet worden ist, sondern berührte sich mit ihr an mehreren Stellen: in ihrem Konservativismus, ihrer Betonung des Entwicklungsgedankens, ihrer theologischen Färbung, ihrem Historizismus. Man könnte sagen: Hegel verhielt sich zur Romantik wie Sokrates zur Sophistik, indem er ebensowohl ihr Gegner wie ihr Vollender war. Die Spätromantik selbst hat keinen repräsentativen Philosophen gefunden: Oken, Schubert, Baader können mit Fichte, Novalis und auch Schelling keinen Vergleich aushalten; ihre zersplitterten und eklektischen, wirren und epigonischen Konzeptionen, die ihre Hauptnahrung aus gekünstelten und verdunkelnden Analogien ziehen, sind durchaus zweiten Ranges, »ein Gebraue aufgeraffter Gedanken«, wie sie Hegel in seiner »Geschichte der Philosophie« nannte. Was ein deutscher Philosoph imstande ist, bewies Karl Christian Friedrich Krause, der sich, weil ihm die bisherige Terminologie nicht klar und nicht deutsch genug war, ein vollkommen neues Vokabular erfand und mit Ausdrücken wie »Vereinsatzheit«, »Inbeweg«, »Sellbilden«, »das Ordarzulebende«, »Seinheitureinheit«, »vollwesengliedbaulich«, »eigenleburbegrifflich« hantierte. Wenn er einmal sagt: »das Wort Eindruck ist ein Übersetznis aus impressio und soll Angewirktnis bedeuten«, so werden sicher alle, die sich schon über dieses seltene und schwierige Wort den Kopf zerbrochen haben, diese lichtvolle Erklärung mit Freuden begrüßen und nur bedauern, daß er nicht den Impressionismus erlebt hat, um auch für diesen Begriff eine vermutlich noch viel klarere Übersetzung zu finden; aber wenn er ein andermal bemerkt: »ein neues Wort muß sich sogleich selbst erklären«, so muß man sich doch fragen, ob Bildungen wie »Vereinselbstganzweseninnesein« und »Orend-eigen- Wesenahmlebheit« diese Forderung wirklich ganz erfüllen.

Jede Zeit bedarf eines doctor universalis, eines Geistes, der zugleich reich und konzentriert genug ist, um ihr Selbstbewußtsein zu spiegeln: dies haben, bei sehr verschiedenem Horizont und Tiefgang, aber jeder für sein Zeitalter gleich vollkommen, Aristoteles, der heilige Thomas, Cusanus, Bacon, Leibniz, Voltaire, Nietzsche vollbracht; für die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Hegel. Sein System ruht auf der Annahme der Identität von Denken und Sein: es ist logokratisch und, da es die Weltregierung voll bejaht, auch in gewissem Sinne theokratisch. Von dieser Seite gesehen, muß es als ein extremer Rationalismus bezeichnet werden, denn es lehrt, daß die Begriffe nicht etwa bloß dem Wesen der Dinge entsprechen, sondern daß sie das Wesen der Dinge sind. Gleichwohl ist Hegels berühmter und berüchtigter Ausspruch: »Was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich« zumeist mißverstanden worden. Er meint mit diesem Satz, der besonders von der Reaktion zu ihren Gunsten exploitiert worden ist, natürlich nicht, daß jede Erscheinung schon einfach dadurch, daß sie da ist, sich als vernünftig legitimiert, womit jede Torheit, Lüge und Ungerechtigkeit als lebensberechtigt erklärt wäre, sondern gerade umgekehrt: daß alles Wirkliche vernünftig ist nur in dem besonderen geschichtlichen Zeitpunkt, wo es das Dasein tatsächlich beherrscht (wodurch gerade jede Art Reaktion als eine Unwirklichkeit und daher Unvernünftigkeit stigmatisiert ist) und daß nur das Vernünftige wirklich ist, das Unvernünftige aber ein bloßes Scheinwesen, ein Nichtseiendes, ein me on, wie Plato und die Platoniker die Materie nannten. Wollte man den Satz wörtlich nehmen, so würde er den Nonsens beinhalten: alles Unvernünftige ist vernünftig. Ja man könnte sogar behaupten, daß alles Wirkliche in dem Augenblick, wo es erkannt wird, also vernünftig geworden ist, aufgehört hat zu existieren. Die Menschheit pflegt nämlich alles Wirkliche erst dann ernst zu nehmen, wenn es nicht mehr ernst zu nehmen ist, wenn es eingelebt ist, was aber ganz dasselbe bedeutet wie ausgelebt, wenn es eine Institution, das heißt: rückständig geworden ist, denn Institutionen sind immer rückständig. Hegel betont selbst in seiner Geschichte der Philosophie, den Zeitgeist erkennen, heiße ihn entthronen: wenn das Rätsel der Sphinx gelöst sei, so stürze sich die Sphinx vom Felsen; und in seiner Rechtsphilosophie sagt er mit einem seiner schönsten und sublimsten Worte: »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen: die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«

Die dialektische Methode

Hegels höchst geistreiche und fruchtbare Methode ist die sogenannte dialektische: sie beruht auf der Annahme, daß das Treibende in der Weltentwicklung der Widerspruch sei. Die beiden antithetischen Begriffe, die einen Widerspruch miteinander bilden, werden in einem dritten umfassenderen, höheren, wahreren »aufgehoben«, in dem dreifachen Sinne dieses Wortes: nämlich verneint oder negiert, erhöht oder eleviert und bewahrt oder konserviert, indem sie in ihm als berechtigte Momente, die aber jedes nur die halbe Wahrheit enthalten, weiterleben. Gegen diesen neuen Oberbegriff erhebt sich wiederum ein gegensätzlicher, um mit ihm eine noch reichere Synthese zu bilden. In dieser Bewegung ist jede Stufe nur eine Durchgangsstation. Und zwar ist diese Bewegung eine selbsttätige: es liegt von vornherein in jedem Begriff die Tendenz, in sein Gegenteil umzuschlagen, und in jedem Widerspruch die Tendenz, sich in einer Einheit zu versöhnen, die Hegel die »konkretere« nennt, weil sie mehr Bestimmungen enthält. Diese Begriffsbewegung wird nicht im Subjekt erzeugt, wie Fichte lehrte, sondern im Objekt selbst, im »Absoluten«, während das Subjekt sie als bloßer Zuschauer verfolgt und in seinem Denken wiederholt. Das Ziel dieser Bewegung aber ist das »absolute Wissen«, in dem alle gegensätzlichen Momente vereinigt und aufgehoben sind: nämlich die Philosophie Hegels, über die hinaus eine dialektische Bewegung nicht mehr möglich ist, da sie aus sich keinen Widerspruch mehr zu erzeugen vermag. Hierin sollte er sich aber geirrt haben.

Seine Methodologie, den Weg zum absoluten Wissen hat Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« niedergelegt, die er in der Mitternacht vor der Schlacht bei Jena beendigte: sie führt ihren Namen daher, daß sie die »Erscheinungsarten« des Wissens behandelt, die Entwicklungsstufen des Bewußtseins von der niedrigsten bis zur höchsten. Auf dieser Grundlage errichtete er ein weiträumiges, rein gegliedertes, mit strengem und solidem Prunk ausgestattetes Lehrgebäude, dessen Haupttrakte oder eigentlich Stockwerke die Logik, die Naturphilosophie, die Rechtsphilosophie, die Philosophie der Geschichte, die Philosophie der Kunst, die Religionsphilosophie und die Geschichte der Philosophie bilden.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts galt Hegel als das Musterexemplar eines ungenießbaren Philosophen; nicht ganz mit Recht, denn große Partien seiner Werke, zumal die rein historischen, sind eine sehr genußreiche Lektüre; sein Hauptwerk, die »Phänomenologie«, ist allerdings heute kaum mehr lesbar. In der Naturphilosophie kam noch hinzu, daß er die Materie nicht vollständig beherrschte. Die Elektrizität definierte er folgendermaßen: »Sie ist der Zweck der Gestalt, der sich von ihr befreit, die Gestalt, die ihre Gleichgültigkeit aufzuheben anfängt; denn die Elektrizität ist das unmittelbare Hervortreten oder das nahe von der Gestalt herkommende, noch durch sie bedingte Dasein aber noch nicht die Auflösung der Gestalt selbst, sondern der oberflächliche Prozeß, worin die Differenzen die Gestalt verlassen, aber sie zu ihrer Bedingung haben und noch nicht an ihnen selbständig geworden sind.« Das Beispiel ist natürlich gehässig gewählt; aber es läßt sich nicht leugnen, daß in dem Höhenrauch, der Hegels erhabene Gedankenwelt umgibt, dem Leser sehr oft schwindlig wird. Im Grunde war Hegel sogar einer der klarsten Denker und unklar nur in der Diktion und vor allem in einer Reihe von finsteren Fachausdrücken, von denen er sich nicht trennen konnte. Es ist sehr oft fast unmöglich, dem sehr exakt gebauten, aber endlosen Schraubengewinde seines logischen Bohrers zu folgen. Klarheit des Gedankenausdrucks scheint überhaupt gemeinhin weit mehr Sache der künstlerischen als der philosophischen Begabung zu sein. Es war eine ziemlich oberflächliche, ja falsche Gegenüberstellung, wenn man den Künstlern die Kraft der dunkeln, aber schöpferischen Anschauung, den Philosophen die Gabe der scharfen, klärenden, erhellenden Begriffsbildung zusprach; es verhält sich eher umgekehrt: der echte Künstler ist der Meister des »vollendeten« Denkens, indem er es zu vollenden, in die klassische Form zu bringen vermag, während der Vollblutphilosoph seine Domäne mehr im Unausgesprochenen, Unaussprechlichen, in der bloßen Konzeption neuer und tiefer Gedanken hat. In allen großen Philosophen findet sich ein Hang zum Mystizismus und alle neigten zur Vieldeutigkeit und Dunkelheit: schon der erste abendländische Philosoph von Weltgeltung, Heraklit, führte den Beinamen ό ϭϰοτεινός. Die »Ausnahmen«, an die man denken könnte: Montaigne, Pascal, Lessing, Lichtenberg, Schopenhauer, Nietzsche waren alle viel mehr Künstler als Philosophen. Umgekehrt haben sich fast alle Dichter von Säkularformat durch reinste Durchsichtigkeit und schärfste Silhouettierung ihres gedanklichen Aufbaus ausgezeichnet. Es ist dies auch ganz natürlich: je mehr man sich ans reine Denken verliert, desto mehr gelangt man in Abgründe, Finsternisse und Verschlingungen, während jede Annäherung an das Bild einen erleuchtenden, gliedernden, verdeutlichenden Vorgang bedeutet. Die neuen Ideen haben immer nur die Philosophen; die klaren Bilder davon machen die Künstler.

Hegel war in seinem Stil nichts weniger als ein Künstler; auch sein mündlicher Vortrag entbehrte nach den Berichten der Zeitgenossen jedes Schliffs: er machte seine Hörer und Leser zu Zeugen seines Ringens mit den Gedanken und legte ihnen seine Ergebnisse im unzubereiteten Rohzustand vor. Trotzdem leuchten aus dem Dunkel seiner Rede oft die schönsten Edelsteine, und bisweilen wird er geradezu witzig. Sein Aperçu, daß das bekannte Sprichwort: »es gibt keinen Helden für den Kammerdiener« wahr sei, »nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser der Kammerdiener ist«, ist dadurch berühmt geworden, daß, ohne es zu wissen, Goethe es von ihm und Carlyle es von Goethe abgeschrieben hat; in der »Religionsphilosophie« erläutert er seine Bemerkung, daß es der Philosophie nicht darum zu tun sei, Religion in einem Subjekt hervorzubringen, durch den Vergleich: »dies wäre ebenso verkehrt, als wenn man in einen Hund dadurch Geist hineinbringen wollte, daß man ihn gedruckte Schriften kauen ließe«; von dem Absoluten Schellings, das dieser als »die totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven« definiert hatte, sagt er, es sei die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind; von der Französischen Revolution: »solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut«; von der kantischen Philosophie, sie prüfe die Beschaffenheit und die Grenzen unserer Erkenntnisvermögen, ob und inwieweit sie imstande seien, das Wesen der Dinge zu ergründen: in diesem Unternehmen gleiche sie jenem Scholastikus, der nicht eher ins Wasser gehen wollte, als bis er schwimmen gelernt habe (wozu Kuno Fischer noch geistreicher bemerkt hat, wenn man das Erkennen mit dem Schwimmen vergleiche, so habe sich Kant dazu nicht verhalten wie jener Scholastikus, sondern wie Archimedes). Alle diese Bonmots haben freilich etwas Frostiges: sie erinnern an einen Lehrer, der hier und da den Unterricht durch einen Scherz würzt, aber nicht erlaubt, daß die Klasse lacht.

Hegels Geschichtsphilosophie

Den Extrakt der Hegelschen Philosophie enthält die »Philosophie der Geschichte: ein großartiges Panorama des menschlichen Schicksalswegs von den Anfängen Chinas bis zur Julirevolution, dabei stets von der bunten Oberfläche zur Idee vordringend, dem »Zeitgeist«; oft ein wenig »gestellt«, die Tatsachen vergewaltigend: aber welche Gedankenkonstruktion tut das nicht? Das Leitmotiv des Werkes liegt in dem Satz: »Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.« Diese These ist aber nicht ein vorgefaßtes Dogma, mit dem an den Gegenstand herangetreten wird, sondern bloß das vorweggenommene Resultat, das sich aus der Betrachtung der Weltgeschichte ergibt: wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an. Die göttliche Weisheit, die Vernunft, die alles durchwaltet, ist dieselbe im Großen wie im Kleinen: insofern ist die Weltgeschichte eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes. Sie ist die Entwicklung des Geistes, und die Substanz, das Wesen des Geistes ist die Freiheit; folglich ist sie nichts anderes als der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Sie ist »die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt«; die Philosophie sucht diesen Geist zu erfassen, sie hat es, wie Hegel am Schlusse des Werkes so schön sagt, »nur mit dem Glanze der Idee zu tun, die sich in der Weltgeschichte spiegelt«.

Hegels Theodizee ist aber viel zu tief, als daß sie eudämonistisch wäre. Unter »Fortschritt« versteht sie keineswegs jenen platten liberalen Begriff der Lebensverbesserung, des »Glücks der möglichst vielen«, wie ihn Hegels Zeitgenosse Bentham aufgestellt hatte. Die Weltgeschichte ist überhaupt nicht der Boden des Glücks. »Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes.« Sie ist auch nicht bloß der Schauplatz des Guten, sondern mehr noch der Schuld. Aber dies eben ist »das Siegel der absoluten hohen Bestimmung des Menschen«, daß er weiß, was gut und was böse ist, daß er Schuld haben kann, »Schuld nicht bloß an diesem, jenem und allem, sondern Schuld an dem seiner individuellen Freiheit angehörigen Guten und Bösen«. Nur das Tier ist wahrhaft unschuldig. Der Mensch in seiner Geschichte ist ein religiöses Phänomen. »Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält«; die Vorstellung von Gott macht die allgemeine Grundlage eines Volkes aus: wie diese beschaffen ist, so der Staat und seine Verfassung. Sie bestimmt auch den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, »denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang«. Der Orient weiß nur, daß einer frei ist, die griechische und römische Welt, daß einige frei seien, die germanische Welt, daß alle frei sind: die erste Form ist der Despotismus, die zweite die Demokratie und die Aristokratie, die dritte die Monarchie. Hegels Religionsphilosophie ist eine Variation desselben Grundthemas, denn Religion und Philosophie haben den gleichen Gegenstand: die ewige Wahrheit, »Gott und nichts als Gott und die Explikation Gottes«. Die Philosophie ist nicht Weisheit der Welt, sondern Wissen des Nichtweltlichen, »nicht Erkenntnis der äußerlichen Masse, des empirischen Daseins und Lebens, sondern Erkenntnis dessen, was ewig ist, was Gott ist und was aus seiner Natur fließt«. Auch Hegels »Geschichte der Philosophie« folgt demselben Schema wie die »Philosophie der Geschichte«: sie ist Entwicklung der Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes, deren einzelne Stufen die vielen geschichtlichen Philosophien sind: alle gleich vergänglich, alle gleich notwendig im Gange der immer selbstbewußter werdenden Vernunft: »jede Stufe hat im wahren Systeme der Philosophie ihre eigene Form: nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten, indem die letzte Philosophie die Totalität der Formen ist«. Diese letzte Philosophie, die Totalität der Formen, ist jedoch nicht ein ideales Postulat, ein unerreichbares, nur in unendlicher Annäherung zu erstrebendes Ziel unseres Geistes wie das »vollendete Reich der Wissenschaft« bei Kant, sondern leibhaftig erschienen und Fleisch geworden in Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

Amortisation Hegels durch Hegel

Aber Hegels Philosophie sollte sich an ihm selber bewahrheiten, indem sie gegen ihn selber recht behielt. Es zeigte sich, daß es keine letzte Synthese gibt, sondern jede nur immer wiederum eine These ist, dazu bestimmt, in ihren Gegensatz umzuschlagen. Er erzeugte eine Schule, die sich hegelisch nannte, aber das war, was er selbst die »Nachahmung in der Umkehrung« genannt hatte. Die Generation, die am Ende der zwanziger Jahre führend wurde, vollzog mit lange zurückgestauter, um so ungestümer hervorbrechender Energie die Antithese. Sie wandte sich gegen alle Romantik und Reaktion im Staat, im Glauben, in der Kunst, in der Lebensführung, gegen die Welt der »Schattenküsse« und Schattenkönige, gegen das ganze Schattenfigurentheater, das im Schatten der Heiligen Allianz sein gespenstisches Leben führte, gegen die Schattenbegriffe der deutschen Ideenromantik, deren letzter und souveränster Meister Hegel gewesen war. Er wurde gestürzt; und zwar im Namen Hegels.


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