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Drittes Kapitel

Empire

Jeder Mensch, der wirklich Bedeutendes im Leben leistet, beginnt als Revolutionär. Und doch haben Revolutionen noch niemals das Joch der Tyrannei abgeschüttelt, sie haben es bloß auf eine andere Schulter gewälzt.
Shaw

Die Fanale

Längs jenem gespenstischen, bald wie durch ein zitterndes Flammenscheit spärlich erhellten, bald in völliger Dumpfheit und Dunkelheit begrabenen Riesenzuge närrischer Menschen, den wir Weltgeschichte nennen, läuft eine scharf erhellte Galerie klar ausgemeißelter, stolz profilierter Charakterfiguren, die, einsam und unbeweglich in ihren Nischen thronend, dem trüben Gewimmel unter ihnen scheinbar gänzlich fremd, dennoch die leuchtenden Fanale bilden, an denen man sich über den ganzen Massenstrom orientieren kann. Es sind die sogenannten großen Männer. Was ist ein großer Mann? Schwer zu beantwortende Frage; und noch schwerer zu beantwortende Frage: wie wird ein solcher Mann, von dem man paradoxerweise bloß auszusagen vermag, daß seine Definition die Undefinierbarkeit ist?

Indes: schwer zu beantworten oder nicht: sie sind; das ist ganz unleugbar. Sie waren, sie werden sein. Es gibt wenig Gewißheiten, die so gewiß sind. Und statt dem Prozeß nachzugrübeln, durch den sie wurden, was sie sind, einem Prozeß, der niemals ganz ergründet werden kann, weil er unterirdisch verläuft, in den dunkeln Stollen der menschlichen Kollektivseele, wollen wir uns damit begnügen, sein Resultat zu konstatieren. Dieses Resultat ist klar und deutlich genug, obgleich es das seltsamste ist. Diese Menschen waren noch gestern dasselbe wie alle anderen: Individuen, Einzelgeschöpfe, Zellen im großen Organismus des Erdengeschlechts, Einheiten in der Millionensumme; und plötzlich sind sie eine ganze Gattung geworden, eine platonische Idee, ein neuentdecktes Element, eine neue Vokabel im Wörterbuch der Menschheit. Gestern noch gab es kein Aluminium, wußte niemand, was Aluminium sei; heute weiß es jeder, muß jeder davon wissen und von nun an mit diesem neuen Wort oder Zeichen namens Al rechnen; nichts ist so wirklich wie diese zwei Buchstaben Al. Durch einen ganz ähnlichen Prozeß wird ein Mensch in den Augen der anderen zum Genie. Ein Individuum ist über Nacht ein Begriff geworden! Das ist ein ebenso großes Mysterium wie die Geburt oder irgendein anderes Schöpfungswunder der Natur. Der grobe Intellekt des Durchschnittsmenschen mag noch so wenig von Begriffen wie Sokrates, Luther oder Caesar wissen, er mag von ihnen eine noch so einseitige oder schiefe Vorstellung besitzen: etwas weiß er doch von ihnen, irgendein Bild von ihnen trägt er in seinem Herzen, sie befinden sich im Schatz seiner Assoziationen so gut wie die Kennworte für seine täglichen Gebrauchsgegenstände. Weiß er denn von den anderen Dingen mehr? Er hat von den Begriffen Zucker oder Licht eine ebenso präzise und richtige Kenntnis wie von den Begriffen Shakespeare und Kant. Aber er gebraucht sie alle miteinander: reduziert, ungenau, falsch, und dennoch sind sie für ihn Mittel, sich in der Welt zurechtzufinden und ein wenig klüger zu werden. In dem Augenblick, wo eine Naturkraft ans Licht getreten, vom Bewußtsein der Menschen erkannt worden ist, findet sich auch ein Wort für sie, meist ein unzutreffendes, zufälliges, aber es handelt sich ja nicht um Worte. Man versuche aus dem Denkvermögen auch des einfachsten Menschen die Begriffe Elektrizität oder Bismarck zu streichen. Beides ist gleich unmöglich, er wird mit diesen Worten beinahe geboren, sie drängen sich ihm unwillkürlich auf die Lippen, sie sind da, weil die realen wahrhaften Dinge, die ihnen entsprechen, da sind. Wenn er diese Begriffe nicht hätte, so wäre er eines Bruchteils der Verständigungsmöglichkeit mit seinen Mitmenschen beraubt; er wäre ein partieller Taubstummer. Man kann daher recht wohl die Erklärung wagen: groß ist ein Mensch in dem Augenblick, wo er ein Begriff geworden ist.

Die Zeit, von der wir reden, hat die menschliche Sprache um ein solches Begriffspaar bereichert: Goethe und Napoleon, das größte Genie des Betrachtern und das größte Genie des Handelns, das die moderne Welt hervorgebracht hat; der eine war, wie es Wieland einmal ausgedrückt hat, in der poetischen Welt dasselbe, was der andere in der politischen. Emerson rechnet sie unter seine sechs »Repräsentanten des Menschengeschlechts«: »Goethe or the writer«, »Napoleon or the man ofthe world«; Carlyle führt sie unter seinen sechs Gruppen von »Helden«: Goethe ist der »hero as man of letters«, Napoleon der »hero as king«. Gemeinsam war ihnen, daß sie der Revolution, aus der sie hervorgewachsen waren, nicht treu geblieben sind: Napoleon durch seinen Cäsarismus, Goethe durch seinen Klassizismus, in welchen beiden Tendenzen jener Kulturkomplex beschlossen liegt, den man in weitestem Sinne als Empire bezeichnen kann. Daß sie diesen rückläufigen Weg nahmen, war aber wahrscheinlich unvermeidlich, denn, wie Goethe selber gesagt hat, »die größten Menschen hängen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammen«.

Die Revolution

Wenn von der Französischen Revolution gesprochen wird, so kann man zumeist hören, ihre große historische Bedeutung habe darin bestanden, daß sie die Befreiung Frankreichs und die Befreiung Europas bewirkte, indem sie die Gesellschaft von der Herrschaft des Absolutismus, der Kirche und der privilegierten Stände erlöste; von der Proklamation der »Menschenrechte« datiere die Ära der geistigen Unabhängigkeit, der bürgerlichen Selbstgesetzgebung, des ungebundenen wirtschaftlichen Wettbewerbs. So richtig es nun zweifellos ist, daß gewisse Emanzipationsbewegungen von der Pariser Revolution ausgelöst wurden, so ist doch die Ansicht, daß der Konstitutionalismus, der Liberalismus, der Sozialismus und alle ähnlichen politischen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts aus dieser einen Quelle entsprungen seien, in dieser schroffen Form vorgebracht, falsch und irreführend. Die Revolution hat den entscheidenden Sieg des Bürgertums bewirkt; aber nur am Anfang: später bewirkte sie den entscheidenden Sieg des Pöbels. Die Revolution hat den Absolutismus gestürzt; aber nicht für lange: er kehrte am 2. Juni 1793 wieder als Diktatur des Konvents und der Kommune, er wurde am 1. April 1794 sogar zur Diktatur eines Einzelnen, nämlich Robespierres, nicht formell, aber de facto, und er wurde es formell und de facto am 18. Brumaire durch den Staatsstreich Napoleons. Und ebensowenig hat die Revolution die alten Formen des Geburtskönigtums, der Adelsherrschaft, des Priesterregiments endgültig zerbrochen: diese totgesagten Mächte erlebten ihre Auferstehung zum Teil schon unter dem ersten Kaiserreich und fast restlos unter der Restauration Ludwigs des Achtzehnten und Karls des Zehnten. Die Gleichheit hat die Französische Revolution nicht gebracht; sie hat nur zu einer anderen, noch viel verwerflicheren Form der Ungleichheit geführt: der kapitalistischen. Die Freiheit hat die Französische Revolution nicht gebracht; sie übte dieselbe engherzige, grausame und selbstsüchtige Geisteszensur wie das ancien régime, nur diesmal im Namen der Freiheit und mit viel drakonischeren Mitteln. Sie fragte jedermann: bist du für die Freiheit?, und wenn er nicht eine ganz unzweideutige Auskunft gab, so antwortete sie nicht mehr mit lettres de cachet, sondern mit der Guillotine. Niemals vorher, weder unter türkischen Sultanen und arabischen Kalifen noch unter russischen Großfürsten und spanischen Inquisitoren, hat es eine solche Unfreiheit gegeben wie unter der »Verfassung der Freiheitsfreunde«, denn niemals vorher stand die Todesstrafe auf eine Reihe ganz passiver Eigenschaften wie Bildung, Reinlichkeit, Toleranz, Schweigsamkeit, ja auf die bloße Existenz. Von ihren drei Leitvokabeln: fraternité, liberté und egalité war die erste eine leere Opernphrase, mit der sich in der politischen Praxis nicht das geringste anfangen läßt; und die beiden anderen sind unvereinbare Gegensätze. Denn die Gleichheit vernichtet die Freiheit und die Freiheit vernichtet die Gleichheit. Wenn alle Menschen als identisch angesehen und infolgedessen denselben Rechten, Pflichten und Lebensformen unterworfen werden, so sind sie nicht mehr frei; und wenn alle sich ungehemmt nach ihren verschiedenen Individualitäten entfalten dürfen, so sind sie nicht mehr gleich.

Gleichwohl bleibt der Französischen Revolution das große Verdienst, die Verbindung zwischen Staatsgewalt und Untertan, Regierung und Regierten sozusagen labiler gemacht zu haben. Die Vereinigung der beiden Partner, äußerlich noch dieselbe, ist durch sie viel lockerer geworden, viel leichter geneigt zu zerfallen; es genügte seitdem oft ein geringer Anstoß, um eine allgemeine Dissoziation hervorzurufen: die europäischen Staaten sind gleichsam ungesättigte Verbindungen geworden, von der Art gewisser Kohlenwasserstoffreihen, die eine »freie Radikalhand« besitzen. Diese freie Radikalhand bildet seitdem eine latente Bedrohung des Staatsgefüges, jederzeit bereit, neue Affinitäten einzugehen und dadurch den Charakter der bestehenden Bindung zu verändern oder zu zerstören.

Die Nation der Extreme

»Die französische Nation«, sagt Goethe, »ist eine Nation der Extreme; in nichts kennt sie Maß. Es ist die einzige Nation in der Welt, in deren Geschichte wir das Gemetzel der Sankt Bartholomäusnacht und das Fest der Vernunft finden; die Willkür Ludwigs des Vierzehnten und die Zügellosigkeit der Sansculotten.« Die beiden Extreme, zwischen denen die Seele Frankreichs hin und her geschleudert wird, heißen Pedanterie und Narrheit, und beide wurzeln in einundderselben Grundeigenschaft. Wollte man nämlich das französische Wesen auf einen kurzen und wohl auch verkürzten Ausdruck bringen, so könnte man sagen: es besteht in einem auffallenden Mangel an Sinn für Realität.

Pedanterie und Narrheit sind keine Gegensätze, sondern nur verschiedene Grade desselben Verhältnisses zur Wirklichkeit. Der Pedant ist eine Art zahmer Narr und der Narr ist eine Art wildgewordener Pedant. Beiden gemeinsam ist eine einseitige, unvollständige und daher falsche Perspektive des Lebens. Sie nehmen sozusagen nur entgegengesetzte Plätze auf der Thermometerskala ein. Der Pedant befindet sich auf dem Gefrierpunkt, der Narr auf dem Siedepunkt.

Man versuche einmal, den französischen Nationalcharakter in seinen wesentlichsten Lebensäußerungen vorurteilslos zu betrachten, und man wird finden, daß ein durchgehender Grundzug der Franzosen die Pedanterie ist, die sich freilich in den höchsten Schöpfungen des Volksgeists zur bewunderungswürdigsten Beherrschung der Form erhebt. Sie haben sich eine Sprache geschaffen, die ganz vorzüglich zum Reden und Schreiben geeignet ist; es ist eine Sprache, in der es unmöglich ist, sich schlecht auszudrücken: man hat nur die Wahl, ein korrektes und schönes Französisch zu schreiben oder ein gänzlich unverständliches, lächerliches und absurdes, also gar kein Französisch. Sie haben die klassische Tragödie hervorgebracht, in der es unmöglich ist, unklar, unübersichtlich, verworren zu dichten. Sie besitzen eine philosophische Terminologie, in der es unmöglich ist, unlogisch und dunkel zu denken. Sie sind die Erfinder einer bis ins kleinste zentralisierenden Verwaltung, ohne die die Revolution in ihren sämtlichen Stadien nicht denkbar gewesen wäre; denn nur dieses System hat es ermöglicht, daß jeder, der zufällig den Haupthebel der Maschine in der Hand hatte, der unbedingte Gebieter ganz Frankreichs war, so daß ein Land von fünfundzwanzig Millionen Bewohnern zuerst von einer völlig untätigen und regierungsunfähigen aristokratischen Oligarchie, dann von einer Handvoll hohlköpfiger juristischer Doktrinäre, gleich darauf von einer Rotte hysterischer Banditen, dann von einem Klüngel diebischer Geldmänner und schließlich von dem Gehirn und Willen eines genialen Konquistadors beherrscht wurde. Und auch in ihrer größten Zeit, unter Ludwig dem Vierzehnten, als sie nicht bloß die politische, sondern auch die geistige Vormacht Europas waren, haben sie nur pedantische Schöpfungen monumentalen Stils hervorgebracht: abgezirkelte Hofpoeme, Hofgemälde und Hofphilosophien. Methodik, Programmatik, Mathematik, System, Regel, clarté: das war immer die Hauptstärke des Franzosen, sehr im Gegensatz zum Deutschen, dessen Wesen das Brauende, Schweifende, Tastende, Zentrifugale ist. Aber eben dies ist der Grund seiner steten Entwicklungs- und Regenerationsfähigkeit: der Deutsche wird nie fertig; das ist seine Größe.

Was wird nun geschehen, wenn die Pedanterie durch irgendwelche Umstände plötzlich auf die Wirklichkeit gestoßen und genötigt wird, sich mit ihr praktisch auseinanderzusetzen? Wird sie an der Realität, der Erfahrung ihr verkehrtes Weltbild korrigieren, ihre falschen Sentiments, ihre schiefen Begriffe, ihre unperspektivischen Bilder? Nein: vor die Wahl gestellt, wird sie lieber die Wirklichkeit vergewaltigen. Sie sagt sich nicht: ich habe ein falsches Thermometer, sie ändert nur den Thermometerstand. Auf diesem Punkt angelangt, schlägt der harmlose Pedant in den gefährlichen Narren um.

So geschah es, daß dieser herrlich-schreckliche Leviathan in die Welt sprang, dieses wundervoll-grauenvolle Ungetüm, das sechs Jahre lang seinen blutigen Drachenleib durch das blühendste Land Europas wälzte, mit gierigen Pranken Tausende menschlicher Leiber und Wohnstätten zertrümmernd.

Das Auflösungsschema

Wir müssen aber doch die genauere Beantwortung der Frage versuchen, wie denn eigentlich eine solche Revolution entsteht? An sich betrachtet, gibt es ja kaum ein seltsameres, ja widersinnigeres Phänomen. Denn nichts ist im Menschen, auch im scheinbar »aufgeklärtesten«, fester verwurzelt als der Glaube an irgendwelche Autoritäten. Der Atheist hält eine Kirche für ein bloßes Klubhaus; aber würde es ihm jemals einfallen, dort, auch wenn es nicht verboten wäre, seine Zigarre zu rauchen? Und wenn einer von uns heute im Walde plötzlich dem Kaiser Wilhelm begegnete, würde er nicht ganz unwillkürlich tief den Hut ziehen? Unsere Erfahrung, unsere Logik, unsere Bildung kann sich über eine Menge »Vorurteile« hinwegsetzen, aber unsere Nerven, unsere Sinne, unsere Muskeln werden dennoch an den alten Vorstellungen festhalten: die Neuigkeit, möchte man sagen, hat sich noch nicht vom Gehirn zu den übrigen Körperteilen herumgesprochen; und es dauert oft Generationen, bis sie sich herumspricht. Wir glauben mit unserem Verstand von einer Menge von Dingen, daß wir sie nicht glauben, aber unser Organismus glaubt noch an sie; und er ist allemal der Stärkere. Wenn sich dies aber schon in den sogenannten denkenden Kreisen tagtäglich beobachten läßt, um wieviel mehr muß es beim Volk, das ganz in seinen Instinkten lebt, der Fall sein! Und in Frankreich lagen die Dinge noch ganz besonders ungünstig für eine so radikale Meinungsänderung, wie sie dort plötzlich gegen Ende des Jahrhunderts eintrat. Nie ist eine Monarchie anerkannter gewesen als die französische, nie das Recht des Herrschers, unumschränkt Millionen zu befehlen, unangezweifelter gewesen als in Frankreich. Kein römischer Imperator und ägyptischer Gottkönig, kein Perserschah und Tatarenkhan ist jemals von seiner absoluten Souveränität so überzeugt gewesen wie der »König der Franzosen«. Diese Überzeugung war jedoch kein Atavismus, keine leere Hofkonvention, kein Größenwahn, sondern wurzelte in den Überzeugungen des ganzen Volkes. Der König mochte seine Mängel, seine Leidenschaften, selbst seine Laster haben, er mochte Fehler auf Fehler häufen: man war dafür keineswegs blind, aber dies hinderte niemand, in ihm gleichwohl ein höheres Wesen zu erblicken, ein exterritoriales, ja extramundanes Geschöpf jenseits der menschlichen Gesetze und Urteilsmöglichkeiten, einen strahlenden Weltkörper, dessen Bahnen nach irdischen Maßstäben zu berechnen einfach eine Torheit wäre. Der Roi soleil glich vor allem darin der Sonne, daß seine Existenz ebenso selbstverständlich war: seine Flecken hätten nie jemand auf den Gedanken gebracht, ihn deshalb für entbehrlich oder gar für abschaffenswert zu halten. Und der bravste aller dieser Könige plötzlich unter begeisterter Zustimmung der Nation auf dem Schafott und jeder ein Hochverräter, der ihn anders nennt als Bürger Capet? Der unbeteiligte Zuschauer wird ziemlich stark zu der Ansicht gedrängt, daß das ruhmreiche französische Volk entweder vor oder nach der Französischen Revolution irrsinnig gewesen sein muß: entweder damals, als es einen guten dicken Mitbürger von mäßigen Geistesgaben wie ein göttliches Wesen verehrte, oder damals, als es die reinsten, tiefsten und hochherzigsten Gefühle seiner Vorfahren vergaß und in einem Anfall von Umnachtung sich an seinem Heiligsten vergriff.

Das merkwürdige völkergeschichtliche Phänomen »Revolution« ist uns nun keineswegs etwa dadurch besonders klar geworden, daß wir es selber mitgemacht haben. Dies erscheint auf den ersten Blick befremdlich; ist aber im Grunde nur zu natürlich. Der Zeitgenosse sieht ein historisches Ereignis nie im Ganzen, immer nur in Stücken; er empfängt den Roman in lauter willkürlich abgeteilten Lieferungen, die unregelmäßig erscheinen und nicht selten ganz ausbleiben. Dazu kommt noch, daß die Entfernung bei der Zeitvorstellung eine andere Bedeutung hat als bei der Raumvorstellung, nämlich die umgekehrte: sie verkleinert nicht, sondern wirkt im Gegenteil wie ein Vergrößerungsglas. Hierdurch gewinnen Bewegungen, die wir aus einer gewissen Zeitdistanz betrachten, eine Deutlichkeit, die sie für die Mitlebenden nicht hatten; sie erscheinen uns allerdings auch weit schneller, als sie in Wirklichkeit waren, aber auch dies erleichtert ihr Verständnis. Wenn wir einen Wassertropfen durchs Mikroskop beobachten, so sehen wir darin eine Menge Tierchen mit erstaunlicher Geschwindigkeit umherschießen. Tatsächlich sind diese Geschöpfe gar nicht so agil, wie es den Anschein hat, sie bewegen sich sogar sehr langsam und träge. Aber da das Glas sie einige hundertmal vergrößert, so erscheinen auch ihre Bewegungen einige hundertmal schneller. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichtsbetrachtung: je weiter eine Entwicklung zurückliegt, desto geschwinder scheint sie im Zeitmikroskop, das wir stets gratis mit uns führen, sich abzurollen. Die ägyptische Geschichte zum Beispiel kommt uns keineswegs länger vor als die preußische: wir haben den Eindruck von ein paar Herrscherreihen, die mit wechselndem Glück ihr Ländchen regierten. Und dennoch umfaßte sie mindestens das Zehnfache. Aber eben dadurch wird sie für uns zu einer handlichen, lichtvollen, leicht überschaubaren Sache. Hierin liegt der wahre Grund, warum wir von der Vergangenheit mehr verstehen als von der Gegenwart, nicht etwa darin, daß wir, wie so oft behauptet wird, in der Lage sind, eine geistige Distanz zu ihr zu nehmen und sie daher objektiver zu beurteilen; denn daß sie uns seelisch ferner steht, wäre ja eher ein Grund für uns, sie nicht zu verstehen.

Wenn wir der gegenwärtigen europäischen Revolution ratlos gegenüberstehen, so können wir uns wenigstens damit trösten, daß die französische von den Zeitgenossen ebenfalls nicht kapiert wurde, auch von den gescheitesten nicht. Keiner hörte ihr Heranrollen, keiner spürte ihr unterirdisches Zittern. Friedrich der Große starb ganz kurz vor ihrem Ausbruch und sah sie nicht. Der berühmte Reisende Arthur Young, der eine Reihe der vorzüglichsten Beobachtungen über Frankreich und die Franzosen niedergelegt hat, verläßt Paris kurze Zeit nach der Einberufung der Reichsstände, spricht aber die Vermutung aus, daß die bevorstehende Umwälzung die Vorrechte des Adels und der Geistlichkeit vermehren werde; Wieland gibt im »Teutschen Merkur« der Hoffnung Ausdruck, daß etwa am Schluß des neunzehnten Jahrhunderts manches zur Wirklichkeit gediehen sein werde, »was am Schluß des achtzehnten mit gelindestem Namen als Träume eines radotierenden Weltbürgers bezeichnet werden könnte«. Wir haben gehört, wie idyllisch sich Voltaire die erhoffte Reform aller Zustände vorstellte. Auch Rousseau dachte keineswegs an gewaltsamen Umsturz.

Bei der Beantwortung unserer Frage müssen wir, glaube ich, vor allem folgenden Grundsatz festhalten, der sich fast zu einem Axiom für jegliche Geschichtsforschung erheben läßt: wann ein bedeutendes historisches Ereignis begonnen hat, läßt sich fast niemals mit voller Genauigkeit feststellen; hingegen weiß man immer ziemlich sicher, wann es nicht begonnen hat: zu dem Zeitpunkt nämlich, den die Geschichte dafür ansetzt. So ist es zum Beispiel vollkommen ausgemacht, daß der Dreißigjährige Krieg nicht 1618, der Weltkrieg nicht 1914, die Reformation nicht 1517 ihren Anfang genommen hat: der Fenstersturz zu Prag, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers, der Thesenanschlag in Wittenberg hatten in diesen drei Fällen ungefähr dieselbe Bedeutung, die die Lösung des Sperrhakens für eine arretierte Maschine, ein heftiger Stoß für ein Faß Nitroglyzerin, die Öffnung des Ventils für eine Lokomotive hat. Ein Eisenbahnzug erhält sich stundenlang in schnellster Fahrt, bringt große Lasten an Menschen und Gütern in ganz andere, weit entfernte Orte. Die wahre Ursache dieser bedeutenden Kraftleistung kann unmöglich darin zu suchen sein, daß aus einer Öffnung ein wenig Dampf ausströmt. Gleichwohl besteht aber ein ganz eigentümlicher Kausalzusammenhang: die Öffnung des Ventils ist die einzige Möglichkeit, alle die komplizierten und weitreichenden Bewegungen, die nun folgen, in Gang zu bringen, mit anderen Worten: die Lokomotive hat eine ganz bestimmte Struktur und diese Struktur bewirkt, daß der Mechanismus der Lokomotive nur auf eine ganz bestimmte Form der Auslösung reagiert. Und ebenso haben Revolutionen auch ihr fast immer gleichbleibendes, nur wenig variierendes Auslösungsschema.

Dieses Schema ist ziemlich einfach, nämlich zweigliedrig: eine Revolution entsteht, wenn das Militär versagt, und das Militär versagt, wenn das Volk nichts zu essen hat. Dies ist, ohne alle Ideologie gesprochen, die unmittelbare Ursache fast aller Revolutionen.

Demokratie und Freiheit

In den Schulbüchern wird allerdings zumeist unstillbarer Freiheitsdurst des Volkes als Ursache der großen Umwälzungen angegeben. Dies ist aber sicher von allen falschen Gründen, die man wählen könnte, der falscheste. Das Volk will niemals die Freiheit, erstens, weil es gar keinen Begriff von ihr hat, und zweitens, weil es mit ihr gar nichts anzufangen wüßte. Die Freiheit hat nämlich nur für zwei Klassen von Menschen einen Wert: für die sogenannten privilegierten Stände und für den Philosophen. Die ersteren haben sich das Talent, Freiheit angenehm oder nutzbringend zu verwenden, durch ein generationenlanges Training mühsam erworben; der letztere hingegen hat die Freiheit immer und überall, in jeder Lebenslage und unter jeder Regierungsform. Die große Majorität der Menschheit jedoch, die weder durch Züchtung noch durch Philosophie in den Stand gesetzt ist, frei zu sein, würde der trostlosesten Langeweile verfallen, wenn sie nicht durch tausend Zwangsmaßregeln von sich selbst und ihrer inneren Leere abgelenkt würde. Man gebe einem Hafenarbeiter, einem Kommis, einem Turnlehrer oder einem Briefträger die volle Verfügung über seine Zeit und seine Person, und er wird trübsinnig oder zum Schurken werden. Und was noch viel wichtiger ist: man vergißt zumeist, daß die sogenannte freiheitlichere Regierungsform fast immer das einzelne Individuum unfreier macht. Unter dem Absolutismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts war der Bürger zu nahezu vollständiger Nullität verurteilt, hingegen spielte sich sein Privatleben in einer Behaglichkeit, Friedlichkeit und Unbehelligtheit ab, von der wir uns heute kaum mehr einen Begriff machen können; unter der konstitutionellen Monarchie des neunzehnten Jahrhunderts bekam er politische Rechte, aber zugleich die allgemeine Wehrpflicht: diese ist aber ganz zweifellos eine weit größere Sklaverei als irgendein Despotismus der früheren Zeit. Denn es gibt wohl kaum ein empfindlicheres Attentat auf die persönliche Freiheit als die Zumutung, sich drei Jahre lang den Befehlen von Personen zu fügen, die mit dem Verfügungsrecht und den Disziplinarmitteln von Kerkermeistern ausgerüstet sind, und auch während der folgenden Jahre immer wieder einige Wochen lang eine ungewohnte und aufreibende Zwangsarbeit zu leisten. Aber auch die konstitutionelle Monarchie pflegt im Laufe der Dinge noch freieren Staatsformen Platz zu machen: der Tyrann wird völlig abgeschafft und das Volk herrscht souverän. Dies hat jedoch fast immer zur Folge, daß das Leben, das bisher nur während der Militärzeit Zuchthauscharakter trug, nun in seiner Gänze zwangsläufig wird. Eine freie Volksregierung mischt sich schlechterdings in alles: sie bemißt die Zahl der Quadratmeter, die der Mensch bewohnen, und die Zahl der Bohnenkörner, die er verkochen darf; sie kontrolliert seinen Lichtverbrauch, seinen Stiefelbedarf, seine Fortbewegungsart und, wenn irgend möglich, auch seine Fortpflanzung, sie hat das eingestandene oder uneingestandene Ideal, aus der menschlichen Gesellschaft ein Internat zu machen: den schlagendsten Beweis liefert gerade die Jakobinerherrschaft. Keine Staatsform kann so viele Torheiten und Gewaltsamkeiten begehen wie die demokratische, denn nur sie hat die organische Überzeugung von ihrer Unfehlbarkeit, Heiligkeit und unbedingten Legitimität. Selbst der absoluteste Monarchismus hat hunderterlei Hemmungen: im persönlichen Verantwortlichkeitsbewußtsein des Regenten (das unter der Demokratie immer auf den unfaßbaren »Volkswillen« abgeschoben wird), in der Hofclique, der Kirche, den Ratgebern und Ministern, der »Nebenregierung«, die sich unvermeidlich um jeden Potentaten ankristallisiert; zudem wirkt in jedem Einzelherrscher die Furcht vor der theoretisch stets möglichen Absetzung. Aber die Regierung des »souveränen Volks« ist durch einen perfiden Zirkelschluß vor jeder Selbstbeschränkung geschützt, denn sie ist im Recht, weil sie der Kollektivwille ist, und sie ist der Kollektivwille, weil sie im Recht ist.

Indes: wenn das Volk auch sehr wenig Empfindung für Freiheit hat, so besitzt es doch sehr viel Empfindung für Unrecht. Es genügt daher, wie wir ergänzend hinzufügen müssen, für den Ausbruch einer Revolution keineswegs, daß es nichts zu essen hat, es muß auch die Empfindung haben, daß es anders sein könnte. Kurz: zu jeder Revolution gehört, um sie komplett zu machen, ein Gedanke oder vielmehr, da die Masse ja eigentliche Gedanken nicht zu fassen vermag, das, was Weininger eine »Henide« genannt hat: das dumpfe, noch unartikulierte, mehr ahnungsmäßige Gefühl von einem Sachverhalt, das (etwa wie eine breite Borte oder Franse) halb unbewußt gewisse Eindrücke begleitet. Im Volk verbreitet sich also allemal vor einer Revolution eine Art Gedankenfranse von einer großen Ungerechtigkeit, einer Mißproportion und generellen Ungleichung in der Verteilung der gesellschaftlichen Lasten und Rechte: diese Welle kann jahre-, ja jahrhundertelang unterirdisch bleiben, aber kein Politiker soll darum glauben, sie werde nicht eines Tages dennoch an die Oberfläche brechen! Auch im geistigen und moralischen Leben gibt es so etwas wie eine Erhaltung der Energie: nichts geht verloren in unserem sittlichen Kosmos und kleine, fast unsichtbare Unrechtmäßigkeiten summieren sich gleich den mikroskopischen Kieselschalen zu Ungeheuern Riffen und Bergen, die das Antlitz der Erde verändern. Die Bourbonen waren ganz allmählich aus glänzenden Heldenkönigen glänzende Nichtstuer geworden, indem sie auf Kosten von Millionen gedrückter, freudloser, unterernährter Arbeitstiere aus ihrem Hof ein vergoldetes gläsernes Treibhaus gemacht hatten, das lediglich der Kultur einiger nutzloser, verkünstelter Luxuspflanzen diente. Das Volk schien das ganz in der Ordnung zu finden, aber eines Tages gab es einen Ungeheuern Ruck und das kostbare Glashaus zersplitterte in tausend Stücke. Die Habsburger hatten mitten in Europa jahrhundertelang eine Herrschaft aufrechterhalten, die an Willkür, Egoismus und Beschränktheit keinerlei Vorbild in der bisherigen Geschichte hatte und auf dem ebenso einfachen wie bequemen Grundsatz aufgebaut war, daß die einzige göttliche Bestimmung der Völker darin bestehe, regiert zu werden. Jahrhundertelang billigten die Völker scheinbar diesen Grundsatz, bis sie eines Tages einstimmig erklärten, er sei vollkommen falsch und unerträglich und kein göttlicher, sondern ein ganz infernalischer Grundsatz. Und so kann man denn sehr wohl sagen: eine jede Revolution hat ihre Geburtsstunde in dem Augenblick, wo irgendein öffentliches Unrecht in irgendeiner menschlichen Seele sich in Erkenntnis verwandelt; dieser erste Lichtstrahl verbreitet sich mit derselben Sicherheit und Unwiderstehlichkeit wie jedes andere irdische Licht, wenn auch mit viel geringerer Geschwindigkeit. Und so trägt denn auch jede Revolution in sich den Keim zur Gegenrevolution, wenn sie von der Bahn der Gerechtigkeit abirrt; das tut sie aber immer. Erst in dem Augenblick, wo die Menschen einsehen werden, daß das beste Geschäft, das sie auf Erden machen können, die Achtung vor den Interessen aller anderen Menschen ist: auf allen Lebensgebieten, öffentlichen wie privaten, geistigen wie praktischen, erst dann wird so etwas wie eine stabile Gesellschaftsform möglich sein. Ob diese dann nach rechts oder nach links orientiert, absolutistisch oder spartakistisch ist, wird ungefähr ebenso wichtig sein wie die Kopfbedeckungen und Eßbestecke, deren sich die Menschen unter ihr bedienen werden.

Die Zauberlaterne

Die Französische Revolution hat nun noch neben vielen einprägsamen Eigentümlichkeiten eine ganz besonders auffallende. Eine Revolution ist ja zumeist etwas sinnlos Zerstörendes, wild Animalisches, schaudererregend Häßliches: tote Pferde, zerschossene Häuser, geplünderte Läden, in die Luft gesprengte Brücken, verkohlte und zerfetzte Menschenleiber. Die Französische Revolution aber erscheint uns, obwohl grauenhaft, doch nicht häßlich: sie hat für uns etwas dämonisch Pittoreskes. Wodurch wird nun eine Revolution aus einem wütenden Chaos von Gier und Wahnwitz, das sie in ihrer leiblichen Erscheinung allemal ist, zu einem ästhetischen Phänomen?

Dies hat, glauben wir, zwei Gründe. Zunächst einen allgemeinen. Alle Ereignisse, sobald sie einmal historisch geworden, das heißt: in eine entsprechende Entfernung gerückt sind, werden von uns bis zu einem gewissen Grade als künstlerische Erscheinungen gewertet. Nicht bloß, weil wir heute mit jener Uninteressiertheit auf sie bücken, die angeblich eine der Hauptvoraussetzungen jedes artistischen Genusses ist. Sondern wegen des verklärenden Charakters, den jede Distanz den Dingen verleiht. So paradox es im ersten Moment klingen mag: je ferner wir einer Sache stehen, desto tiefer wirkt sie auf uns, desto ästhetischer mutet sie uns an. Eine Pflanze erscheint uns poetischer als ein Tier, ein Kind poetischer als ein Erwachsener, ein Toter poetischer als ein Lebender. Und dasselbe gilt natürlich von der Vergangenheit. Schon unsere eigene Vergangenheit hat einen eigentümlich halbromantischen Charakter: wir denken an vergangene Erlebnisse, selbst wenn sie peinlich waren, immer mit einem gewissen Neid und finden, das Leben sei damals schöner gewesen. Das Erlebnis hat eben immer eine viel geringere Realität als die Fiktion. Die Ereignisse, die uns die Geschichte überliefert, sind berichtet, dargestellt, gedacht, sie sind in der Phantasie; jene, die wir als Zeitgenossen miterleben, sind bloß wirklich. Die ersteren kommen zu uns im Gewande der Dichtung und haben daher jene aromatische, berauschende, verwirrende Wirkung, die die Poesie immer und die Wirklichkeit nie hat. Wenn wir einen Vorgang miterleben, so schiebt sich zwischen die tiefen seelischen Eindrücke, die er machen könnte, immer die Fülle der alltäglichen Details und sprengt die Wirkung. Die Nähe ist zu groß, das Körperliche ist zu aufdringlich, wir können die Sache gewissermaßen anfassen. Die Illusion, die geheimnisvolle Fernwirkung ist zerstört. Das, was war, wirkt auf uns allemal tiefer als das, was ist.

Dazu kommt aber noch eine Besonderheit der Französischen Revolution: sie besteht ganz einfach darin, daß diese Revolution französisch war. Der Franzose besitzt nämlich das paradoxe und mysteriöse Talent, aus allem: Gott, Liebe, Freiheit, Ruhm, Alltag ein Kolportagedrama, einen Saisonroman zu machen; er weiß allem ein gewisses ästhetisches Arrangement und eine gute wirkungsvolle Drapierung zu geben. Die imposante Ferozität der Instinkte, die damals frei wurden, bot übrigens an sich schon dem in Bücherstaub und Tabaksqualm grau dahindämmernden Europa ein blendendes Schauspiel: es wurde aus seinen trägen Nachmittagsempfindungen aufgeschreckt durch diese leuchtende Flammengarbe, die mit ihrem prachtvollen Farbenspiel den Himmel rötete.

In seinem Bericht über die Konventssitzung vom 16. Januar 1793, die über den Tod des Königs abstimmte, macht Mercier die Bemerkung: »tout est optique«: ein merkwürdig aufschlußreicher Satz. Es scheint, daß diese ganze Französische Revolution auf viele wie ein gespenstisches Figurentheater, wie die Vorgänge in einer Zauberlaterne gewirkt hat. Diese geradezu magische Atmosphäre hat niemand packender und suggestiver nachgestaltet als Carlyle in seiner »French Revolution«, in der das seltsam Schattenartige, unheimlich Huschende, gewissermaßen Zweidimensionale und dabei Alpdruckhafte und Traumähnliche aller Ereignisse zu lebendigster Wirkung gelangt.

Dazu kommt noch die wunderbare lateinische Formvollendung, in der sich alles abspielte. Die öffentlichen Äußerungen dieser wilden Rotte von Mördern und Irrsinnigen, ihre Reden, Pamphlete, Manifeste waren immer noch Kunstwerke, sie könnten ohne Änderung, höchstens mit ein paar Strichen, in jedes Theaterstück hinübergenommen werden. Zum Beispiel, wie Robespierre die Unverfrorenheit hat, dem Konvent im Gefühl seiner Allmacht zuzurufen: »Wer wagt mich anzuklagen?« und Louvet sich erhebt, langsam vier Schritte vortritt und, ihn scharf anblickend, erwidert: »Ich! Ich, Robespierre, klage dich an!« Oder Danton, der vor seiner Hinrichtung ausruft: »O mein geliebtes Weib, also muß ich dich allein zurücklassen!«, sich aber sofort unterbricht: »Pfui, Danton! Keine Schwäche, Danton!« Oder die berühmte Anklage von Camille Desmoulins gegen die Jakobinerherrschaft im »Vieux Cordelier«, die in ihrer prachtvollen Steigerung ein Paradestück für Kainz gewesen wäre (er gibt sich den Anschein, als ob er von den Zuständen unter den römischen Kaisern redete, meint aber natürlich die Gegenwart):

»Zu jener Zeit wurden Worte zu Staatsverbrechen; von da bedurfte es nur noch eines Schrittes, um bloße Seufzer und Blicke in Verbrechen zu verwandeln. Bald wurde es für den Cremutius Cordus zu einem Verbrechen der Gegenrevolution, daß er Brutus und Cassius die letzten Römer genannt hatte, für den Mamercus Scaurus zu einem Verbrechen der Gegenrevolution, daß er tragische Szenen gedichtet hatte, denen man einen Doppelsinn beilegen konnte, für den Torquatus Silanus zu einem Verbrechen der Gegenrevolution, daß er Aufwand machte, für den Konsul Cassius Geminus, daß er über das Unglück der Zeit klagte, denn das hieß die Regierung anklagen, für einen Abkömmling des Cassius, daß er ein Bildnis seines Urgroßvaters im Hause hatte, für die Witwe des Gellius Furca, daß sie die Hinrichtung ihres Gatten beweint hatte.

Alles erregte Argwohn beim Tyrannen. Genoß ein Bürger die Volksgunst? Er war ein Nebenbuhler des Fürsten. Verdächtig. Mied er dagegen die Volksgunst und blieb am Kamine sitzen? Dieses eingezogene Leben zeigte, daß er politisch indifferent war. Verdächtig. War einer reich? Das Volk konnte durch seine Spenden verführt werden. Verdächtig. War einer arm? Niemand ist so unternehmend wie der Besitzlose. Verdächtig. War einer von düsterem, melancholischem Wesen? Es betrübte ihn, daß es um die öffentlichen Angelegenheiten gut stand. Verdächtig. Machte sich einer gute Tage und verdarb sich den Magen? Es geschah aus Freude, weil der Fürst sich nicht wohlbefand. Verdächtig. War einer streng und tugendhaft in seinem Lebenswandel? Er wollte den Hof herabsetzen. Verdächtig. War einer Philosoph, Redner, Dichter? Er wollte einen größeren Ruf haben als die Regierung. Verdächtig. War einer siegreich als Feldherr? Er war nur um so gefährlicher durch sein Talent. Verdächtig, verdächtig, verdächtig.«

 

Vor dem Revolutionstribunal um Name, Alter und Adresse befragt, antwortet Danton: »Mein Alter ist fünfunddreißig, mein Name befindet sich im Pantheon der Weltgeschichte und meine Wohnung wird bald das Nichts sein.« Camilie Desmoulins antwortet: »Ich bin so alt wie der gute Sansculotte Jesus, für Revolutionäre ein gefährliches Alter.« Tatsächlich war er schon vierunddreißig, aber er retuschierte ein bißchen, dem Effekt zuliebe. Als sein Mitverurteilter Herault-Sechelles ihn auf dem Schafott umarmen will, sagt Danton, indem er auf den Sack weist, in dem sich die Köpfe der Guillotinierten befinden: »Dort, mein Freund, werden unsere Häupter sich küssen.« Das sind lauter sichere Aktschlüsse und scenes a faire, wie sie Dumas und Sardou in ihren besten Stunden kaum eingefallen sind.

Die tragische Operette

Dazwischen spielt viel rührselige Melodramatik. Der Maler David erklärt im Konvent: »Unter einer schönen Regierung gebiert die Frau ohne Schmerzen.« Der Konventskommissär Ferry apostrophiert in einem Zirkular die Bauern des ihm unterstellten Departements: »Ihr edeln Naturfreunde!« und schließt mit der Aufforderung: »Die guten Bürger werden hiermit eingeladen, dem ländlichen Feste der Ernte den sentimentalen Charakter zu verleihen, der ihm gebührt.« Die erste Nummer des »Mercure de France«, die nach den Septembermorden erschien, trug an ihrer Spitze eine Ode: »An die Manen meines Kanarienvogels.«

Überhaupt: wenn man diese ewigen Freiheitsfeste und Umzüge größten Stils, diesen verschwenderischen Aufwand an geschmückter und lärmender Komparserie, an Versatzstücken, symbolischen Requisiten, Gips, Pappendeckel und Blech beobachtet, so scheint es fast, als sei die Revolution vom französischen Volk als eine Art tragische Operette konzipiert worden. Dies streift oft hart an die Grenze des Kitschigen. Eines Tages betritt die Nationalversammlung ein hundertzwanzigjähriger Landmann und gibt unter allgemeiner Rührung seinen republikanischen Gefühlen Ausdruck. Ein andermal erscheint Anacharsis Cloots, gefolgt von »Vertretern des Menschengeschlechts«, langbärtigen Chaldäern, bezopften Chinesen, gebräunten Äthiopiern, Türken, Tataren, Griechen, Mesopotamiern, die der Revolution ihren Gruß entbieten: in Wahrheit lauter guten Parisern in geschickter Verkleidung, geschminkten Statisten der Menschheitsverbrüderung. Am 10. August 1793, dem ersten Jahrestag der neuen Freiheit, findet ein allgemeines Fest statt, für das David eine ganze Kollektion von Riesenattrappen entworfen hat: die »Freiheit« mit kolossaler phrygischer Mütze, das »Volk«, einen enormen Herkules mit geschwungener Keule, die »Natur«, eine überlebensgroße Frauengestalt, aus deren Brüsten Wasser quillt. Gleichzeitig läßt man dreitausend Vögel in alle Windrichtungen fliegen, mit Zetteln um den Hals: »Wir sind frei, ahmt uns nach!« Selbst in ihren grauenhaftesten Handlungen behält die Revolution noch immer etwas vom französischen Esprit. Männer und Frauen werden zusammengebunden und ins Wasser geworfen, und das heißt »mariage républicain«, Kähne mit »abtrünnigen Geistlichen« werden versenkt, und das nennt man »vertikale Deportation«, ja schon ein Wort wie »septembriser« hat etwas Schlagendes, Prägnantes, Szientifisches. Es zeigt sich in allen diesen Dingen die durch jahrhundertelange Geistesschulung dem ganzen Volksbewußtsein anerzogene Kraft des klaren, gliedernden Gestaltens, des Wortes, das fast automatisch sich immer an die rechte Stelle drängt, der durchgebildeten künstlerischen Optik.

Daneben geht, fort comme la mort, das Leben unbefangen weiter und der esprit gaulois läßt sich durch nichts seine gute Laune verderben. Während der Septembermorde spielten in Paris dreiundzwanzig Theater. Auch bei jener Nachtsitzung, in der über das Leben des Königs entschieden wird, geht es zu wie bei einer Theatervorstellung: »die Saalwärter in der Gegend des Berges«, sagt Mercier, »sind wie Logenwärter in der Oper«; die Herren traktieren die Damen mit Eis und Konfekt, diese haben Karte und Nadel bei sich und merken sich jedes Ja und Nein an; in allen benachbarten Kaffeehäusern sind Wetten im Gange. Der Herzog Philipp von Orléans, genannt » Égalité«, Urenkel des Regenten, Vater des späteren »Bürgerkönigs« Louis Philipp, vielleicht der größte Schurke, den die Revolutionszeit hervorgebracht hat, verzehrt vor seiner Hinrichtung ein Frühstück von zwei Dutzend Austern, zwei Kotelettes und einer Flasche Claret und begibt sich in sorgfältig nach der letzten Mode gewählter Toilette: grünem Frack, heller Piquéweste, gelber Hirschlederhose, neuen Stulpenstiefeln aufs Schafott. Nicht wenige Damen gebrauchten noch auf dem Wege zur Guillotine Schminkdose und Puderquaste.

Kurz: ohne irgendwelche moralische oder auch nur politische Grundsätze betrachtet, stellt die grande révolution nichts anderes dar als den stärksten und vollkommensten Ausdruck, den das französische Volk in seiner ganzen Geschichte gefunden hat, jenes Volk, das so voll von Widersprüchen ist wie kaum ein zweites: so bejahend in seiner leidenschaftlichen Lebensfreude und so zerstörerisch in seinem dämonischen Nihilismus, so unveränderlich in seinem Grundcharakter und so unberechenbar in seinen einzelnen Lebensäußerungen, zelotisch und urban, heroisch und frivol, nüchtern und exaltiert, romantisch bis zum Unsinn und materialistisch bis zum Stumpfsinn; ein Volk, dem man alles erdenkliche Schlechte nachsagen kann: daß es albern, roh, beschränkt, eitel, boshaft, habgierig, ja oft teuflisch ist; nur eines nicht: daß es jemals langweilig war.

Geschichte der Französischen Revolution

Wir wollen uns jetzt in Kürze Gang und Hauptereignisse der Französischen Revolution ins Gedächtnis zurückrufen, um daran den Charakter dieser Bewegung etwas näher kennenzulernen. Ihre nächste Veranlassung war das ungeheure Defizit und der drohende Staatsbankerott. Die einzig mögliche Rettung wäre die Durchführung des Reformprogramms gewesen, das Turgot, ebenso bedeutend als Finanzminister wie als Nationalökonom, dem König vorgeschlagen hatte: Freiheit des Getreidehandels, Aufhebung der Zünfte und Innungen, gleichmäßige Verteilung der Bodensteuer auf alle Grundstücke. Aber er mußte seine Entlassung nehmen und verabschiedete sich vom König mit der Prophezeiung: »Das Schicksal der Könige, die von Höflingen beherrscht werden, ist das Karls des Ersten.« Frankreich zählte beim Ausbruch der Revolution etwa fünfundzwanzig Millionen Einwohner, unter denen sich einundzwanzig Millionen von Landbau ernährten, wenn dieser Ausdruck zulässig ist. Denn da sie allein die ganze Steuerlast tragen mußten, blieb ihnen so wenig, daß die Bodenkultur fast unrentabel wurde. Dazu brachte der Winter von 1788 auf 1789 noch infolge schlechter Ernte und hoher Kälte eine außergewöhnliche Teuerung. Angesichts der gemeinsamen Not des verschwenderischen Hofs und des darbenden Volks blieb schließlich nichts anderes übrig als die Reichsstände, die seit eindreiviertel Jahrhunderten nicht mehr zusammengetreten waren, zur Beratung geeigneter Reformen nach Versailles zu berufen. Sie begannen ihre Sitzungen am 5. Mai 1789; doch schon am 17. Juni erklärten sich die Vertreter des dritten Stands auf Antrag des Abbé Sieyés als alleinige Nationalversammlung, assemblée nationale, indem sie die beiden anderen Stände bloß zum Beitritt einluden. Dem Großzeremonienmeister de Brézé, der ihnen hierauf im Namen des Königs befahl, den Saal zu räumen, erwiderte Mirabeau: »Sagen Sie Ihrem Herrn, daß wir auf Befehl des Volkes hier sind und nur der Gewalt der Bajonette weichen werden.« Drei Tage später leisteten dieselben Abgeordneten im Ballspielhaus den Schwur, sich nicht zu trennen, ehe sie dem Lande eine Verfassung gegeben hätten. Damit war die Aufhebung der unumschränkten Monarchie und der Adelsherrschaft aber erst theoretisch zum Ausdruck gelangt. Der 14. Juli brachte dann den reellen Sieg des Volkes über Königtum und Aristokratie. An diesem Tage erfolgte die Einnahme und Zerstörung der Bastille, ein tumultuarischer Akt von bloß symbolischer Bedeutung, höchst wichtig aber dadurch, daß während seines Verlaufs die Leibgarde zum Volk überging und daß er für ganz Frankreich das Signal zur Erhebung bildete. Von nun an gibt es überall Nationalgarden als Organe der militärischen und Gemeinderäte als Zentren der politischen Macht des Volkes. Am 4. August, in der »Bartholomäusnacht der Mißbräuche«, beschließt die Nationalversammlung, die sich jetzt verfassunggebende Versammlung, assemblée nationale constituante nennt, die Abschaffung sämtlicher Feudalrechte, Gleichmäßigkeit der Besteuerung und Zulassung aller Bürger zu den öffentlichen Ämtern. Wenige Wochen später werden auf Antrag Lafayettes die »Menschenrechte« erklärt: allgemeine Gleichheit, persönliche Freiheit, Sicherheit des Eigentums, Widerstand gegen Unterdrückung, Volkssouveränität. Am 6. Oktober werden König und Nationalversammlung durch einen Aufstand des Pariser Pöbels gezwungen, nach Paris zu übersiedeln. Das Jahr 1790 bringt weitere Veränderungen: Abschaffung des Adels, Einsetzung von Geschworenengerichten und, nach Mirabeaus Devise: » il faut décatholiser la France«, Einziehung der Kirchengüter und bürgerliche Verfassung der Geistlichkeit, die den Eid auf die Konstitution ablegen muß. Im April 1791 beschließt der König, ins Ausland zu fliehen, wird aber in Varennes angehalten und zurückgebracht. Am 30. September beendet die Constituante ihre Tätigkeit, um sich am 1. Oktober in die gesetzgebende Versammlung, die assemblée nationale législative zu verwandeln: ihre beiden Hauptparteien sind die konstitutionell-monarchistischen Feuillants (so genannt nach dem Kloster der Feuillants, wo sie ihre Zusammenkünfte abzuhalten pflegten) und die bürgerlich-republikanischen Girondisten (deren prominenteste Mitglieder aus der Gironde stammten); die eigentliche politische Macht besitzen aber schon jetzt die außerparlamentarischen Klubs, vor allem die Jakobiner, und die Galerien, auf denen der Pöbel die Deputierten niederschreit und durch drohende Kundgebungen terrorisiert. Im April 1792 zwingen die Girondisten den König, den Krieg an Österreich zu erklären, das bereits seit längerem eine feindselige Haltung eingenommen hatte. Am 20. Juni dringt eine lärmende Volksmenge als »Prozession der schwarzen Hosen« in die Tuilerien, zieht aber wieder ab, nachdem sie den König, der am Fenster erscheint, gezwungen hat, sich mit der roten Mütze zu bekleiden; ein junger Offizier namens Buonaparte murmelt dazu in seiner Muttersprache: » che coglione; was für ein Dummkopf!« Inzwischen hat Preußen mit Österreich eine Koalition geschlossen und der Oberbefehlshaber der vereinigten Truppen, der Herzog von Braunschweig, erläßt Ende Juli ein Manifest mit sehr unklugen Drohungen. Dieser Schritt, von dem man wußte, daß er vom König genehmigt sei, ist eine der Hauptursachen des zweiten Sturms auf die Tuilerien, der am 10. August erfolgt: die Schweizergarde, die das Schloß verteidigt, wird niedergemacht, der König suspendiert und als Gefangener in den Temple gebracht. In den darauffolgenden »Septembermorden« werden dreitausend internierte »Verdächtige« nach kurzem Verhör dem Mob ausgeliefert, der sie auf kannibalische Weise tötet. Durch diese Vorgänge sind die Feuillants ganz in den Hintergrund gedrängt worden, und im Konvent, der convention nationale, einem Parlament mit unumschränkter Vollmacht, das am 22. September an die Stelle der Legislative tritt, bilden die Girondisten die Rechte und die Mitglieder des »Bergs«, les montagnards, so genannt, weil sie die höheren Sitze einnahmen, die radikaldemokratische Linke. Die Hauptmacht ruht aber wiederum in den Händen eines außerparlamentarischen Organs, des »Wohlfahrtsausschusses«, der durch seine Befugnis, jeden Bürger in Anklagezustand zu versetzen, den Konvent in steter Furcht erhält. Inzwischen wächst die innere und äußere Bedrängnis. Schon im Herbst 1792 ist die Lebensmittelnot so groß, daß Santerre vorschlägt, jeder Bürger solle erstens zwei Tage in der Woche von Kartoffeln leben und zweitens seinen Hund hängen. Der Herzog von Braunschweig erobert die Festungen Longwy und Verdun: die Republik scheint verloren. Aber sie wird durch die Geschicklichkeit und Entschlossenheit des Generals Dumouriez gerettet, der die vier Ausgänge des Argonnerwaldes besetzt und damit Frankreich für den Feind abriegelt. Es kam, wie er an den Kriegsminister geschrieben hatte: »die Lager bei Grandpré und les Islettes sind die Thermopylen Frankreichs, aber ich -werde glücklicher sein als Leonidas.« Durch den welthistorischen Mißerfolg der Kanonade von Valmy, die an sich ein ganz unbedeutendes Treffen war, eine verheerende Ruhrepidemie, ungenügenden Proviantnachschub und andauernden Regen aus der Fassung gebracht, sehen die Alliierten sich gezwungen, den Rückzug anzutreten. Am 21. Januar 1793 wird Ludwig der Sechzehnte enthauptet. Dieses ganze Jahr hindurch ist » la terreur à l'ordre du jour«. Das Revolutionstribunal, ein außerordentlicher Gerichtshof ohne Geschworene und ohne Appellation, wütet gegen »Verdächtige« aus allen Gesellschaftsschichten. Ein royalistischer Aufstand in der Vendée wird nach dreivierteljährigem Kampfe blutig niedergeschlagen. Die Häupter der Girondisten werden am 2. Juni verhaftet und einige Monate später guillotiniert: damit ist der Sieg der Ochlokratie über den dritten Stand entschieden. Gegen Ende des Jahres beschließt der Konvent, den katholischen Gottesdienst durch den Kultus der Vernunft zu ersetzen. Dort gibt es jetzt nur noch die »Dantonisten«: die gemäßigten Radikalen, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, und die »Hébertisten«: die Ultrarevolutionären. Robespierre macht sich zum Sieger über beide, indem er zuerst die Hébertisten und zehn Tage später, am 3. April 1794 (oder vielmehr am 14. Germinal des Jahres 2, da inzwischen der style esclave dem republikanischen Kalender Platz gemacht hat) die Dantonisten aufs Schafott schickt. Die Revolution hat damit ihren Kulminationspunkt erreicht und tritt alsbald in eine rückläufige Bewegung. Robespierre wird am 27. Juli (9. Thermidor) gestürzt und am nächsten Tage hingerichtet, und im Konvent stehen sich jetzt wieder die beiden Fraktionen des Bergs als die Parteien der (radikalen) »Ausschüsse« und der (gemäßigten) »Thermidoristen« gegenüber. Am 20. Mai (1. Prairial) 1795 macht die völlige Niederlage eines Pöbelaufstands der Jakobinerherrschaft ein Ende. Die ausübende Gewalt wird einem fünfgliedrigen Direktorium übertragen, der Konvent löst sich auf. Damit ist der Mittelstand wieder ans Ruder gelangt und die »Terroristen« werden jetzt ebenso verfolgt wie vorher die »Aristokraten«: zwei gleich dehnbare Begriffe, unter die sich nach Maßgabe des Übelwollens fast jeder Bürger subsumieren läßt; nur tritt jetzt an die Stelle der Guillotine die Deportation. Inzwischen sind die Fluten der Revolution über die Grenzen Frankreichs hinausgetreten: Belgien und die Rheinlande werden erobert, geräumt und wiedererobert, Holland wird »befreit« und zur Batavischen Republik gemacht. Der Friede zu Basel im April 1795 verschafft Frankreich das linke Rheinufer. In demselben Jahre erschien Kants »philosophischer Entwurf« »Zum ewigen Frieden«, worin er die »Präliminarartikel« festsetzte, unter denen ein ewiger Völkerfriede zustande kommen soll und wird. Aber der Baseler Friedensschluß war nur der Auftakt zu einem zwanzigjährigen Weltkrieg.

Mirabeau

Die bedeutendste Persönlichkeit, die während der gemäßigten Phase der Revolution hervortrat, war der Graf Mirabeau. Mit seiner auffallend hochgewachsenen und breitschulterigen, gedunsenen und vierschrötigen Gestalt, seinem mächtigen blatternarbigen Kopf, den eine ungeheure Löwenmähne ungepuderten gelockten Haares krönte, und seinen riesigen Knöpfen und Schuhschnallen war er schon in seiner äußeren Erscheinung von einer eigentümlich befremdenden und imposanten Elefantiasis: »seine ganze Person«, sagt Madame de Staël, »war gleichsam die Verkörperung einer regel- und schrankenlosen Gewalt.« In seinem Antlitz lebten, nach den Worten Chateaubriands, Stolz, Laster und Genie. Sein Auge schleuderte Blitze, sein Mund Donnerschläge, seine Parlamentsreden waren Feuerbrände, Wolkenbrüche, Eruptionen, Schlachtensymphonien, dabei virtuos gegliedert, aufs feinste moduliert und von sparsamen, aber höchst effektvollen Gebärden begleitet. Wenn er wie ein gigantischer Felsblock im brandenden Meer der Begeisterung und Empörung stand, vermochte ihn weder Zuruf noch Widerspruch zu erschüttern. Louis Blanc sagt: »Es gab in der Nationalversammlung eine vierte Partei, diese Partei war ein Mann und dieser Mann war Mirabeau.« Er bildete jene Partei, die leider fast immer nur durch einen Mann vertreten ist: die des Könnens und Wissens, der Tüchtigkeit und Intelligenz. Auch er war kein wirkliches politisches Genie von der Art Friedrichs oder Bismarcks, Napoleons oder Cäsars, vielmehr bloß eine leidenschaftliche Naturkraft; aber wenn man die Französische Revolution so oft ein Elementarereignis genannt hat, so war er ein fruchtbares und sinnvolles und jene ein blindes, zielloses, dummes, das nur zu zerstören vermochte.

Es ist immer ein Zeichen von schöpferischer Begabung, wenn ein Mensch die Fälligkeit besitzt, Gegebenheiten zu sehen und mit ihnen zu operieren. Ein solcher Mensch war Mirabeau. Alle anderen, von den hochgelehrten Girondisten bis zum viehischen Hébert, hatten eine »Theorie«; Mirabeau aber hat keine. Er ist geistreich und praktisch und steht daher über allen Parteien. Er war nichts Bestimmtes, folgt keiner Doktrin wie die Gebildeten und keinen Schlagworten wie die Massen. Er war für die Jakobiner, als sie keinen Krieg wollten, weil er sah, daß dieser nur den Sieg der Anarchie bedeuten würde; er war gegen die Jakobiner, als sie die radikale Demokratie forderten, weil er sah, daß diese ebenfalls zur Anarchie führen müsse; er war dagegen, daß der König sich nach Paris begebe, weil er wußte, daß er sich dadurch dem Volk in gefährlicher Weise ausliefern werde, und er war dagegen, daß er sich an die Grenze begebe, weil er wußte, daß er dadurch das Volk in gefährlicher Weise reizen werde; er donnerte in einem Atem gegen die Feudalen und die Republikaner, gegen die Klubs und die Emigranten: lauter scheinbar widersprechende Tendenzen, aber in Wahrheit alle einem einzigen großen Zweck dienend: der Verhütung des rettungslosen Chaos und der Aufrichtung einer modernen zeitgemäßen Monarchie, die in der Förderung des Nationalwohlstands und der öffentlichen Ordnung ihren Inhalt und ihre Legitimation erblickt.

Er scheute sich sogar nicht, vom Hof große Geldsummen anzunehmen, und doch kann man ihn nicht bestochen nennen. Denn er wußte, daß sie ihn nicht um einen Zoll von seiner klar gezogenen Richtlinie abbringen würden. Er war überzeugter Monarchist, weil er überzeugter Franzose war. »Die guten Bürger, die das Land und die Nation kennen, wollen keine republikanische Verfassung. Sie fühlen, daß Frankreich seiner geographischen Beschaffenheit nach monarchisch ist.« Er meinte damit offenbar so etwas wie »seelengeographische Beschaffenheit«. Sein ganzes Programm ist in den Worten enthalten: »Ich will die Wiederherstellung der Ordnung, aber nicht die Wiederherstellung der alten Ordnung.« Er wollte den König an der Spitze der Revolution und mit dem Volk verbündet sehen zum gemeinsamen Siege über Feudalismus und Kirche. Da er sah, zu welchen hypertrophischen Formen die Bewegung drängte, empfahl er die Berufung der führenden Jakobiner ins Ministerium, was in der Tat die einzige Möglichkeit gewesen wäre, sie unschädlich zu machen. Leider starb er schon im April 1791, er hätte aber wohl auch bei einem längeren Leben den Gang der Dinge nicht aufhalten können, denn der König war viel zu entschlußschwach und geistesträge und zudem zu sehr unter dem Einfluß seiner törichten Gattin und der unbelehrbaren Hofpartei, als daß er sich ihm rückhaltlos anvertraut hätte.

Die Kellerratte, der edle Brigant und der Oberlehrer

Und nun entrollte sich jener glänzende Schundroman, der in Europa so viel Bewunderung und Entsetzen erregt hat. Seine drei Haupthelden sind: erstens Jean Paul Marat, eine tollgewordene Kellerratte, der das Versagen des öffentlichen Kanalisationssystems die Möglichkeit gibt, aus ihrer Latrine hervorzuschießen und alles wütend anzufressen, schmutzig, manisch, deformiert, luetisch und von einem unstillbaren Haß gegen alle erfüllt, die gewaschen, vollsinnig, nicht deformiert und nicht luetisch sind, der typische Vertreter des Gesindels der Revolution, der unterirdischen Existenzen, die aus Bordellkneipen und verfallenen Werkstätten, Waldwinkeln und Erdhöhlen plötzlich emportauchen; zweitens George Jacques Danton, eine Art »edler Brigant« und schlechte Karl- Moor-Kopie, wegen seines pockennarbigen Bulldoggenkopfs, seiner dröhnenden Stimme und seiner starken genußfreudigen Vitalität der »Mirabeau des Pöbels« genannt und in der Tat abwechselnd blutgierig und gutmütig, stumpf und intelligent wie ein ungezähmter Bullenbeißer; drittens Maximilian Robespierre, ein dämonisch gewordener Oberlehrer, der seine Tyrannei unter normalen Verhältnissen in Sittenpunkten entladen hätte und zu seiner Diktatur nichts mitbrachte als den konventionellen Verstand, die aufgeblasene Mittelschulbildung und die gute Leumundsnote eines mittelmäßigen Strebers: er war schon auf der Schule Primus und wäre zu jeder anderen Zeit und in jedem anderen Lande geworden, was ein Primus zu werden pflegt: Winkeladvokat, was er anfangs tatsächlich war, Magistratsbeamter, Buchhalter oder Polizeispion, und er wurde, was nur in jener Zeit und in jenem Lande ein Primus werden konnte: Autokrat des jakobinischen Frankreich.

Die Herrschaft der Vernunft und der Tugend

Die jakobinische Partei ist ein einziger großer Rousseau: verfolgungswahnsinnig und verfolgungswütig, fanatisch und pharisäisch, phrasenberauscht und doktrinär, schauspielernd und falsch sentimental; aber zu diesen trüben Phantasmagorien eines überhitzten Ressentiments gesellt sich jetzt als sehr wirkliche Realität die Guillotine. Ihr Beil traf schlechterdings alle, die ihm nicht durch Zufall entgingen: die Katholiken, weil sie zu viel glaubten, und die Atheisten, weil sie zu wenig glaubten, die Dantonisten, weil sie fanden, daß sie zu viel arbeite, und die Hébertisten, weil sie fanden, daß sie zu wenig arbeite; man ließ, wie es der »Königsmörder« Barère später sehr klar ausdrückte, »seinen Nachbar köpfen, um nicht von ihm geköpft zu werden«. Es kam, wie Georg Forster, einer der begeistertsten deutschen Anhänger der Revolution, schon während ihrer gemäßigten Phase prophezeit hatte: »Die Tyrannei der Vernunft, vielleicht die eisernste von allen, steht der Welt noch bevor.... Je edler das Ding und je vortrefflicher, desto teuflischer der Mißbrauch. Brand und Überschwemmung, die schädlichen Wirkungen von Feuer und Wasser, sind nichts gegen das Unheil, das die Vernunft stiften wird.« Zugleich mit dem Absolutismus der Vernunft etablierte sich die Herrschaft der Tugend. Robespierre ließ keinen Zweifel darüber, was er darunter verstand: »nur der Besitzlose ist tugendhaft, weise und zur Regierung geeignet«; »die Reichen, die Revolutionsfeinde und die Lasterhaften sind dasselbe«. Die wichtigsten Menschenrechte, die die Nationalversammlung proklamiert hatte, waren Sicherheit des Lebens und Eigentums und Widerstand gegen Unterdrückung: aber da Unterdrückung natürlich nur von den finsteren Mächten der Reaktion, von Königtum, Adel und Kirche ausgehen konnte, so war es stillschweigende Voraussetzung, daß auch nur gegen diese Widerstand erlaubt sei; das souveräne Volk kann nicht unterdrücken, folglich sind Auflehnungen gegen seinen Willen die schwersten Staatsverbrechen: diese zu ahnden oder lieber gleich im Keime zu ersticken war die Aufgabe des »Sicherheitsausschusses«, der den kurzsichtigen Augen eines Revolutionsfeindes allerdings nur allzu leicht als eine stabilisierte und organisierte Unsichermachung jeglichen Lebens und Eigentums erscheinen konnte, wie sie in der Welt noch nicht erblickt worden war.

Aber auch die Weisen und Tugendhaften, die bereit sind, der Revolution zu dienen, schweben in steter Gefahr, ihren Sinn und Willen mißzuverstehen, denn unter der strengen Herrschaft der Vernunft, die die Abtragung des Straßburger Münsters fordert, weil es so unrepublikanisch ist, die anderen Gebäude zu überragen, Lavoisier aufs Schafott schickt, weil er so unbrüderlich ist, mehr von Chemie zu verstehen als alle übrigen Mitbürger, und sogar im Märchen keine Prinzessin mit dem Goldhaar mehr duldet, sondern nur noch eine »Schöne mit dem Assignatenhaar«, ist es ungemein leicht, in den Geruch der Aristokratie zu kommen. Daß eine Magd eingesperrt wird, »weil sie verdächtig ist, bei einem Priester gedient zu haben«, mag noch vollkommen in der Ordnung sein, obgleich sie dieser Untat nur verdächtig ist; auch ist es noch durchaus logisch, wenn das Verhaftungsprotokoll bei mehreren Personen als Motiv des Einschreitens angibt: »sie haben Geist und können daher schädlich wirken« und Henriot, früher Gewohnheitsdieb, jetzt Oberbefehlshaber der Nationalgarde, die Gefangennahme von hundertdreißig Personen mit den Worten begründet: »diese Leute sind keine Sansculotten, denn sie sind dick und fett«; aber ziemlich beunruhigend ist es, daß ein sechsjähriger Knabe seiner Freiheit verlustig geht, weil er »nie Patriotismus an den Tag gelegt hat«, und einem Krämer dasselbe widerfährt, weil er zu den Munizipalbeamten gesagt hat: »Guten Tag, meine Herren!«; und was soll man zu einem Schuster sagen, der interniert wird, weil er »jederzeit ein Aristokrat war«?

Der tugendhafte Robespierre hat zwar den materialistischen Kultus der Vernunft abgeschafft und die öffentliche Verehrung eines être suprême angeordnet, wobei er selbst als Oberpriester fungiert; aber sich allzuviel mit Gott einzulassen, ist gleichwohl nicht rätlich: wer bei einer Messe oder Predigt auch nur als Zuhörer betreten wird, ist verloren, und wer sich beim Empfang der Letzten Ölung ertappen läßt, wird gut tun, der Guillotine durch schnellen Tod zuvorzukommen.

Um zur religiösen Gleichheit auch die wirtschaftliche hinzuzufügen, weiß die Vernunft ein sehr einfaches Mittel, das die Fürstenknechte nur aus Dummheit oder Bosheit bisher nicht angewendet haben: man teilt das Einkommen jedes Bürgers in eine »notwendige« Hälfte von tausend Francs pro Kopf und Jahr und eine »überflüssige«, die man ihm zu einem Viertel, einem Drittel oder, wenn sie über neuntausend Francs beträgt, zur Gänze abnimmt. Einem oberflächlichen Betrachter könnte es freilich scheinen, als ob dieses System zwei kleine Unvollkommenheiten hätte: vielleicht werden, wenn der Erwerbstrieb keinen genügenden Anreiz mehr findet, viele Bürger nicht mehr ihre höchste Arbeitskraft einsetzen und vielleicht gibt es auch manche Bürger, die, obgleich vortreffliche Republikaner, nicht einmal die notwendige Hälfte besitzen? Aber man vergißt, daß in der idealen Republik solche Möglichkeiten nicht in Betracht kommen: an die Stelle des Erwerbsbetriebs tritt ganz einfach der Patriotismus, und wenn brave Bürger nicht ihr Mindesteinkommen besitzen, so kann nur aristokratischer Verrat im Spiele sein, der eben ausgemerzt werden muß. Dem Schutze der Gleichheit, wenn auch nicht gerade der Freiheit, dient außerdem die Bestimmung, daß jede Erbschaft an die Nachkommen gleichmäßig zu verteilen ist und die unehelichen Kinder den legitimen gleichzustellen sind. Ferner setzt der Staat für alle Kleidungsstücke, alle Speisen und Getränke, alles Beleuchtungs-, Reinigungs- und Heizmaterial Maximalpreise fest und sperrt jeden ein, der mehr bietet oder verlangt; die Erzeugung der Güter wird Nationalwerkstätten übertragen, in denen zusammengelaufene Handwerker nicht gegen Stücklohn, sondern gegen Taglohn arbeiten, was auf die Leistung nicht gerade anspornend wirkt, aber, da jeder Proletarier tugendhaft und, ob qualifiziert oder nicht, schon als guter Republikaner ein guter Arbeiter ist, die Qualität der Ware nicht beeinträchtigt. Da es aber leider noch immer Lasterhafte gibt, die sich den Verfügungen der Zentralregierung nicht unterwerfen wollen und auch der Bauer trotz des Siegs der Demokratie sich merkwürdig renitent zeigt, so sendet der Konvent seine Kommissäre aus, die sich als ein Heuschreckenschwarm der Gerechtigkeit über die Provinzen ergießen, und diesen Vollstreckern des Volkswillens fehlt es nicht an sechsspännigen Kutschen, Festmählern zu vielen Gedecken, Musikanten, Komödianten, Freudenmädchen und anderen Erleichterungen ihrer republikanischen Mission. Das reaktionäre Landvolk lebt zwar von Wurzeln, ganz wie unter der schurkischen Monarchie, aber das Weißbrot, das die Beamten essen, sogenanntes »Kommissärbrot«, ist dafür von so erlesener Qualität, daß selbst der Sonnenkönig es nicht verschmäht hätte. Da aber auch der Gerechteste bisweilen Milde walten lassen soll, so weisen sie die Lösegelder nicht zurück, die die Verdächtigen ihnen reumütig anbieten. Auch gelingt es ihnen, zahlreiche konterrevolutionäre Werte: Landgüter, Möbel, Equipagen, Schmucksachen für die Freiheit zu retten, indem sie sie der Zwangsversteigerung zuführen, die Mitbietenden abschrecken und für sich selbst einen Schleuderpreis erzielen; denn, argumentieren sie, »können diese Besitztümer in bessere Hände fallen als in die der Patrioten?«

Die Assignaten

Den letzten Schritt, der sich aus diesen Prinzipien ergeben hätte, nämlich die gänzliche Aufhebung des Eigentums, hat aber der Jakobinismus nicht vollzogen; oder vielmehr erst zu einer Zeit, als die Revolution bereits in ihre rückläufige Bewegung getreten war. Wir sprechen von der merkwürdigen Verschwörung Babeufs im Jahre 1796, die auf der Devise aufgebaut war: » la propriété individuelle cause de l'esclavage«. Ihr Programm ging auch sonst noch erheblich über Robespierre hinaus, denn es dekretierte zum Beispiel: alle Bürger sollen die gleichen Kleider tragen und dieselben Möbel besitzen; alle Kinder sollen in ein großes Erziehungshaus gebracht werden, wo sie ohne Rücksicht auf ihre geistigen Gaben denselben Unterricht genießen sollen; die Arbeiten der Kunst und der Forschung sind auf solche zu beschränken, die sich jedermann leicht mitteilen lassen; alle großen Städte sollen aufgelöst werden, denn sie sind eine Krankheit des öffentlichen Lebens. Babeuf stand in Verbindung mit dem Berg, hatte die Pariser Arbeiterschaft und den größten Teil des Militärs hinter sich und der Plan mißlang nur durch Verrat.

Während Babeuf beabsichtigte, das Geld dadurch abzuschaffen, daß sein Gebrauch bei Todesstrafe verboten sein sollte, erreichte die Revolution denselben Zweck durch die Einführung der Assignaten. Diese waren staatliche Bodenkreditaktien, Hypothekarscheine auf die »nationalisierten« Güter des Klerus und Adels und verfielen trotz des Zwangskurses einer so reißend zunehmenden Entwertung, daß ein Goldlouisdor im Mai 1795 mit 400, im Mai 1796 mit 19000 Francs in Assignaten bezahlt werden mußte; einige Monate später berechnete eine Zeitung, daß man ein großes Zimmer am billigsten tapezieren könne, wenn man ein solches Geldstück in 45000 Francs Papier umwechsle. Die Freiheit hatte Frankreich in ein Armenhaus und eine Wüste verwandelt. Die Hälfte des Bodens lag brach, der größte Teil der Bevölkerung war arbeitslos, die Chausseen und Kanäle, Dämme und Häfen verfielen, die Gesundheitspflege, der Sicherheitsdienst, der Schulunterricht, die Straßenbeleuchtung verschwanden und, zurückversetzt in die Zeit der Merowinger, sah der Pariser in der nächsten Umgebung der Stadt Wölfe auftauchen.

Der Zeitreisende

In einem seiner utopischen Romane schildert Wells einen »Zeitreisenden«, den Erfinder einer sinnreich konstruierten Maschine, mit der er in die Zeit segeln kann. Er fährt zunächst in die Zukunft, in ein fernes Jahrtausend, wo er zu seinem Erstaunen bemerken muß, daß die Menschheit sich in zwei Spezies gespalten hat: die einen, die Eloi, sind durch fortgesetzten Müßiggang zur höchsten physischen Verfeinerung und Verschönerung, aber zugleich auf ein geistiges Niveau völliger Infantilität gelangt, die anderen, die Morlocks, sind durch ununterbrochene manuelle Tätigkeit zu affenartigen Höhlengeschöpfen, stupiden Arbeitsmechanismen geworden. Eine gewisse Ausgleichung findet dadurch statt, daß die Morlocks von Zeit zu Zeit die wehrlosen Eloi überfallen und auffressen. In einem ähnlichen Zustande befand sich Frankreich zur Revolutionszeit. Aber es existiert in dem Roman von Wells ein Wesen, das sich sofort zum Herrn der Situation machen könnte, nämlich der Zeitreisende selbst. Es würde ihm nicht schwerfallen, sich die zwei degenerierten Rassen untertan zu machen: die Eloi durch Liebenswürdigkeit, die Morlocks durch Energie und beide durch überlegene Geistesmacht, durch eine ihnen unfaßbare und daher schreckliche Anwendung von Vernunftmitteln. Diese Rolle spielte in Frankreich Napoleon. Der Staatsstreich des 18. Brumaire stürzte das Direktorium und errichtete die Konsularregierung, die bereits eine konstitutionelle und kaum.mehr konstitutionelle Monarchie war. Seine Kundmachung vom 15. Dezember 1799 erklärte: »Die Revolution ist zu Ende.«

Die Kurve der Revolution

Blicken wir noch einmal auf den Gang der Revolution zurück, so bemerken wir, daß er sich in vollkommener Regelmäßigkeit

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vollzogen hat, indem er eine tadellose Parabel beschrieb. Es ist, als ob vorher ein unsichtbarer Griffel die Gleichung der Revolutionskurve aufgestellt hätte, nach der diese dann in der Wirklichkeit konstruiert wurde. So hat Descartes, der Nationalheilige Frankreichs, auch bei der eruptivsten Lebensäußerung des französischen Volkes seine Hand im Spiele gehabt.

Durch den Bastillensturm am 14. Juli 1789 wird das ancien régime gestürzt und in der Regierung von der Nationalversammlung abgelöst, was soviel bedeutet wie den Sieg der Konstitution über den Absolutismus. Durch den Sturm auf die Tuilerien am 10. August 1792 erfolgt die Suspension des Königs oder der Sieg der Republik über die Monarchie. Die Verhaftung der Girondistenführer am 2. Juni 1793 bezeichnet die Alleinherrschaft des »Bergs« und damit den Sieg der proletarischen Demokratie über die bürgerliche. Mit der Hinrichtung der Dantonisten am 14. Germinal 1794 erreicht die Revolution in der Diktatur Robespierres ihren Höhepunkt, um nunmehr in ihre rückläufige Phase einzutreten, deren einzelne Etappen mit denen des ansteigenden Astes genau korrespondieren. Am 9. Thermidor 1794 siegt der Konvent als Vertreter der radikalen Demokratie über Robespierre, wie er am 2. Juni 1793 über die gemäßigte Demokratie gesiegt hatte; am 1. Prairial 1795 siegt die Republik des dritten Standes über die Jakobiner, wie sie am 10. August 1792 über das Königtum gesiegt hatte; am l8.Brumaire 1799 siegt die konstitutionelle Monarchie über das Direktorium, wie sie am 14. Juli 1789 über den alten Feudalstaat gesiegt hatte; und die Revolution, die aus dem Absolutismus der Bourbonen entsprungen war, endet im Absolutismus des Empire.

»Monsieur Giller«

So war es denn gekommen, wie schon im Jahre 1793 ein historisch denkender Kopf vorausgesagt hatte: die republikanische Verfassung werde in Anarchie übergehen und früher oder später werde ein kräftiger Mann erscheinen, der sich nicht nur zum Herrn von Frankreich, sondern auch vielleicht von einem großen Teile Europas machen werde. Diese Prophezeiung stammte von einem Ehrenbürger der französischen Republik. Im Spätsommer 1792 nämlich, kurz vor den Septembermorden, hatte der »Moniteur universel« gemeldet, daß » le sieur Giller, publiciste allemand« von der Nationalversammlung zum citoyen français ernannt worden sei; andere Journale korrigierten den Namen in Gisler, Gillers und Schyler; aber erst im März 1798 gelangte » Monsieur Giller« in den Besitz seines Diploms. In der Tat ist die chaotische und doch von einer geheimen Logik erfüllte Atmosphäre der Revolution einzig und allein in den Dramen des jungen Schiller aufgefangen worden. Wir haben vorhin Danton mit Karl Moor verglichen; aber auch die Züge anderer Hauptakteure der Bewegung erinnern an Figuren aus Schillers Welt: das kalte teuflische Raisonnement Robespierres und Saint-Justs an Franz Moor, das giftige Ressentiment Marats und Heberts an Wurm, der edle wortreiche Republikanismus Rolands an Verrina, dessen gefühlvolle, etwas verzeichnete Gattin an Amalia. (Allerdings hat die Wirklichkeit die Dichtung oft weit hinter sich gelassen: so gibt es zum Beispiel eine »Briefszene« von so gigantischer Niederträchtigkeit, daß sie auch Schiller nicht eingefallen ist, nämlich jene, wo Hébert den achtjährigen Dauphin ein Protokoll unterschreiben läßt, das die Königin des geschlechtlichen Verkehrs mit ihm bezichtigt.)

Klopstock, ebenfalls französischer Ehrenbürger, beeilte sich, in einem ziemlich albernen Gedicht, worin Frankreich natürlich »Gallien« heißt, die Revolution in jenem Stile anzusingen, den Ludwig der Erste von Bayern später so virtuos beherrscht hat, und als »neue, labende, selbst nicht geträumte Sonne« zu feiern. Für die Revolution erklärten sich auch in öffentlichen und privaten Äußerungen Schlözer und Johannes Müller, Hölderlin und Jean Paul, Wieland und Herder, Schubart und Klinger, sogar der junge Gentz und der Freiherr von Dalberg, am längsten Kant und Fichte, nur Iffland und Kotzebue schrieben läppische Parodien; schließlich aber teilten fast alle Gebildeten die Empfindung Schillers, der schon kurz nach der Hinrichtung des Königs an Körner schrieb: »Ich kann seit vierzehn Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an.«

Das schlafende Deutschland

Der deutsche Mensch stand zu jener Zeit noch fast gänzlich unter dem Zeichen der Manufaktur, der Hausindustrie und der Agrarkultur: alles oder doch alles Notwendige wurde in der Sphäre des eigenen Wohnbezirkes erzeugt. Dies hatte eine gewisse Enge des Gesichtskreises, seelische Abgeschlossenheit, geistige Schwerbeweglichkeit, aber auch eine warme Intimität und edle Selbstgenügsamkeit des Gemütslebens sowohl zur Wirkung als zur Voraussetzung. Die Bevölkerung lebte zu drei Vierteln gänzlich auf dem Lande, aber auch die meisten Städte waren nicht viel mehr als große Dörfer, Ackerstädte, und Großstädte von der Art wie Paris, London oder Rom gab es überhaupt noch nicht. Ferner gab es keine Maschinen oder auch nur den Maschinen ähnliche Apparate, und das heißt: keine exakte, reichliche und wohlfeile Gütererzeugung und keinen leichten, schnellen und ausgedehnten Verkehr. Der Unsicherheit weitausgreifender Spekulationen, des Transports, des Welthandels, der politischen Verhältnisse stand aber eine große Sekurität des Kleinbesitzes und Kleinhandels gegenüber, gegründet auf die Festigkeit des Absatzgebietes, den Mangel an Konkurrenz, die Einförmigkeit sowohl der Produktionsmöglichkeiten wie des Kundenbedürfnisses, und dies erzeugte auch bei den »arbeitenden« Ständen eine Atmosphäre der Beschaulichkeit und Muße, wie sie heute kaum noch irgendwo anzutreffen ist. Im Gegensatz zur späteren Zeit war die bürgerliche Durchschnittsfrau damals meist tätiger als der Mann, dafür aber an geistigen Dingen fast uninteressiert, während dieser, infolge der vielen freien Zeit, die ihm zur Verfügung stand, allen Fragen der Bildung eine weit höhere Anteilnahme entgegenzubringen vermochte als heutzutage. Und dazu kam noch der relative Mangel an Ablenkungen und Zerstreuungen, an Lärm jeglicher Art, von dem unser ganzes heutiges Dasein bis in die Stunden der Erholung hinein erfüllt ist: keine täglichen Riesenzeitungen und Massenversammlungen, stündlichen Lichtspiele und Hörspiele, viertelstündlichen Telephonrufe, dringlichen Draht-, Luft- und Radionachrichten, die unser Leben frikassieren. Zum Spintisieren und Phantasieren, zu abstrakter, nach innen gewendeter Tätigkeit wurde der damalige Mensch durch seine ganze Lebensform ebenso aufgefordert, wie er heute daran verhindert wird. Aus diesem Seelenzustande erstand das klassische Zeitalter der deutschen Literatur. Während andere schwitzten und rannten, England sich mit Goldbarren und Pfeffersäcken abkeuchte, Amerika anfing, sich in den öden Riesentrust zu verwandeln, der es heute ist, Frankreich zum Irrenhaus und zur Mördergrube wurde, schlief Deutschland einen ehrlichen, gesunden, erfrischenden Schlaf, aber welche schönen Träume hatte es in diesem Schlaf!

Haben die Klassiker gelebt?

Ein kleines Mädchen fragte mich einmal: »Haben die Klassiker eigentlich wirklich gelebt?«: ein sehr aufschlußreicher Kindermund. Sie sind in der Tat von der nachlebenden Philisterwelt so dicht mit schalen, fälschenden und frostigen Phrasen verhängt worden, daß sie durch unsere Erinnerung nur noch als leere unwirkliche Legendengestalten gespenstern: sie haben in unserem Bewußtsein nicht mehr Realität und Individualität als etwa der Knecht Ruprecht oder der König Drosselbart.

Schon die Befreiungskriege machten aus Schillers Sentenzen Devisen für Turnvereine, und so wurde er der »Dichter der Nation« und zugleich der Typus des weltfremden Poetenjünglings, dessen ganze Tätigkeit darin bestanden habe, daß er in der Dachstube mit seiner Muse verkehrte. Das Hauptverdienst an der Schöpfung des »idealen Schiller« hat seine Schwägerin Karoline von Wolzogen, die zugleich seine erste namhafte Biographin war. Karoline war einer jener empfindsamen Blaustrümpfe, wie sie damals in Mode waren, und zudem in ihren Schwager zeitlebens unglücklich verliebt; so ist es zu erklären, daß eine der genauesten Kennerinnen Schillers das falscheste Bild von ihm entworfen hat, das sich aber tief einwurzelte. Wie entsetzt wäre man von nun an gewesen, wenn jemand Dinge wie »Verlegerabrechnung« oder »Zeitungsinserat« mit Schiller in Verbindung gebracht hätte! Oder gar, wenn jemand zu sagen gewagt hätte: Schiller hatte Sommersprossen und eine viel zu lange Nase; Schiller hatte unmögliche schlenkernde Armbewegungen und X-Beine; Schiller schwäbelte penetrant, rauchte und schnupfte unaufhörlich und trank gern ziemlich viel Sekt; Schiller schrieb an den Rand seiner dramatischen Entwürfe Aufstellungen über mutmaßliche Einnahmen und Ausgaben.

Schiller ist dem Schicksal, zur leeren Festspielattrappe entseelt zu werden, gerade darum in noch höherem Maße zum Opfer gefallen als Goethe, weil er zu allen Zeiten der Populärere war. Von Goethe sagt Herman Grimm in seinen »Vorlesungen«: »Wäre er bei der Kanonade von Valmy durch eine Kugel vom Pferde gerissen oder sonstwie damals hinweggenommen worden, so würden seine besten Freunde vielleicht, wie bei Lord Byron, geurteilt haben, es sei sein Verlust zwar zu bedauern, für seinen dichterischen Ruhm aber habe er das Nötige geleistet und man zweifle, ob Größeres noch zu erwarten gewesen wäre.« Zwischen 1787 und 1790 erschienen Goethes »Gesammelte Schriften« bei Göschen lieferungsweise in acht Bänden; es meldeten sich etwa 600 Subskribenten. Der Absatz der Einzelausgaben war noch schwächer: es wurden vom »Clavigo« 17, vom »Götz« 20, von der »Iphigenie« 312, vom »Egmont« 377, sogar vom »Werther« nur 262 Exemplare verkauft; der Verleger verlor bei dem Gesamtunternehmen über 1700 Thaler. Hingegen war die erste Auflage des »Wallenstein« von 3500 Exemplaren bereits in zwei Monaten vergriffen, obwohl gleichzeitig in zwei deutschen Städten Nachdrucke erschienen. Andrerseits darf man aber auch von Schiller nicht glauben, daß er von den »maßgebenden« Kreisen gebührend geschätzt wurde. Im Jahre 1798 wurde er von der Universität Jena zum ordentlichen Honorarprofessor der Philosophie ernannt. In dem Entwurf des Schreibens, worin ihm dies verkündet wurde, hatte es geheißen, daß es dem Kollegium der ordentlichen Professoren zur Ehre gereiche, sich näher mit ihm verbunden zu sehen. Bei reiflicherer Erwägung aber fand man, daß das doch ein etwas übertriebener Ausdruck sei, und machte aus der Ehre ein »großes Vergnügen«. Die allgemeine Meinung Deutschlands über die Dioskuren dürfte wohl am besten der Berliner Kupferstecher Clas getroffen haben, als er sie mit Kotzebue und Iffland auf einem Blatt zu 12 Groschen vereinigte, das großen Absatz fand.

Die beiden Gipsköpfe

Was war aber denn nun die wirkliche Bedeutung jener beiden Männer, deren hohle Gipsköpfe der deutsche Bürger voll Andacht auf seine Konsole stellt? Sie lebten, und zwar vorbildlich. Darin bestand ihre ganze Tätigkeit.

Das Leben des einen war nichts als Arbeit, Fleiß, Arbeit. Ewige Unrast, immer weiter, hinauf, hinauf: das war der Sinn seines Daseins. Sein ganzer geistiger und physischer Organismus war nichts als eine riesige Kraftmaschine, die ununterbrochen Kräfte akkumulierte, weitergab und wieder akkumulierte. Und so jagte er mit fliegendem Atem dahin, ein unersättlicher Renner, bis er mitten im Laufe, aufs letzte ausgepumpt, zusammenbrach.

Das Leben des anderen war nichts als Wachstum, Entwicklung, Wachstum. Wie ein Kristall langsam anwächst, durch lautlose »Apposition«, immer neue Glieder ansetzend, in klaren, rechtwinkligen, gleichmäßigen Formen, so wuchs auch er, nichts eigenmächtig wegnehmend oder hinzufügend, verlangsamend oder beschleunigend. Und als er die größte Höhe und Umfänglichkeit erreicht hatte, die einem Menschen möglich ist, starb er: setzte keine neuen Kristalle mehr an, sondern blieb stehen, leuchtend, gradkantig, in spiegelnden unverrückbaren Flächen, ein unsterbliches menschliches Kunstwerk, weithin sichtbar für die Jahrhunderte.

Panoramic ability

Goethe sagt in seinen »Maximen und Reflexionen«: » Panoramic ability schreibt mir ein englischer Kritiker zu, wofür ich allerschönstens zu danken habe.« In der Tat läßt sich seine » faculté maîtresse« nicht treffender bezeichnen. Er besaß eine panoramatische Seele, ein Geistesauge, das die Dinge stereoskopisch zu sehen vermochte: reich und rund, perspektivisch und abschattiert, und eine enzyklopädische Sittlichkeit, deren Verständnis allem geöffnet war. Aber eben infolge dieser Wundergabe hat man sein Wesen niemals auf eine Formel zu bringen vermocht. Wir glauben bisweilen, er sei etwas Bestimmtes gewesen; aber gleich darauf müssen wir erkennen, daß er ebensosehr das Gegenteil davon war. Man spricht daher viel von »Widersprüchen in der Natur Goethes«. Aber gerade er war die widerspruchsfreieste Natur, die sich denken läßt: denn er setzte sich niemals in Widerspruch zu dem, was wir Schicksal nennen, weder zu seinen Umständen noch zu seinen Zuständen, weder zum Weltlauf noch zu sich selbst. Er ist schwärmerisch wie ein Blaustrumpf und nüchtern wie ein Bürokrat, kraftgenialisch bis zur Flegelei und zeremoniös bis zum Schranzentum, pietistisch und atheistisch, deutsch und kosmopolitisch, Mystiker und Materialist, Freigeist und Reaktionär, feuriger Liebhaber, ganz in seine Passion versunken, und kalter Ichmensch, ganz auf sich konzentriert: er ist alles, weil das Leben alles ist. Er betrachtet die ganze Welt, die innere wie die äußere, als ein geheimnisvolles Laboratorium, in dem dunkle Kräfte aufsteigen und verschwinden, sich vermählen und wieder trennen, und sich selbst als den passiven Zuschauer, dem nichts aufgetragen ist als stillezuhalten, das magische Spiel nicht zu stören und bisweilen Bericht davon zu geben. Man kann daher seinen Erdenlauf ein Epos nennen, eines der höchsten und vollkommensten, die je in die Welt getreten sind.

Der Theatrarch

Schiller hingegen war ein dramatischer Organismus. Seine Biographie ist ein Drama von Schiller: die Jugend setzt bereits sehr wirksam ein, als Meisterstück einer straff gespannten, aufregenden Exposition, und dann geht es immer weiter durch bunte und heftige Konflikte, in atemlosem Tempo, nur hie und da unterbrochen durch etwas deklamatorische Philosophie, bis die gewaltsame und tragische Katastrophe eintritt, hochdramatisch, mitten auf dem Höhepunkt der Handlung kerzengerade abfallend. Er stirbt und hinterläßt den Torso des »Demetrius«, den stärksten ersten Akt der Weltliteratur.

Und als er tot war, hat das Schillerdrama unausgesetzt weitergespielt: in der Geschichte seines Nachruhms. Auch hier vollzog sich alles in sprunghaften und überraschenden Wendungen. Immer wieder wurde für und gegen seinen Namen gekämpft, als wären seine Theaterstücke Premieren von gestern. Es schien häufig, als sei der Erfolg oder Mißerfolg seiner Werke immer noch Sache des Glücks, der momentanen Konstellation, Stimmung und Zeitströmung. Man polemisierte um ihn wie um einen Lebenden; nie war man sich über ihn einig. Er war ein staatsgefährlicher Mensch und der Retter seines Volks, der Kanon edelster Dichtkunst und das Muster roher Theatralik, der Prediger der höchsten ethischen Ideale und der Vertreter einer inhaltlosen und abgelebten Ideenwelt. Und zu alldem wurde er nicht etwa im läuternden Gang der Geschichte, die die Menschen und Werke der Vergangenheit vor ihren unparteiischen Instanzenzug stellt, um schließlich kalt sachlich das Bleibende vom bloß Aktuellen zu scheiden; sondern er war dies alles gleichzeitig: miteinander, gegeneinander, durcheinander, und ist es noch heute. Und er wird wahrscheinlich niemals ein wirklicher dauernder Kulturbesitz werden; er wird immer die Leidenschaften entzünden und die Extreme in den menschlichen Köpfen und Herzen hervortreiben. Vielleicht ist eben dies seine historische Mission: eine dramatische.

Schiller schrieb einmal an Körner: »Ich habe mir eigentlich ein eigenes Drama nach meinem Talente gebildet, welches mir eine gewisse Excellence darin gibt, eben weil es mein eigen ist. Will ich in das natürliche Drama einlenken, so fühl ich die Superiorität, die Goethe und viele andere Dichter aus der vorigen Zeit über mich haben, sehr lebhaft. Deswegen lasse ich mich aber nicht abschrekken; denn eben, je mehr ich empfinde, wie viele und welche Talente oder Erfordernisse mir fehlen, so überzeuge ich mich desto lebhafter von der Realität und Stärke desjenigen Talents, welches, jenes Mangels ungeachtet, mich so weit gebracht hat, als ich schon bin. Denn ohne ein großes Talent von der einen Seite hätte ich einen so großen Mangel von der andern nicht so weit bedecken können, als geschehen ist, und es überhaupt nicht so weit bringen können, um auf feinere Köpfe zu wirken.«

Diese spezifische Grundbegabung, die Schillers ganzes Schaffen organisierte, war sein Theatertalent. In seinen Dichtungen lebt nicht die wirkliche Welt, sondern eine andre, freikomponierte: die Theaterwelt, die ein vollständiges Reich für sich bildet, die ihre eigene Psychologie, ihre eigene Ethik, ja selbst ihre eigene Logik hat, ähnlich wie die Märchenwelt, die auch selbstgeschaffenen Gesetzen gehorcht. Um eine solche Wirklichkeit zweiter Ordnung so vollständig und in so lückenlosem Zusammenhang zu konzipieren, muß man auch Wirklichkeitssinn besitzen, wennschon es ein anderer ist als der gewöhnliche. Und in dieser Welt war Schiller ein unumschränkter und freier Alleinherrscher, der mit bewundernswertem Feldherrnblick alles übersah, ordnete, verteilte und dirigierte: er ist der absolute Theatrarch. Er reihte diktatorisch alle Erscheinungen in sein Theatersystem ein. An Natürlichkeit der Gestalten waren ihm Goethe und nicht wenige andere in der Tat überlegen. Der einschneidende Unterschied besteht darin, daß Goethe seine Charaktere vollständig schildert und von allen Seiten, in allen, auch den unwesentlichen Linien zeigt: sie führen ihr eigenes Leben und verhalten sich zu Schillers Gestalten etwa wie eine massive Theatertür zu einer gemalten. Schiller zeigt immer nur das, was er gerade braucht, immer nur Ausschnitte; nie bringt er etwas, bloß um zu charakterisieren, alles hat nur seinen Zweck im Rahmen des Ganzen. Goethe macht Menschen, Schiller macht Figuren. Dies wäre ein entschiedener Tadel für Schiller, wenn es sich eben nicht um Theaterstücke handelte. In diesem Falle aber bildet es ebensowenig einen Mangel wie etwa die Tatsache, daß ein Versatzstück nur auf der Seite bemalt ist, die dem Publikum zugekehrt ist, oder daß ein Schauspieler, von dem man bloß den Kopf sieht, nicht im vollen Kostüm steckt. Es gibt wohl kaum eine Stelle in Schillers Dramen, die nicht für die Räumlichkeit der Bühne gedacht wäre, für diese besondere Art Raum, die zwar drei Dimensionen, aber nur drei Wände hat. Goethe dichtete überhaupt gar nicht mehr fürs Theater, sondern versetzte seine Menschen und Vorgänge in wirkliche Zimmer mit vier Wänden und in eine wirkliche Natur, die von allen Seiten Farbe ausstrahlt, kurz, in eine Welt, die man sich ohne Enttäuschung auch von hinten ansehen kann. Seine Menschen sprechen mit sich selbst und miteinander, als ob sie allein wären. Aber eben dies war der Grund, warum er, obschon von einer ganz anderen Seite her, nämlich infolge einer Überdimensionalität, ebensowenig Dramatiker war wie die Stürmer und Dränger, von denen wir im vorletzten Kapitel sprachen. Diese hatten eine Dimension zu wenig und er hatte eine Wand zu viel.

Das Pathos der faulen Apfel

Schiller inspirierte sich bekanntlich beim Schreiben durch den Geruch fauler Äpfel. Man könnte nun (ohne daß damit im geringsten etwas Degradierendes ausgedrückt werden soll) auch von dem Pathos seiner Vorgänge und Gestalten sagen, es lebe in einer solchen Atmosphäre. Ihre Leidenschaft ist vollkommen echt, hat aber etwas nicht ganz Frisches, einen »Stich«, den befremdenden und zugleich verführerischen Hautgout des Morbiden und Konservierten; des Theatralischen.

Technische Erwägungen wie zum Beispiel im Bauerbacher Entwurf des »Don Carlos«: »Schürzung des Knotens der Knoten verwickelter anscheinende Auflösung, die alle Knoten noch mehr verwickelt« finden sich niemals in Goethes Entwürfen, Schiller hingegen beschäftigten sie bis in seine letzten Tage hinein. Unter diesen zahlreichen Vornotizen, in denen er sich intim und unbeobachtet, etwa wie ein Schauspieler auf der Arrangierprobe zeigt, finden sich zum Beispiel beim »Demetrius« Aufzeichnungen wie die folgenden: »Zu vermeiden ist, daß in dieser Szene kein Motiv wiederholt wird, welches schon auf dem Reichstage vorgekommen«; »ein hoffnungsreicher Erfolg beschließt diesen Akt auf eine theatralische Art«; »damit diese Szene nicht dem Krönungszug in der Jungfrau von Orleans begegne, muß sie sowohl ganz anders eingeleitet als auch ganz verschieden geführt werden.« Längere Zeit schwankte er zwischen Demetrius und Warbeck, einem ganz ähnlichen Stoff aus der englischen Geschichte; ehe er die endgültige Entscheidung traf, stellte er noch einmal in einer ausführlichen Liste das Pro und Contra gegenüber, mit Bemerkungen wie: »Für Warbeck: Glücklicher Ausgang. Popularität des Stoffes. Interesse der Hauptperson. Debutrolle.« Das ist ganz vom Standpunkt des theatralischen Realpolitikers gedacht.

Goethe denkt sehr wenig an den Schauspieler, Schiller hingegen zeigt sich in seinen Bühnenanweisungen als genialer Regisseur, der das Szenenbild und den Darsteller nie aus dem Auge verliert. Man denke zum Beispiel an das überaus wirksame erste Auftreten Mortimers: »Mortimer, Paulets Neffe, tritt herein und, ohne der Königin einige Aufmerksamkeit zu bezeigen, zu Paulet: Man sucht euch, Oheim. Er entfernt sich auf eben die Weise«; an das eindrucksvolle, das ganze Drama zusammenfassende stumme Spiel der Jungfrau bei dem Bericht Bertrands über die furchtbare Gefahr, in der Orleans schwebt: »Johanna horcht mit gespannter Aufmerksamkeit und setzt sich den Helm auf«; an den stimmungsvollen Schluß der ersten Szene des dritten Aufzugs im »Tell«: »Hedwig geht an das Hoftor und folgt den Abgehenden lange mit den Augen«; an die ebenso theatermäßige originelle Fiktion im »Demetrius«: »Alsdann stellt er sich so, daß er einen großen Teil der Versammlung und des Publikums, von welchem angenommen wird, daß es im Reichstag mitsitze, im Auge behält und dem königlichen Thron nur nicht den Rücken wendet«: in allen diesen und noch vielen anderen Fällen glaubt man Schiller direkt am Regiepult sitzen zu sehen. Sogar in seinen Prosaschriften bleibt er Theatermensch: auch hier denkt er mehr an den Hörer als an den Leser und die Sperrung gewisser Worte und Satzteile hat, wie Richard Fester sehr treffend bemerkt, »als Anweisung zu gehöriger Betonung die Bedeutung eines Regievermerks«.

Das Genie der Kolportage

Infolgedessen bildete das Hereinbrechen des Klassizismus ein wahrhaft tragisches Moment in seiner künstlerischen Entwicklung. Ohne sich selbst darüber klar zu sein, wurde er in eine Richtung gedrängt, die seiner ganzen Charakteranlage und Gestaltungsmethode im tiefsten entgegen war. Es ist bekannt, daß Goethe hieran nichts weniger als unschuldig war; die Hauptverantwortung trifft natürlich die Zeit. Aber es muß hinzugefügt werden, daß Goethe diese ganze Bewegung verstärkt, verschärft und übersteigert und ihr durch das Gewicht seiner einzigartig suggestiven Persönlichkeit erst die letzte Sanktion verliehen hat. Ihm selbst freilich hat diese ganze Mißorientierung am wenigsten geschadet, aber gerade dies machte sein Vorbild für die anderen um so verhängnisvoller. Es war seine Natur, daß er im Grunde durch nichts beeinträchtigt werden konnte, indem er alles, Gutes und Schlimmes, Hohes und Geringes, Fremdes und Verwandtes seinem Organismus einverleibte: als einen Assimilationsstoff, aus dem doch immer wieder nur er selber wurde; wie der menschliche Körper aus den verschiedenartigsten Nährmitteln, die in ihn eintreten, stets das gleiche Zellenmaterial aufbaut, so machte Goethe aus allem letzten Endes Goethe und so konnte ihn nichts dauernd in seinem Wachstum hemmen. Aber hierin war er ein Unikum, und Schiller reagierte anders: einerseits viel gewalttätiger und selbstherrlicher, andrerseits viel hingebungsvoller und impressionabler. Seine Natur war: sich fortreißen zu lassen und, fortgerissen, dann alle anderen mit sich zu ziehen. Einmal ergriffen von einer Idee, gehörte er ihr ganz und ruhte nicht eher, als bis er sie in allen ihren Beziehungen und Anwendungen ausgebaut hatte. Wenn an Goethe neue Gedanken, Assoziationen, Bilder, geistige Dominanten herantraten, so war es sein Bestreben, sie in seinen Besitz zu bekommen; aber Schiller wollte von ihnen besessen sein.

Seinen Höhepunkt hat der Klassizismus Schillers in der »Braut von Messina« erreicht. Hier ist alles dünn, farbenschwach, leerer Silberton, antiquarisch, Hoftheater und erinnert an die papierenen und anämischen »heroischen Landschaften« jener Zeit, auf denen selbst die Tiere bedeutend und langweilig sind. Auch Wallenstein gemahnt ein wenig an die damaligen abstrakten Repräsentationsporträts, die mehr Pathos als Individualität besitzen, und hat immer unsichtbar die Rigaudsche Säule neben sich, ohne die man sich das Bildnis eines Staatsmanns nicht denken konnte; und selbst in »Teil« ist ziemlich viel »Baumschlag«. Aber gleichwohl läßt sich erkennen, daß das »Klassische« bei Schiller bloß einen glänzenden Firnis bildet, mit dem er seine Dramen zeitgemäß hergerichtet hat. Noch im Jahr 1801 schrieb er an Körner: »der Jambe vermehrt die theatralische Wirkung nicht und oft geniert er den Ausdruck«; sowohl den »Wallenstein« wie den »Carlos« wollte er ursprünglich in Prosa schreiben, und dieser wurde tatsächlich in einer von ihm besorgten Prosafassung an mehreren Bühnen gespielt. Bei jenem hat vor allem die klassizistische Mißdeutung des antiken Schicksalsbegriffs großen Schaden gestiftet. Das »Lager« ist der höchst eigenartige Einfall eines Theatergenies: die Idee, zu einer Tragödie ein Vorspiel zu schreiben, worin der Held nicht vorkommt und eben darum ununterbrochen und aufs eindrucksvollste vorkommt, war ebenso dankbar wie zwingend. Was aber die Tragödie selbst anlangt, so war zwar der Gedanke, nur die Katastrophe zu zeigen, die letzten Schlagschatten, die eine lange, reiche und bewegte Vorgeschichte auf den Helden wirft, ebenfalls eine durchaus theatermäßige Konzeption; aber eine solche Technik hätte nur wirksam sein können, wenn sie mit äußerster Konzentration gearbeitet hätte. Schiller vergaß, daß der »Ödipus«, der ihm als Paradigma vorschwebte, nur der letzte Akt einer Tragödie ist; aber der »Wallenstein« hat elf Akte und siebeneinhalbtausend Verse. An einer ähnlichen Elefantiasis leidet auch der »Carlos«. Löst man aus ihm das Familiendrama heraus (was gar nicht so sakrilegisch ist, wie es aussieht, denn Schiller selbst hat ja ursprünglich ohne Flandern, Freiheit und Posa komponiert), so bleibt ein ausgezeichnetes Intrigenstück voll Schlagkraft, Tempo, Spannung, wie es nur Schiller schreiben konnte; selbst Otto Ludwig, der unerbittlichste aller Schillerkritiker, hat zugegeben, daß dieser Teil des Dramas außerordentlich sei, und darauf hingewiesen, daß er offenbar das stärkste und lehrreichste Muster für Scribe und seine Schule abgegeben habe.

Und dies ist in der Tat die eigentliche Bedeutung Schillers für die Geschichte des europäischen Theaters: er war eines der größten Genies der Kolportage. Wir wollen diese Bezeichnung keineswegs im abfälligen Sinne gebraucht wissen, sondern erblicken die höchsten Spitzen dieser Gattung in Ibsen und Shakespeare, Dostojewski und Balzac. Schiller hatte von Natur eine leidenschaftliche Vorliebe für die dichterische Gestaltung von »Schiebungen«, von Coups und Gegencoups, Intrigen und Kabalen und seine Phantasie weilt mit fast ausschließlichem Interesse in der Atmosphäre des Schauerromans. Die Jugenddramen bewegen sich noch gänzlich in dieser Richtung. Ihre kolportagehafte Anlage zeigt sich auch darin, daß ihre Katastrophen nicht zwingend sind. Wir haben im vorletzten Kapitel gehört, daß die »Räuber« und »Fiesko« ohne Beeinträchtigung des Erfolges mehrfach mit » happy end« gespielt wurden und sogar Schiller selber für Mannheim die letzten Szenen geändert hat. Auch von »Kabale und Liebe« wurde eine Fassung aufgeführt, worin der Präsident im letzten Augenblick mit Gegengift erscheint und dem geretteten Liebespaar reuig seinen Segen gibt. Und für die Prosafassung des »Carlos« hatte Schiller wiederum selbst einen anderen Schluß ausgearbeitet: Carlos ersticht sich im Augenblick seiner Verhaftung, Philipp sinkt verzweifelt an seiner Leiche nieder.

Einer der grandiosesten Kolportageromane der Weltliteratur wäre der »Geisterseher« geworden, dessen erstes Fragment 1787 in der »Thalia« und dessen erster Band 1789 erschien. Wir teilen aber nicht die verbreitete Annahme, daß ihn Schiller unvollendet gelassen habe, weil er sich selbst in dem höchst verwickelten Stoff nicht mehr zurechtfand; dies wäre mit seiner ganzen sonstigen Arbeitsweise im Widerspruch, die immer von einem festen detaillierten Generalplan ausging, und für einen Detektivroman, der stets von hinten aufgerollt und daher im vorhinein genau fixiert werden muß, auch bei jedem andern Autor unwahrscheinlich; sondern er unterließ offenbar die Fortsetzung, weil er inzwischen Klassiker geworden war. Aber eine geheime Neigung für derlei Aufgaben hat er bis zu seinem Tode behalten. Gleich nach der Vollendung des »Wallenstein«, 1799, dachte er eine Zeitlang an ein Kriminaldrama mit Giftmord, Kinderraub und verräterischem gestohlenen Schmuck »Narbonne oder die Kinder des Hauses«, das ihn bis ins Jahr 1805 hinein beschäftigte, und an ein noch größer angelegtes Sujet derselben Art »Die Polizei«: »Paris, als Gegenstand der Polizei, muß in seiner Allheit erscheinen und das Thema erschöpft werden. Ebenso muß auch die Poüzei sich ganz darstellen und alle Hauptfälle vorkommen. ... Ein ungeheures, höchst verwickeltes, durch viele Familien verschlungenes Verbrechen, welches bei fortgehender Nachforschung immer zusammengesetzter wird, immer andre Entdeckungen mit sich bringt, ist der Hauptgegenstand. Es gleicht einem ungeheuren Baum, der seine Äste weitherum mit andren verschlungen hat, und welchen auszugraben man eine ganze Gegend durchwühlen muß. So wird ganz Paris durchwühlt, und alle Arten von Existenz, von Verderbnis etc. werden bei dieser Gelegenheit nach und nach an das Licht gezogen.« Besonders der erste Akt, der im Audienzsaal des Polizeileutnants spielen und alle Räder der großen Maschine in vollster Bewegung zeigen sollte, wäre zweifellos ein Sittengemälde von einer aufregenden Buntheit und Spannung geworden, wie es nur Schiller hätte schreiben können. Hermann Hettner bemerkt hierzu in seiner sehr gediegenen »Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts«: »Wer erblickt Schiller gern in der Nachbarschaft von Eugen Sues Pariser Geheimnissen? Der Genius der Schönheit hat Schiller vor der Ausführung dieser Entwürfe bewahrt.« In der Tat trägt niemand anders als dieser warnende Genius der Schönheit die Schuld daran, daß Deutschland nicht jenes allen anderen Nationen überlegene Drama hervorgebracht hat, zu dem es in seinen stärksten Talenten befähigt war.

Der Bund der Dioskuren

Ebenderselbe Genius hat auch über dem Bund der beiden Dioskuren gewaltet, den Hettner und die übrigen Literarhistoriker nicht genug zu preisen wissen. Bekanntlich waren Goethe und Schiller einander ursprünglich antipathisch. Schiller rügte an Goethie »ein bis zur Affektation getriebenes Attachement an die Natur«, erklärte: »überhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet mir zu viel« und schrieb schließlich, ebenfalls an Körner, ohne jede Paraphrase: »dieser Mensch, dieser Goethe ist mir einmal im Wege«; Goethe wußte in dem »gehorsamsten Promemoria«, worin er Schiller für die Jenaer Professur empfahl, an ihm nicht mehr zu rühmen, als daß er »sich durch seine Schriften einen Namen erworben« und erklärte nachträglich ganz offen: »Schiller war mir verhaßt.« Und wie er im ruhigen Rückblick über jene Jahre des gemeinsamen Zusammenarbeitens dachte, erhellt aus den Worten, die er im Oktober 1824, fast zwanzig Jahre nach Schillers Tode, an Zelter schrieb: »Ich redigiere meine Korrespondenz mit Schiller von 1794 bis 1805. ... Mir ist es dabei wunderlich zumute, denn ich erfahre, was ich einmal war. Doch ist eigentlich das Lehrreichste der Zustand, in welchem zwei Menschen, die ihre Zwecke gleichsam par force setzen, durch innere Übertätigkeit, durch äußere Anregung und Störung ihre Zeit versplittern, so daß doch im Grunde nichts der Kräfte, der Anlagen, der Absichten völlig Wertes herauskommt.«

Goethe und Schiller haben in jenen zehn Jahren zwei gemeinsame. Schöpfungen hervorgebracht: das Weimarer Theater und die Xenien. Die sogenannte »Weimarer Schule«, die aus ihren Bemühungen hervorging, muß, aus den Berichten zu schließen, eine geradezu schreckliche Art des Theaterspielens über Deutschland verbreitet haben: es war offenbar der Gipfel jenes Stils, den man noch heute in durchaus nicht ehrendem Sinne als »Hoftheater« bezeichnet. Goethes Grundmaxime lautete: »der Schauspieler soll stets bedenken, daß er um des Publikums willen da ist«; infolgedessen solle er nicht »aus mißverstandener Natürlichkeit« so spielen, als wenn kein Dritter dabei wäre. Dieses Prinzip, das an sich ja nicht unrichtig ist, wurde jedoch in einer Weise wörtlich genommen, veräußerlicht und überspannt, die ans Unbegreifliche grenzt. Die Darsteller mußten stets einen anmutigen Halbkreis bilden, durften nie nach dem Hintergrund sprechen, niemals dem Zuschauer den Rücken, ja auch nur das Profil zeigen. Das Hauptgewicht wurde auf kultivierten Vortrag gelegt: eine übertrieben deutliche Artikulation, die die Persönlichkeit des Schauspielers und den Charakter der Figur verwischt, und eine Art singende Deklamation, die man für den Höhepunkt der Schönheit hielt, kurz, es war die Reduktion der Schauspielkunst auf bloße Rezitation und eine Anzahl fixer Repräsentationsgesten; infolgedessen nahmen auch die Leseproben einen ganz unverhältnismäßig großen Raum ein, von Goethe und Schiller persönlich geleitet, die beide, wie dies bei Dichtern so oft der Fall ist, miserable Vorleser waren, Schiller in so hohem Maße, daß er hierdurch mehrmals den Erfolg seiner Stücke gefährdete: den »Fiesko« las er in Mannheim so schlecht, daß alle, obgleich sie mit den größten Erwartungen gekommen waren, nach dem zweiten Akt weggingen und der Regisseur Meyer Streicher fragte, ob nicht ein anderer die »Räuber« geschrieben und Schiller sie nur unter seinem Namen herausgegeben habe, denn der »Fiesko« sei das Allerschlechteste, was er je in seinem Leben gehört habe; ebenso erging es ihm mit Frau von Kalb, die ihm nach der Vorlesung des »Don Carlos« lachend erklärte: »Lieber Schiller! das ist das Allerschlechteste, was Sie noch gemacht haben«, und noch im Jahr 1801, wo er auf der Höhe seines Ruhms stand, mit der »Jungfrau von Orleans«, die nach dem Bericht des Schauspielers Heinrich Schmidt fast gar keine oder vielmehr auf viele eine »narkotische« Wirkung ausübte. Schiller hielt sich jedoch zeitlebens für den besten Interpreten seiner Werke und hatte sogar in seiner Jugend eine Zeitlang die Absicht, Schauspieler zu werden.

Was die »Xenien« anlangt, so ist vielleicht in jenem Zimmer in Jena, worin die meisten von ihnen durch Kollaboration entstanden sein dürften, das größte Quantum an Weisheit, Wissen, Geschmack, Zeitgeist, Sprachgewalt, Seelenkunde versammelt gewesen, das das damalige Deutschland aufzubringen vermochte; das Resultat ist bekannt. Es wurde von den Zeitgenossen nahezu einstimmig abgelehnt; die führenden Blätter: die »Erlanger gelehrten Zeitungen«, die »Neue allgemeine deutsche Bibliothek«, die »Oberdeutsche allgemeine Literaturzeitung«, Reichardts »Deutschland«, Wielands »Teutscher Merkur« und fast alle übrigen erklärten es in mehr oder minder schroffer Form für gänzlich mißlungen. Das allgemeine Urteil brachte am klarsten der »Kosmopolit«, herausgegeben von Voß, zum Ausdruck, indem er an eine Verlegeranzeige, die die Xenien »eine in ihrer Art ganz neue Erscheinung« genannt hatte, die Frage knüpfte: »Wer kann einen Augenblick anstehen, gegen vierhundert kleine Gedichte ... welche, dem Publikum als eine Auslese feinen und attischen Witzes, als Geschenke von Werth zu einer würdigen und wohltuenden Ergötzung vorgesetzt, gleichwohl großen Teils entweder plump oder hämisch oder flach und sinnlos, fast sämtlich aber ohne eigentlichen poetischen Wert sind - für eine in ihrer Art neue und merkwürdige Erscheinung zu erklären?« und dreiviertel Jahre später, das Ganze noch einmal zusammenfassend, hervorhob, es bleibe immerhin die Befriedigung, »daß von allen Stimmen, welche sich über die Xenien haben hören lassen, auch nicht eine für sie gesprochen hat«. Erst den nachgeborenen Oberlehrern ist es vorbehalten geblieben, sich für sie zu begeistern, indem sie von dem primitiven Kalkül ausgingen: wenn von zwei Autoren jeder einzelne Hervorragendes schaffe, so müsse das, was sie gemeinsam leisten, doppelt wertvoll sein.

Die Antipoden

Hebbel sagt einmal in seinem Tagebuch: »Von Goethe war mir nur wenig zu Gesicht gekommen, und ich hatte ihn um so mehr etwas geringschätzig behandelt, weil sein Feuer gewissermaßen ein unterirdisches ist und weil ich überhaupt glaubte, daß zwischen ihm und Schiller ein Verhältnis wie etwa zwischen Mohammed und Christus bestehe; daß sie fast gar nicht miteinander verwandt seien, konnte mir nicht einfallen.« In der Tat kann man sie, wie wir schon andeuteten, geradezu als Schulbeispiele entgegengesetzter künstlerischer Produktivität ansehen.

Am 5. Juni 1825 sagte Goethe (natürlich zu Eckermann), als von den Definitionen der Poesie die Rede war: »Was ist da viel zu definieren! Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Poeten.« Dahingegen schrieb Schiller den Vers: »Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein ist Poesie!« Prägnanter können zwei polare Künstlerwelten sich nicht gegenübertreten als in diesen beiden Sätzen. Aber während die Feststellung Goethes jedermann ohne weiteres einleuchtet, bezeichnet das Wort Schillers das eigentliche Paradoxon der Künstlernatur. Emerson leitet seinen Essay über Shakespeare mit den Worten ein: »Wenn wir darin Originalität erblicken, daß eine Spinne ihr Gewebe aus ihren eigenen Eingeweiden zieht, dann ist kein Künsder ein Original.« Nun, Schiller war aber wirklich so eine Spinne: er zog alles aus sich selbst.

Schiller kannte von der Schweiz bekanntlich nur ein paar altväterische, wenig anschauliche Beschreibungen und einige Landkarten und Ansichten, mit denen er während der Arbeit am »Tell« sein Zimmer austapeziert hatte; und dennoch ist im »Tell« die ganze Schweiz: alle Schweizer Kritiker konstatierten mit Staunen die treffend ähnliche Porträtierung des Landes, der Sitten, der Volksart, der Redeweise, und Reisehandbücher verwenden noch heute Schillersche Verse zur Orientierung und Lokalverdeutlichung. Die Erörterung dieses Problems war von jeher ein beliebtes Aufsatzthema. Wir möchten jedoch behaupten, daß Schiller nicht nur die Schweiz für seine Schilderung nicht brauchte, sondern daß er sie nur deshalb so gut malen konnte, weil er sie nie gesehen hatte. Eine aufmerksame Tournee durch sämtliche Berge und Täler hätte ihn nur verwirrt. Die widerspruchsvollen und verschwommenen äußeren Eindrücke hätten sich vor seine klaren und kräftigen inneren Bilder geschoben. Eine wirkliche Schweiz hatte dem Dichter Schiller nichts zu sagen.

Es gibt aber ein noch krasseres Beispiel. Im »Musenalmanach für das Jahr 1800« erschien das »Lied von der Glocke«. Das Publikum war von der Genauigkeit und Treue, mit der darin die Vorgänge des Glockengusses geschildert waren, überrascht und entzückt. Aber schon elf Jahre früher hatte sich Schiller mit dem Stoff beschäftigt und ging, wie Karoline mitteilt, »oft nach einer Glockengießerei vor der Stadt spazieren, um von diesem Geschäft eine Anschauung zu gewinnen«. Die Dichtung wollte aber nicht recht vorwärts gehen und er legte den Plan zurück. Eines Tages aber fiel ihm ein ganz ödes Buch in die Hände: die »Ökonomischtechnologische Enzyklopädie« von Krünitz, er las es und auf einmal war die Anschauung da! Wir haben im vorletzten Kapitel darauf hingewiesen, daß Kant diese Fähigkeit, die lebhaftesten und deutlichsten Vorstellungen aus Büchern zu schöpfen, in womöglich noch höherem Maße besaß.

Im Leben aber verhielten sich Goethe und Schiller merkwürdigerweise gerade umgekehrt. Goethe sagte noch im Alter von sich: »Ich bin immer das neugeborene Kind« und war sein Leben lang eine passive, entschlußschwache, im Grunde weltfremde Natur, während Schiller von den Tagen seiner Reife an durch eine sehr scharfe Kenntnis und resolute Behandlung der gesamten Umwelt gekennzeichnet ist. Er war ein Virtuose in der Handhabung des publizistischen Apparats, und zwar in einem Grade, wie er damals noch viel seltener war als heutzutage, ein Meister des »Waschzettels« und »Prospekts«: man denke an die Vorrede zur Auswahl aus Pitaval, den Vorbericht zur »Sammlung historischer Memoires«, die Ankündigungen der von ihm herausgegebenen Zeitschriften, der »Rheinischen Thalia« und der »Hören«, die er beide mit größter Geschicklichkeit redigierte, zum Teil unter Zuhilfenahme ganz moderner journalistischer Praktiken. Bei den »Hören« rechnete er ganz bewußt auf den Snobismus gewisser Publikumskreise, die es zu allen Zeiten gegeben hat, indem er an den Verleger Cotta schrieb: »Das Denken ist freilich eine harte Arbeit für manchen, aber wir müssen es dahin bringen, daß, wer auch nicht denken kann, sich doch schämt, es zu gestehen, und unser Lobredner wider Willen wird, um zu scheinen, was er nicht ist«; er ließ die einzelnen Nummern in der »Allgemeinen Literaturzeitung« auf Kosten Cottas fortlaufend besprechen, was, da diese die angesehenste und einflußreichste Zeitschrift Deutschlands war, selbst unter den heutigen Verhältnissen ein unerhörter Vorgang wäre; und beim Eingehen der »Horen« erwog er die amerikanische Idee, durch Einrücken eines »tollen politisch-religiösen Aufsatzes« ein Zensurverbot zu erwirken, um damit das Fiasko zu kaschieren.

Wenn wir bei der Vergleichung zwischen Goethe und Schiller noch ein wenig verweilen wollen – obgleich sie, wenn wir nicht irren, schon hie und da gemacht worden ist – so wird uns vielleicht als markantester Unterschied auffallen, daß in Goethe auf extreme Weise der optische Typus verkörpert war, in Schiller der akustische Typus. Goethe sagt ausdrücklich: »Gegen das Auge betrachtet ist das Ohr ein stummer Sinn.« Alles Erleben ruht bei ihm im Schauen. Durch den Anblick des Straßburger Münsters wird er zum »Gotiker«; durch den Anblick eines geborstenen Schafsschädels gelangt er zu seiner Wirbeltheorie. In dem dunkeln Gefühl, daß ihn Italien zu neuen Dichtungen befruchten werde, eilt er dorthin, um es zu erblicken; die Idee zu einem Tellepos wird in ihm, im striktesten Gegensatz zu Schiller, durch den Anblick der Schweizer Lokalitäten erweckt, die von der Tellsage Kunde geben. Von Kunstwerken, die er bewundert, wünscht er die Kopien ständig vor Augen zu haben; Schiller hat sich nicht einmal die Originale berühmter Bildwerke angesehen, auch wenn er sie dicht vor sich hatte. Sämtliche Gedichte Goethes sind, wie er selbst es bezeichnet hat, Gelegenheitsgedichte, und dasselbe könnte man von seinen Dramen sagen: alles Schaffen wächst bei ihm aus dem konkreten Erlebnis, und die Literarhistoriker können auf die korrespondierenden Stellen in seiner Biographie und seiner Dichtung mit dem Finger hinweisen. Er hatte eine große Passion für alles Botanische, nur die Kryptogamen interessierten ihn nicht, weil man ihre Einzelheiten mit freiem Auge nicht sieht; aus demselben Grunde beschäftigte er sich auch nicht mit Sternkunde. Er lehnte die mathematische Physik ab, weil sie gleichfalls eine Wissenschaft des Unsichtbaren ist, und die Newtonsche Theorie, daß das Weiß aus sämtlichen Spektralfarben gebildet sei, weil dies dem.Augenschein widerspricht. Seine Vergötterung des Auges ging sogar so weit, daß er niemals Brillen benutzte, weil sie ein künstliches Sehen vermitteln.

Umgekehrt hatte er wenig Beziehung zur Musik. Er hat in ihr immer nur eine dienende Kunst erblickt; die Welt der »absoluten Musik« war ihm verschlossen. Zu den größten musikalischen Genies seiner Zeit, Beethoven und Schubert, hat er bekanntlich ebensowenig ein Verhältnis gefunden wie sein Freund, der brave Kapellmeister Zelter, in dem er das Ideal eines Liederkomponisten erblickte. Für Schiller hingegen stand die Musik im Mittelpunkt alles künstlerischen Schaffens, zumal des dramatischen. Er erklärte, seine poetischen Ideen seien immer »aus einer gewissen musikalischen Gemütsstimmung« hervorgegangen, betonte wiederholt, daß die Vollendung des theatralischen Kunstwerks nur möglich sei, wenn man die Musik dazu heranziehe, und räumte ihr in der dramatischen Ökonomie einen breiten und dominierenden Platz ein: die Höhepunkte zumal seiner späteren Werke sind alle musikalisch empfunden und fordern nicht selten die direkte Unterstützung durch das Orchester. Ja man darf einige seiner Dichtungen, wie den »Tell« und die »Jungfrau von Orléans«, geradezu als Sprechopern bezeichnen, was aber nur in den Augen eines theaterfremden Kunstbolschewismus (der neuerdings die alberne Kühnheit gehabt hat, im »Tell« Details wie das Vorspiel, den Chor der barmherzigen Brüder und den musikalischen Schluß des Rütliakts als »kitschig« zu streichen) einen Einwand bedeuten kann.

Statiker und Dynamiker

Wir könnten vielleicht den Gegensatz zwischen Goethe und Schiller noch auf einen anderen Generalnenner bringen, indem wir Goethe als Statiker, Schiller als Dynamiker bezeichnen. Diese Klassifizierung hat das Mißliche jeder Formel, daß sie etwas Lebendiges unter einen Begriff zu bringen sucht, was schlechterdings unmöglich ist; sie hat aber auch den Vorteil der Formel, daß sie zwei große Gruppen herstellt, die, über die bezeichneten Individuen hinaus, prinzipielle und generelle Bedeutung besitzen. Für Goethe, den Statiker, steht im Mittelpunkt seines Lebens, Denkens und Schauens das Ruhende, das Sein; für Schiller das Bewegte, das Werdende. In der Somatologie ist es die Anatomie, die Wissenschaft von den bleibenden Eigenschaften des Körpers, die Goethes Entdeckungsgebiet bildet, während ihn die Physiologie, die sich mit den Veränderungen des Körpers befaßt, fast gar nicht beschäftigt. Die einzige naturwissenschaftliche Arbeit hingegen, die Schiller verfaßt hat, seine Dissertation, führte in ihrer ersten Fassung den Titel »Philosophie der Physiologie«. Ganz analog ist es in der Botanik die Morphologie, die Wissenschaft von der dauernden Gestalt der Pflanzen, die Goethes Hauptarbeitsgebiet ausmacht, ja die »Urpflanze« ist sogar der gewaltsame Versuch, die verschiedenen Entwicklungsstadien der Pflanze auf ein einheitliches stehendes Grundprinzip zurückzuführen: aus dem Werden ein Sein zu machen. In seinen Studien über die anorganische Natur dominierte die Mineralogie, für die er eine große Leidenschaft besaß; aber die Chemie, die Grundlage aller Mineralogie, ist für ihn von weit geringerem Interesse: weil sie die Lehre von den Umwandlungen der Stoffe behandelt und eine dynamische Wissenschaft ist.

Nach dem Gesagten braucht nicht erst näher motiviert zu werden, wieso Goethe ein so bedeutender Lyriker war, aber niemals ein richtiges Drama geschrieben hat, während es sich bei Schiller gerade umgekehrt verhielt, warum Goethe ein so starkes Interesse für bildende Kunst besaß und Schiller für Politik, warum dieser einer der geistreichsten und verständnisvollsten Schüler Kants wurde, dessen Philosophie, wie wir gehört haben, nichts anderes zum Gegenstand hat als das Werden unserer Erkenntnis, und warum Goethe erklärte, Kant nicht zu verstehen. Nur auf eine anscheinend widerspruchsvolle Tatsache sei noch hingewiesen: Goethe reiste viel und schrieb viele Reisebeschreibungen, und zwar weil er ein Statiker war. Denn der Reiseliebhaber, obschon fortgesetzt bewegt, hat sein jeweiliges Interesse doch immer nur auf ein Ruhendes gerichtet, und sämtliche Disziplinen, die sich mit der Reiseliteratur berühren: Ethnographie, Geographie, Archäologie, Geognosie fußen auf statischen Prinzipien.

Natur und Geschichte

Man könnte das ganze Verhältnis auch auf die beiden Kardinalbegriffe »Natur« und »Geschichte« reduzieren; und in der Tat war im Nebenamt Goethe einer der größten Naturforscher, Schiller einer der größten Historiker seines Zeitalters.

Auch in Goethes Dichtungen dominiert die »Natur«. Man weiß bei ihm immer, welche Witterung herrscht, welche Tageszeit und Jahreszeit, unter welchem Himmelsstrich man sich befindet, auch wo nicht die geringste Andeutung darüber gemacht wird; die äußere Atmosphäre, in der seine Menschen atmen, ist um sie ganz ungewollt herumgelegt, hüllt sie ein wie ein bestimmter Farbenton ein Gemälde. Dies gilt selbst von den abstraktesten Szenen im zweiten Teil des »Faust«. Auch Schiller ist die landschaftliche Stimmung, das physische Milieu durchaus nicht gleichgültig, er empfindet es sogar als sehr wirksamen Faktor; man denke zum Beispiel an den prachtvollen Schluß der Rütliszene: »Die leere Szene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen.« Aber es wirkt immer wie dazugemalt, und es ist immer nur dort hinzugetan, wo es den Bühneneffekt steigert, gewissermaßen als ein ein- und ausschaltbares Stück Theatermaschinerie. Weswegen es uns, sooft es vorkommt, viel stärker in die Nase geht als bei Goethe. Dies spricht jedoch nicht für Schillers Natursinn, sondern gegen ihn; denn die echte Natur ist etwas, das zwar immer da ist, aber fast unmerklich. Der See im »Tell«, das Gewitter in der »Jungfrau«, der Wald in den »Räubern« sind fast Figuren des Stücks, die auf dem Theaterzettel stehen könnten; und dies spricht andrerseits für Schillers eminenten Theatersinn, denn auf der Bühne hat in der Tat nur das Existenzberechtigung, was auch auf dem Theaterzettel stehen könnte.

In Schillers Dichtungen dominiert die »Geschichte«. Goethe ist der Dramatiker der Privatangelegenheiten, Schiller der Dramatiker der welthistorischen Angelegenheiten. Alle seine Stücke haben einen großen politischen Hintergrund, auch seine sogenannten »bürgerlichen«. Es ist gewissermaßen ein Zufall, daß Karl und Franz Moor nur die Söhne eines kleinen regierenden Grafen sind und der Präsident und Ferdinand an einem Duodezhof leben. Sie reden und handeln alle so, als ob sie die Träger weithin leuchtender, in jedem Geschichtsbuch auffindbarer Namen wären. Umgekehrt ist das Historische bei Goethe bloße Namenssache. Es ist ein Zufall, daß Tasso Tasso heißt: er würde uns ebenso interessieren, wenn er nicht mit dem Dichter der »Gerusalemme liberata« identisch wäre, und Egmont mutet uns an wie ein bloßer Namensvetter jenes Helden der Niederlande.

Diktierer und Diktator

Wir haben schon vorhin auf das Dynamische in Schillers Lebensgang hingewiesen. Seine Entwicklung vollzog sich mit einer Hast und Energie, Überstürztheit und Fieberhaftigkeit, die aus dem dunkeln Vorgefühl floß, wenig Zeit zu haben. Jenen permanenten physischen und psychischen Krisenzustand, den man Genialität zu nennen pflegt, überwand er durch ein eminent helles und starkes Dispositionstalent, eine bewunderungswürdige Ökonomie, die mit sehr genau und knapp zugeteilten Kräften so wirtschaftete, daß der Eindruck des Reichtums, der Überfülle, der Verschwendung erzeugt wurde. Während der Arbeit an einem Drama dachte er immer schon an das nächste, und war eines vollendet, so kam ohne die geringste Atempause das folgende daran: hatte er sich einmal ausnahmsweise nicht sogleich für ein bestimmtes neues Sujet entschieden, so fühlte er sich, wie er selbst es ausdrückte, wie im luftleeren Räume schweben. Ja er verspürte sogar, ebenfalls nach seinem eigenen Bericht, in Zeiten körperlichen Wohlbefindens ein Nachlassen der Geistestätigkeit und Willenskraft: wir stoßen hier wieder einmal auf den merkwürdigen Zusammenhang zwischen Krankheit und Produktivität, den wir im ersten Buch erörtert haben. Schon in der äußeren Form der Arbeitsweise zeigte sich der generelle Gegensatz zwischen ihm und Goethe: dieser hat in seiner zweiten Lebenshälfte fast nur diktiert, Schiller niemals, vielmehr schnaubte und stampfte, deklamierte und gestikulierte er beim Dichten in schreckenerregender Weise.

Goethe nahm die Kunst überhaupt nicht übermäßig ernst. Er hatte nichts von der bis zu einem gewissen Grade notwendigen Monomanie des Künstlers, dem sein winziger Ausschnitt aus der Gesamttätigkeit der Menschheit den Angelpunkt der Welt bedeutet. So aber war Schiller, hierin dem Schauspieler verwandt. Mit ihm tritt überhaupt das Moment der »Arbeit« in die Kunst ein, das jener Zeit bisher völlig fremd gewesen war, der Arbeit in der modernen Bedeutung: als Überwindung von Widerständen, inneren und äußeren, und Einordnung aller Tätigkeit in einen vorausbestimmten Plan. So beschäftigte sich Goethe, trotz unablässigster, sorgfältigster und vielfältigster Wirksamkeit, nie und mit nichts. Er war immer Amateur, Liebhaber, Gelegenheitsdichter, Gelegenheitsdenker, Gelegenheitsforscher. Alles entstand bei ihm scheinbar durch Zufall, obschon nach innerster Notwendigkeit. Er entdeckt heute den Zwischenknochen und schreibt morgen seine Lebensgeschichte oder Teile des Faust, vielleicht aber auch nur irgendeinen ganz gleichgültigen Bericht über Bergwerke oder Unterrichtswesen. Alles ist ihm gleich wichtig, alles ist ihm gleich interessant. Er nimmt sich niemals etwas vor. Er läßt sich niemals zu etwas drängen. Er weiß: ist etwas für ihn notwendig, so wird es schon eines Tages von seiner Seele Besitz ergreifen. So paradox es klingt: Goethe, diese ungeheure geistige Energie, die nahezu alles, was vor ihr in menschlichen Köpfen gewesen war, resorbiert und verarbeitet hat, war eigentlich keine aktive, sondern eine träge Natur.

Schiller hingegen hat alles aus sich gemacht. Er wirkt daher, in gewisser Beziehung, moderner. Was hätte er in unserer Zeit, die ihm die Mittel an die Hand gegeben hätte, mit seinem rastlosen Organisationstalent nicht alles ins Leben gerufen: Festspielhäuser, Riesenverlage, Volksbildungsinstitute, Weltjournale! Man könnte sich ihn ganz gut mit Füllfeder und Schreibmaschine, als Filmdichter und Radioredner denken; bei Goethe ist das völlig unvorstellbar: er ist der letzte große Vertreter der stillen Zeiten.

Schiller war ein so vollständiger Dynamiker, daß man sagen darf: er war überhaupt nichts andres. Alles an ihm war Bewegung. Und das Vehikel, womit er sich und die anderen in Bewegung setzte, war sein Idealismus. Der spezifische Idealismus Schillers ist nichts anderes als der überwältigende Ausdruck seines Ungeheuern Temperaments, seiner außerordentlichen persönlichen Spannkräfte. Dieser Idealismus, elementar, schrankenlos, konzessionslos, hat gewissermaßen eine reine Quantitätswirkung. Sein leidenschaftlicher Optimismus war so groß, daß er nur herausschreien konnte, was er zu sagen hatte. Er vermochte nur in Majuskeln zu schreiben. Oscar Wilde sagt einmal: »Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie läßt die eine Küste aus, an der die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit dort angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dorthin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.« Diese Art des menschlichen Fortschritts hat Schiller sein ganzes Leben hindurch gepredigt. Auf seiner Weltkarte war das Land Utopia die Hauptprovinz. Und in diesem Sinne muß Schiller ein Programm für alle Dichter bilden, weil ohne dieses Programm ein echter Dichter gar nicht möglich ist. Seine Form konnte nie die der anderen werden, denn sie war nur eigens für ihn adaptiert; aber seine ganze Art, zu sehen, zu leben, zu sein, wird immer vorbildlich bleiben. Sein Weg war der Weg nach oben, weg von der Erde, weg vom Gestern, selbst weg vom Heute. Er sah von den Dingen weg, aber nicht in Unwirklichkeiten der Vergangenheit, die nie waren, sondern in Wirklichkeiten der Zukunft, die noch nicht sind. Das war das Poetische an ihm. Denn ein Dichter ist ja schließlich nichts anderes als ein Mensch, der von der Zukunft mehr versteht als von der Gegenwart.

Psychologie der romantischen Schule

In diesem Sinne kann man auch sagen, daß Schiller der stärkste und echteste Romantiker seines Zeitalters war, obgleich er von der romantischen Schule so erbittert bekämpft wurde, die in das Geistesleben des ausgehenden Jahrhunderts eine neue Variante einführte.

Was ist »Romantik«? Man sollte glauben, daß die Beantwortung dieser Frage ungemein leicht sei. Romantik, wird man sagen, ist Steigerung und Färbung des Daseins, ist Exotik und Phantastik und dementsprechend ein Zurückgehen auf die Kunstübung und Weltanschauung früherer Zeiten, die noch in einem ornamentierteren, »poetischeren« Seelenleben wurzelte.

Und so meinten es auch anfangs die Dichter und Literaten, die die romantische Schule bildeten. Indes nur anfangs. Denn der Uhrzeiger der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen. Man kann nicht zurück zur Kunst und Seelenverfassung früherer Zeiten, auch wenn sie vielleicht die lebensvolleren und schöneren waren, man kann nicht »zurück zur Antike«, »zurück zur Gotik«, »zurück zur deutschen Renaissance«, man kann nur durch diesen unerfüllbaren Wunsch dem Weltgefühl und Kunstwollen der jeweiligen Gegenwart eine besondere Färbung verleihen.

Dieser Sachverhalt konnte auf die Dauer auch den Romantikern nicht verborgen bleiben. Und so wurde denn – um so mehr, als sie ihn doch nicht völlig klar erkannten die ganze romantische Dichtung und Philosophie, ja schon der von ihr aufgestellte Begriff der Romantik etwas ungemein Verzwicktes, Fragwürdiges und Labyrinthisches, so daß es fast unmöglich ist, ihn zu fassen und zu definieren. Die Romantiker selber vermochten es jedenfalls nicht. Sie waren, obgleich sie glaubten oder vorgaben, zu den Daseinsformen primitiverer Kulturen zurückzustreben, die allermodernsten, kompliziertesten, kritischsten und man muß sogar sagen: phantasielosesten Menschen ihrer Zeit. Eine geistige und künstlerische Bewegung, die die Rückkehr zum Altertümlichen und Volkstümlichen, zum kindlichen Träumen und Fabulieren, zur Mystik und naiven Frömmigkeit zu ihrer Parole macht, wird von einer Vereinigung sehr überlegener, sehr raffinierter, sehr intellektueller Dialektiker, Skeptiker und Analytiker ins Leben gerufen; und schon allein dadurch, daß sie von vornherein als Programm auftritt, wird sie sofort eine Sache aus zweiter Hand, etwas Übertragenes, Substituiertes, Interpoliertes: kein Wunder in einer Zeit, die so aufgeklärt und unterrichtet, subtil und introspektiv war wie keine vorhergehende. Kurz: was bei allen diesen geistreichen Bemühungen herauskam, war nicht wirkliche Romantik, sondern mit Romantik bedrucktes Papier und, bei den stärksten Talenten der Schule, die virtuos inszenierte Komödie der Romantik. Der Stern dieser Theatertruppe war Ludwig Tieck, und zwar im ganz wörtlichen Sinne: er war der hinreißendste Vorleser und Improvisator seiner Zeit, und es war nur eine Stimme darüber, daß aus ihm, wenn er zur Bühne gegangen wäre, einer der größten Menschendarsteller geworden wäre. Dies übertrug sich auch auf seine Dichtung. Die Figuren in seinen historischen Romanen sind kostümierte Schauspieler und seine Lyrik ist nichts als eine prächtige und reiche Requisitenkammer von romantischen Metaphern und Assoziationen. Er war der geniale Akteur der Romantik, wie Friedrich Schlegel deren genialer Journalist und Wilhelm Schlegel deren genialer Professor war. Es ist in diesem Zusammenhang begreiflich, daß er einer der glänzendsten Vertreter eines Genres wurde, das eigentlich er erst zur vollen Ausbildung gebracht hat, nämlich des Kunstmärchens, das sich infantil stellt, während es in Wirklichkeit Satire ist. Die ganze Romantik Tiecks und fast aller seiner Genossen ist eben bloßer Atelierscherz, ein Maskenball, auf dem sich extreme Rationalisten als Irrationalisten verkleiden, und Heine umschrieb den Sachverhalt ebenso boshaft wie treffend, als er sagte: »Tieck wohnte im Hause Nicolais, eine Etage höher als dieser Mann.« Es ist bei ihm alles bewußt und mechanisch, gewollt und konstruiert. Besonders charakteristisch hierfür ist sein berühmter Romanheld William Lovell, in dem er die Figur des Immoralisten zu gestalten versuchte. Dieser nimmt sich vor, ein Wüstling und Bösewicht zu werden, indem er dekretiert: »ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen Natur«, und absolviert gewissenhaft das Pensum, das er sich gestellt hat; aber wir glauben diesem Privatdozenten der Unmoral kein einziges seiner Laster und Verbrechen. Noch stärker tritt dies bei Friedrich Schlegels Roman »Lucinde« hervor, von dem Karoline, die Gattin Wilhelms, bemerkte, er sei ein totgeborenes Kind, das der Pedantismus mit der Sünde gezeugt habe. Bei Friedrich störte jedoch der Rationalismus viel weniger als bei Tieck, da seine Haupttätigkeit sich auf philosophische und wissenschaftliche Gebiete erstreckte. Sein Grundmangel lag in etwas anderem: nämlich in der launischen, undichten, rhapsodischen Art seines Denkens und Arbeitens. Er konnte sich, obgleich eine Fülle von originellen und fruchtbaren Ideen in ihm gärte, niemals zu einer umfassenden einheitlichen Konzeption zusammenraffen. Die Mahlzeiten, die er vorsetzte, bestanden aus lauter höchst pikanten und aparten hors-d'oeuvres. Anfangs glaubte er, aus seinem Defekt eine Tugend machen zu können, indem er behauptete: »Fragmente sind die eigentliche Form der Universalphilosophie«; aber später schrieb er an seinen Bruder in voller Selbsterkenntnis: »Wußtest du nicht, daß ich den Mangel an innerer Kraft immer durch Pläne ersetze?«, und dieser sagte von ihm: »Am Ende beschränkt sich sein ganzes Genie auf mystische Terminologie.«

Die romantische Ironie

Und wir haben hier in der Tat den sonderbaren Fall, daß eine große geistige Bewegung, eine ganz neue Dichtung und Philosophie aus ein paar glänzend geprägten und farbig geschliffenen Schlagworten und Leitvokabeln hervorgewachsen ist. Wir haben uns unter der romantischen Schule ganz einfach die »Moderne« des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts vorzustellen, und sie war, wie solche »neue Richtungen« zumeist zu sein pflegen: sehr selbstbewußt, rechthaberisch und doktrinär und aufs tiefste überzeugt, die einzig richtige und endgültige Ansicht vom Wesen der Kunst zu besitzen; sehr betriebsam, propagandasüchtig und tumultuarisch, gegen fast alles Bisherige frondierend und überall Antiquiertheit witternd; offiziell publikumsfeindlich, im geheimen aber sehr nach großen Auflagen lüstern und emsig bestrebt, Verleger und Zeitungen für sich zu monopolisieren; und bei alledem doch in ihrem federnden Kampf gegen alles Überlebte, Abgestandene, Ausgelaugte als machtvolle Befreiung wirkend. Vom »Sturm und Drang« hatten die Romantiker den Ichkult übernommen, die Lehre von der Suprematie des Gefühls, den Haß gegen die Aufklärung und gegen alles Berufsmäßige, die Begeisterung für die deutsche Vergangenheit und die provokante Anpreisung der Regellosigkeit und Illegitimität. An die Expressionisten erinnerten sie darin, daß sie ein sehr ausgeführtes Programm besaßen, das sie aber nicht ausführten, infolge Überbewußtheit und schöpferischer Impotenz, und daß sie sich an einer gesuchten und konfusen, obschon bedeutend geistreicheren Phraseologie berauschten, mit der sie sich und die Dinge umnebelten. Diese Versuche, alles absichtlich zu entlogisieren und zu chaotisieren, führten schließlich zu gänzlichen Grenzverwischungen zwischen den einzelnen Künsten, zwischen Kunst und Leben, zwischen Philosophie, Poesie und Religion und zwischen den einzelnen Sinneseindrücken: Farben wurden als Töne, Töne als Gerüche empfunden und man träumte von einer Dichtkunst, die »höchstens einen allegorischen Sinn im Großen und eine indirekte Wirkung wie Musik« habe. Wegen seiner Losgebundenheit von der Kausalität hatten sie auch eine solche Vorhebe für das Märchen: »Alles Poetische«, sagt Novalis, »muß märchenhaft sein. Der Dichter betet den Zufall an.« Die »Romantisierung des Dramas« bestand nach Tiecks Meinung darin, daß das dramatische Gefüge durch epische und lyrische Bestandteile zersetzt werde. Romantisch bedeutet im Jenaer Kreis oft nichts anderes als romanhaft, und der Roman galt denn auch als die höchste Gestalt des literarischen Kunstwerks, offenbar wegen der zerfließenden Formlosigkeit, die er zu jener Zeit gerade in seinen bedeutendsten Exemplaren zur Schau trug. Der erste in diesem Fache, Jean Paul, gehörte zu den bestimmenden Outsidern und Sonderlingen mit Ewigkeitsgehalt, wie sie zuweilen in der Weltliteratur aufzutauchen pflegen. Seine Breite, die allerdings aus der Unerschöpflichkeit der Einfälle und Beobachtungen floß, spottete in der Tat jeder festen Begrenzung und Formulierung. Wilhelm Schlegel nannte seine Romane zutreffend Selbstgespräche, und seine auf die Spitze getriebene Subjektivität zerreibt wirklich alles Geschaute und Gestaltete zur Privatkonversation. Aber er besaß, was zwischen klassischem Ernst und romantischem Witz sehr selten geworden war: Humor. Dieser ist die reich und hell sprudelnde Quelle seines solitären Schaffens, die aber zugleich alles verflüssigt und auflöst. Die Romantiker aber, zu denen Jean Paul nicht eigentlich gehört, gingen sogar von der Theorie aus, daß eine Kunst, die die volle Illusion gibt, gar keine wahre Kunst sei, denn diese habe ein freies Spiel zu sein; daher stellten sie den Grundsatz auf, daß die Illusion durch Ironie, Selbstparodie durchbrochen werden müsse. Dies ist der Sinn der berühmten »romantischen Ironie«, die schließlich dazu gelangt, alles zur zweiten Potenz zu erheben, sich über ihre Lustigkeit lustig zu machen und ihre Betrachtung zu betrachten.

Die »Doppellieben«

Durch diese universelle Tendenz, alles überlegen von oben anzusehen, mit allem zu spielen, in allem sogleich die Antithese zu erblicken, die es aufhebt, erhielt das damalige Leben eine überaus geistreiche, aber auch frivole Färbung. Daß man auch die erotischen Beziehungen vom ironischen Gesichtspunkt betrachtete, geht aus den zahlreichen »Doppellieben« hervor, die man geradezu als eine Mode jener Zeit ansprechen kann; fast immer steht eine Frau zwischen zwei Männern oder ein Mann zwischen zwei Frauen: Karoline Schlegel zwischen Wilhelm und Schelling, Bürger in einer Art Doppelehe zwischen zwei Schwestern, der Prinz Louis Ferdinand von Preußen zwischen der sanften Henriette Fromm und Pauline Wiesel, dem »Wunder der Schönheit und der Gemeinheit«; und Novalis liebte sogar gleichzeitig eine Lebende und eine Tote: die dreizehnjährig verstorbene Sophie von Kühn und seine Braut Julie von Charpentier, was er sich damit zu erklären suchte, daß Sophie und Julie nur in der Welt der Erscheinungen zwei seien, einst aber, im Lande der Erfüllung sich als dieselbe Person offenbaren würden. Auch Schiller schwankte längere Zeit zwischen den beiden Schwestern Wolzogen, Lotte und Line (in Weimar hießen damals fast alle Weiber Charlotte oder Karoline), bis das Fräulein Karoline von Dacheröden klärte und vermittelte, die aber selber ihr Herz zwischen Wilhelm von Humboldt und Karl von Laroche geteilt hatte; und dieser vermochte sich wieder zwischen ihr und der schönen Berliner Jüdin Henriette Herz nicht zu entscheiden, der späteren Seelenfreundin Schleiermachers.

Die unromantische Romantik

Wir haben im ersten Buche darzulegen versucht, daß die ganze Geschichte der Neuzeit nichts anderes enthält als die Steigerung und Übersteigerung des rationalistischen Prinzips in seiner Anwendung auf alle Lebensgebiete. Darum nennen wir diesen Entwicklungsgang die Krisis der europäischen Seele, und wir glauben optimistischerweise, daß diese Krisis durch das heilkräftige Trauma des Weltkriegs nunmehr überwunden und ein neues Weltalter angebrochen ist. Wir haben auch schon gelegentlich angedeutet, daß die sogenannten Gegenbewegungen, die im Laufe der Neuzeit periodisch hervorgetreten sind, um nichts weniger rationalistisch waren als der Rationalismus, den sie bekämpften. Vielmehr verhielt es sich bloß so, daß in gewissen Zeiträumen der Verstand nackt und triumphierend auftrat, während er in anderen Momenten Gewissensbisse verspürte moralische, weil er immer ein utilitaristisches Element enthält; ästhetische, weil er die Phantasie erstickt; religiöse, weil er antimystisch, diesseitig und au fond atheistisch ist und sich daher vor sich selber zu maskieren suchte. Derartige Gegenströmungen waren die Barocke, die auf den Humanismus reagierte, die Empfindsamkeit, die auf die Aufklärung reagierte, die Romantik, die auf den Klassizismus reagierte, die Neuromantik des Fin de siècle, die auf den Naturalismus reagierte. Nicht selten waren diese »romantischen« Reaktionsbewegungen sogar noch viel verstandesmäßiger, erdachter, konstruierter, bewußter als die vorhergehenden »realistischen«, die oft mit der Gewalt einer Naturkraft hervorbrachen, in ihrem elementaren Drang nach Klarheit, Wahrheit und Wirklichkeit.

In ihrem Kampf gegen den Klassizismus hat es die Romantik nicht vermocht, einen Gegenstil zu schaffen; vielmehr hat sie bloß die Auflösung alles Stils erreicht. Und was das Wichtigste und zugleich Sonderbarste ist: sie war überhaupt nur eine Spielart des Klassizismus. Rudolf Haym nennt in seinem bis heute nicht überholten Fundamentalwerk über die romantische Schule Hölderlin einen »Seitentrieb der romantischen Poesie«; man könnte diese Bezeichnung umkehren und die gesamte romantische Schule einen Seitentrieb der klassischen Poesie nennen. Ihre ganze Kunstrevolution war nichts als ein Vertauschen der Stichworte, Umdrehen der Pointen und Jonglieren mit antithetischen Begriffspaaren, eine Spiegelfechterei mit Nomenklaturen, virtuose dialektische Schaumschlägerei und kalte Gegenrechnung: das Artistenexperiment, ob man »auch anders könne«. Und eigentlich nicht einmal das. In seinen »Gemäldebeschreibungen« sagt Friedrich Schlegel: »Ernste und strenge Formen in bestimmten Umrissen, die scharf heraustreten; keine Malerei aus Helldunkel und Schmutz in Nacht und Schlagschatten, sondern reine Verhältnisse und Masse von Farben wie in deutlichen Akkorden ... das ist der Stil, welcher mir ausschließend gefällt.« Das hätte auch Winckelmann schreiben können. Und in der Tat bezeichnete es Friedrich als sein Ideal, der »Winckelmann der griechischen Poesie« zu werden. Ganz in diesem Sinne erklärte er die griechische Poesie für den »Kanon der natürlichen Poesie«, der »für alle Zeiten und Völker ein gültiges Gesetz und allgemeines Urbild« sei, und forderte kategorisch die Rückkehr zur »Griechheit«. Über seinen Bruder Wilhelm schrieb Goethe an Heinrich Meyer: »Soviel ich habe wahrnehmen können, ist er in ästhetischen Haupt- und Grundideen mit uns einig.« Beide Brüder stellten Iphigenie und Tasso hoch über Götz und Werther und erblickten in den »Räubern« ein rohes und barbarisches Produkt. Wilhelm ist in seinen lyrischen Dichtungen vollkommener Klassizist, und zwar bereits Epigone, nämlich Schillerkopist, während Tiecks Prosa sehr stark von Goethe beeinflußt ist. Friedrichs »Alarcos« und Wilhelms »Ion«, beide von Goethe aufgeführt, sind von der untadeligsten klassischen Farblosigkeit und Langweile. Umgekehrt ist Schillers Spieltheorie vollkommen romantisch. Sätze wie: »denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« könnten ganz gut von Friedrich Schlegel sein. Daß die Romantiker später gegen Schiller so heftig Front machten, hatte seinen äußerlichen Grund in dem Bruch zwischen ihm und den beiden Schlegel, die jedoch fortfuhren, Goethe aufs höchste zu preisen, obgleich er zweifellos, gegen Schiller gehalten, der »unsentimentalische« Dichter war. Auch der »batavische Plato« Franz Hemsterhuis, in dem sie den Begründer der romantischen Philosophie verehrten, hatte erklärt, die Griechen seien das Idealvolk gewesen und von da sei die Entwicklung nur abwärts gegangen. Und so bestand der höchste, obschon verhüllte Gipfel der romantischen Ironie vielleicht darin, daß die romantische Schule ganz unromantisch war.

Novalis

Das einzige wirkliche Genie der Schule war Novalis, der sich in ihr ausnimmt wie eine Nachtigall unter lauter kunstvollen Spieldosen, und selbst dieser war in seinem Denken noch bedeutender als in seinem Dichten. Die Hauptmasse seiner Ideen hat Novalis in den »Fragmenten« niedergelegt, einer umfangreichen Aphorismensammlung, von der zu seinen Lebzeiten nur einiges in der romantischen Zeitschrift »Athenäum« unter dem Titel »Blüthenstaub« veröffentlicht wurde. Von ihm war die fragmentarische Form nicht aus Bizarrerie oder Bequemlichkeit ergriffen worden, sondern als die seinem Wesen einzig angemessene und organische Ausdrucksweise. Sein Grundcharakter war eine edle Unvollkommenheit, alles an ihm nur Anlage, Keim, Entwicklungsansatz. Das wußte er selber und er schrieb in sein Tagebuch: »ich soll hier nicht vollendet werden« und ein andermal: »ich soll hier nichts erreichen, ich soll mich in der Blüte von allem trennen.« In diesem Sinne hat er uns denn auch wirklich nichts anderes gegeben als die Blüte einer Philosophie.

Im letzten und höchsten Verstande ist für Novalis jede Erkenntnis mystisch: »Alles Auserwählte«, lauten seine schönen Worte, »bezieht sich auf Mystizismus. Wenn alle Menschen ein paar Liebende wären, so fiele der Unterschied zwischen Mystizismus und Nichtmystizismus weg.« Dieser Mystizismus gipfelt in der Forderung an den Geist, sich ins Innere zu versenken und dort eine eigene Welt aufzubauen. »Die Welt ist kein Traum, aber sie soll und wird vielleicht einer werden!«: dieser Aphorismus führt im Nachlaß die Überschrift »Zukunftslehre des Lebens«. Novalis meint damit, daß wir danach streben sollen, uns eine ähnliche Leichtigkeit der Seele zu erwerben, wie wir sie im Zustand des Traumes besitzen, und eine ähnliche Fähigkeit, in jedes Objekt einzudringen und sich darein zu verwandeln. In dem Augenblick, wo unser Denkorgan unsere Sinne in der Gewalt hat, können wir diese auch nach Gefallen modifizieren und dirigieren; so bemeistert heute schon der Maler das Auge, der Musiker das Ohr, der Poet Sprache und Einbildungskraft: »unser Körper ist schlechterdings fähig, vom Geist in beliebige Bewegung gesetzt zu werden.« Vielleicht wird der Mensch einmal imstande sein, verlorene Glieder zu rekonstruieren sich und durch seinen bloßen Willen zu töten, seine Sinne zwingen können, ihm jede Gestalt zu produzieren, die er verlangt, seine Seele vom Körper trennen, wenn er es für gut findet, er wird sehen, hören und fühlen, was, wie und in welcher Verbindung er will, er wird dann erst im eigentlichsten Sinne seine Welt leben können. Diesen tätigen und freien Gebrauch unseres Geistes, unseres Körpers, der ganzen Welt sollen wir lernen. Alle Schranken sind bloß des Übersteigens wegen da. In dieser Richtung liegt unsere Zukunft.

Wenn man diese verstreuten Aufzeichnungen gegenständlich und buchstäblich nimmt, dann ist der »magische Idealismus«, wie Novalis seine Philosophie genannt hat, nichts als die abstruse Folgerung, die ein unkritischer Kopf aus dem fichtischen System zieht, und Novalis ein Gedankenabenteurer, ein philosophischer Cagliostro. Sieht man aber in diesen Äußerungen die Gedankenträume eines tiefen und eigenartigen Dichtergeistes, dann ist Novalis der Prophet einer geistigen Vervollkommnung und Höherentwicklung der Menschheit und selbst der bedeutsamste Beweis für die Kraft und Macht der menschlichen Phantasie. Machen wir denn nicht täglich die Erfahrung, daß die Seele stärker ist als der Leib, daß dieser nur dazu da ist, sie zu bedienen? Den experimentellen Beweis für die Fähigkeit des Geistes, sich den Körper zu bauen, hat ein Jahrhundert nach Novalis der Arzt Karl Ludwig Schleich in seinen höchst tiefsinnigen und fruchtbaren und in manchen Partien geradezu genialen Werken erbracht, in denen er unter anderem auf die metaphysische Schöpferkraft hinweist, die in der Hysterie liegt: bekanntlich sind die Hysterischen imstande, bloß durch ihren Willen, ihre Einbildungskraft Geschwülste, Brandwunden, Blutungen zu erzeugen, ja es gibt sogar einen hysterischen Scheintod und einen Tod durch Autosuggestion. (Übrigens ist ja die Hysterie überhaupt nur eine Steigerung ganz normaler Wirkungen, an denen man ebenfalls schon sehen könnte, daß der »Gedanke«, die »Vorstellung« schöpferisch ist: man denke an das Erröten vor Scham, das Erbleichen vor Zorn, die Gänsehaut vor Angst, die Speichelsekretion bei der »Idee« von Leckerbissen und dergleichen. Außerdem ist jeder Tod durch Schreck eine Art Tod durch Autosuggestion.) All dies muß uns zu dem Schluß drängen, daß jeder Mensch der Dichter seiner eigenen Biographie ist, die meisten unbewußt, einem instinktiven Bildungstrieb folgend, etwa in der Art, wie eine Alge sich ihr Kieselgehäuse baut, der geniale Mensch bewußt. Unsere Erlebnisse und Handlungen sind gleichsam Sekrete unseres Willens, unseres intelligibeln Ichs, unserer Seele, die als die einzige wahre Realität geheimnisvoll schöpferisch hinter unserem sichtbaren Leben thront.

Schleiermacher

Wir möchten, entgegen einer hundertjährigen Professorentradition, die Behauptung aufstellen, daß Novalis der bedeutendste Philosoph der romantischen Schule war, nicht Schleiermacher, nicht Fichte und am allerwenigsten Schelling. Was Schleiermacher mit höchst beachtenswerter geistiger Energie versuchte, war der Ausbau einer romantischen Theologie. Religion ist ihm weder ein Wissen noch ein Tun, sondern ein Gefühl, und zwar, wie er es mit einem ziemlich kakophonen Ausdruck bezeichnet, »ein schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl«: in diesem besteht unser Gottesbewußtsein. Weil aber die Frömmigkeit ein Gefühl ist, ist sie etwas durchaus Individuelles, Außerkonfessionelles, und die religiösen Genies, die Religionsstifter waren jene Persönlichkeiten, die diesem Abhängigkeitsgefühl eine neue Gestalt gaben. Obschon dies eine etwas magere Deutung der religiösen Phänomene ist, haben Schleiermachers Schriften gleichwohl ganze Generationen von protestantischen Theologen befruchtet. Er war auch zweifellos einer der feinsten und mächtigsten Dialektiker, die Deutschland jemals besessen hat, aber im Grunde nur ein entlaufener Schüler der Aufklärung: er besaß den bloßen Willen zum Glauben, wie er denn auch ziemlich stark, wenn auch nicht voll eingestanden, zum Pantheismus neigte, sehr oft Gott und Universum als identische Begriffe behandelte und Spinoza überaus hoch stellte.

Fichte

Fichte war eine der originellsten und suggestivsten Persönlichkeiten des Zeitalters. Schon in seiner äußeren Erscheinung und Gebarung: seiner kräftigen gedrungenen Gestalt, seinen scharfgeschnittenen Zügen, seinem feurigen und gebieterischen Blick, seiner schneidenden Stimme und seinem mehr diktatorischen als demonstrativen Vortrag hatte er viel mehr von einem Sektenstifter oder Parteiführer als von einem Denker und Gelehrten. Anselm Feuerbach sagte von ihm: »Ich bin überzeugt, daß er fähig wäre, einen Mahomet zu spielen, wenn noch Mahomets Zeit wäre, und mit Schwert und Zuchthaus seine Wissenschaftslehre einführen, wenn sein Katheder ein Königsthron wäre.« In der Tat vertrug er nicht den geringsten Widerspruch, hielt jeden, der an seiner Philosophie die geringsten Modifikationen vorzunehmen versuchte, für einen Esel oder Schurken und bekam durch seine spröden herrischen Manieren mit aller Welt Händel. Die Universität Jena, an der er eine glänzende Lehrtätigkeit entfaltet hatte, mußte er mit Eklat verlassen, wegen einer Affäre, bei der die Regierung in der Sache, er aber in der Form im Unrecht war. Er nannte sogar Kant, der sein System ablehnte, einen »Dreiviertelskopf«. Seine Vorträge über die »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«, die er im Winter 1804 auf 1805 in Berlin hielt, übten eine außerordentliche moralische Wirkung: er wandte sich in ihnen mit hohem ethischen Pathos gegen die »Nullität« des Zeitgeists, seine leere Freigeisterei und seichte Aufklärerei, »eingewurzelte Selbstsucht« und »vollendete Sündhaftigkeit«, die bald darauf Preußen nach Jena und Tilsit führen sollte. Einen bewunderungswürdigen Mut bewies er durch seine »Reden an die deutsche Nation«, die er im Winter 1807 auf 1808 hielt, während in Berlin ein französischer Befehlshaber residierte: man fürchtete allgemein, daß ihn das Schicksal des Buchhändlers Palm treffen werde, und er selber war daraufgefaßt. Er forderte in ihnen die sittliche Wiedergeburt des Volkes als Vorbedingung der politischen Wiedergeburt, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß sie einen der stärksten Antriebe zur Erhebung von 1813 gebildet haben.

Sein philosophisches System hatte er bereits im Jahre 1794 in der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« zu entwickeln begonnen, die das Thema behandelt: wie kommt Wissen zustande? Seine Deduktion nimmt ihren Ausgang von einer kritischen Untersuchung der kantischen Erkenntnistheorie. Diese hatte die Ursache unserer Empfindungen im Ding an sich erblickt, das, wie wir bereits darzulegen versuchten, ein ziemlich prekärer und widerspruchsvoller Begriff war; demgegenüber erklärt Fichte: das absolut Erste, Primäre und Ursprüngliche ist nicht das Ding an sich, sondern das Ich; dieses ist die Grundvoraussetzung und Grundbedingung jeder Art von Erfahrung, weil es alle Erfahrung überhaupt erst möglich macht. Da alles Denken, alle Empirie, die Gesamtheit aller Objekte im Ich gesetzt ist und nur in ihm, kann das Ich durch nichts anderes gesetzt sein als durch sich selbst. Das Sein des Ich ist seine eigene Tat und somit keine Tatsache, sondern eine Tathandlung. Wie aber kommt das Ich dazu, diese ursprüngliche Tathandlung zu begehen? Dies wird von Fichte dadurch erklärt, daß das Ich von Natur den Drang zur Produktion in sich trägt, daß das theoretische Ich sich auf das praktische Ich gründet, dessen Wesen Trieb, Wille, Streben ist. Die Existenz des Ich ist keine Behauptung, sondern eine Forderung, kein Axiom, sondern ein Postulat, kein Schluß, sondern ein Entschluß; daher heißt der oberste Satz der fichtischen Philosophie: setze dein Ich! Ohne Ich gibt es keine objektive Welt, keine Natur, kein Nicht- Ich. Daher lautet der zweite Hauptsatz: das Ich setzt das Nicht- Ich, das Ich setzt sich und sein Gegenteil. Das theoretische Ich setzt einen Gegenstand, damit das praktische einen Widerstand habe.

Kurz: die Welt ist ein Produkt des Ich. Das Ich vollzieht eine Reihe von Handlungen, und so entsteht das, was wir die Außenwelt nennen. Aber diese Handlungen des Ich geschehen unbewußt. Wir wissen nichts von dieser schöpferischen Tätigkeit, ähnlich wie im Traume, wo uns gleichfalls Geschöpfe gegenübertreten, die uns als Realitäten, als vollkommen selbständige Wesen erscheinen, obgleich sie nichts anderes sind als Produkte unserer Geistestätigkeit. Diese unbewußte weltschöpferische Tätigkeit des Ich nennt Fichte die »bewußtlose Produktion«, und das Vermögen, wodurch wir diese Tätigkeit vollziehen, findet er in der Einbildungskraft. Weil die Produktion bewußtlos ist, erscheint uns die Welt als etwas außer uns, als »Nicht-Ich«, als Objekt, das heißt: als etwas, das unabhängig von unserem Subjekt besteht. Was wir aber für unser Objekt halten, ist in Wahrheit unser Produkt.

Diese ganze Deduktion handelt jedoch von Tatsachen des Unterbewußtseins. Nun gibt es aber eine menschliche Geistestätigkeit, in der dieser dunkle Vorgang jedermann klar vor Augen liegt. Diese Tätigkeit ist die Kunst. Das Vermögen, wodurch die Kunst ihre Schöpfungen hervorbringt, ist gleichfalls die Einbildungskraft, und auch das Resultat, zu dem sie gelangt, ist dasselbe wie das der fichtischen »Produktion«: wenn nämlich die Kunst ihre Tätigkeit vollendet hat,so stehen auch ihre Produkte als scheinbar selbständige Objekte da, als Realitäten, die vom Ich des Künstlers losgelöst erscheinen. Dennoch besteht ein bedeutsamer Unterschied. Was dort der Mensch bewußtlos vollbringt: die Schöpfung einer in sich zusammenhängenden Welt, das tut hier der Künstler mit völligem Bewußtsein. Hier wird die Theorie zur Wirklichkeit, und was jeder Mensch tut, ohne es zu wissen, in der Dunkelkammer des Unterbewußtseins, das vollzieht der Künstler als ein seiner selbst mächtiges Wesen im Tageslicht des Selbstbewußtseins. Darum hat Fichte gesagt: »Die Kunst macht den transzendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen.« Seine Philosophie ist, wenn man sie recht versteht, eine radikale Künstlerphilosophie. Und die Romantiker verstanden sie und machten Fichte zu ihrem Propheten.

Schelling

Die Grundlage des fichtischen Systems ist eine Gleichung: Ich = Welt. Kehrt man diese Gleichung um, so erscheint die ganze Welt als ein Ich, als ein geistiges lebendurchströmtes Wesen, als ein Stufenreich von intellektuellen Potenzen, deren höchste der selbstbewußte Mensch ist. Unter diesem Gesichtswinkel erscheint die Natur nicht mehr als eine tote Masse, eine starre Schranke des Geistes, als ein Gegen-Ich, sondern als ein unentwickelter Mensch, eine unreife Intelligenz, Stoff von unserem Stoffe und Geist von unserem Geiste. Natur ist nicht ein Ungeistiges, sondern ein Vorgeistiges, unbewußter, werdender Geist, eine Entwicklungsreihe immer besser gelingender Versuche des Nicht-Ich, Ich zu werden. Dies ist der Standpunkt Schellings. Sagte Fichte: Ich = Alles, so sagte Schelling: Alles = Ich und bezeichnete daher das System Fichtes als subjektiven, sein eigenes als objektiven Idealismus. Für ihn sind sowohl Natur wie Geist Einheit des Idealen und Realen, des Subjektiven und Objektiven; nur daß in der Natur das Reale, im Geist das Ideale überwiegt. Natur und Geist, Objekt und Subjekt stehen zueinander im Verhältnis der Polarität, deren Grundgesetz lautet: Identisches entzweit sich, Entgegengesetztes strebt nach Vereinigung. Polarität zeigen alle materiellen und geistigen Phänomene: der Magnetismus, die Elektrizität, die Säuren und Alkalien, die Körper in ihrer Wechselwirkung von Repulsion und Attraktion, Pflanze und Tier in ihrem entgegengesetzten Verhalten zum Sauerstoff, die höheren Lebewesen in ihrem Dualismus von Irritabilität oder physischer Reizbarkeit und Sensibilität oder psychischer Reizbarkeit, das Ich in seiner bewußtlosen und bewußten Tätigkeit und die Kunst, die als Darstellung des Unendlichen das »wahre und ewige Organon« der Philosophie ist.

Die höchst geistreiche, obschon in ungenießbarer, lähmend änigmatischer Sprache vorgetragene Philosophie Schellings ist, trotz steter Bezugnahme auf Kant und Fichte und freigebigstem Gebrauch der Worte »kritisch« und »transzendental«, nur eine maskierte oder vielmehr ihr selbst unbewußte Rückkehr zum Dogmatismus, worin zunächst noch kein Einwand läge, wenn Schelling sich darauf beschränkt hätte, Poet zu sein wie Novalis oder Essayist wie Friedrich Schlegel oder ein großartiges enzyklopädisches Lehrgebäude zu errichten wie Hegel. Zu einem solchen gelangte er aber nie: der Grund lag darin, daß er zu rasch und zu früh berühmt wurde. Infolgedessen begnügte er sich damit, immer nur allerlei apokalyptische Richtlinien und Andeutungen, Kohlenskizzen und Brouillons, Programme und Denkschriften in die Welt zu schicken. Was Fichte Kant vorwarf, daß er sich selbst nicht verstehe, gilt tatsächlich von Schelling. Der Grund seiner Unverständlichkeit lag nicht darin, daß seine Ideen zu tief waren, sondern daß er sie nicht bis zur letzten Klarheit durchgedacht hatte und daher um so weniger anderen klar machen konnte und daß er auch das ungeheure Tatsachenmaterial, das er beherrschen wollte und mußte, nicht in der Hand hatte. Er half sich daher mit einem dilettantischen Eklektizismus, der seine Mängel hinter einem vornehmen Orakelton zu verbergen suchte. Seine Enuntiationen fanden aber gleichwohl längere Zeit ein begeistertes Publikum, teils wegen der originellen, fruchtbaren und beschwingten Gedanken oder vielmehr Apercus, die tatsächlich in ihnen verstreut lagen, teils weil es zu allen Zeiten Halb- und Schiefgebildete gibt, die zu strengem und reinem Denken nicht aufgelegt oder nicht fähig sind und daher den Nebel, in dem man sich gar nicht anders als tappend bewegen kann, als bequem und zugleich sehr apart begrüßen.

Die Chemie kennt gewisse Körper, »Katalysatoren«, die die Eigenschaft besitzen, das Tempo eines chemischen Vorgangs durch ihre bloße Anwesenheit zu steigern; ein solcher katalytisch wirkender Stoff fesselt durch seine Affinität einen Bestandteil einer Verbindung, die er dadurch spaltet, und gibt ihn an einen Körper mit stärkerer Affinität wieder ab: er verursacht also bloß die Bildung labiler Zwischenprodukte, während er selbst im Resultat der chemischen Reaktionen, die er hervorgerufen hat, nicht erscheint; er gibt nur den Anstoß. Eine solche produktive Zersetzerin, Quelle geistiger Chemismen und Beschleunigerin der seelischen Reaktionsvorgänge war die romantische Schule. Sie bewirkte neue Verbindungen, Umlagerungen, Umbildungen, ohne selbst im dauernden »Endprodukt« dieser Umwandlungsprozesse zu erscheinen; sie war eine bloße Entwicklungsbeflüglerin, nicht selbst produktiv, aber produktivmachend, ein bloßes Element der Unruhe, Aktivierung, Antreibung, Anregung. Dies kam daher, daß die Romantiker die Neurasthenischen, Unkonsolidierten, »Pathologischen« ihrer Zeit waren und daher eine geringere seelische Stabilität und ein höheres psychisches Witterungsvermögen besaßen.

Fortschritt der Naturwissenschaften

Einen solchen Flair bewies auch Schelling, als er eine naturwissenschaftlich orientierte Philosophie ins Leben rief. Denn im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts wurde »Naturphilosophie« die große Mode, unterstützt durch eine Reihe bedeutsamer Fortschritte auf empirischem Gebiet. 1800 gelang Carlisle und Nicholson die Elektrolyse, die Zerlegung des Wassers durch den galvanischen Strom; dieser wurde dann von Humphry Davy genauer erforscht, der durch ihn zur Entdeckung zweier neuer Metalle, des Kaliums und des Natriums, gelangte, indem er aus Kali (K 2O) und Natron (Na 2O), die man bisher für Elemente gehalten hatte, auf elektrolytischem Wege den Sauerstoff ausschied; er war auch einer der ersten, die die Warme für eine Bewegungserscheinung erklärten. 1811 entdeckte Courtois ebenfalls ein neues Element, das Gay-Lussac wegen seines veilchenfarbigen Dampfes nach dem griechischen Jod taufte; von dem letzteren stammte auch die berühmte »Recherche sur la dilatation des gases et des vapeurs«, in der der Nachweis geführt wird, daß alle Gase und Dämpfe sich bei gleicher Erwärmung gleich stark ausdehnen. In demselben Jahr wie diese Schrift, 1802, erschien auch die Abhandlung »On the theory of light and colours«, worin Thomas Young, auf Huygens zurückgehend, das Licht für eine Bewegung des Äthers erklärte und die einzelnen Farbenempfindungen auf die verschiedene Anzahl der Schwingungen zurückführte, die jene Ätherbewegung auf der Netzhaut erzeugt. Théodore de Saussure, der Sohn des ersten Montblancbesteigers Benedict Saussure, machte botanische Experimente mit Nährlösungen und enthüllte auf Grund von teilweise schon sehr genauen Messungen die Rolle, die der Sauerstoff, die Kohlensäure, das Wasser, die Salze und die sonstigen Mineralstoffe des Erdreichs im Leben der Pflanze spielen. Monge, unter dem Konvent Leiter der Geschützgießerei, unter Napoleon Teilnehmer der ägyptischen Expedition, erfand die »darstellende« oder »projektivische« Geometrie, durch die es ermöglicht wird, Körper auf die Ebene zu projizieren, dreidimensionale Gebilde auf zweidimensionale zu reduzieren oder vielmehr als solche darzustellen: eine Wissenschaft, die für den Ingenieur und Techniker, aber auch für den Baukünstler und Maler von der größten Wichtigkeit ist. Cuvier, der Liebling Napoleons, von ihm mit der Reorganisation des Unterrichtswesens betraut, ließ 1805 seine »Leçons d'anatomie comparée« erscheinen, gelangte als erster zu einer genaueren Unterscheidung der Wirbellosen, indem er sie in drei Kreise zu vier Klassen einteilte, begründete seine Lehre von der »Korrelation der Organe«, nach der alle Teile eines bestimmten Tiertypus einander bedingen und in engster Wechselbeziehung stehen (beim Fleischfresser zum Beispiel die verdauenden Eingeweide, die starken Kiefer und Klauen, die raschen Bewegungswerkzeuge, die scharfen Zähne und Augen) und entwickelte seine »Katastrophentheorie«, die die Erdgeschichte in periodischen Umwälzungen verlaufen läßt: in jeder geologischen Epoche entsteht durch Neuschöpfung eine besondere Fauna, die eines Tages durch eine Katastrophe vollkommen vernichtet wird, um einer andern Platz zu machen; von der letzten Erdrevolution nahm er an, daß sie vor fünftausend Jahren stattgefunden habe. Diese Hypothese ist von der späteren Wissenschaft vollkommen verlassen worden, aber damals herrschte sie unumschränkt, und als Lamarck 1809 in seiner »Philosophie zoologique« die gegnerische Abstammungslehre aufstellte, die die Entwicklung des Tierreichs durch Anpassung und Vererbung, die Entstehung der Organe durch Gebrauch und ihre Verkümmerung durch Nichtgebrauch erklärte, fand er keinerlei Beachtung. Es war begreiflich, daß ein Zeitalter, das so jähe und gewaltsame Veränderungen erlebt hatte, wie sie von der Französischen Revolution und Napoleon ausgegangen waren, der Katastrophentheorie mehr Glauben entgegenbrachte.

Das klassische Kostüm

Die andere große Modewissenschaft war die Archäologie. Im Louvre, dem »Musée Central«, späteren »Musée Napoléon«, häuften sich schon zur Revolutionszeit geraubte Antiken aus allen Ländern. 1806 begann Joseph Bonaparte als König von Neapel aufs neue und intensiver als bisher Pompeji auszugraben. Lord Elgin, englischer Botschafter bei der Pforte, brachte die Parthenonskulpturen nach London, wo die »Elgin marbles« vom Staat für das Britische Museum angekauft wurden. Der eigentliche Begründer der Altertumswissenschaft in dem umfassenden Sinne, den sie heute besitzt, war Friedrich August Wolf. Er war der erste, der sich als Student der »Philologie« immatrikulieren ließ, definierte aber alsbald diese Wissenschaft als »Erkenntnis der altertümlichen Menschheit selbst«.

Das allgemeine Interesse für die Archäologie war natürlich eine Folge des herrschenden Klassizismus. Selten hat es eine Zeit gegeben, die in solchem Maße und mit solcher Leidenschaft sich in eine vergangene Lebensform zurückkostümierte. Die Französische Revolution begann sofort damit, alles und jegliches zu antikisieren, jedoch viel weniger in der griechischen als in der für die gallische Seele weit suggestiveren lateinischen Form; da »Römer« und »Republikaner« im Bewußtsein der damaligen Zeit identische Begriffe waren, konnten dabei auch die politischen Velleitäten ihre Nahrung finden. Überall standen Büsten der »Freiheitshelden« Brutus und Cincinnatus, Seneca und Cato, und Lafayette hieß »Scipio Americanus«. Die Jakobiner beriefen sich bei ihren staatlichen und wirtschaftlichen Maßnahmen stets auf Rom und Sparta, und ihr Abzeichen war die »phrygische Mütze«, le bonnet rouge, eine rote Wollhaube von antiker Form. Die offizielle Bezeichnung der französischen Republik »R. F.« war dem römischen »S.P.Q. R.« (senatus populusque Romanus) nachgebildet. Die neuen Monatsbenennungen und die Namen der neugegründeten Republiken waren griechisch oder lateinisch: der Erntemonat hieß Messidor, der Hitzemonat Thermidor, der Fruchtmonat Fructidor, aus Holland wurde Batavien, aus der Schweiz Helvetien, aus Genua Ligurien, aus Neapel Parthenope. Babeuf verwandelte seinen Vornamen in Gracchus und nannte seine Zeitschrift »Volkstribun«. Selbst die Spielkarten müssen sich antikisieren: der Pikbube heißt von nun an Publius Decius Mus. Der »Messidorstil« der neuerrichteten Bauwerke gestattet nur die klassische gerade Linie und perhorresziert jegliche Krümmung. Auch Napoleon arbeitet mit lauter klassischen Reminiszenzen: tribunat, sénat, plébiscite, nennt sich zuerst Konsul, dann Imperator, führt bei der Armee die römischen Adler ein und kopiert in zahlreichen Äußerlichkeiten den Kaiser Augustus. Auch in seiner inneren und äußeren Politik schwebte ihm die Praxis des römischen Imperiums mit ihrer nivellierenden Zivilverwaltung, ihren Prätorianergarden und ihrer Verwandlung der unterworfenen Fürsten in »Bundesgenossen« als bestimmendes Muster vor. Der Empirestil oder Napoleonstil, der sich unter ihm entwickelt, ist farbenscheu, verwendet nur Weiß und Gold, sparsamst ornamentierte Tapeten, dunkles Mahagoni und matte Bronzebeschläge; seine beliebtesten Schmuckformen sind Lorbeerkranz und Lyra, Medaillons, gekreuzte Fackeln, steife Mäander, Eierstäbe und Lilienketten: lauter »antike« Motive. Daß man in einer permanenten Kriegszeit lebt, zeigt sich an der Vorliebe für Waffentrophäen, Flortücher und Aschenurnen. Nicht nur an den Fassaden, sondern auch in den Zimmern wimmelte es von Sphinxen, Karyatiden, Säulen, Obelisken. Die Bücher- und Kleiderschränke, selbst die Kasten, in denen sich das Nachtgeschirr befand, waren griechische Tempel mit Kapitellen und Architraven, die Waschtische Dreifüße, die Réticules Urnen, die Öfen Altäre; in Hamburg bestanden sogar die Galgen aus korinthischen Säulen. Die militärische Kopfbedeckung nimmt die Form des antiken Helms an. Auch die Damen trugen eine Zeitlang helmartige Hüte, woraus sich später die »Schute« entwickelte, die sich sehr lange hielt; ihre Frisur war der Knoten à la grecque mit dem Haarnetz. Im Kostüm suchten sie sich der antiken Nacktheit zu nähern, indem sie nur ein einziges Kleidungsstück verwendeten, die tunique, die, wegen ihres hemdartigen Schnitts auch chemise genannt, Hals, Brust, Arme und Beine frei ließ, wozu sie höchstens noch fleischfarbene Trikots und einen Shawl aus Kaschmir trugen, dessen anmutige Drapierung eine schwierige und heißgeübte Kunst war; die ebenfalls nackten Füße steckten in Sandalen oder flachen Bänderschuhen. Die Kleidung war natürlich höchst ungesund, zumal da die Tunika nur aus ganz leichten Stoffen bestehen durfte, und man nannte daher den Katarrh, an dem die Damen ständig litten, die Mousselinekrankheit; aber die Hygiene hat bekanntlich niemals auf die Mode einen bestimmenden Einfluß geübt, und nur Selbsttäuschung kann glauben, daß dies heutzutage der Fall ist: die dünnen Seidenstrümpfe und Lackschuhe bieten nicht viel mehr Schutz gegen Erkältungen als das Empirekostüm.

Dieser radikale Wandel im Kostüm hängt auch mit der Tendenz zur »republikanischen Einfachheit« zusammen. Man kolportierte mit Befriedigung die Bemerkung einer Türkin zu einer Dame im Reifrock: »bist das alles du?« und hielt hohe Frisuren und Absätze, Culs und Schnürbrüste für Bekenntnisse zur Gegenrevolution. In analoger Weise verschwindet bei den Männern der Puder und der Zopf und die Rokokotracht wird von dem schlichten dunkeln Rock des dritten Standes und dem pantalon, der langen Matrosenhose der Sansculotten, verdrängt. Unter dem Directoire liebt die Mode allerlei Anspielungen auf die verflossene Schreckenszeit: die Damen tragen die Haare im Nacken rasiert und um den Hals ein schmales rotes Band, und da die Bevölkerung durch die Guillotine stark dezimiert worden war, wird es üblich, durch eingelegte Polster Schwangerschaft vorzutäuschen. Unter dem Taumel, der nach den langen Ängsten und Entbehrungen die Gesellschaft ergiff, nahm das Kostüm eine Zeitlang die extravagantesten Formen an. Die Stutzer, die sogenannten incroyables, trugen monströse zweispitzige Hüte, Fräcke mit enormen Flügelklappen, mehrere große Halstücher übereinander, in denen die untere Hälfte des Gesichts verschwand, keulenartige Spazierstöcke und Ohrringe, ihre weiblichen Pendants, die merveilleuses, die Haare kurz und zerzaust à la sauvage und Ringe an den Füßen. Damals begann auch die Weltherrschaft des Zylinders. Welches Entsetzen dieses groteske Kleidungsstück anfangs hervorrief, zeigt eine Notiz der »Times« vom Jahre 1796: »John Hetherington wurde gestern wegen groben Unfugs und Verursachens von Straßenunruhen dem Lordmajor vorgeführt. Es wurde bewiesen, daß Hetherington auf der öffentlichen Straße mit einem Hut auf dem Kopfe erschienen war, den er einen Seidenhut nannte, einem hohen Bau von glänzendem Schein, geeignet, furchtsame Wesen in Schrecken zu versetzen. Tatsächlich sagten einige Polizisten aus, daß mehrere Frauen bei seinem Anblick in Ohnmacht fielen, Kinder schrien und einer aus der Menge, die sich angesammelt hatte, zu Boden geworfen wurde und sich den rechten Arm brach.«

Alfieri, David, Talma Und Thorwaldsen

Der klassizistische Geist ergriff natürlich auch alle Künste. In Italien war der stärkste Vertreter dieser Strömung der Graf Alfieri, ein reiner Konturist, völlig ornamentlos in Sprache, Psychologie und dem Mangel an Episoden und Nebenmotiven, strenger Beobachter der drei Einheiten, programmatisch, tendenziös, von einem prononcierten Lakonismus und Catonismus erfüllt. In Frankreich war der einflußreichste Künstler dieser Richtung Jacques Louis David, dessen Gemälde zum erstenmal in der Wiedergabe der Waffen, Gewänder, Geräte, Köpfe archäologisch korrekt, aber kalt und pathetisch arrangiert, mit düsterer Rhetorik sich für antike Tugend, Freiheit, Vaterlandsliebe begeisterten. Auch wenn er Zeitgenossen malte: den ermordeten Marat, Napoleon als General und Kaiser, Barère, wie er den Tod des Königs fordert, wurden sie ihm unter der Hand zu Römern. Lateinische Klarheit, römische Energie und Bestimmtheit spricht auch aus seiner harten, männlichen, präzisen Behandlung des Lichts und der Bewegung. Sein Zeitgenosse war der große Talma, dessen Kunst nach den Schilderungen von Augenzeugen gespielter David gewesen sein muß: seine Attitüden wurden mit der Haltung antiker Statuen verglichen und Wilhelm von Humboldt sagte von ihm, sein Spiel sei eine ununterbrochene Folge schöner Gemälde gewesen; er war auch gleich David der erste, der in seiner Kunst vom Kostüm historische Echtheit forderte, während noch Garrick die Helden Shakespeares mit Puderperücke und die griechischen Könige in Wams und Federhut gespielt hatte. In der Plastik nahm der Däne Thorwaldsen unbestritten den ersten Rang ein. In seinem starken Talent für anmutige und klare Umrisse, einem bloßen Relieftalent, kulminiert die undramatische Langweile des Klassizismus auf eine sehr edle und reine Weise. Auf die Frage nach seinem Geburtstag antwortete er: »das weiß ich nicht; am 8. März 1797 kam ich zum erstenmal nach Rom«. Sein Alexanderzug, der jahrzehntelang dem Parthenonfries an die Seite gestellt wurde, ein technisches Meisterwerk an Feinheit der Formbeherrschung und Strenge der Komposition, im übrigen temperamentlos bis zur Gleichgültigkeit und typisierend bis zur Ununterscheidbarkeit, besonders in den Frauenfiguren ganz tot und bilderbogenhaft, ist ein reiner Theaterfestzug; die »edle Vereinfachung« ist so weit getrieben, daß das Viergespann Alexanders nur vier Hinterbeine aufweist. Führich erklärte, Thorwaldsen sei »nichts als ein Schauspieler«. Wir möchten sogar sagen: Hofschauspieler.

Wir haben schon einmal erwähnt, daß »gotisch« in der damaligen Zeit soviel bedeutete wie: barbarisch, roh, kunstlos. Heinrich Meyer, nach Goethes Überzeugung der erste Fachmann seiner Zeit in Fragen der bildenden Kunst, sagte 1799 in den »Propyläen«, der Anblick gotischer Gebäude reize »zur Verachtung derjenigen, die solche Werke hervorbrachten«. Der ebenfalls mit Goethe befreundete sehr einflußreiche Kunstschriftsteller Karl Ludwig Fernow rügte an Michelangelo das »Hervorkehren seines Eigenwillens«: bei allem Feuer sei er nie zur schönen Eintracht des Genies mit dem Geschmacke gekommen, so wenig wie Aischylos, Dante oder Shakespeare, und ebenso sei es Bernini und den anderen Barockmeistern ergangen. Die größten Verheerungen hat der Klassizismus in der Landschaftsmalerei angerichtet. Ihr Lieblingsvorwurf ist die stilisierte italienische Campagna, belebt durch »malerische« Opernbriganten und einen in der Mitte grasenden Esel voll Anmut und Würde, der direkt aus Weimar gekommen zu sein scheint.

Goya

Ganz abseits steht die rätselhafte Erscheinung Goyas, die erst in unseren Tagen in ihrer hinreißenden Suggestivität und einzigartigen Problematik voll gewürdigt worden ist. In seinen staunenswerten Gemälden und Radierungen vermählen sich Barock, Naturalismus und Impressionismus. Seine »Caprichos« konzipieren ganz im Barockgeist die Welt als Maskerade und Traum, seine Porträts der spanischen Königsfamilie schildern die Häßlichkeit ihrer Modelle mit einer Naturtreue, wie sie andere Maler kaum bei Privatpersonen gewagt haben, und seine »Erschießung von Straßenkämpfern«, die bereits den ganzen Impressionismus vorwegnimmt, hat bekanntlich Manet bei seiner »Exécution de l'empereur Maximilian« zur Vorlage gedient. Er ist, ebenso wie Herder, der Sturm und Drang und der junge Goethe, ein Beweis dafür, daß der Impressionismus sich im achtzehnten Jahrhundert ganz natürlich und notwendig aus dem Rokoko herausentwickelt hätte, wenn er nicht gewaltsam durch den Klassizismus zurückgedrängt worden wäre. Der Maler Philipp Otto Runge entwarf um die Jahrhundertwende sogar schon eine Theorie des Impressionismus, die er allerdings in seinen Bildern nicht zu verwirklichen vermochte, indem er erklärte, in der Kunst der Formen hätten die Griechen und die Renaissancemeister den Höhepunkt erreicht, das Studium der vom Licht nuancierten Farbe hingegen sei von ihnen nicht ernstlich betrieben worden; die Darstellung von Licht und Luft werde das große Problem, die große Eroberung der modernen Malerei werden.

Beethoven

Als ein völlig Abseitiger muß auch Beethoven angesehen werden. Er kann weder zur Romantik noch zur Klassik gezählt werden, obgleich beide ihn für sich reklamierten. In dieser überlebensgroßen Zeitlosigkeit erinnert er an Michelangelo, mit dem ihm auch noch eine Reihe anderer Eigentümlichkeiten gemeinsam sind: die dämonische Häßlichkeit; die gewalttätige Rauheit und mißtrauische Launenhaftigkeit der Verkehrsformen; die Frugalität und Unordentlichkeit der Lebensführung; die grüblerische Selbstbeschau und misanthropische Ungeselligkeit; die Mischung aus Schätzung und Verachtung des Geldes, Geschäftsklugheit und Hilflosigkeit, die ihn zum Opfer gieriger Verwandten machte; das Verhältnis zu den Mäzenen, die er braucht und sucht, aber gleichwohl als herrisch Fordernder, ja als tief unter sich stehend behandelt; die Leidenschaftlichkeit seiner Erotik, die aber, stets in der Phantasie lebend, nie ihr Ziel findet; die Konzessionslosigkeit und Intransigenz seines Künstlertums; das ungeheure Selbstbewußtsein und schon sehr frühe Erkennen seiner Millenarbedeutung, vergällt durch ewige Unzufriedenheit mit dem Geschaffenen; die Kolossalität und Weiträumigkeit seiner Konzeptionen; die gigantische Arbeitskraft, die unermüdlich neue Methoden und Techniken sucht und findet, alle gegebenen Formen in ungeahntem Maße erweitert und über die letzten Grenzen der Kunst hinausstrebt; und die hoffnungslose Verkanntheit. Hingegen unterscheidet er sich von Michelangelo durch sein tiefes Gemüt und durch seinen verklärenden und befreienden Humor, zwei Eigenschaften, die der Romane in ihrer vollen Ausbildung nicht besitzt, nicht kennt und nicht würdigt, und durch seine Religiosität, die bei ihm in ganz andere Abgründe reicht als bei dem diesseitstrunkenen Renaissancemeister. Ihm war die Kunst »Vermittlung des göttlichen und eine höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie« und die Musik »mehr Empfindung als Tongemälde«: daß er den Höhepunkt der absoluten Musik darstellt, hängt aufs engste mit seiner Frömmigkeit zusammen. Beethoven, Napoleon und Goethe sind die drei größten Gestalten des Zeitalters; aber er ist der edelste von den dreien. Und es ist eine tragische Fügung, daß er wohl die beiden anderen verstanden hat, sie aber nicht ihn. Hätte Goethe das Phänomen Beethoven begriffen, so hätten wir heute vielleicht das großartigste und profundeste Kunstwerk aller Zeiten: einen von Beethoven komponierten Faust; die Unendlichkeit des Gedankens, vermählt mit der Unendlichkeit der Melodie. Und wenn Napoleon Beethoven erfaßt hätte, so hätte Europa vielleicht heute ein anderes Antlitz. Es ist bekannt, daß Beethoven seine dritte Symphonie, die »Eroica«, »composta per festeggiare il sovvenire di un grand' uomo«, ursprünglich dem General Bonaparte gewidmet hatte und, als dieser sich zum Kaiser machte, die Zueignung vernichtete. Was diese und die Neunte schildern, das hätte Napoleon werden sollen und können: der Held im Dienste der Menschheit; und das ist er nicht geworden.

Der Malthusianismus

Eine isolierte Entwicklung, wennschon in ganz anderer Richtung als Goya und Beethoven, nahm auch England. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß dort, infolge der viel rascheren und intensiveren Entfaltung des Wirtschaftslebens, der moderne Maschinenmensch konzipiert worden ist. Und England ist auch das Geburtsland der sogenannten »modernen Wirtschaftstheorien«. Ihre Begründer sind Malthus und Ricardo. Die Argumentation, auf die der Pfarrer Robert Malthus sich stützte, war folgende: der Boden Englands könne in 25 Jahren höchstens das Doppelte des heutigen Ertrages abwerfen, in 50 Jahren das Dreifache, in 75 Jahren das Vierfache, der Nahrungsspielraum vergrößere sich also in arithmetischer Progression; die Bevölkerung zeige aber die Neigung, sich in 25 Jahren zu verdoppeln, in 50 Jahren zu vervierfachen, in 75 Jahren zu verachtfachen, vermehre sich also in geometrischer Progression. Dieses Mißverhältnis könne nur durch »checks« ausgeglichen werden: durch Kriege und Seuchen, durch die Existenz in engen Straßen und luftarmen Fabriken. Daher ist jede Art Alters-, Armen- und Waisenversorgung abzulehnen. Im Anschluß daran stellte Ricardo das Gesetz auf, der natürliche Arbeitslohn gravitiere stets nach dem Existenzminimum; verdienten die Arbeiter mehr, so werde durch eine Vermehrung, verdienten sie weniger, so werde durch eine Verminderung der Bevölkerung der Ausgleich bewirkt. Der Malthusianismus nimmt also den umgekehrten Standpunkt ein wie der Merkantilismus: dieser glaubte, ein Land werde um so reicher und leistungsfähiger sein, je größer seine Bevölkerungsziffer sei, und suchte diese mit allen möglichen Mitteln zu erhöhen, während jener die größte wirtschaftliche Gefahr in dem steigenden Menschenreichtum erblickte. Die Grundlagen dieser ganzen Theorie sind aber nicht einmal statistisch einwandfrei, geschweige denn philosophisch. Sie vergißt, daß die Ertragsmöglichkeiten der Erde noch lange nicht vollständig ausgenützt sind und außerdem jeden Tag neue Methoden, neue Transportformen, neue Energien entdeckt werden können, daß die Materie stets vom Geist beherrscht wird und, wie jeder Mensch der Dichter seiner Biographie, jedes Volk der Dichter seiner Geschichte ist und daß überhaupt die sozialen Nöte nicht im Mangel an ausreichender Nahrungsbasis, sondern in der Ungerechtigkeit und Ungeschicklichkeit der Verteilung, in der menschlichen Selbstsucht und Dummheit ihre Wurzel haben. Sehr geistreich exemplifiziert Franz Oppenheimer das Absurde des Malthusianismus an der Fiktion, daß Robinson ein Schüler Ricardos wäre, indem er darauf hinweist, daß dieser dann als Besitzer der ganzen Insel seinem Arbeitsgenossen Freitag »streng nach dem ehernen Lohngesetz (wahrscheinlich ist die Insel übervölkert!) gerade das Existenzminimum, zuweisen« würde, und hinzufügt: »In jedem Lande der Welt ist der Staat so entstanden, daß ein paar hundert oder tausend wohlbewaffnete, wohldisziplinierte Robinsons ein paar tausend oder hunderttausend schlechtbewaffhete, zersplitterte, abergläubische Freitags unterworfen und das ganze Land für sich mit Beschlag belegt haben.« Und Friedrich List trifft den Kern der Sache, wenn er sagt: »Diese Lehre würde die Herzen der Menschen in Steine verwandeln. Was aber wäre am Ende von einer Nation zu erwarten, deren Bürger Steine statt Herzen im Busen trügen? Was sonst als gänzlicher Verfall aller Moralität und damit aller produktiven Kräfte und somit alles Reichtums und aller Zivilisation und Macht der Nation?« Es ist, um es rund heraus zu sagen, der schamloseste und hinterlistigste Rechtfertigungsversuch der kapitalistischen Weltanschauung, der je gemacht worden ist. Nicht die ewige Tatsache, daß der Mensch eine Seele besitzt, gilt als seine Legitimation zum Dasein, sondern die zufällige, ob er in einen angemessenen Freßraum hineingeboren ist. Und dies lehrte ein christlicher Priester! Indes ist dies bei Malthus nicht gar so verwunderlich, sobald wir uns daran erinnern, daß der englische Puritanismus au fond eine jüdische Religion ist; und Ricardo war sogar buchstäblich der Sohn eines portugiesischen Juden.

Der englische Materialismus hat natürlich, wie jeder energische und zielbewußte Materialismus, auch seine günstigen Seiten aufzuweisen. Der durchschnittliche Lebensstandard der Bevölkerung war ein weitaus besserer als auf dem ganzen Kontinent; Hygiene, Sport, Reinlichkeit standen auf einer viel höheren Stufe. Die Tracht der Engländer war die gesündeste, ungekünsteltste, rationellste Europas; sie waren auch die ersten, die auf die vernünftige Idee kamen, für die Kinder eine andere Kleidung zu wählen als für die Erwachsenen. Das Meublement und die übrige Inneneinrichtung der Wohnräume war ausnehmend bequem, solid und praktisch. Zu Anfang des Jahrhunderts hatten in London schon die meisten Häuser Wasserklosetts; 1814 erhielt die ganze Stadt Gasbeleuchtung. Die Post funktionierte mit vorbildlicher Schnelligkeit und Pünktlichkeit; die Straßen waren in vortrefflichem Zustand, während man sie auf dem Festland noch ganz so wie zur Zeit des Merkantilismus absichtlich verfallen ließ, um die Fremden zu längerem Aufenthalt zu nötigen und den Einheimischen die Ausreise zu erschweren. Auch gab es schon vielfach Brücken und andere Verkehrsanlagen aus Eisenkonstruktion. 1810 arbeiteten in Frankreich zweihundert, in England fünftausend Dampfmaschinen, 1814 erbaute Stephenson seine erste Lokomotive und um dieselbe Zeit dienten in den englischen und schottischen Gewässern bereits zwanzig Dampfschiffe der regelmäßigen Passagierbeförderung.

Die Kontinentalsperre

Die abgesonderte Entwicklung Englands ist zum Teil auf die Kontinentalsperre zurückzuführen, die Napoleon im Jahre 1806 dekretierte: ihre Bestimmungen verboten allen Handel, allen Verkehr, alle Korrespondenz des Kontinents mit England und erklärten im Bereich der französischen Einflußsphäre jeden Engländer für kriegsgefangen und jede englische Ware für gute Prise. In der Tat sank alsbald der britische Ausfuhrhandel auf nahezu die Hälfte, der Kurs der Staatspapiere auf ein Drittel, während die Lebenskosten auf das Doppelte stiegen. Das Festland war aber fast ebenso geschädigt; allenthalben mußten Fabriken und andere große Betriebe stillgelegt werden und es kam zu zahlreichen Bankerotten. Die Preise für Farbstoffe und Eisenfabrikate, für Baumwolle, Reis und Gewürze, überhaupt für alle Kolonialwaren erreichten eine phantastische Höhe. Man trank Kaffee aus gerösteten Eicheln und rauchte Tabak aus Huflattich. Ein Pfund Zucker kostete sogleich nach dem Berliner Erlaß einen Taler, bald darauf zwei Taler, wobei man bedenken muß, daß damals ein einfaches Wohnhäuschen bereits um vierhundert Taler zu haben war. 1810 stieg der Zucker abermals um vierhundert Prozent. Infolgedessen machte der Franzose Achard den Versuch, Zucker aus Runkelrüben herzustellen, während Kirchhof dazu das Stärkemehl benutzte; die Technik war aber noch unvollkommen und nach der Aufhebung der Festlandsperre wurde der Rübenzucker vorläufig wieder vom Rohrzucker verdrängt. Durch die Kontinentalsperre hat Napoleon sich nicht nur mit England, sondern mit ganz Europa tödlich verfeindet, mehr als durch Konskriptionen und Kontributionen, Zensur und Polizeiregiment, Länderraub und Dynastensturz.

Das Napoleondrama

Napoleons Laufbahn hat sich wie ein vollständiges Drama abgewickelt, mit Exposition, Steigerung, Höhepunkt, Peripetie, »Moment der letzten Spannung« und Katastrophe, fast genau nach dem Schema in Gustav Freytags »Technik des Dramas«. Sein glänzender Feldzug in Italien im Jahr 1796 bildet den rauschenden Auftakt, und von da triumphiert er in ununterbrochener Folge über alle Feldherren, alle Völker, alle Kriegsmittel, die sich ihm in den Weg stellen, indem er, wie ein preußischer Offizier nach der Schlacht bei Jena schrieb, seine Soldaten in »übernatürliche Wesen« verwandelt. Seine erste Niederlage erleidet er erst 1809 bei Aspern, und auch diese vermag er wegen seines geordneten Rückzuges und der ungenügenden Verfolgung durch Erzherzog Karl für einen Sieg auszugeben und zwei Wochen später durch den Erfolg bei Wagram auszugleichen. Nicht geringer sind seine Siege im Innern. Nach seiner Devise: »es handelt sich darum, auf den Roman der Revolution die Geschichte der Revolution folgen zu lassen« bringt er Ordnung und Gedeihen in das französische Chaos, garantiert der gesamten Bevölkerung Kultusfreiheit, Handelsfreiheit, unparteiische Rechtspflege, bürgerliche Sicherheit, ausgedehnte staatliche Obsorge für Wohlfahrt und Unterricht und den Emigranten unbehelligte Rückkehr, erneuert den Adel und die Auszeichnungen, protegiert aber immer und überall nur das Talent. Den Höhepunkt seiner Karriere erreicht er im Jahr 1810: um diese Zeit sind Belgien, Holland, Hannover, Oldenburg, das linksrheinische Deutschland, die Nordseeküste mit den Hansestädten, die illyrischen Provinzen, Oberitalien mit Südtirol und Mittelitalien mit dem Kirchenstaat französisch; der Rheinbund, bestehend aus Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen, Hessen und dem Königreich Westfalen, die Schweiz, das Herzogtum Warschau, Spanien unter Joseph Bonaparte und Neapel unter Murat von Frankreich abhängig; Österreich, Preußen und Norwegen-Dänemark mit Frankreich verbündet. 1811 sagt Napoleon zu dem bayrischen General Wrede: »Noch drei Jahre und ich bin Herr des Universums.«

Drei Jahre später befand er sich aber bereits auf Elba. Denn das Jahr seines Höhepunkts war zugleich das seiner Peripetie, die darin bestand, daß er Josephine, seine »Mascotte«, verstieß und die Mesalliance mit dem Haus Habsburg schloß, die Mesalliance der Progression mit der Erstarrung, der Realität mit dem Schein, des Genies mit der Konvention. Und nun folgt die »fallende Handlung«. Was er mit dem russischen Feldzug vorhatte, hat er zu Narbonne ganz deutlich ausgesprochen: »Schließlich ist dieser Weg der lange Weg nach Indien. ... Denken Sie sich Moskau erstürmt, Rußland geschlagen, den Zaren ausgesöhnt oder einer Palastverschwörung zum Opfer gefallen und sagen Sie mir, ob eine Armee von Franzosen dann nicht bis zum Ganges vordringen könnte, der nur mit einem französischen Schwert in Berührung zu kommen braucht, damit in Indien das ganze Gerüst merkantiler Größe einstürze?« Bei diesem Abenteuer aber hatte zum erstenmal seine Phantasie den Zusammenhang mit der Wirklichkeit verloren. Schon während des Vormarsches berichtete ein Augenzeuge: »es fehlt an allem, selbst an Juden«; von 600000 Mann kamen 50000, von 180000 Pferden 15000 zurück.

Zu Anfang des Jahres 1918 hat C. H. Meray in seinem an fruchtbaren Gedanken überaus reichen, leider viel zu wenig bekannten Buche »Weltmutation« prophezeit, daß Deutschland unterliegen müsse, wenn es mit dem »Fremdkörper« Amerika in Berührung komme, denn dadurch werde der organische Prozeß, der darin bestehe, daß die »Riesenzelle« Deutschland die Zellen der übrigen europäischen Staaten zu überwältigen und sich einzuverleiben suche, zu einem pathologischen. In der Tat hatte Deutschland in dem Augenblick, wo der Fremdkörper Rußland aus dem Weltkrieg ausschied, theoretisch gesiegt. Aber nur theoretisch; denn England hatte, in tiefer Erkenntnis der Zusammenhänge, bereits für den Eintritt eines neuen Fremdkörpers gesorgt. In der Geschichte des Altertums können wir einen verwandten Vorgang in der Blüte und Katastrophe des römischen Weltreichs erblicken. Der »Organismus« der Antike war das Mittelmeer mit allen seinen Dependenzen. Über diesen hat Rom nie hinauszugreifen vermocht und es in weiser Beschränkung auch fast nie versucht. Durch den Eintritt der Germanen aber gelangt es mit einem neuen Weltteil in Berührung, woran es zugrunde geht. Ebenso erging es der spanischen Weltmonarchie mit Amerika. Und ebenso erging es Napoleon, als er durch die russische Expedition mit Asien in Kontakt geriet. Er selber muß hiervon ein dunkles Gefühl gehabt haben, als er 1813 zum Marschall Marmont sagte: »Mein Schachbrett ist in Verwirrung geraten.«

Das »Moment der letzten Spannung« bildeten die »hundert Tage«. Am 11. März 1815 war in Wien großer Ball beim Fürsten Metternich. Plötzlich verbreitete sich die Nachricht: »Er ist in Frankreich.« Jedermann wußte, wer damit gemeint sei. Der Tanz wurde abgebrochen, die Unterhaltung verstummte, vergeblich spielte das Orchester weiter. Wortlos verließen die Monarchen das Fest, die übrigen Gäste folgten. Die Lichter erloschen, die Stadt lag in angstvollem Dunkel: es war wieder Weltkrieg.

Schon während des Winters hatten die französischen Soldaten Napoleon »père la violette« genannt, weil sie ihn mit den Märzveilchen zurückerwarteten. Auf seinem Weg von Cannes nach Paris fiel kein einziger Flintenschuß, alle gegen ihn gesandten Heere gingen zu ihm über. Einige Menschen starben bei der Nachricht von seiner Landung vor Freude. Aber das Empire war nicht mehr die »Riesenzelle« von ehedem. Bei Waterloo endete das gewaltigste Schicksalsdrama, das die neuere Geschichte hervorgebracht hat.

Napoleon und das Schicksal

Daß irgendein magischer Impuls sein ganzes Dasein bestimme und lenke, davon war Napoleon selbst aufs vollständigste überzeugt. Einmal, als er bei einem Sturz vom Wagen fast den Tod gefunden hätte, sagte er zu Metternich: »Ich fühlte, wie das Leben mir entwich, aber ich sagte mir: ich will nicht sterben, und blieb am Leben«, und ein andermal, als man ihn vor drohenden Attentaten warnte, entgegnete er: »Was habe ich zu befürchten? Ich kann gar nicht ermordet werden.« In seiner ägyptischen Proklamation heißt es: »Sollte es einen Mann geben, der so blind wäre, nicht einzusehen, daß das Schicksal meine Handlungen lenkt? ... Der Tag wird kommen, wo die ganze Welt einsehen wird, daß ich von höherer Hand geleitet bin und daß menschliche Bemühungen nichts gegen mich ausrichten können.« Seine Zeitgenossen, Freunde und Gegner, hatten es sich denn auch längst abgewöhnt, ihn mit menschlichen Maßen zu messen: sie betrachteten ihn wie ein blendendes, unwiderstehliches Naturereignis, mit dem sich nicht parlamentieren läßt, prachtvoll anzuschauen, aber verheerend in seinen Wirkungen.

Eines Tages sagte Talleyrand zu Napoleon: »Der gute Geschmack ist Ihr persönlicher Feind; wenn Sie sich seiner durch Kanonenschüsse entledigen könnten, so wäre er längst beseitigt.« Ein wahres Wort, wahrer, als jener lackierte Hofintrigant ahnen mochte. Natürlich war Napoleon geschmacklos. Ohne jeden Geschmack und Takt, ohne alle Erziehung und Lebensart sprengte er die ganze rückständige, verfaulte, verkalkte Welt der Feudalitäten und Diplomaten, der Salonschwätzer und Papierstrategen in die Luft. Ein Riese ist kein geschmackvoller Anblick. Ein Erdbeben, ein Lava und Dreck ausspeiender Vulkan ist keine geschmackvolle Erscheinung. Keine Naturkatastrophe, kein Elementarereignis, keinerlei Überlebensgröße ist »geschmackvoll«. Geschmackvoll ist der Durchschnitt, die Konvention, die saubere Schablone, das Bekannte: schon dadurch, daß wir uns in irgendeinem Phänomen nicht auskennen, wirkt es auf uns verwirrend, irritierend, beunruhigend; es hat die Geschmacklosigkeit, uns auf die Nerven zu gehen.

Napoleon und die Strategie

Wir brauchen nur irgendeinen beliebigen Ausschnitt aus Napoleons Tätigkeit zu betrachten, zum Beispiel seine Kriegführung, um sogleich zu sehen, wie dieser bewußte und hartnäckige Bruch mit dem Herkommen bei ihm durch alles hindurchging. Dem Zeitalter, in das er eintrat, galt als der größte Feldherr der Herzog Karl Ferdinand von Braunschweig. Dieser sah in der Strategie nichts als ein möglichst vollkommenes Schachspiel. Er wollte im Grunde gar keinen Krieg, er wollte bloß eine Art »Zustand der drohenden Kriegsgefahr«. Dies war aber, wie wir schon einmal erwähnt haben, damals die allgemeine Auffassung der Fachkreise: es komme im wesentlichen nur auf kunstvolle Manöver, auf Umgehen, Abschneiden, Plänkeln, auf allerlei geistreiche Kombinationen und geschickte Irreführungen an. Es fehlte durchaus nicht an Leuten, die den Braunschweiger für einen bedeutenderen Feldherrn hielten als Friedrich den Großen. Er war aber ein purer Theoretiker: ein respekteinflößender Stratege nur, solange nicht richtig geschossen und marschiert wurde. Es ist vielleicht nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß die ganze zwanzigjährige Revolutionsplage durch seine Schuld über Europa kam, denn lediglich ihm ist die Blamage von Valmy zu verdanken. Er sah immer und überall nur die Hindernisse, die Gefahren, die negativen Instanzen. Es zeigt sich an seinem Falle zweierlei: erstens der theoretische papierene Charakter des ganzen Zeitalters, der sich sogar auf die furchtbarste aller Wirklichkeiten, den Krieg, erstreckte, und zweitens die Wertlosigkeit und Impotenz des sogenannten Fachmannes, wie sie sich immer und immer wieder auf allen erdenklichen Gebieten uns vor die Augen drängt. Alle großen Feldherren, Napoleon an der Spitze, haben erklärt, daß der Krieg etwas sehr Einfaches sei, wie alle großen Künstler dies von der Kunst und alle großen Ärzte dies von der Medizin erklärt haben. Moltke behauptete sogar, die Strategie sei überhaupt gar keine Wissenschaft. Hingegen der Fachmann ist immer kompliziert. Die Revolutionsgenerale verstanden gar nichts von der Kriegführung, sie waren so dilettantisch, im Krieg eine Realität zu sehen, eine Sache des stürmischen Draufgehens, Vorrückens und Siegens. Sie waren so ungebildet, im Krieg einfach Krieg zu führen und zu glauben, daß es dabei auf die Überwältigung des Gegners ankomme und nicht auf eine theoretische Widerlegung seiner Aktionen.

Die Kriegführung der Revolutionsarmeen, die bereits unter Carnot, dem »organisateur de la victoire«, eine hohe Stufe erreichte, unterschied sich von den bisherigen durch viererlei: durch die levée en masse, die die ganze männliche Bevölkerung zu Soldaten machte (allerdings nur in der Theorie, denn noch unter Napoleon konnte man sich einen remplaçant kaufen), durch die neue Taktik, die statt der starren »Linien« von geringer Tiefe lange Kolonnen mit Stoßwirkung verwendete und das konzentrierte Massenfeuer durch die »zerstreute Fechtart« der Tirailleurs ersetzte, durch die rücksichtslose Expansion bis zum äußersten und durch die Verwandlung der Magazinsverpflegung in das Requisitionssystem. Hierzu fügte Napoleon die Einteilung der Heeresmacht in mehrere selbständige Armeeinheiten: Korps und Divisionen, in denen sämtliche Truppengattungen und Kriegsmittel vertreten waren, die geniale Verwendung der Reserven, in der er Friedrich den Großen noch weit überflügelte, und die Ausnützung der »inneren Linie«, die darin bestand, daß er, bei numerischer Überlegenheit des Gegners, mit seiner gesamten Armee innerhalb der getrennten feindlichen Heeresteile operierte, die er nacheinander mit Übermacht angriff und schlug.

»Man muß in erster Linie durch die Beine seiner Soldaten siegen und erst in zweiter Linie durch ihre Bajonette.« Das ist ebenso leicht einzusehen wie alle Wahrheiten und war ebenso schwer in die menschlichen Köpfe zu bringen wie alle Wahrheiten. Da der Krieg eine Art Duell oder Faustkampf im großen ist, so gelten für ihn ganz ähnliche Gesetze. Kein Mensch wird daran zweifeln wollen, daß bei einem Handgemenge Raschheit und Kühnheit den Ausschlag geben, oder vielmehr: wenn er daran zweifelt, so tut er es auf Gefahr seiner gesunden Knochen. Und die übrigen Grundprinzipien der neuen Kriegführung: Volksbewaffnung, Verproviantierung und unaufhaltsames Vordringen im Feindesland und Kampf in aufgelösten Schwärmen waren ebenso einfach; es war, wenn auch in ganz anderem Sinne, als Rousseau und die revolutionären Phrasenmacher es gemeint hatten, die »Rückkehr zur Natur«. Es ist natürlich, daß im Augenblick einer wirklichen oder nur eingebildeten Gefahr jeder Mensch zur Waffe greift und sich zu verteidigen versucht, es ist natürlich, daß man von dem Boden lebt, auf dem man sich gerade befindet, und sich auf ihm so weit ausbreitet, als man nur irgend kann, und es ist natürlich, auf seinen Gegner loszugehen, wo und wie man ihn trifft. Unnatürlich, schwerfällig und künstlich waren die alten Einrichtungen: das Werbesystem, die Magazinsverpflegung, die zögernde, rein demonstrative Kriegführung, die Lineartaktik. Natur ist aber immer siegreich und deshalb siegte die Revolution über Europa. Und dazu kam noch als das völlig Neue, das Napoleon in die Welt gebracht hat, sein unerhörtes Tempo. Er hat, wie dies der Leiter des österreichischen Generalstabswerkes über den Krieg von 1866 einmal treffend ausdrückt, »mit der Zeit den Boden besiegt«. Oder wie er selber einmal sagte: »Ich habe die Österreicher durch Märsche zerstört.« Sein Leitsatz, den er auch seinen Unterfeldherren immer wieder einzuprägen suchte, war: »Activité, activité! vitesse!« Und dies erstreckte sich nicht auf seine Kriegführung allein, er teilte ganz Europa eine Beschleunigung mit, durch die es von Grund auf umgewandelt wurde. Er ist der Schöpfer des modernen Lebenstempos.

Der Mann der Realitäten

Man braucht Napoleon nur mit irgendeiner anderen Persönlichkeit der Revolution zu vergleichen, und sofort springt seine Unvergleichlichkeit in die Augen. Es gab zum Beispiel für Dumouriez einen Augenblick, wo es nur an ihm lag, der Diktator Frankreichs zu werden. Dies war nach der Schlacht von Neerwinden. Er konnte damals mit den Österreichern ein Abkommen treffen, die jakobinischen Mitglieder seiner Armee durch die ihm unbedingt ergebenen Linientruppen entwaffnen und gegen Paris ziehen, wo er von der überwältigenden Majorität einer durch Septembermorde und Pöbelterror erbitterten Bevölkerung als Befreier empfangen worden wäre. Er hatte diesen Plan längst erwogen, alle vorbereitenden Schritte getan, überall sondiert, mit Österreich und Paris Verhandlungen gepflogen, aber die Energie zum letzten entscheidenden Schritt fehlte ihm. Man sieht daran, daß zum praktischen Genie eben dreierlei gehört: die gegebene Sachlage überblicken, die notwendigen Maßnahmen erkennen und im richtigen Augenblick, der gewöhnlich nur ein einziger zu sein pflegt, nachdrücklich handeln. Nur dieses Dritte fehlte Dumouriez zu einer napoleonischen Karriere. Man kann aber ebensogut sagen, daß ihm damit alles fehlte. »Man tut nicht zweimal dasselbe in einem Jahrhundert«, hat Napoleon selber gesagt; aber eine Elementarkraft von der Fülle und Stärke Napoleons schafft die Natur nicht zweimal in einem Jahrtausend.

Und dennoch gibt es etwas in seinem Wirken und seinem Charakter, das uns davon zurückhält, ihm jene unbedingte Verehrung zu schenken, die wir anderen und selbst kleineren Helden so gern entgegenbringen. Woran liegt das? Was verhindert uns, in ihm eines jener großen Modelle zu erblicken, nach denen wir unser eigenes Sein und Wollen geformt sehen möchten?

In seiner Charakteristik Napoleons, einem der glänzendsten Kunstwerke des französischen Impressionismus, sagte Taine einleitend: »Napoleon gehört einem andern Zeitalter an ... um ihn zu begreifen, gehen so gewiegte Geschichtskenner wie Stendhal und die Staël bis zu den kleinen italienischen Tyrannen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts zurück. Bonaparte stammt von den großen Italienern jener Zeit ab, den Männern der Tat, den militärischen Abenteurern, den usurpatorischen Gründern von Staaten auf Lebenszeit; er hat durch unmittelbare Abstammung ihr Blut, ihr inneres Wesen, ihre sittliche und geistige Beschaffenheit geerbt.« Zweifellos war Napoleon kein Mensch des achtzehnten Jahrhunderts, aber statt dem vierzehnten und fünfzehnten könnte man ihn ebensogut dem neunzehnten zurechnen oder, wenn man will, dem zwanzigsten. Vielleicht war er wirklich nur ein kolossaler Kondottiere; aber jedenfalls einer mit Vorkenntnissen in Chemie, Geographie und vor allem Psychologie, ein Mensch, der die in Frankreich unerhörte Fähigkeit besaß, mit Gegebenheiten zu rechnen.

Goethe hat gesagt, mit Napoleon sei der größte Verstand auf Erden erschienen, Sieyès sagte über ihn: »er weiß alles, er will alles, er kann alles« und er selbst sagte von sich: »Mein großes Talent besteht darin, daß ich in allem klar sehe. Auch meine eigentümliche Art von Beredsamkeit beruht darauf, daß ich das Wesentliche einer Frage von allen Seiten betrachte. Die Senkrechte ist kürzer als die Schräge!« und: »In meinem Kopfe sind die verschiedenen Affären fachweise geordnet wie in einem Schrank. Wenn ich eine unterbrechen will, so schließe ich ihr Schubfach und öffne das einer andern. Sie geraten nie durcheinander, sie verwirren mich nicht und ermüden mich nicht durch ihre Vielfältigkeit. Will ich schlafen, so schließe ich alle Schubfächer und bin sofort eingeschlummert.« In ganz ähnlichem Sinne vergleicht er ein andermal seinen Kopf mit einem Taubenschlag: »Um über irgend etwas zu verfügen, öffne ich das betreffende Flugloch, indem ich gleichzeitig alle übrigen schließe; wenn ich schlafen will, schließe ich sie alle.« Infolge dieser Fähigkeit genügten ihm drei bis ausnahmsweise sechs Stunden Schlaf; sonst arbeitete er ununterbrochen, »auch beim Essen, auch im Theater«, wie er selbst sagte; und wahrscheinlich arbeitete er auch im Schlaf. Hieraus, aus dieser seiner essentiellen Verschiedenheit von allen Franzosen erklärt sich sein sofortiger und ungeheurer Erfolg. Er selber war sich über diesen Zusammenhang vollkommen im klaren. »Die Franzosen«, sagte er einmal zu Metternich, »sind Leute von Geist; der Geist läuft in den Straßen umher; aber dahinter steckt gar kein Charakter, kein Prinzip und kein Wille; sie laufen allem nach, sind zu lenken durch Eitelkeit und müssen wie Kinder immer nur ein Spielzeug haben.« (Fast wörtlich übereinstimmend sagte übrigens auch Goethe zu Eckermann: »Die Franzosen haben Verstand und Geist, aber kein Fundament und keine Pietät.«) Ganz ähnlich äußerte er sich ein andermal bereits im Jahre 1797: »Ihr Franzosen versteht nicht, etwas ernstlich zu wollen. Eure Eitelkeit muß stets in Atem gehalten werden. Woraus ist die Revolution hervorgegangen? Aus der Eitelkeit. Und woran wird sie scheitern? Ebenfalls an Eitelkeit« und noch kürzer und unmißverständlicher etwas später: »Lappalien spielen in Frankreich eine große Rolle. Vernunft spielt keine.« Er hat sein Volk realistisch denken und klar handeln gelehrt; er hat es gelehrt, Dinge zu erblicken statt Illusionen und Redensarten und an ihnen sich zielbewußt zu orientieren. Emerson hat wohl gewußt, warum er seinen Essay über ihn mit den Worten einleitete: »Wenn Napoleon Frankreich war, wenn Napoleon Europa war, so lag der Grund darin, daß die Leute, die er beherrschte, kleine Napoleons waren.« Aber man könnte auch umgekehrt sagen: er wurde der Lenker seiner Zeit, weil es ihm gelang, aus allen damaligen Menschen kleine Napoleons zu machen.

Indes: gerade darin, in dem Umstand, daß er ein so vollendeter Typ des neuen Menschen war, der berufen sein sollte, das ganze kommende Jahrhundert zu beherrschen, muß man den Haupteinwand gegen ihn erblicken. Er war vielleicht der vollkommenste Empiriker, der je gelebt hat: hierin bestand ebensowohl seine unvergleichliche Genialität wie seine katastrophale Schwäche. Denn er war eben ein so vollkommener Empiriker, daß er nichts anderes war. Er war kein moralisches und metaphysisches Phänomen, kein Ethiker und kein Ideologe. Dieser Mangel an Ideologie war sein Wurzeldefekt und hat seine Herrschaft zu einer vorübergehenden gemacht.

Und so wäre man fast versucht, zu sagen: dieser diamantharte tausendäugige Held war eine rührende Erscheinung. Alles wußte er, alles konnte er, alles hielt er in seiner gewaltigen Hand: nur nicht sich selber. Er war stärker als die ganze Welt; aber nicht stärker als seine eigenen Taten. Er vergaß, daß auch der größte Mensch, ja gerade der größte, nur für die Menschheit da ist. Seine Erfolge stiegen ihm zu Kopf wie irgendeinem gewöhnlichen Bankier, Minister oder Schauspieler. Und so wurde sein leuchtender Sonnenflug zur trüben Höllenfahrt.

Der Regisseur Europas

Madame Staël sagte von ihm: »Er ist ein geschickter Schachspieler und das Menschengeschlecht sein Gegner, den er durchaus mattsetzen will.« Er war aber durch sein dämonisches Temperament doch noch etwas mehr als ein Schachmeister, eher ein grandioser Regisseur, wie ihn die Welt vielleicht noch nie erblickt hatte. Schon die äußere Erscheinung, die er für gewöhnlich zur Schau trug, war ein unvergleichlicher Regieeinfall: der Herr Europas im zerdrückten Hut und abgetragenen Mantel des gemeinen Soldaten inmitten goldstrotzender Generale, ordenbesäter Würdenträger und brillantenstrahlender Frauennacken. Viele Episoden aus seinem Leben haben den Charakter superber Theaterszenen: zum Beispiel, wie er zu seinem Bruder Lucian sagt, indem er seine Uhr zu Boden schleudert: »Da du auf nichts hören willst, werde ich dich zerschmettern wie diese Uhr« oder wenn er, nachdem auf ihn in der Oper mit einer Höllenmaschine ein Attentat versucht worden ist, den brillanten Aktschluß findet: »Die Lumpen haben mich in die Luft sprengen wollen ... man bringe mir das Textbuch zur heutigen Oper.« Die traditionelle Legende, Talma habe ihm seine Posen einstudiert, entspricht so wenig den Tatsachen, daß vielmehr das Umgekehrte richtig ist: Talma erklärte, er habe aus Blick, Mienenspiel und Haltung des Kaisers die wertvollsten Lehren gezogen und dieser sei geradezu sein Modell gewesen. Der Mann, dem dieses Werk gewidmet ist, der stärkste Theaterfeldherr der neueren Bühnengeschichte, ist unzählige Male mit ihm verglichen worden.

Der anti-ideologische Ideologe

Vielleicht ist Napoleons Erfolg und Popularität zum Teil darauf zurückzuführen, daß er kein ganz großer Mensch war. Alle Genies sind von ihrer Umwelt nur zum Teil erkannt und anerkannt, in weniger kultivierten Zeitaltern geradezu verhöhnt oder vernichtet worden, was ganz in der Natur der Sache liegt. Um Plato, Dante, Beethoven, Dostojewski ganz zu verstehen, müßte man selber eine Art Negativdruck von Plato, Dante, Beethoven, Dostojewski sein, ein treues Lichtbild, das alle Strahlen, die von diesen Sonnen ausgingen, gewissenhaft aufzuzeichnen vermag. Dieser Mangel an Intensität kann nur extensiv ersetzt werden, durch reichliche und lange Aufnahme. Napoleon ist das einzige Genie, das sofort und ganz begriffen wurde, weil er durch eine Reihe ordinärer und durchschnittlicher Eigenschaften gewissermaßen einen Vulgärdialekt besaß, in den übersetzt und durch den vermittelt seine Sprache allen sogleich verständlich und vertraut wurde. Er war ein Lügner, ein Rowdy, ein Egoist; brutal, sinnlich, unverschämt; sein ganzes Auftreten hatte etwas Großartig-Gemeines, Parvenühaftes, wie ja auch seine Ehe mit der Habsburgertochter an einen Börsianer erinnert, der sich durch Einheirat in verkrachte Aristokratenkreise zu nobilitieren sucht. Er verletzte in Gesellschaft durch seinen ungehobelten Kasernenton, freute sich daran, boshafte Indiskretionen und niedrige Klatschereien in Umlauf zu bringen, erlaubte sich gegen Damen unziemliche Scherze und rühmte sich kommishaft seiner erotischen Erfolge, obgleich er eigentlich kein Glück bei den Frauen hatte, die den Emporkömmling bewundern, aber nicht lieben. Dieses trübe Medium hat aber seine Genialität nicht verdunkelt, sondern erst ganz deutlich gemacht, wie ja auch in zerstreutem Licht eine Person klarer gesehen wird als im vollsten Sonnenglanz. Es könnte eigentlich gar nicht bezweifelt werden, daß Napoleon das vollkommenste Genie war, das die Welt jemals erblickt hat, größer als Caesar, größer als Shakespeare, größer als Goethe. Denn er besaß, wenn man die Stärke und den Umfang seiner Begabung betrachtet, so viel davon wie alle drei zusammen: er war Caesar an praktischem Umblick und Vorausblick, Shakespeare an schöpferischer Phantasie und Goethe an Kenntnis der menschlichen Natur ebenbürtig und dazu noch von einer Kraft, Gedachtes sogleich in Wirklichkeit umzusetzen, die keiner dieser drei in solchem Ausmaß besaß; es fehlte ihm nur eines, das jeder dieser drei besaß: Idealismus. Er glaubte nicht an die realsten Kräfte dieser Erde: die menschlichen Ideale. Altruismus, Patriotismus, Religiosität waren für ihn zwar vorhandene Energien, die man benutzen und lenken müsse, aber sie standen ihm nicht höher im Werte als Kanonen, Dampfkraft und Geld. Er glaubte nicht daran, daß eine fixe Idee mehr ist und vermag als hunderttausend Bajonette. Er wußte nicht, daß Ideen, Ideale, Ideologien, Phantasmen, Illusionen, Begriffe auch physikalische und physiologische Energien sind, meßbare und wirksame Größen, sozusagen wägbare Imponderabilien; daß das Bewußtsein des Rechts, der Glaube an Höheres geradesogut eine Heizung des Organismus darstellt wie Fett, Eiweiß, Kognak und Kolanuß; und so war er eigentlich gar kein so vollständiger Empiriker, wie er und seine Anhänger glaubten: er war, so paradox es klingen mag, in diesem Punkt ein weltfremder Doktrinär.

Er hatte sein System von der Welt und der Menschheit, das, wenn man will, ein philosophisches war, aber wie so viele geistreiche und wohlgebaute Systeme nicht stimmte, sich neben dem Leben befand. Er blickte mit Spott und Verachtung auf die »Ideologen« und ahnte nicht, daß er selber einer war. Er brachte die ganze Welt durcheinander, jagte seine Menschenmassen von Schweden bis Ägypten und von Madrid bis Moskau und verschwand eines Tages ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war, verpuffte spurlos wie eine große Schießpulverexplosion, nichts als etwas ausgestandene Angst und einen brenzligen Geruch zurücklassend. Er mobilisierte Menschen und Naturkräfte, Wasser und Winde, alle Staaten, Städte und Völker Europas, bald für sich, bald gegen sich, und als er wegging, lag die Karte Europas wieder da wie vor zwanzig Jahren, ganz unerheblich verändert, und die Diplomaten stritten sich weiter um Gefälle, Kontingente und Hoheitsrechte. Napoleon war kein Träumer: das ist der Haupteinwand gegen ihn; und daran ist er gescheitert. Er konnte nur für Jahre und Monate siegen. Denn er wußte nicht, daß auf die Dauer nur ein Träumer die Welt erobern kann.


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