Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Aimez donc la raison! Boileau
Das goldene Zeitalter Frankreichs beginnt mit Richelieu. Dieser großartige und nichtswürdige, ideenreiche und geistesenge Staatslenker, der in sich nicht nur alle bewundernswerten und abscheulichen Eigenschaften eines eminenten Politikers, sondern auch alle strahlenden Vorzüge und häßlichen Untugenden seiner Rasse vereinigte, gilt als der eigentliche Begründer des bourbonischen Absolutismus, und in der Tat: an dem imposanten Bau, den der geniale unglückliche Heinrich der Vierte begonnen hatte und der mehr glückliche als geniale Ludwig der Vierzehnte nur zu vollenden brauchte, hat er das meiste geschaffen. Wenn man aber anderseits bedenkt, daß er nicht nur die Königin-Mutter Maria von Medici, die anfangs für ihren unmündigen Sohn regierte, mit allen Mitteln der List und Gewalt beiseite gedrängt hat, sondern auch Ludwig den Dreizehnten selber, einen pathologischen Taugenichts, an dem nichts menschlich wertvoll war als seine blinde Unterwerfung unter den überlegenen Geist des Kardinals, wie eine als König kostümierte Attrappe behandelt hat, so gelangt man zu dem Schluß, daß das treibende Pathos in Richelieus gewaltiger Politik nicht der Royalismus gewesen ist, sondern der typisch französische Zentralisationswille, der alles, Staat, Kirche, Wirtschaft, Kunst um einen einzigen leuchtenden Mittelpunkt zu organisieren strebt; und darin: in dieser tiefen Erkenntnis des Volkscharakters und der Zeitströmung lag das Geheimnis seines Sieges. Der aristokratische Feudalismus lag im Sterben, der bürgerliche Liberalismus noch nicht einmal in den Geburtswehen: so blieb als einziger brauchbarer Träger der Macht die Krone. Dies war der Sinn der Zeit; und darum war Richelieu einer der ersten modernen Politiker im doppelten Sinne: zugleich einer der frühesten und größten. Wenn wir ihn »modern« nennen, so bedeutet dies freilich nichts weniger als ein Lob im Geiste unserer Geschichtsauffassung, wohl aber ein Lob im Geiste der profanen Historie: er verstand, was die Menschheit seines Jahrhunderts wollte, ehe sie selbst es recht wußte, und er besaß genug Klugheit und Tatkraft, um diese Einsicht in Wirklichkeit verwandeln zu können.
Dieser Fürst, liebenswürdig und brutal, nobel und rachsüchtig, wie es nur ein Kavalier seiner Zeit sein konnte, hatte außerdem erkannt, daß Politik die Kunst der unerlaubten Mittel und das System der Prinzipienlosigkeit ist. Er befolgte daher in seiner inneren und seiner äußeren Diplomatie ganz verschiedene Grundsätze. Es dürfte wohl selten ein merkwürdigerer Kardinal den roten Hut getragen haben. Daß der Dreißigjährige Krieg nicht mit einem Sieg des Kaisers endete, war hauptsächlich ihm zu verdanken; daß die katholische Vormacht Spanien zu einer Potenz zweiten und selbst dritten Ranges herabsank, war sein Werk. Er nahm zwar den Hugenotten ihre Festungen, gewährte ihnen aber volle Religionsfreiheit und Zulassung zu den öffentlichen Ämtern und unterdrückte die zentrifugalen Bestrebungen des papistischen Klerus mit derselben Strenge, nach seinem Leitsatz: die Kirche ist im Staat, nicht der Staat in der Kirche; überhaupt war er, obgleich der Vertreter der Macht und Majorität, von einer für die damaligen Verhältnisse fast unfaßbaren religiösen Toleranz, während die Geduldeten merkwürdigerweise sehr unduldsam auftraten. Ebenso »vorurteilslos« verhielt er sich bei der Einmischung in die inneren Verhältnisse der Nachbarstaaten. Verfechter der königlichen Allmacht war er nur als Franzose, hingegen unterstützte er die katalonischen und portugiesischen Insurgenten gegen die spanische Herrschaft, die deutschen Fürsten gegen Kaiser und Reich und die Schotten gegen die englische Krone. Auch darin zeigte er sich als durchaus moderner Politiker, daß er versuchte, an den Kolonisationsbestrebungen kräftigen Anteil zu nehmen. Er begründete die Compagnie de l'Orient, um sich Madagaskars zu bemächtigen, was jedoch nur sehr unvollständig gelang. Später stiftete Colbert zu demselben Zweck die ostindische Kompagnie, vermochte aber ebenfalls nur einige Randplätze zu besetzen. An der Westküste Afrikas wurde Senegambien, das Land zwischen Senegal und Gambia, erobert und das Fort Saint Louis errichtet; in Südamerika erstand Französisch-Guayana mit der Hauptstadt Cayenne; das größte Interesse brachte man aber Canada entgegen, der France-Nouvelle, während Louisiana erst gegen Ende des Jahrhunderts in französischen Besitz gelangte. Im ganzen haben die Franzosen als Kolonisatoren damals wenig Erfolge gehabt, denn auf diesem Gebiete versagte das zentralistische System Richelieus, das jede selbständige Regung unter falscher staatlicher Bevormundung verkümmern ließ und bei der Art höherer Seeräuberei, in der das ganze europäische Kolonisationswesen bestand, besonders unangebracht war. Richelieu war übrigens auch auf anderen Gebieten ein Vorläufer Colberts. Er suchte die heimische Industrie, besonders die blühende Tuchmacherei, durch Zölle zu schützen, rief neue Branchen ins Leben, förderte den Ackerbau und erleichterte den Verkehr durch prachtvolle baumbepflanzte Chausseen, die für ganz Europa vorbildlich wurden.
Man würde jedoch Richelieu sehr unvollständig gerecht werden, wenn man ihn nur als Politiker würdigen wollte. Wie alle bedeutenden Staatslenker hat er nicht nur der Verwaltung und Diplomatie, sondern auch dem ganzen geistigen und gesellschaftlichen Leben seine Physiognomie aufgedrückt. Er verfolgte hier dieselben Prinzipien wie in seiner Politik: straffste Zusammenfassung, Übersicht und Ordnung. Er erbaute zur Verherrlichung seiner Macht das Palais Cardinal, das später als Palais Royal eine so interessante historische Rolle gespielt hat, begründete zur Leitung der öffentlichen Meinung die Gazette de France, an der er selbst mitarbeitete, und stiftete zur Reinigung und Vervollkommnung der französischen Sprache die Académie française, die von nun an souverän feststellte, wie man richtig zu schreiben und zu reden habe, wodurch das Französische erst seine volle Klarheit, Feinheit und Korrektheit, aber zugleich eine gewisse mechanische Regelmäßigkeit und unfreie Uniformität erhielt; auch die »drei Einheiten«, die er im Drama durchsetzte, erkauften eine größere Präzision und Durchsichtigkeit des Baues mit einem empfindlichen Verlust an Farbigkeit, Natürlichkeit und poetischem Leben. Unter Richelieu ist auch der erste große Salon entstanden: im Haus der schönen, geistreichen und liebenswürdigen Marquise de Rambouillet, wo sich die hohe Aristokratie mit der geistigen Creme ihre Rendezvous gab, und es begann sich jene sublime Verbindung von Adel und Literatur zu entwickeln, die für das französische Gesellschaftsleben der nächsten zwei Jahrhunderte typisch geblieben ist. Das Ideal jenes Kreises war »le précieux«, das Erlesene, Kostbare in Sprache, Denken und Sitte, und hieraus ist später, als diese Bestrebungen in Zimperlichkeit, Verzierlichung und Vornehmtuerei ausarteten, der Spottbegriff des Preziösen entstanden. Aber ursprünglich zielten die Tendenzen gerade auf das Entgegengesetzte: auf edle Einfachheit, künstlerische Sparsamkeit, geschmackvolle Zurückhaltung: ordre, économie, choix waren die Grundeigenschaften, die von einem guten Stil gefordert wurden. Kurz: wir spüren im Zeitalter Richelieus bereits allenthalben die kühle und helle, dünne und reine Luft des Grand Siècle.
Als Richelieu und der König fast gleichzeitig gestorben waren, führte wiederum eine Ausländerin, Anna von Österreich, die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn und wiederum hatte ein Kardinal die eigentliche Herrschaft inne, aber diesmal nicht als der Gegner der Königin, sondern als ihr Liebhaber. Im übrigen war Mazarin eine Art schwächere Doublette und »zweite Besetzung« Richelieus; seine äußeren Erfolge waren aber fast noch größer: er warf den Aufstand der Fronde, in dem sich die feudalen Elemente zum letztenmal gegen die Alleinherrschaft des Königtums erhoben, vollständig nieder, erreichte für Frankreich durch den Westfälischen Frieden die langersehnte Rheingrenze und durch den Pyrenäischen Frieden im Süden die Pyrenäengrenze und im Norden mit der Einverleibung einiger sehr wertvoller südbelgischer Festungen ein starkes Einfallstor nach den beiden Niederlanden, errichtete den Rheinbund, der, ganz unter französischem Einfluß, den Westen Deutschlands fast zu einem bourbonischen Schutzgebiet machte, und schloß vorteilhafte Allianzen mit Schweden, Polen, Holland und England, so daß sich Frankreich damals auf einer diplomatischen Machthöhe befand, die es selbst unter Ludwig dem Vierzehnten nicht wieder erreicht hat. Gleichwohl nimmt er sich neben dem großen Richelieu nur wie eine Genrefigur aus. Geradezu molièrisch grotesk war seine unersättliche Geldgier, zu deren Befriedigung ihm kein Mittel schmutzig oder abenteuerlich genug war. Als zur Zeit der Fronde eine Unmenge gehässigster Pamphlete gegen ihn erschienen, die wegen seiner Unbeliebtheit reißenden Absatz fanden, ließ er alle konfiszieren und verkaufte sie selber unter der Hand zu hohen Preisen; ja sogar sterbend beschäftigte er sich noch damit, Goldstücke abzuwägen, um die nicht vollwertigen als Spieleinsatz zu verwenden.
Dies war im Jahre 1661. Nach dem Tode Mazarins glaubten viele, daß nun ein dritter Kirchenfürst, der begabte und intrigante Kardinal von Retz, zum Lenker Frankreichs avancieren werde, aber zur allgemeinen Überraschung erklärte der dreiundzwanzigjährige Monarch, daß er von nun an selbst regieren werde. Mit diesem Tage begann das Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten, das wir auch die Hochbarocke oder vielleicht am richtigsten das cartesianische Zeitalter nennen könnten.
Das Leben des merkwürdigen Mannes, der den Geist des Grand Siècle geformt hat, steht in einem scheinbaren Widerspruche zu der ungeheuern Wirkung, die er hervorgerufen hat, denn es bewegte sich äußerlich in sehr anspruchslosen und fast konventionellen Formen. Descartes nahm den normalen Entwicklungsgang eines damaligen Adeligen: er besuchte die Jesuitenschule, wurde Lizentiat der Rechte, tat Kriegsdienste in Deutschland, Böhmen und Holland und machte eine Wallfahrt nach Loretto; die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er in völliger Abgeschiedenheit in den Niederlanden, nur durch eine umfangreiche Korrespondenz mit dem Mittelpunkt der Welt, dem Paris Richelieus und Mazarins, verbunden. Er fühlte, wie er selber sagte, gar keine Lust, in der Welt berühmt zu werden, ja er hatte geradezu Angst davor: »Die Wilden«, schrieb er an einen seiner Verehrer, »behaupten, daß die Affen sprechen könnten, wenn sie wollten, aber es absichtlich nicht tun, damit man sie nicht zwinge, zu arbeiten. Ich bin nicht so klug gewesen, das Schreiben zu unterlassen: darum habe ich nicht mehr so viel Ruhe und Muße, als ich durch Schweigen behalten hätte.« Er wollte überhaupt mit der Welt, die er nur als Störung empfand, möglichst wenig zu schaffen haben und vermied daher jederlei Konflikte mit den herrschenden Mächten. Er unterdrückte sein Werk über den Kosmos, das, wenn auch nicht auf galileischer, so doch auf heliozentrischer Grundlage ruhte, als er erfuhr, in welche Differenzen mit der Kirche Galilei durch seine neuen Theorien gebracht worden war. Oberflächliche Menschen haben darin einen Mangel an Wahrheitswillen und persönlichem Mut erblicken wollen, aber diese vergessen, daß Descartes als Mensch niemals aufgehört hat, der französische Altaristokrat und Sohn der heiligen römischen Kirche zu sein: wenn er nichts gegen die bestehenden Ordnungen unternahm, so folgte er der Stimme seines Blutes. Und im übrigen war es ihm wichtiger, seinen großen Gedanken unbehelligt nachhängen zu können als sie unter Behelligungen und Kämpfen in die Welt zu tragen; er wollte daher nicht einmal eine Schule.
Gleichwohl konnte er nicht verhindern, daß er schon zu seinen Lebzeiten zahlreiche Gegner und Anhänger fand. Denn schon allein seine Leistungen als Mathematiker und Naturforscher hätten genügt, ihm Weltruf zu verschaffen. Er fand das Gesetz der Lichtbrechung, entdeckte die Funktion der Kristallinse im menschlichen Auge und löste das Rätsel des Regenbogens; auch seine Wirbeltheorie, durch die er die Bewegungen der Himmelskörper zu erklären versuchte, hat, obgleich von der späteren Forschung wieder verlassen, für seine Zeit eine hervorragende Bedeutung gehabt. Seine größte Leistung aber ist die Begründung der analytischen Geometrie, durch die es bekanntlich ermöglicht wird, die Eigenschaften jeder ebenen Kurve in einer Gleichung auszudrücken, deren Hauptbestandteile aus zwei veränderlichen Größen, den Koordinaten, gebildet werden. Dies war nicht nur eine ganz neue Wissenschaft, die sich in der Folgezeit als außerordentlich fruchtbar erweisen sollte, sondern noch etwas viel Bedeutsameres: es war nicht mehr und nicht weniger als der gigantische Versuch, die Algebra, das heißt: das reine Denken auf die Geometrie, das heißt: das reale Sein anzuwenden, die Eigenschaften und Existenzgesetze der wirklichen Dinge zu finden, ehe diese Dinge selbst da sind, die Realität in ein feststehendes Liniennetz einzufangen, an dem sie sich zu orientieren hat und von dem aus sie durch den souveränen Verstand jederzeit bestimmt und vorausbestimmt werden kann: ein höchster Sieg des Rationalismus über die Materie, wenn auch nur ein Scheinsieg. Der irrationalen Wirklichkeit hält der cartesianische Mensch sein magisches Koordinatenkreuz entgegen; und damit bannt er sie gleichsam in seine Gefolgschaft. Die symbolische Bedeutung dieses Vorgangs ist unermeßlich: in ihm ruht der Schlüssel der ganzen französischen Barocke.
Wie die Mathematik soll nun auch die Metaphysik aus unmittelbar durch sich selbst gewissen Prinzipien deduktiv ihre Sätze entwickeln. Wahr ist alles, was ich klar und deutlich vorstelle: wir dürfen daher nur dem folgen, was wir entweder selbst einleuchtend zu erkennen oder aus einer solchen Erkenntnis mit Sicherheit abzuleiten vermögen. In einer streng geprüften und geordneten Reihe derartiger fortschreitender und entdeckender Folgerungen besteht die cartesianische Methode.
Der oberste Grundsatz, den Descartes aufstellt, lautet nun: alles ist zweifelhaft; de omnibus dubitandum. Die Sinneseindrücke, aus denen wir unser Weltbild aufbauen, täuschen uns sicherlich zuweilen, vielleicht sogar immer. Indes, selbst in dem Falle, daß wir berechtigt sein sollten, an allem zu zweifeln, wäre eines ganz unbezweifelbar: nämlich dieser unser Zweifel. Auch wenn alle unsere Vorstellungen falsch sind, bleibt als positiver Rest die Tatsache übrig, daß sie Vorstellungen sind; auch wenn alles Irrtum ist: die Existenz unseres Irrtums selbst ist keiner; auch wenn ich alles leugne, so bin doch immer noch ich es, der leugnet. So gelangt Descartes von seinem Ausgangspunkte: de omnibus dubito unmittelbar zu der Folgerung: dubito ergo sum oder, da alles Zweifeln Denken ist: cogito ergo sum. Diesen Satz identifiziert er aber sofort mit einem dritten: sum cogitans, indem er die Behauptung aufstellt, daß der Mensch nicht nur ein Wesen sei, dessen Existenz aus seinem Denken erhellt, sondern daß das ganze Sein seiner geistigen Hälfte im Denken bestehe. Die Welt zerfällt für Descartes in zwei Substanzen: die Körper, deren Grundeigenschaft die Ausdehnung ist, und die Geister, deren wesentliches Attribut das Denken bildet. Der Körper ist nie ohne Ausdehnung, der Geist nie ohne Denken: mens semper cogitat. Dies führt Descartes zu zwei merkwürdigen Folgerungen, die aber für ihn und seine Zeit ungemein charakteristisch sind, erstens nämlich: daß der Mensch, wenn er die cartesianische Methode mit der nötigen Vorsicht anwendet und nur dem zustimmt, was er klar und deutlich erkannt hat, niemals irren kann, daß der Irrtum seine eigene Schuld ist, der er nur dadurch verfällt, daß er von der göttlichen Gabe der Erkenntnis nicht den richtigen Gebrauch macht, und zweitens: daß, da denkende Substanzen nie ausgedehnt, ausgedehnte nie denkend sein können, der menschliche Körper eine Maschine ist, die mit der Seele nichts gemeinsam hat, und die Tiere, da sie nicht denken, überhaupt keine Seele besitzen und sich in nichts von komplizierten Automaten unterscheiden.
Versuchen wir nun, diese Philosophie, die Descartes in einer kristallenen und bisweilen fast dramatisch bewegten Sprache vorgetragen hat, etwas näher ins Auge zu fassen. Ihr hervorstechendster Grundzug ist zunächst eine strenge und allseitige Methodik und der leidenschaftliche Glaube an den Sieg dieser Methodik. Es gibt eine Methode, einen logischen Universalschlüssel: wer ihn besitzt, besitzt die Welt; habe ich die Methode, die »wahre Methode«, so habe ich die Sache: dies ist die cartesianische Kardinalüberzeugung, die sich bis zum gebietenden und beherrschenden Lebenspathos steigert und den ganzen ferneren Entwicklungsgang der lateinischen Seele bestimmt hat, von Descartes über Voltaire und Napoleon bis zu Taine und Zola. Diese Methode ist die analytische. Sie zerlegt die gegebene Realität oder ihre zur Untersuchung gestellten Ausschnitte zunächst in ihre »Elemente«, um von da an deduktiv auf dem »richtigen« Wege wieder zu ihr zurückzukehren. Sie korrigiert die Welt und deren Betrachtung oder vielmehr: sie korrigiert die Welt durch deren Betrachtung. »Um die Wahrheit methodisch zu finden, muß man die verwickelten und dunklen Sätze stufenweise auf einfachere zurückführen und dann von der Anschauung dieser ausgehen, um ebenso stufenweise zu der Erkenntnis jener zu gelangen.« Erst seziert man, dann konstruiert man: beides sind extrem rationalistisch-mechanische Funktionen.
Mathematik ist die Universalwissenschaft, weil sie allein jene Anforderungen restlos zu erfüllen vermag. Nur sie hat die Möglichkeit, ihre Objekte in ihre letzten Bestandteile zu zerlegen, und nur sie ist imstande, an der Hand einer lückenlosen Kette von Beweisen und Schlüssen zu ihren letzten Erkenntnissen emporzusteigen. Im Grunde ist daher alles ein mathematisches Problem: die gesamte physische Welt, die uns umgibt, unser Geist, der sie aufnimmt, und sogar die Ethik, das charakteristischste und merkwürdigste Stück des cartesianischen Systems: in seiner Abhandlung »les passions de l'âme« hat nämlich Descartes in sehr geistvoller und scharfsinniger Weise eine erschöpfende analytische Darstellung der menschlichen Leidenschaften und zugleich eine Anleitung zu ihrer Lenkung und Bekämpfung gegeben; dieser berühmte Essay, der von den Zeitgenossen aufs höchste bewundert wurde, ist nichts anderes als der Versuch, die Gesamtheit der Affekte auf eine Reihe allgemeiner Grundformen zurückzuführen und so eine Art Algebra der Passionen zu liefern. Kurz: alles ist ein Problem der Analysis, der analytischen Geometrie. Was nun ist analytische Geometrie? Wir sagten es bereits: nichts anderes als die Kunst, Gesetz und Gestalt einer Sache zu finden, ohne hinzusehen: die Gleichung des Kreises, der Ellipse, der Parabel, ehe diese da sind, denn sie folgen ganz von selber aus der Gleichung, sie müssen folgen, logisch-mathematischen Gehorsam leisten. Descartes wußte auch sein eigenes Leben nach dieser algebraischen Methode einzurichten: zuerst entwarf er sich sozusagen die Gleichung seiner Biographie und dann konstruierte er ganz exakt die Kurve seines Lebens nach dieser theoretischen Formel. In seinem Entwicklungsgang war nichts zufällig oder von außen aufgedrängt, sondern alles von ihm selbst vorherbestimmt: mit vollem Bewußtsein begab er sich während der ersten Hälfte seines Daseins in die große Welt, um »in ihrem Buche zu lesen«, und ebenso bewußt schloß er sich während des Restes seiner Erdenbahn von ihr ab, um über sie zu philosophieren. Mit Descartes betritt der deduktive Mensch die Bühne der Geschichte.
Die erste Grundüberzeugung dieses deduktiven Menschen lautet: nur was man denkt, ist wirklich; und nur was man geordnet denkt, ist wirklich gedacht. Was ich klar und deutlich einsehe, ist wahr: die clara et distincta perceptio ist das untrügliche Kriterium des Richtigen. Descartes gebraucht auch in seinem Stil mit Vorliebe Metaphern, die in diesem Vorstellungskreise liegen, wie Tag, Licht, Sonne; er beschäftigte sich als Naturforscher besonders gern mit optischen Problemen, und in seinem verlorengegangenen großen Werk, das wahrscheinlich den Titel »le monde« führte, hatte er den ganzen Kosmos vom Standpunkt seiner Theorie des Lichts behandelt. Das Ziel seiner gesamten Philosophie ist »la recherche de la vérité par les lumières naturelles«, wie er eine seiner nachgelassenen Schriften genannt hat. Für dieses natürliche Licht des Verstandes gibt es nichts, was es nicht zu erhellen vermöchte: was nicht in seiner Sonne liegt, ist nicht wert, beschienen zu werden, ja noch mehr: es existiert nicht; und was es bescheint, ruht in vollem Tagesglanze, klar und gleichmäßig erhellt, ohne Schatten und Nuancen, ohne Dunkelheiten und Widersprüche, denn für den reinen seiner selbst bewußten und sicheren Verstand gibt es nur eine einzige große Gewißheit ohne Grade: es ist eine Art Mittagshöhe, die der menschliche Geist hier erklimmt, einseitig, aber heroisch.
Dieser Zenith kann natürlich nur erreicht werden, indem alles vernachlässigt und sogar geleugnet wird, was nicht im Strahlenkegel der klaren Ratio liegt. Es gibt daher für diese Weltanschauung nichts Unterbewußtes und nichts Halbbewußtes, keine undefinierbaren Seelenregungen, keine dunkeln Triebe, keine geheimnisvollen Ahnungen, auch Empfindungen nur, soweit sie der Ausdruck klarer Gedanken sind. Etwas begehren heißt: etwas für wahr halten, etwas verabscheuen: es für falsch halten; gute Handlungen sind jene, denen eine adäquate Erkenntnis zugrunde liegt, böse Handlungen solche, die aus unrichtigen Vorstellungen fließen. Tiere und Pflanzen sind, wie wir bereits gehört haben, bloße Automaten; ihre Empfindungen sind nichts als körperliche Bewegungen, die rein mechanischen Gesetzen gehorchen, denn alles, was ohne Denken vor sich geht, ist ein bloß physikahscher Vorgang. Descartes scheut nicht davor zurück, zu erklären, daß sie weder sehen noch hören, weder hungern noch dürsten, weder Freude noch Trauer fühlen: sie wissen, sagt er, von ihren Lebensäußerungen nicht mehr als eine Uhr, die sieben oder acht schlägt. Er geht konsequenterweise noch weiter und zählt auch die menschlichen Empfindungen nicht unter die seelischen Vorgänge: sie sind für ihn ebenfalls nur Bewegungserscheinungen. Die Leidenschaften sind nichts als falsche Urteile, verworrene, unrichtige, dunkle Vorstellungen, sie sind daher nicht existenzberechtigt und können und müssen besiegt werden durch die Vernunft, die das Vermögen der klaren Begriffe und deutlichen Vorstellungen ist. Wir erkennen hier jene der griechischen Stoa verwandte, aber ins Weltmännische gewendete Geisteshaltung, wie sie dem siebzehnten Jahrhundert als ethisches Ideal vorschwebte: der Mensch, der alle seine Triebe gebändigt, rationalisiert hat durch klare Methodik, die ihm Lebensform geworden ist, der alles, was aus den elementaren Instinkten, der unregulierten Willenssphäre fließt, als unzivilisiert und plebejisch, geschmacklos und barbarisch, unphilosophisch und unästhetisch unter sich sieht, alles, was nicht der Raison unterworfen ist, als subaltern und mauvais genre empfindet. Aber hier kündigt sich auch schon achtzehntes Jahrhundert an, nämlich die Überzeugung, daß alles, was mit der Vernunft in Widerspruch steht, eine unreife Bildung und Verirrung der Natur darstellt, die dazu bestimmt ist, im Gange des Fortschritts überwunden zu werden.
Das cartesianische System hat auf allen einzelnen Gebieten nur die natürlichen Folgerungen gezogen, die ihm von seinem obersten Grundsatz vorgezeichnet waren: dem cogito ergo sum. Aus dem Denken erhellt für Descartes die Tatsache des menschlichen Ich und der ganzen Welt. Allerdings hat Descartes auf den Einwand Gassendis, daß der Mensch seine Existenz auch aus jeder seiner anderen Tätigkeiten folgern und daher zum Beispiel auch sagen könne: » ambulo ergo sum, ich gehe spazieren, also bin ich«, mit Recht erwidert, daß der Mensch der Tatsache, daß er spazieren gehe, nur dadurch gewiß werde, daß er sie vorstelle, also sein Spazierengehen denke; aber Descartes hat Denken und Sein nicht nur in die Beziehung von Obersatz und Untersatz gebracht, sondern in das Verhältnis der Identität, indem er feststellte, daß das Wesen der Seele ausschließlich im Denken bestehe und daher nur das Gedachte wirklich sei. Hätte ihm Gassendi als Beispiel den Satz »volo ergo sum, ich will, also bin ich« entgegengehalten, auf dem die Philosophie Schopenhauers fußt, so hätte Descartes nicht dieselbe Replik vorbringen können, denn wenn ich auch meines Willens nur dadurch bewußt werde, daß ich ihn vorstelle, so bleibt doch noch immer die Frage offen, ob dieser Wille nicht trotzdem die Ursache meiner Existenz sein könnte. Durch die Tatsache meines Denkens wird mir mein Ich bloß bewiesen; aber Descartes machte den logischen Grund zum metaphysischen. Zu diesem Trugschluß war er jedoch gleichwohl berechtigt. Denn die Aufgabe des großen Philosophen besteht nicht darin, korrekt zu schließen, sondern die Stimme seiner Zeit zu sein, das Weltgefühl seiner Epoche in ein System zu bringen. Und der damalige Mensch war aufs tiefste überzeugt, daß nur jene Tätigkeit, von der er wisse, seine Tätigkeit sei: quod nescis, quomodo fiat, id non facis, sagt der Cartesianer Geulinx. Nur wer denkt, hat eine Seele, und wer eine Seele hat, muß denken: l'âme pense toujours, sagt der Cartesianer Malebranche.
Diese Seele, die immer denkt, hat keine Brüder. Es zeigt sich am Cartesianismus in besonders starkem Maße die starre Isolation, in die jeder konsequente Rationalismus den Menschen einschließt. Es ist die heroische Öde und selbstherrliche Einsamkeit des reinen Denkens, aus der heraus Descartes sein furchtbares »cogito ergo sum« aufstellt. Der von ihm konzipierte Mensch befindet sich auf der ganzen weiten Welt allein mit seinem cogito, der erhabenen Kraft, zu denken, zu ordnen, zu klären, die ihm den ganzen Kosmos: Gott, Mensch und Natur; Weltaufgänge und Weltuntergänge; Soziologien, Astronomien, Physiken; Atome, Wirbel, Planeten; Staaten, Leidenschaften, Tugenden aufbaut. Wirklich ist im Grunde doch nur, obgleich sie es nicht wahr haben will und vielleicht selbst nicht weiß, diese Monas Cartesius, die denkt, denkt ... Die Sinneswahrnehmungen sind nicht wahr, wahr ist nur das Denken dieser Wahrnehmungen. Wie ja auch in der analytischen Geometrie die reale Kurve nicht wahr, jedenfalls nicht das Wesentliche ist, sondern ihre durch den Verstand gefundene allgemeine Formel. Die sinnlichen Vorstellungen haben geringere Realität, weil sie »unklar« sind. Und wer verbürgt uns, daß nicht die ganze Sinnenwelt ein Traum ist? »Wenn ich mir die Sache sorgfältig überlege, finde ich nicht ein einziges Merkmal, um den wachen Zustand vom Traum sicher zu unterscheiden. So sehr gleichen sich beide, daß ich völlig stutzig werde und nicht weiß, ob ich nicht in diesem Augenblick träume.« Hier demaskiert sich Descartes plötzlich als echter Barockphilosoph, indem er die Sinnenwelt zu einer Wirklichkeit zweiter Ordnung degradiert, sie, wenn auch nur in der Hypothese, als Traum konzipiert und jedenfalls dem Ganzen aufs höchste mißtraut. Er war auch darin eine Barocknatur, daß er mit seinem grundsätzlichen Skeptizismus und seinem höchst revolutionären Rationalismus eine bedingungslose Anerkennung des Wirklichen in seiner Machteigenschaft verband. Er war, wie wir bereits andeuteten, als Mensch streng konservativ, fast reaktionär, im Innersten gegenreformatorisch gesinnt. Denn die Reformation war individualistisch, demokratisch, »fortschrittlich«, freiheitlich in der Praxis, wovon Descartes niemals etwas wissen wollte. Bossuet sagte von ihm, daß seine Vorsicht gegenüber der Kirche bis zum Äußersten ging, und er selbst empfahl in einer seiner Schriften, unter allen Umständen die Gesetze und Gewohnheiten des Landes zu beobachten, in dem man lebe, an der Religion festzuhalten, in der man erzogen sei, im Verkehr die gemäßigtesten und verbreitetsten Maximen zu befolgen, und vermied es überhaupt, über ethische Gegenstände zu handeln, weil es nur Sache mächtiger Personen sei, sittliche Normen für andere aufzustellen. Er war Aristokrat und Katholik und hat niemals »protestiert«; gleichwohl oder wahrscheinlich eben deshalb hat kein Bürgerlicher und kein Reformierter seines Landes eine so voraussetzungslose Philosophie geschaffen. Es weht in ihr die Luft eines Geistes, der so frei ist, daß er selbst die Freiheit verachtet.
Und tatsächlich erhoben sich auch die ersten Gegner seiner Philosophie in der protestantischen Republik der freien Niederlande. Aber dreizehn Jahre nach seinem Tode traten auch die Jesuiten gegen ihn auf und setzten es durch, daß seine Bücher auf den Index kamen, und nicht lange darauf wurde seine Lehre von den französischen Universitäten verbannt. Aber seine Schule breitete sich trotzdem unaufhaltsam aus. Nicht bloß durch die »Okkasionalisten«, wie man seine nächsten Nachfolger und Fortbildner in der Geschichte der Philosophie nennt, nicht bloß durch die berühmte Logik des Port-Royal »L'art de penser« und die tonangebende »Art poétique« Boileaus; vielmehr war ganz Frankreich seine Schule, an der Spitze der Sonnenkönig selbst, der seine Werke verboten hatte. Der Staat, die Wirtschaft, das Drama, die Architektur, die Geselligkeit, die Strategie, die Gartenkunst: alles wird cartesianisch. In der Tragödie, wo die Begriffe der Leidenschaften miteinander kämpfen; in der Komödie, wo die algebraischen Formeln der menschlichen Charaktere entwickelt werden; in den Anlagen von Versailles, die abstrakte Gleichungen von Gärten sind; in der analytischen Methode der Kriegführung und der Volkswirtschaft; in dem sozusagen deduktiven Zeremoniell der Gebärden und Manieren, des Tanzes und der Konversation: überall herrscht als unumschränkter Gebieter Descartes. Und man kann sogar sagen, daß fast bis zum heutigen Tage jeder Franzose ein geborener Cartesianer ist. Die Französische Revolution hat den Absolutismus der Bourbonen so gründlich beseitigt, als es nur denkbar war; aber Descartes hat sie nicht vom Thron gestürzt, sondern in seiner Macht aufs ausschweifendste bestätigt.
Mit Ludwig dem Vierzehnten vollzieht sich der Übergang der Vorbarocke in die Vollbarocke. Seine selbständige Regierung umfaßt ungefähr fünfeinhalb Jahrzehnte; mit seinem Tode setzt die Spätbarocke ein, die unter dem Namen Rokoko bekannt ist. Wir haben im vorigen Kapitel erwähnt, daß die Zeit, wo er zur Alleinherrschaft gelangt, auch sonst eine Anzahl entscheidender Daten enthält; und ebenso verhält es sich mit dem Ende seiner Regierungsperiode. Er selbst stirbt 1715, und in demselben Jahre Malebranche, der bedeutendste Cartesianer. 1713 gelangt Friedrich Wilhelm der Erste in Preußen, 1714 das Haus Hannover in England auf den Thron: zwei gewichtige politische Wendepunkte. Und 1716 stirbt Leibniz, in dem, wie wir später sehen werden, der Barockgeist seine höchste Konzentration gefunden hat. Der Tod des Sonnenkönigs bedeutet somit in mehr als einem Sinne das Ende einer geschichtlichen Epoche.
Der extreme Absolutismus, den Ludwig der Vierzehnte aufrichtete, folgte ganz von selber aus der Allherrschaft der cartesianischen Raison, die ein Zentrum fordert, wovon aus alles einheitlich und methodisch beherrscht und gelenkt wird. Das » l'état c'est moi« hatte für die Menschen jener Zeit nichts weniger als jene frivole Bedeutung, die spätere Beurteiler diesem Worte beigelegt haben. Der König ist der von Gott und der Vernunft eingesetzte Mittelpunkt des irdischen Koordinatennetzes: an ihm hat sich alles zu orientieren; wer anders empfunden hätte, wäre dem Zeitgefühl nicht etwa bloß als ein Staatsverräter und Majestätsverbrecher, sondern als etwas viel Schlimmeres erschienen: als ein Mensch, der nicht methodisch zu denken vermag. Erst ist der König da, dann der Staat, aus ihm entwickelt sich der Staat, wie zuerst das Koordinatenkreuz da ist und dann erst die realen Punkte, Linien und Flächen. Der König beherrscht nicht nur den Staat, er macht den Staat. Hieraus ergaben sich selbstverständlich radikal absolutistische Theorien, am klarsten und eindringlichsten dargelegt in den Schriften Bossuets, des »Adlers von Meaux«, der einer der packendsten Kanzelredner und glänzendsten Historiker seiner Zeit war. In seiner »Politik nach den Lehren der Heiligen Schrift« erklärt er, der König sei der Statthalter und das Bild Gottes auf Erden, seine Majestät der Abglanz der göttlichen; der ganze Staat, der Wille des gesamten Volkes sei in ihm beschlossen, nur wer dem König diene, diene dem Staat. Dies war Bossuets tiefste Überzeugung und keine gefällige Hoftheologie und Hofpolitik. Und wenn wir beobachten, wie nicht nur die große Masse, sondern auch die edelsten und kühnsten Geister der Zeit von denselben Gefühlen durchdrungen waren, so müssen wir zu der Ansicht gelangen, daß Ludwig der Vierzehnte kein größenwahnsinniger Autokrat war, sondern nur nahm, was die öffentliche Meinung ihm entgegenbrachte, ja aufdrängte. Er herrschte nicht bloß mit den Mitteln äußerer Gewalt, sondern als legitimer Mandatar des Zeitgeists. Er war wirklich, was bei Hobbes der Staat ist: ein »sterblicher Gott«. Seine Gnade beseligte, seine Ungnade tötete. Nicht bloß der »große Vatel«, der übrigens ein Genie unter den Köchen gewesen sein muß (Madame de Sévigné sagt, sein Kopf hätte hingereicht, alle Sorgen einer Staatsverwaltung in sich zu fassen), stürzte sich in sein Küchenmesser, als ein Festessen, das Condé dem König gab, nicht vollkommen geriet. Auch Colbert verfiel in ein todbringendes nervöses Fieber, weil ihm, als er gegen die allzu kostspieligen Versailler Bauten Einspruch erhob, der erzürnte König andeutete, es müßten Unterschleife vorgekommen sein. Vauban hatte eine sehr einsichtsvolle Schrift über Steuerreformen veröffentlicht, die aber das königliche Mißfallen erregte und daher beschlagnahmt und vernichtet wurde; elf Tage später war er eine Leiche. Und einen vierten, der in der haute tragédie ebenso groß war wie Vatel in der Kochkunst, Colbert im Finanzwesen und Vauban im Festungsbau, ereilte dasselbe Schicksal: Racine, der sich aus Zerstreutheit eine grobe Taktlosigkeit hatte zuschulden kommen lassen. Eines Abends unterhielt er sich bei Frau von Maintenon mit Ludwig dem Vierzehnten, der gern und häufig seinen Verkehr suchte, über die Pariser Theater. Der König fragte, woher es komme, daß die Komödie von ihrer einstigen Höhe so tief herabgesunken sei. Racine antwortete, der Hauptgrund liege nach seiner Ansicht darin, daß zu viele Stücke von Scarron gespielt würden. Bei dieser Äußerung errötete Madame de Maintenon, die einmal Madame Scarron gewesen war, es entstand ein peinliches Schweigen, der König brach die Unterredung ab und richtete seitdem nie wieder ein Wort an Racine, der darüber in Trübsinn verfiel und starb. Kurz: die Empfindungen, die man dem König entgegenbrachte, sind in nicht allzu übertriebener Weise in der Antwort ausgedrückt, die der Frau von Maintenon von ihrem Bruder gegeben wurde, als sie erklärte, das langweilige Leben an der Seite Ludwigs nicht mehr ertragen zu können: »Sie haben also die Aussicht, Gott Vater zu heiraten?«
Die äußeren Instrumente, durch die Ludwig der Vierzehnte seine allgegenwärtige Herrschaft ausübte und befestigte, waren Bürokratie, Polizei und stehendes Heer, drei Elemente, die das moderne Staatswesen in hervorragendem Maße charakterisieren und unter seiner Regierung zur höchsten Ausbildung gebracht worden sind. Über das ganze Land zog sich das Netz einer sorgfältig abgestuften und organisierten Beamtenhierarchie. Die Besteuerung wurde prompt und unerbittlich gehandhabt, als eine stets offene, aber schließlich doch versiegende Quelle für die ungeheuern Ausgaben des Staatshaushalts. Die Kopfsteuer, la taille, war sehr hoch und dabei ungerecht verteilt, da Adel und Geistlichkeit von ihr befreit waren; dazu kamen noch drückende indirekte Abgaben von einer Reihe der notwendigsten Gebrauchsartikel, vor allem die berüchtigte Salzsteuer, la gabelle. Ebenso verhaßt und gefürchtet waren die lettres de cachet, mittels deren der König jede beliebige Person ohne Prozeß auf unbestimmte Zeit internieren konnte.
Den selbstbewußten und selbstherrlichen Feudaladel verwandelte Ludwig der Vierzehnte in eine Hofaristokratie, die nur noch den Zweck hatte, den Glanz des Königtums zu erhöhen. Er gab zwar bei der Besetzung der öffentlichen Ämter und vor allem bei der Vergebung der höheren Offiziersstellen den Edelleuten den Vorzug, aber sie waren aus kleinen Souveränen Beamte der Krone geworden, die sich nur durch äußere Ehren und Abzeichen von gewöhnlichen Untertanen unterschieden. Übrigens zog der König auch zahlreiche Bürgerliche in seinen Dienst, wenn sie Talent und Unternehmungsgeist zeigten, und besetzte mit ihnen nicht selten die höchsten Posten, zumal in der Verwaltung, weshalb ihn der Herzog von Saint-Simon in seinen Memoiren » le roi des commis« nannte. So entstand eine neue sehr einflußreiche Kaste der nouveaux riches, die durch Länderkauf, nachträgliche Nobilitierung, glückliche Spekulationen und vornehme Heiratsverbindungen rasch emporkamen.
Seine größte Aufmerksamkeit richtete er auf das Heerwesen. Er war selber nicht das, was man einen »Militaristen« nennt, aber er erkannte in fortwährenden Kriegen, die der patriotischen Eitelkeit schmeichelten und zugleich den Betätigungsdrang nach außen ablenkten, das sicherste Mittel, sich bei einer so ruhmgierigen, unruhigen und herrschsüchtigen Nation wie der seinigen in dauerndem Ansehen zu erhalten: es ist das System, das seither alle französischen Regierungen angewendet haben, einerlei, ob sie bourbonisch, jakobinisch oder napoleonisch waren. Es gelang ihm denn auch binnen kurzem, seine Armee zur stärksten, geschultesten, bestausgerüsteten und bestgeführten Europas zu machen. Turenne, Condé, Luxembourg und Catinat waren Meister der Strategie, denen niemand gleichkam. Vauban, der größte Kriegsingenieur des Jahrhunderts, umgab Frankreich mit einem bewundernswerten Festungsgürtel, brachte die Belagerungskunst auf eine bis dahin unerreichte Höhe und vervollkommnete das Artilleriewesen durch die Einführung der bombenwerfenden Mörser und des Rikoschettierschusses, des ersten Versuches indirekten Feuers. Sein Kriegsminister Louvois, der berüchtigte Verwüster der Pfalz, reformierte das gesamte Heerwesen. Er ersetzte die schwerfällige Luntenflinte durch das handliche Steinschloßgewehr und die Pike durch das Bajonett, eine sowohl für die Fernwirkung wie für den Nahkampf geeignete Waffe, und machte das Fußvolk wieder zur Haupttruppengattung, denn auch die Dragoner waren nur eine Art berittene Infanterie, die, mit Karabiner und Säbel ausgerüstet, zum Gefecht absaß, so daß das Pferd bei ihnen nur die Rolle eines Beförderungsmittels spielte, wie etwa bei den heutigen Truppenkörpern die Eisenbahn. Ferner war er der erste, der die allgemeine Uniformierung einführte, während bisher die Soldaten nach freier Wahl selber für ihre Kleidung gesorgt hatten. Auch in diesem Zuge zeigt sich der neue Geist der rationellen Ordnung, der alle Lebensgebiete ergreift. Das Militär wird zum erstenmal exakt. Der Soldat ist keine lebendige einmalige Individualität mehr, sondern eine gleichgültige Ziffer, für die das algebraische Symbol der Uniform eingesetzt wird; statt eines bestimmten Soldaten gibt es nur noch den Begriff Soldat, mit dem man nach Beheben zu operieren vermag, wie es in den Alleen von Versailles keine einzelnen Bäume mehr gibt, sondern nur noch eine Anzahl von identischen Proben der Gattung Baum, eine schnurgerade Reihe gleichförmig geschnittener, unter eine allgemeine Schablone subsumierter Exemplare.
Von demselben Einheitswahn war Ludwig der Vierzehnte auch in seiner Religionspolitik geleitet. Wenn er gegen die Jansenisten, denen die Literatur seines Zeitalters einen großen Teil ihres Glanzes verdankt, mit großer Strenge vorging, so tat er dies nur aus seinem Willen zur Uniformität und Korrektheit. Sein Widerstand gegen den Papst hatte dieselben Motive wie sein Einschreiten gegen die Häretiker. Er berief eine Kirchenversammlung nach Paris, die erklärte, Petrus und seine Nachfolger hätten von Gott nur Macht im Geistlichen, nicht im Weltlichen, und auch diese Macht sei beschränkt durch die höhere Autorität der allgemeinen Konzilien und durch die Vorschriften und Gebräuche der gallikanischen Kirche. Diese gallikanische Kirche ist eine französische Nationalkirche, die dem Papst keinerlei Einfluß auf die Besetzung der Pfründen einräumt und daher als politischer Körper von der englischen Hochkirche nicht allzuweit entfernt ist. Leider ließ sich der König in diesem Kampf gegen alle zentrifugalen Bestrebungen auch zur Aufhebung des Ediktes von Nantes bewegen, wodurch alle Hugenotten entrechtet und der gehässigsten Verfolgung preisgegeben wurden. Durch diesen ebenso unmenschlichen wie unklugen Akt hat er sich und seinem Lande den größten Schaden zugefügt und alle Billigdenkenden in Europa gegen sich aufgeregt: von hier datiert sein Abstieg. Während der zweiten Hälfte seiner Regierung beginnt seine Sonne immer deutlicher ihre häßlichen Flecken zu offenbaren, um alsbald langsam zu verbleichen und schließlich in grauer trauriger Dämmerung unterzugehen. Man hatte den Hugenotten zwar verboten, das Land zu verlassen, aber ein großer Bruchteil, etwa eine halbe Million, konnte trotz strengster Bestimmungen nicht an der Auswanderung verhindert werden. Dieser Verlust bedeutete für Frankreich weit mehr als eine Verminderung der Bevölkerungsziffer, denn die Hugenotten zählten zu den geschicktesten und fleißigsten Untertanen des Sonnenkönigs: die Brokat-, Seiden- und Samtweberei, die Herstellung feiner Hüte, Stiefel und Handschuhe, die Fabrikation von Borten, Bändern und Tapeten, die Uhrmacherei, die Spitzenklöppelei, die Tabakbereitung, die Kristallschleiferei lag fast ganz in ihren Händen. Sie entzogen nicht nur diese Industrien ihrem Vaterland, das sie erst sehr allmählich und nicht mehr mit derselben Vollkommenheit wiederherstellen konnte, sondern trugen sie auch ins Ausland, das sie dadurch konkurrenzfähiger machten. Sie wirkten dort auch mit großem Erfolg als Seeleute und Ingenieure und organisierten, wo sie konnten, vor allem in Holland, eine freie Presse, die die ganze Welt über den egoistischen und brutalen Charakter der bewunderten Regierung Ludwigs des Vierzehnten aufklärte und aufs nachteiligste gegen sie Stimmung machte.
Das tägliche Leben war demselben Prinzip unterworfen wie das religiöse und politische: es sollte alles »erhaben«, großartig, pompös, effektvoll und zugleich »einfach«, korrekt, geordnet, überschaubar sein. Unter Ludwig dem Vierzehnten wird die place royale mit ihren Nebenstraßen in vollkommenster geometrischer Regelmäßigkeit erbaut. Lenôtre ist der Schöpfer des französischen Gartenstils, der den Anlagen die Form mathematischer Figuren gibt und ihr Wachstum mit Zirkel und Lineal beaufsichtigt. Ebenso symmetrisch waren die »Wasserkünste« angelegt, zum Beispiel das bassin de Latone in Versailles, wo in regelmäßigen Abständen Frösche im Kreise sitzen, die genau die gleichen tadellosen Kurven spritzen. Denselben Geist atmet das Menuett, vielleicht der merkwürdigste Tanz, der jemals erfunden wurde, denn in ihm ist das Kunststück zuwege gebracht, lähmendste Gezwungenheit, Abgemessenheit und Marionettenhaftigkeit mit bezauberndster Anmut, Lebendigkeit und Leichtigkeit zu vermählen. Im Grunde war jedoch das ganze Salonleben jener Zeit ein Menuett. Es war genau vorgezeichnet, wie viel Schritte man machen müsse, bis man sich verbeugen dürfe, welche Linie diese Verbeugung zu beschreiben habe und wie tief sie in jedem einzelnen Falle sein solle. Es gibt in dieser Welt nichts, das nicht einem minutiösen und wohldurchdachten Reglement unterworfen, nichts, das dem Zufall überlassen wäre; das ganze Leben ist ein Reißbrett mit einem Millimeterquadratnetz, ein Schachbrett, auf dem bestimmte gleichartige Figuren ihre vorschriftsmäßigen Züge machen.
Dieser strengen Geistesetikette durfte sich auch der große König nicht entziehen, sie war die einzige Macht, die stärker war als er. Seine Tagesordnung war genau geregelt: jede Stunde hatte ihre bestimmte Beschäftigung, Kleidung und Gesellschaft. Der unumschränkte Herrscher ist im Grunde nicht mehr als eine große Puppe, die von gewissen hiezu ausgewählten Personen angekleidet, umgekleidet, gefüttert, spazierengefahren und zu Bett gebracht wird. Niemand darf ihm ein Taschentuch präsentieren als der Vorsteher der Taschentücherabteilung; die Prüfung seines Nachtstuhls ist Sache einer eigenen Hofcharge; um ihm ein Glas Wasser zu überreichen, sind vier Personen nötig. Sein ganzes Leben ist ein lästiger und langweiliger Empfang immer derselben Gesichter, die immer dasselbe ausdrücken. Als man Friedrich dem Großen das französische Hofzeremoniell beschrieb, sagte er, wenn er König von Frankreich wäre, so würde es seine erste Regierungshandlung sein, einen Vizekönig zu ernennen, der für ihn Hof zu halten hätte.
Das Leben des Hofs ist ein ewig gleiches Repertoirestück, das um acht Uhr morgens beginnt und um zehn Uhr abends endet, um am nächsten Tage von vorne anzufangen, noch mehr: das Leben ganz Frankreichs ist eine solche Komödie. Es bedurfte einer bewundernswerten Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, um die heikle und aufreibende Rolle des Titelhelden dieser Komödie würdig durchzuführen, aber Ludwig der Vierzehnte hat diese schwierige Aufgabe mit so souveräner Meisterschaft gelöst, daß man nicht einmal die Mühe spürte; er hat Europa vierundfünfzig Jahre lang ein großes Theater vorgespielt: ein sehr geschmackvolles, sehr pompöses, sehr geistreiches Theater und ein sehr äußerliches, sehr brutales, sehr verlogenes Theater.
Ludwig der Vierzehnte wollte imponieren, aber mit Grazie. Er ließ sich mit Vorliebe als Imperator abbilden; Berninis prachtvolle Reiterstatue zeigt vielleicht am besten, wie er sich aufgefaßt sehen wollte. Sie stellt ihn auf einem ungezäumten Pferd dar, das im Begriff ist, den Hügel des Ruhmes zu erklimmen. Der französische Bildhauer Girardon meißelte auf den Hügel marmorne Flammen, die andeuten sollten, daß Ludwig der Vierzehnte sich als ein neuer Curtius für sein Vaterland geopfert habe: eine schamlose Speichelleckerei, die das Werk auch künstlerisch ruiniert hat. In seinen Manieren betonte der König jedoch niemals den Autokraten. Er war immer taktvoll, immer beherrscht, auch bei schlechter Laune liebenswürdig und zornig nur in der maßvollen Rolle eines Jupiter tonans. Er war besonders gegen Damen von der ritterlichsten Zuvorkommenheit und zog vor dem letzten Küchenmädchen tief den Hut. Er verstand die Kunst, zu schenken, ohne zu demütigen, und zu verweigern, ohne zu verletzen. Wie weit sein Zartgefühl ging, zeigt sein Benehmen gegen Jakob den Zweiten von England, der nach seiner Entthronung bei ihm Zuflucht gefunden hatte. Er behandelte ihn nicht nur als gleichgestellten Souverän, sondern gestattete ihm sogar, sich König von Frankreich zu nennen und die Lilien im Wappen zu führen, welche beiden Rechte die englischen Könige noch aus der Zeit herleiteten, wo sie Besitzer eines großen Teiles von Frankreich gewesen waren. Er warf seinen Stock aus dem Fenster, um nicht in die Versuchung zu geraten, den sehr hochmütigen Marschall Lauzun, der ihn beleidigt hatte, zu schlagen. Als ein höherer Offizier, der in einem Gefecht einen Arm verloren hatte, einmal zu ihm sagte: »ich wollte, ich hätte auch den zweiten verloren, dann brauchte ich Eurer Majestät nicht mehr zu dienen«, erwiderte er bloß: »das würde mir sowohl Ihretwegen wie meinetwegen leid tun« und machte ihm ein bedeutendes Geschenk.
Er besaß eine vorzügliche Konstitution, die allein es ermöglicht hat, daß er so viele Jahre den Strapazen seiner Position gewachsen war. Sein Mittagessen bestand für gewöhnlich aus vier Tellern verschiedener Suppen, einem ganzen Fasan, einem Rebhuhn, einer großen Schüssel Salat, Hammelfleisch mit Knoblauch und Sauce, Schinken, einem Teller Backwerk, Früchten und Marmelade. Auf sexuellem Gebiet entwickelte er eine ebenso große Vitalität. »Dem König war alles recht, wenn es nur einen Unterrock anhatte«, schrieb Liselotte. Sein Hofstaat umfaßte nicht nur die jeweilige erklärte Mätresse, die maîtresse en titre, sondern auch eine Anzahl dames du lit royal, die ebenfalls offiziellen Charakter trugen und in eine bestimmte Rangordnung eingereiht waren. Er hat überhaupt fast alle Frauen seiner Umgebung besessen und war der Vater einer Legion legitimer, halblegitimer und illegitimer Kinder: allein von der Königin, der Lavallière und der Montespan hatte er im ganzen sechzehn.
Die Politik Ludwigs des Vierzehnten hat sowohl bei seinen Zeitgenossen wie bei späteren Beurteilern großen Tadel erfahren: sie gilt als das Musterbeispiel der Rücksichtslosigkeit und Brutalität, Widerrechtlichkeit und Perfidie. Der Überfall auf Holland, der Raub Straßburgs, die chambres de réunion, die die Ansprüche Frankreichs auf deutsche Gebiete bis auf Pipin den Kleinen und König Dagobert zurückverfolgten und unter diesem Rechtstitel zahlreiche Städte für den König einzogen, die Einäscherung Heidelbergs und Mannheims: dies und noch vieles andere hat die Entrüstung der Mitwelt und Nachwelt erregt. Indes: solange die Politik nichts anderes sein wird als die Kunst, seinen Gegner zu täuschen und zu überlisten, und die Frechheit, seine Macht so lange zu mißbrauchen, bis eine noch stärkere Macht Einhalt gebietet, wird es immer lächerlich bleiben, staatsmännische Handlungen vor ein juristisches oder gar ein ethisches Tribunal zu zitieren. Wir wollen daher mit den Untaten des Sonnenkönigs nicht allzusehr ins Gericht gehen, sondern in ihnen bloß den Ausdruck ihrer Zeit und der allgemein menschlichen Roheit und Verblendung erblicken.
Sein politisches Programm war nicht minder großartig als das Philipps des Zweiten und ist ebensowenig erfüllt worden. Er dachte zunächst daran, Belgien, Holland und die Herrschaft über die Nordsee zu gewinnen: ein ewiger Traum des französischen Volkes, bis in die Tage Napoleons des Dritten hinein, der aber nur einmal vorübergehend, unter Napoleon dem Ersten, verwirklicht worden ist; außerdem begehrte er Spanien mit allen seinen Dependenzen: Westindien, Mailand, Sardinien, Neapel, der Franche Comté, wozu noch zur Abrundung Savoyen kommen sollte. In Deutschland wollte er den ganzen Westen an sich reißen, teils durch unmittelbare Einverleibung, teils durch Errichtung abhängiger Fürstentümer; gegen die Habsburger mobilisierte er die Türken, mit denen er verbündet war: er wünschte ihnen die Eroberung Wiens und Österreichs, um im letzten Moment als rettender Vermittler zwischen dem bedrängten Deutschland und der Pforte erscheinen zu können und als Lohn dafür die Kaiserkrone zu empfangen. Dies alles zusammen hätte das Reich Charlemagnes wiedererstehen lassen, den die Franzosen bekanntlich ebenso für sich reklamieren wie die Deutschen. Aber die Zeit der Universalmonarchien war ebenso unwiederbringlich vorbei wie die Zeit der Universalkirchen: er erhielt am Schluß nur die Franche Comté, Teile des Elsaß und einige belgische Grenzfestungen.
Der letzte Abschnitt seiner Regierung ist durch einen dreizehnjährigen Weltkrieg ausgefüllt, den Spanischen Erbfolgekrieg, in dem fast ganz Europa Partei ergriff. Ludwigs Hauptgegner war Kaiser Leopold der Erste, ein echter Habsburger mit glanzlosem Blick und hängender Unterlippe, in dessen Naturell Schlamperei und Eigensinn keine sehr vorteilhafte Mischung eingegangen hatten: beide erhoben Anspruch auf den spanischen Thron, für den jeder einen Prätendenten aus seiner Familie aufgestellt hatte. Auf der Seite Frankreichs standen Bayern, Köln und Savoyen, das später zum Kaiser übertrat; mit diesem waren Portugal, Preußen, Hannover und vor allem Wilhelm von Oranien verbündet, der damals in Personalunion Holland und England regierte und sein ganzes Leben lang der gefährlichste und hartnäckigste Gegner des Sonnenkönigs gewesen ist. Die Hauptkriegsschauplätze waren Süddeutschland, die Niederlande, Italien und Spanien. In diesem Krieg war Ludwig von Anfang an unglücklich. An der Spitze der Gegenkoalition standen die beiden hervorragendsten Feldherren des Zeitalters, Marlborough und Prinz Eugen, die in fast allen Schlachten siegreich blieben; außerdem war Frankreich durch den jahrzehntelangen Steuerdruck, Mißwachs und Hungersnot vollkommen erschöpft. Der König entschloß sich zu Friedensverhandlungen, in denen er sich zu den größten Zugeständnissen bereit erklärte; er willigte in die Wiederherstellung des im Westfälischen Frieden festgesetzten Besitzstandes, die Herausgabe der niederländischen Grenzfestungen und die Verleihung der spanischen Krone an Karl, den zweiten Sohn Leopolds des Ersten. Aber die Alliierten waren beschränkt und übermütig genug, noch schärfere, unannehmbare Bedingungen zu stellen. Hätten sie damals Frieden geschlossen, so hätte Leopolds Sohn Karl, im Besitz der gesamten spanischen und österreichischen Länder und der deutschen Kaiserwürde Habsburg zur europäischen Weltmacht erhoben, da er kurz darauf als Karl der Sechste die Nachfolge seines Bruders antrat. Aber gerade diese Tatsache bewirkte einen vollkommenen Umschwung, denn eine solche Machtfülle in der Hand eines einzigen Herrschers war auch nicht in den Wünschen der mit Habsburg verbündeten Staaten. Dazu kam der Fall des Whigministeriums in England, der einen politischen Frontwechsel und die Abberufung Marlboroughs zur Folge hatte. Infolgedessen gelangte Frankreich zu einem verhältnismäßig vorteilhaften Friedensschluß, worin die spanische Herrschaft in der Weise geteilt wurde, daß der Enkel Ludwigs des Vierzehnten auf dem spanischen Thron und in dem Besitz der Kolonien bestätigt wurde, Karl der Sechste Belgien, Mailand, Neapel und Sardinien, England das hochwichtige Gibraltar und Savoyen Sizilien erhielt. Aber es war gleichwohl eine tiefe Niederlage des französischen Hegemoniewillens und ein unverkennbares Zeichen, daß die Zeit Ludwigs des Großen vorüber war.
Schon während der ganzen zweiten Hälfte seiner Regierung begannen sich die üblen Wirkungen der egalisierenden Raison empfindlich bemerkbar zu machen. Unter der Sonne des Einheitsregimes wird allmählich alles zur leeren Wüste und dürren Einöde verbrannt. Der Hof, und durch ihn die Welt um ihn, wird frömmelnd, senil, moros und, was für französische Begriffe das Unverzeihlichste ist, langweilig. Der Goldglanz von Versailles wird stumpf, der bunte Lack springt ab: man beginnt zu beten und zu gähnen. Selbst das Volk fängt an, zu erkennen, daß alles nur die trügerische Schaustellung einer aufgebauschten Talmigröße ist, hinter der sich nichts als blinde Gier und Selbstsucht verbirgt. Als der große König tot war, jubelten nicht bloß seine Feinde, sondern auch seine Untertanen, die Mauern von Paris bedeckten sich mit Pasquillen, die Menge verfolgte seinen Leichenzug mit Schimpfreden und Steinwürfen und in den Provinzen wurden Dankgottesdienste abgehalten. Aber schon ein Menschenalter früher mußte Colbert unter militärischer Bedeckung beerdigt werden.
Und doch war Colbert einer der größten Organisatoren des Jahrhunderts, dessen einzige Schuld es war, daß er die Irrtümer seiner Zeit auf grandiose Weise in die Realität übersetzt hat. Seine rastlose Tätigkeit umfaßte alle Teile der Verwaltung: er reformierte die Rechtspflege und das Steuerwesen, brachte die Handelsflotte und die Kriegsmarine auf eine gebietende Höhe, gründete die Akademie der Wissenschaften und die Bauakademie, errichtete eine Sternwarte und einen botanischen Garten und schuf den Canal du midi, der den Atlantischen Ozean mit dem Mittelmeer verbindet. Seine bedeutendste Leistung aber war das von ihm geschaffene Wirtschaftssystem, das unter dem Namen Merkantilismus das ganze Zeitalter beherrschte und dessen Prinzipien so sehr sein geistiges Eigentum waren, daß man es oft schlechthin als Colbertismus bezeichnet hat. Der Merkantilismus geht von dem Grundsatz aus, daß der Reichtum eines Landes in seinem Vorrat an Edelmetall bestehe und man daher bestrebt sein müsse, so viel wie möglich davon hereinzubekommen und so wenig wie möglich davon abzugeben: dies ist die Theorie von der aktiven Handelsbilanz. Rohstoffe sollen tunlichst im Lande bleiben, weil sie ein Kapital darstellen, Industrieprodukte dagegen tunlichst exportiert werden, weil man an ihnen verdient, das Eindringen fremder Industrieerzeugnisse aber soll verhindert oder doch möglichst erschwert werden: also hohe Ausfuhrzölle auf Rohmaterialien, hohe Einfuhrzölle auf Fertigfabrikate. In der Verfolgung dieser Prinzipien wurden die Kolonien zu bloßen Konsumenten herabgedrückt, man verbot ihnen den selbständigen Handel und jegliche Warenerzeugung und drängte ihnen im Austausch gegen ihre Rohstoffe, die sie nirgend andershin liefern durften, die eigenen Industrieprodukte auf. Im Mutterlande wurden umgekehrt die Manufakturen mit allen erdenklichen Mitteln unterstützt: durch Exportprämien, Monopole, Steuerbefreiungen, unverzinsliche Staatsdarlehen, unentgeltliche Bauplätze, Verleihung des Adels an rührige Unternehmer und ähnliche Begünstigungen. So entstanden in Frankreich unter staatlicher Fürsorge und Beaufsichtigung eine Reihe blühender Industrien, die halb Europa versorgten; die Hauptspezialitäten waren Seidenstoffe, Spitzen, Tapeten, Galanteriewaren und überhaupt Modeartikel aller Art: Ziermöbel, Kleider, Perücken, Parfüms. Man suchte auch fleißig bei anderen Nationen zu lernen und betrieb die Strumpfwirkerei nach englischem, die Blechwarenerzeugung nach deutschem, die Spiegelfabrikation nach venetianischem und die Tuchmacherei nach holländischem Muster. Das logische Korrelat zur möglichsten Abschließung nach außen war die Aufhebung der Binnenzölle, die Colbert zum großen Teil durchgesetzt hat und die allein genügt hätte, Frankreich einen wirtschaftlichen Vorsprung vor Deutschland zu verschaffen. Um den Gewerbefleiß möglichst rege zu erhalten, richtete er auch sein Augenmerk auf Erhöhung der Arbeitszeit, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch polizeiliche Maßnahmen gegen Bettler und Vagabunden, Vermehrung der Bevölkerung durch Prämien für Kinderreiche und besondere Steuern für Unverehelichte und Versorgung des Landes mit geschickten Arbeitern, indem er deren Auswanderung verbot, deren Einwanderung begünstigte. Der Merkantilismus gelangte, indem er das System der staatlichen Bevormundung immer starrer und einseitiger ausbaute, später zu den absonderlichsten Praktiken: er organisierte den Schmuggel, um mehr Waren ins Ausland abzusetzen, versuchte die Löhne künstlich niedrig zu halten und wurde überhaupt zu einer lästigen und nicht selten lächerlichen Tyrannei. Friedrich Wilhelm der Erste verbot die Holzschuhe, um die Ledermanufaktur zu heben, Friedrich der Große bestellte eigene »Kaffeeriecher«, die überall herumschnüffeln mußten, ob sich jemand gegen das Staatsmonopol des Kaffeebrennens vergehe, und unter Friedrich dem Ersten gab es sogar ein Schweineborstenmonopol, wonach jeder Besitzer von Schweinen verpflichtet war, deren Haare alljährlich um Johanni an die Behörde abzuliefern.
Schon John Locke hat sich gegen diesen Wohlfahrtsstaat gewendet, weil er die Freiheit des Individuums beeinträchtige, während doch die Menschen den Staatsvertrag nur zur Sicherung ihrer von Natur aus unzerstörbaren Rechte auf Freiheit geschlossen hätten. Man muß allerdings bedenken, daß damals alle Staaten Europas noch vorwiegend Agrarländer waren, fast den ganzen Getreidebedarf selber deckten und die wichtigsten Verarbeitungsstoffe wie Wolle, Seide, Flachs in genügender Menge im eigenen Lande hervorbrachten und daß Colbert sich, wie er selbst sagte, seine Maßnahmen nur als Krücken dachte, an denen man lernen solle, so bald wie möglich die eigenen Füße zu gebrauchen. Aber die Krücken blieben nicht einmal Krücken, sondern wurden zu unerträglichen Stelzen, und das Endresultat des Colbertismus war nach einer anfänglichen kurzen Scheinblüte Verschuldung und Elend. Die »aktive Handelsbilanz« bot eine große theoretische Befriedigung; aber die Masse hungerte dabei. Der Staat Ludwigs des Vierzehnten war buchstäblich zum Leviathan geworden; die Kriege dienten, selbst wenn sie siegreich waren, nicht dem Volkswohl und der großzügige Export bereicherte nur eine kleine Oberschicht. Die deduktive Methode, die es unternimmt, aus einigen wenigen Axiomen ein Weltsystem aufzubauen und mit einer abstrakten Formel die Wirklichkeit zu vergewaltigen, hat auch auf dem Gebiet der Wirtschaft ihren Glanz und ihre Ohnmacht enthüllt.
Es ist aber ein wirklicher Ruhm Ludwigs des Vierzehnten, daß er sich nicht damit begnügt hat, Kriege zu führen und Hof zu halten, sondern auch den höheren Ehrgeiz hatte, seine Regierungszeit zu einer goldenen Ära der Kunst zu machen. Man hat ihn daher gerne mit Augustus verglichen, was in gewisser Beziehung zutreffend, aber lange nicht so schmeichelhaft war, wie seine Zeitgenossen glaubten. Denn was unter ihm entstand, war in der Tat nicht mehr als eine prunkvoll arrangierte und geschmackvoll vergoldete Hofkunst und raffinierte Artistik, in der die Etikette die Phantasie erwürgt. Ihr großer Zeremonienmeister war Nicolas Boileau, der législateur du goût, der ebenso diktatorisch festsetzte, was und wie man zu dichten habe, wie die Académie française den Umfang und Gebrauch des Wortschatzes bestimmt hatte. Den Ausgangspunkt seiner Ästhetik bildet wiederum die cartesianische clara et distincta perceptio. Was nicht klar und deutlich ist, ist auch nicht schön, die erhellende und ordnende Vernunft ist auch die Gesetzgeberin der Poesie: »tout doit tendre au hon sens«. Die Kunst hat bei Boileau dasselbe Ziel wie die Philosophie bei Descartes: la vérité. Der oberste Leitsatz seiner Poetik lautet: »rien n'est beau que le vrai.« Auch Nicole, ein namhaftes Mitglied des Port-Royal, bezeichnet als die drei künstlerischen Grundprinzipien ratio, natura, veritas. Dies klingt ganz naturalistisch und war doch das völlige Gegenteil davon. Wir stoßen hier wieder einmal auf die Erkenntnis, wie problematisch der Begriff des Naturalismus ist. Die Künstler des Grand Siècle erblickten in ihren Schöpfungen einen Sieg der Natur, während diese doch eine ebenso sublime wie absurde Vergewaltigung der Natur darstellten. Das Rätsel löst sich aber sehr leicht, wenn wir uns daran erinnern, daß sie eben Cartesianer waren. Sie setzten Natur gleich Vernunft. Diese Prämisse eingeräumt, waren ihre Werke wirklich die natürlichsten, die man bisher erblickt hatte, denn sie waren die vernünftigsten. Unter Wahrheit verstanden sie nicht Übereinstimmung mit der Erfahrung, sondern Übereinstimmung mit der Logik. Diese gibt die Gesetze des Lebens, des Schauens, des Gestaltens: wer sie befolgt, handelt »natürlich«.
Aus dieser Geisteshaltung ergibt sich das Ideal des grand facile, des großartig Einfachen, wie Fénelon es aufgestellt hat, der »Schwan von Cambrai« und Verfasser der »aventures de Télémaque«, die bezeichnenderweise für das größte Epos der Zeit, ja der Welt galten, obgleich sie ein ausgesprochenes Lehrgedicht sind, geschrieben zur Unterweisung des Herzogs von Burgund in den Pflichten und Aufgaben eines Herrschers. Aus der Forderung der leichten Überschaubarkeit flössen auch ganz von selber die irrtümlich aus Aristoteles hergeleiteten drei Einheiten. Hier bildet gewissermaßen die Einheit des Orts die Ordinate, die Einheit der Zeit die Abszisse und die Einheit der Handlung eine ideale Kurve. Ferner müssen, da überall die Raison herrscht, auch die Leidenschaften gemäßigt und zivilisiert, überhaupt alle Äußerungen einer ungebundenen elementaren Vitalität vermieden und auch die extremsten Situationen mit Verstand und Anstand bewältigt werden: noch im Sterben wissen die Helden der Tragödie, was sie sich, dem Hof und Descartes schuldig sind. Die Vorgänge entwickeln sich nicht in wilden Eruptionen und plötzlichen Sprüngen wie bei Shakespeare, der ein Barbar ist, sondern wie die Glieder eines Kettenschlusses oder die Kolonnen einer Gleichung. Diese Dichter sind in ihrer Darstellung vorzügliche Kristallographen, niemals Mineralogen. Wir erfahren sehr erschöpfend und anschaulich, genau und übersichtlich die allgemeine Formensprache der Dinge, aber nichts über ihren Härtegrad, ihre Farbe, ihren Glanz, ihre Dichtigkeit, ihr Vorkommen, ihre Abweichungen vom Modell, kurz: über ihre Individualität.
»Le grand Corneille« ist noch der Dichter der Fronde: heldisch, bisweilen fast heiß, aber dabei doch schon Akademiker, Raisonneur. Seine Ethik ist ein erhabener Stoizismus, der im Sieg des Menschen über sich selbst und in der Aufopferung des Individuums für eine Idee, die meistens das Staatswohl ist, seine höchste Befriedigung findet. In seiner Abhandlung über die Passionen bezeichnet Descartes als die höchste Tugend, »gleichsam den Schlüssel aller Tugenden und das Hauptmittel gegen den Taumel der Leidenschaften« die großherzige Gesinnung, la magnanimité oder générosité: diese ist auch der eigentliche Held in den Trauerspielen Corneilles. Wollte man die drei großen Dramatiker jenes Zeitalters mit den drei großen griechischen Tragikern vergleichen, wobei natürlich nicht die dichterische Qualität, sondern nur das gegenseitige Verhältnis in Parallele gestellt werden soll, so würde dem in mancher Beziehung noch archaischen Corneille Aischylos entsprechen, dem weiblicheren und differenzierteren Racine Sophokles, dem problematischen und seelenkundigen Molière aber Euripides, der fast ebenfalls ein Komödiendichter war und einen ebenso zähen und vergeblichen Kampf gegen die ihm aufgezwungene Theaterform geführt hat. Denn die demokratischen und skeptischen Griechen um Perikles waren in Fragen der äußeren Form ebenso unerbittlich konservativ wie die aristokratischen und dogmatischen Franzosen um Ludwig den Vierzehnten. Euripides, der reiche müde Erbe einer Kultur, die in Lebensweisheit, Ausdruckstechnik, Kunst des Sehens und Hörens nahezu bis an die letzten Grenzen gelangt war, sah sich genötigt, seine psychologischen Differentialkalküle mit äußeren Mitteln zur Darstellung zu bringen, die für einen Indianertanz oder einen Dorfzirkus gerade noch fein genug gewesen wären; und Molières zappelnde Lebendigkeit, misanthropische Zerrissenheit und opalisierende Laune wurde in einen langweiligen vergoldeten Salon gesperrt, unter Menschen, deren höchster Ehrgeiz es war, das Aussehen und Gefühlsleben einer Drahtpuppe zu erlangen. Darum ist Molière, obgleich scheinbar der Lustigmacher unter den Dreien, in Wahrheit die tragische Figur unter ihnen. Daß er auch der größte war, hatten schon einige seiner urteilsfähigsten Zeitgenossen erkannt. Als Boileau von Ludwig dem Vierzehnten gefragt wurde, wer der wertvollste Dichter des Zeitalters sei, antwortete er: »Majestät, das ist Monsieur Molière«. »Das hätte ich nicht gedacht«, erwiderte der König, »aber Sie müssen es ja besser wissen.«
Strindberg sagt im Nachwort zu »Fräulein Julie«: »Die Lust, die Menschen einfach zu sehen, ist noch bei dem großen Molière vorhanden. Harpagon ist nur geizig, obwohl Harpagon nicht bloß ein Geizkragen, sondern auch ein ausgezeichneter Finanzier hätte sein können, ein prächtiger Vater, ein gutes Gemeindemitglied.« Wiewohl diese Kritik im Prinzip vollkommen recht hat, tut sie Molière dennoch unrecht, indem sie übersieht, daß dieser gar nichts anderes geben durfte als die Gleichungen des Geizigen, des Hypochonders, des Heuchlers, des Parvenus, der frechen Kammerzofe, des treuen Liebhabers. Er mußte mit Schablonen malen, weil es die Kundschaft so wünschte, und es ist doppelt bewundernswert, daß er mit dieser groben und geistlosen Technik so abwechslungsreiche und pikante, originelle und lebensprühende Muster zustande brachte. Er mußte seine chaotische Zwiespältigkeit und Unruhe in Gestalten ausleben, die uns heute in ihrer künstlichen Primitivität gespenstisch anmuten, denn er war der Hanswurst eines großen Herrn, eines noch mächtigeren, selbstherrlicheren und eigensinnigeren, als es selbst Ludwig der Vierzehnte war; er war der Hofnarr des Zeitgeists! Er war aber doch noch etwas mehr: nämlich ein moralischer Gesetzgeber, wenn auch nur versteckt und sozusagen anonym. Dies ist im Grunde die Mission jedes genialen Komödiendichters: sie ist von Shakespeare so gut erfüllt worden wie von Shaw, von Ibsen so gut wie von Nestroy; sie alle waren heimliche Lehrer der Sittlichkeit und Sitte.
Auch die Maler waren von cartesianischen Prinzipien erfüllt, Poussin sogar so sehr, daß er selbst seinen Zeitgenossen zu streng erschien. Es ist charakteristisch für ihn, daß er sich an den antiken Reliefs zum Zeichner gebildet hat. Seine Figuren haben nur typische Gesichter, sie sind bloße Gattungsexemplare wie die Pflanzen in einem Herbarium, man hat, im Gegensatz zu so vielen Gestalten der Renaissancekunst, bei keiner von ihnen den Eindruck persönlicher Bekanntschaft. Poussin war ein gelehrter Maler, ein genauer Kenner des Altertums; er hat das große Verdienst, die Landschaft ins Bild gebracht zu haben, aber er tat es als Archäologe: was er malt, ist immer eine antike Gegend. Während auf der Bühne die toten Römer in Reifrock und Perücke auftreten, trägt auf der Leinwand die lebende Natur Toga und Kothurn: beides Äußerungen eines modischen Klassizismus, nur mit entgegengesetzten Vorzeichen.
Alles ist bei Poussin mathematisch gesehen: die Bäume mit ihren wunderbar feinen, aber geometrischen Silhouetten, die Felsen mit ihren prachtvoll klaren und harmonischen, aber wie nach Kristallsystemen gebildeten Kanten und Flächen, die kreisrunden Seen, die scharf gewinkelten Bergzüge, die ebenmäßigen Wolken und die Linien des menschlichen Körpers, die in ihrer systematischen Anordnung ein kunstvolles Ornament bilden. Aber bei alledem war er merkwürdigerweise doch ein gewaltiger Meister der Stimmung: ein echter Barockmaler und der stärkste Wegbereiter der subtilen Kunst Claude Lorrains, des Virtuosen der Lichtbehandlung und des Vordergrunds. Bei diesem ist die Natur wirkliche Natur, aber er malt sie nur in ihren domestizierten, wohlerzogenen, salonfähigen Momenten. Sie ist niemals wild und ungebärdig, vergißt sich nie so weit, überlebensgroß zu werden, zu kochen oder zu brüllen. Es ist jener Grad von »Natur«, der mit der Raison und der Hofsitte noch vereinbar ist. Rigaud hinwiederum ist gleichsam der Hofmeister und Obergarderobier des Zeitalters. Er malt die Menschen in der »richtigen« Art des Gesichtsausdrucks und der Körperhaltung, der Haartracht und Bekleidung. So haben sie zu stehen, zu lehnen, zu sitzen, die Hand auszustrecken, den Degen zu halten, den Mantel zu raffen: effektvoll und maßvoll, mit Majestät und Selbstzucht, Selbstherrscher im doppelten Sinne des Wortes, jeder ein kleiner Louis Quatorze.
Die Palastbauten tragen eine ganz ähnliche Physiognomie. Sie wirken nach außen nur imposant und distanzierend, die Königspose markierend und machen in ihrer hochmütigen Einfachheit einen fast dürftigen Eindruck. Die Fassade ist schmucklos gehalten, weil sie sich dem gemeinen Volke zeigt; die Innenräume aber waren von verschwenderischer Pracht. Die Fußböden waren kunstvoll parkettiert, die Plafonds mit erlesenen Malereien bedeckt, von den Wänden strahlte kostbarer farbiger Marmor, reichster Stuck, Samt und Brokat, Silber und Bronze und vor allem Gold, das Symbol der Sonne. Mächtige Spiegel vervielfachten den Glanz.
André Charles Boulle, ébéniste du roi, füllte die Säle mit Konsoltischen, guéridons für Armleuchter und Ebenholzmöbeln, die mit »Marketeriearbeiten«: Einlagen aus Metall, Schildpatt, Perlmutter und Elfenbein geschmückt waren. Die »Manufacture royale des meubles de la couronne« in Paris entwickelte sich unter der Leitung des Hofmalers Lebrun zu einer Musterfabrik für Kunsttischlerwaren. 1680 erfand Jacquin ein Verfahren zur Erzeugung künstlicher Perlen, die nun weiteste Verwendung fanden. Den ausgedehnten Parkanlagen wurde durch marmorne Hermen, Tritonen, Najaden, Atlanten, Weltkugeln ein stolzes Aussehen verliehen, brausende Kaskaden stürzten über breite Steintreppen, die Bäume und Hecken erhielten die Form von Vasen, Prismen, Pyramiden, Tiersilhouetten und bildeten manchmal förmliche Zimmer. Es ist übrigens nicht uninteressant, daß schon damals die ascenseurs erfunden waren, die ungefähr unseren heutigen Lifts entsprachen, aber nur in den großen Palais benutzt wurden. Hier zeigt sich ein einschneidender Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Kultur: sie war im innersten unsozial, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß eine neue praktische Erfindung zu etwas anderem dienen könne als zur Bequemlichkeit einer höchsten Oberschicht.
Die Musik stellte sich vorwiegend in den Dienst des Theaters. Jean Baptiste Lully, ein Florentiner, der eigentlich Lulli hieß, ist der Schöpfer der tragédie lyrique, der Großen Oper; sein Textdichter war Philippe Quinault, der in seiner Verskunst über die großen Tragiker gestellt wurde. Lully verstand es, die Oper förmlich für sich zu monopolisieren, indem er einen königlichen Erlaß erwirkte, der allen Theatern außer dem seinigen verbot, mehr als zwei Sänger und sechs Streichinstrumente zu halten, und war nicht bloß Komponist, sondern auch Intendant, Dirigent, Vortragsmeister und Regisseur und überhaupt ein von seiner Kunst Besessener, der sogar an seiner Theaterleidenschaft starb, indem er bei einer Aufführung mit dem Rohrstock so wütend den Takt stampfte, daß er sich eine tödliche Verletzung am Fuß zuzog. Er brachte den Chor, der zu einer bloßen Staffage herabgesunken war, wieder zu voller Geltung und verlieh dem rhythmischen Element den Primat vor dem melodischen; die Musik will bei ihm nur die Wirkung des Worts verstärken und gefühlsmäßig bereichern und vertiefen. Seine Kunst ist Deklamation und Rhetorik in schönster und korrektester Form, das vollkommenste Gegenstück zu Corneille und Racine, mit denen sie in bewußte und erfolgreiche Konkurrenz tritt, und arbeitet im Grund rein rezitatorisch, ohne Koloraturen, ohne eigentliche Arien, dagegen mit großartiger Ausstattung durch Szenerie, Ballette, Aufzüge, vielstimmige Frauen- und Männerchöre, auch hinter der Szene, musikalische Schilderung von Seestürmen, Schlachten, Gewittern, Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Höllenschrecken. Ist schon die tragédie classique eine Art Musik, ganz vom Rhythmus durchströmt, getragen und geknechtet, so zeigt sich hier der Stilwille des Zeitalters auf seinem Gipfelpunkt: alles ist erfüllt von strenger Ordnung und Klarheit, Klangfülle und Klangreinheit, lichtvoller, angenehm fallender Kadenz. Der Musik mußte es naturgemäß am vollkommensten gelingen, sich ganz zu mathematisieren, mit dem cartesianischen Geiste der Symmetrie zu erfüllen.
Wenn man das Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten nur nach seinen Opern und Trauerspielen, Bauten und Gemälden, Abhandlungen und Predigten beurteilen wollte, so müßte man zu der Ansicht gelangen, daß damals eine Menschheit von grandiosen, aber langweiligen, überlebensgroßen, aber seelenlosen Heroen über die Erde geschritten sei. Wie sie wirklich waren, erfährt man nur aus der Kunst und Literatur zweiter Garnitur: aus Karikaturen, Flugschriften und Satiren, Memoiren, Anekdoten und Aphorismen. Dies war nur eine natürliche Folge der damals herrschenden Weltanschauung. Da die ausschließliche Tätigkeit der menschlichen Seele nach Descartes im Denken besteht, ihr wahres Leben sich aber gerade in jenen Regungen zeigt, die entweder mit der reinen Verstandestätigkeit gar nichts zu tun haben oder zu ihr im Widerspruch stehen, so vermochte dieses Zeitalter in seinen großen repräsentativen Schöpfungen keine Psychologie zu entwickeln: sie war sozusagen offiziell verboten und konnte höchstens als Konterbande eingeschmuggelt werden, unter der harmlosen Emballage der losen Gelegenheitsbetrachtung und unverbindlichen Privatliebhaberei.
Sie wurde zum Wirkungsfeld einiger bewundernswerter Dilettanten, deren Werke bis zum heutigen Tage lebendig geblieben sind: jedermann kennt die Portäts La Bruyères, die Erinnerungen des Herzogs von Saint-Simon, die Briefe der Madame de Sévigné. Wir wollen aus der Fülle dieser Äußerungen echten Lebens nur eine einzige herausgreifen, die für alle spricht: die »Maximen« des Herzogs von La Rochefoucauld.
La Rochefoucauld ist der erste wirkliche Aphoristiker der Neuzeit. Seine kurzen Sätze sind komprimierte moralische und psychologische Abhandlungen. Der ésprit géometrique lebt auch in ihnen: in ihren messerscharfen Antithesen, ihrer kristallographischen Schreibweise. Daneben aber ist er Weltmann, Salonmensch schon in seinem Stil; seine Aperçus sind nicht bloß geistreich, sondern auch angenehm, anmutig, elegant wie wohlriechende Tropfen eines erlesenen Parfüms: sie sind der starke Extrakt aus dem Duft, den viele tausend kleine Lebenserfahrungen hinterlassen haben. Sein philosophisches System ist sehr einfach. Wie die Psychoanalyse alles sexuell erklärt, so führt er alle menschlichen Handlungen auf einen einzigen Grundtrieb zurück: die Eitelkeit oder Eigenliebe, l'orgueil, la vanité, l'amour-propre: »so viele Entdeckungen man auch im Reich der Eigenliebe gemacht hat, es bleiben darin noch viele unbekannte Länder«; »die Selbstsucht spricht alle Sprachen und spielt alle Rollen, selbst die der Selbstlosigkeit«; »auch die Tugend käme nicht so weit, wenn ihr nicht die Eitelkeit Gesellschaft leistete«. Indem er nun überall nach dem geheimen Bodensatz von Eitelkeit forscht, gelingt es ihm, sie in ihren letzten Schlupfwinkeln aufzustöbern und in ihren zartesten Nuancen festzuhalten: »man redet immer noch lieber Böses von sich als gar nichts«; »Lob ablehnen heißt: zweimal gelobt werden wollen«; »wir verzeihen oft denen, die uns langweilen, aber niemals denen, die wir langweilen«; »ob die Philosophen dem Leben mit Liebe oder mit Gleichgültigkeit gegenüberstanden: es war beides nichts als eine Geschmacksrichtung ihrer Eitelkeit«. Auch die Tugend ist nur eine Form des Lasters: »die Tugenden verlieren sich in der Selbstsucht wie die Flüsse im Meer«; »wir werden oft nur deshalb verhindert, uns einem einzelnen Laster hinzugeben, weil wir deren mehrere haben«; »wenn die Laster uns verlassen, so schmeicheln wir uns mit dem Glauben, daß wir sie verlassen«; »alte Leute geben gute Lehren, um sich darüber zu trösten, daß sie nicht mehr imstande sind, schlechte Beispiele zu geben«; »die Laster sind eine Ingredienz der Tugenden wie die Gifte eine Ingredienz der Heilmittel, die Klugheit mischt und mildert sie und verwendet sie mit Nutzen gegen die Übel des Lebens.« »Beurteilt man die Liebe nach der Mehrzahl ihrer Wirkungen, so ähnelt sie mehr dem Haß als der Freundschaft«, denn »mit der wahren Liebe ist es wie mit den Geistererscheinungen: alle Welt spricht von ihnen, aber die wenigsten haben sie gesehen«. Gleichwohl ist La Rochefoucauld kein Zyniker, sondern ein Skeptiker voll geheimer Herzensregungen, der überzeugt ist, daß der Esprit nicht lange die Rolle des Gemüts spielen kann und die wahre »politesse de l'esprit« darauf beruht, »Nobles und Zartes zu denken«, daß List und Verrat nur aus Mangel an Gewandtheit entspringen und das sicherste Mittel, betrogen zu werden, darin besteht, sich für gerissener zu halten als die anderen. Eine große Anzahl seiner Bonmots atmet die höchste Delikatesse, zum Beispiel: »es ist eine größere Schande, seinen Freunden zu mißtrauen als von ihnen betrogen zu werden«; »zu große Hast, eine Schuld abzutragen, ist eine Art Undankbarkeit«; »wir trösten uns leicht über das Unglück unserer Freunde, wenn es uns Gelegenheit gibt, ihnen unsere Liebe zu zeigen«. In dieser Mischung aus Frivolität und Edelmut, schroffstem Materialismus und empfindlichstem Takt ist er die feinste Blüte der gesamten Geistesflora, die um Ludwig den Vierzehnten aufschoß; in dem Ausspruch »Lächerlichkeit schändet mehr als Schande« spiegelt sich die ganze Welt von Versailles mit ihren Lichtern und Schatten, und einmal hat er die Summe dieser Kultur gezogen, als er sagte: »In jedem Stande nimmt jeder eine bestimmte Miene und Haltung an, um das zu scheinen, wofür er angesehen werden will. Also kann man sagen, daß die Welt aus lauter Mienen besteht.« In der Tat: in dieser Menschheit suchen wir vergeblich nach Gesichtern und Gebärden; überall stoßen wir nur auf Mienen und Gesten.
Das Kostüm des Zeitalters bringt dies deutlich zum Ausdruck. Es ist eine ausschließliche Salontracht, auf dauernde Repräsentation, Parade und Pose berechnet. Das Wams verschwindet unter dem justaucorps, einem reichgestickten Galarock mit weiten Ärmeln, langen Aufschlägen und riesigen Knöpfen, der bis zum Knie reicht; das Damenkleid ist die große Robe mit der Schnürbrust, der Schleppe, deren Länge, je nach dem Range, zwei bis dreizehn Meter betrug, und dem cul de Paris, der durch Auspolsterung eine abnorme Entwicklung des Gesäßes vortäuscht; der Stiefel weicht dem Schnallenschuh, der Handschuh aus feinem weißen Leder wird für beide Geschlechter unerläßlich. Das Hauptstück der äußeren Erscheinung aber bildete die Allonge oder große Staatsperücke, die um 1625 aufkam und um 1655 bereits allgemein war; sie machte, wie der Kanzler Herr von Ludwig sagte, »den Menschen dem Löwen gleich«, und ihre bevorzugte Farbe war daher hellbraun oder blond. Ungefähr um dieselbe Zeit verschwand auch die letzte Andeutung des Bartes, die »Fliege«, und alle Welt ging rasiert. Das weibliche Gegenstück zur Allonge ist die Fontange, ein aus Spitzen, Bändern, Krausen und falschen Haaren getürmter Kopfschmuck, der sich nicht selten bis zu einer Höhe von anderthalb Metern erhob.
Die landläufige Ansicht geht dahin, daß die perruque durch die Kahlköpfigkeit Ludwigs des Dreizehnten entstanden sei, die Damen, die auch nicht zurückstehen wollten, zur Fontange griffen und ganz Europa dies dann aus »Lakaienhaftigkeit« nachgeahmt habe. Es gibt nun wohl kaum etwas Platteres und Falscheres als diese Auffassung. Zunächst hat, wie wir gehört haben, zu jener Zeit noch nicht die französische Mode Europa beherrscht, sondern die holländische, und zumal eine Nullität wie Ludwig der Dreizehnte wäre zuallerletzt imstande gewesen, seinem Zeitalter eine Tracht zu diktieren. Die kulturelle Hegemonie Frankreichs beginnt erst mit Ludwig dem Vierzehnten, und gerade dieser hat sich gegen die Perücke jahrzehntelang gesträubt, da er selbst sehr schönes langes Haar besaß, und sie erst im Jahr 1673 aufgesetzt. Überhaupt ist kein Monarch imstande, eine Mode zu schaffen; er kann es nur versuchen und sich damit lächerlich machen. Die Barttracht »es ist erreicht« und der österreichische »Kaiserbart« haben ihre Träger nur stigmatisiert: als Weinreisende und Mitglieder von Veteranenvereinen. Der um nichts schönere »Kaiser-Friedrich- Bart« hingegen hat nicht degradiert, weil er damals wirklich die vom Zeitgeist geforderte Mode war. Ferner muß man im Auge behalten, daß die Perücke keinen Augenblick den Zweck hatte, den Mangel eigenen Haares zu verdecken, wie die heutigen »Toupets«, sondern von allem Anfang an als Kleidungsstück gedacht war, als Zierde und Vervollkommnung der äußeren Erscheinung wie Federhut oder Schärpe. Und schließlich und vor allem ist es eine Albernheit, ein Weltereignis wie die Perücke von der Glatze eines einzelnen Zeitgenossen herleiten zu wollen.
Die Perücke ist das tiefste Symbol der Menschheit des siebzehnten Jahrhunderts. Sie steigert und isoliert: wir werden später sehen, daß dies die beiden Grundtendenzen des Zeitalters waren. Und sie stilisiert: gerade durch ihre Unnatürlichkeit. Sie war übrigens keine Novität in der Geschichte. Schon die vorderasiatischen Völker kannten sie und vor allem die Ägypter, deren Kultur ebenfalls von höchstem Stilgefühl getragen war; sie bedienten sich sogar künstlicher Bärte. Derselbe Geist der Abstraktion, der ihre Pyramiden und Sphinxe schuf, hat ihnen die ornamental geflochtenen Haargebäude und die viereckig geschnittenen Umhängebärte aufgezwungen. Das flache neunzehnte Jahrhundert hielt die ägyptische Kunst für »primitiv«; jetzt beginnen wir langsam einzusehen, daß neben der unfaßbaren Größe und Tiefe dieser Schöpfungen die gesamte abendländische Kunst primitiv erscheinen muß. Und auf demselben Wege müssen wir zu der Erkenntnis gelangen, daß auch die Sitten dieses Volkes nichts weniger als »barbarisch« und »kindisch« waren, sondern der Niederschlag eines Weltgefühls, das dem unsrigen zwar fremd ist, aber gleichwohl überlegen gewesen sein könnte. Zweifellos ist sowohl die ägyptische wie die cartesianische Perücke »paradox«; aber jedes Kostüm ist paradox, weil es der bis zur Karikatur gesteigerte Ausdruck des Idealbilds ist, das sich die Menschheit in jedem einzelnen Zeitalter von ihrer physischen Erscheinung macht. Und paradox ist überhaupt jede Kultur, denn sie ist der Gegensatz der »Natur«, auch wenn sie, wie dies sehr oft, ja zumeist geschieht, mit ihr übereinzustimmen glaubt. Alle Kulturschöpfungen, von den Visionen des Künstlers und den Hirngespinsten des Philosophen bis zu den alltäglichen Formen des menschlichen Verkehrs, sind paradox oder, mit einem anderen Worte, »unpraktisch«. Eine Lebensordnung, in der alles Überflüssige und Zwecklose, alles Widernatürliche und Unlogische ausgeschaltet wäre, wäre nicht mehr Kultur, sondern »reine Zivilisation«. Aber eine solche reine Zivilisation ist eine fast unvorstellbare Monstrosität, sie ist in der ganzen uns bekannten Geschichte der Menschheit niemals erblickt worden und es besteht die bestimmte Hoffnung, daß sie auch in der Zukunft niemals in die Welt treten wird.
Das »Charaktergetränk« der Hochbarocke ist der Kaffee, der von den Arabern und Türken, die ihn schon lange kannten, um die Mitte des Jahrhunderts eingebürgert wurde. Das erste europäische Kaffeehaus war das Virginia Coffee-House, das 1652 in London eröffnet wurde und allmählich überall Nachahmung fand. In London entstand auch zuerst die Sitte, daß alle Parteien, Klassen und Berufe ihre bestimmten Kaffeehäuser hatten: es gab papistische, puritanische, whiggistische, royalistische Kaffeehäuser, Kaffeehäuser für Stutzer, für Ärzte, für Dirnen, für Handwerker. Wills berühmtes Kaffeehaus war das Literatencafé, in dem Dryden Cercle zu halten pflegte: ein Dichter, dessen Verse er dort gelobt hatte, war für die nächste Saison gemacht. Erst zwei Jahrzehnte später entstanden die ersten Kaffeehäuser in Frankreich, die ersten deutschen sogar erst zu Anfang der Achtzigerjahre, aber sie fanden dann überall sofort den größten Zulauf; besonders renommiert war zum Beispiel das erste Wiener Kaffeehaus, das der serbische Kundschafter Kolschitzky gleich nach der Belagerung mit den erbeuteten türkischen Kaffeeschätzen gegründet hatte. Um 1720 gab es in Paris bereits dreihundert Kaffeehäuser. Schon damals wurde in besonderen Zimmern gespielt: am beliebtesten waren Billard und l'Hombre; hingegen war das Rauchen nur in den ordinären Lokalen gestattet. Man kann sogar sagen, daß der Kaffee damals als allgemeines Tonikum eine noch größere Rolle gespielt hat als heutzutage. Er ist für jene rationalistische Zeit sehr bezeichnend, denn er stellt ein Anregungsmittel dar, das sozusagen nüchterne Räusche bewirkt. Voltaire zum Beispiel war ein leidenschaftlicher Kaffeetrinker. Wenn er auch nicht gerade fünfzig Tassen im Tage oder vielmehr in der Nacht zu sich nahm, wie man behauptete, so konnte er doch ohne dieses Getränk nicht leben und arbeiten, und dies spiegelt sich in seiner nervösen und durchsichtigen, überreizten und gleichsam überbelichteten Schreibweise sehr deutlich wider. Neben den Kaffee traten noch einige andere neue Genußmittel: das Fruchteis, der Schaumwein, erst ein Jahrhundert später »Champagner« genannt, dessen Herstellung durch die Erfindung des Korkverschlusses ermöglicht wurde, und die Schokolade, das Lieblingsgetränk der Mexikaner, an das man sich aber in Europa erst gewöhnte, als man auf den Gedanken kam, es mit Zucker zu versetzen: es wurde besonders in dem verarmten Spanien zu einem Volksnahrungsmittel, das nicht selten die ganze Mahlzeit bestreiten mußte. Der Alkohol wurde aber durch Tee, Kaffee und Schokolade durchaus nicht verdrängt, zumal die Deutschen waren als wüste Säufer noch immer bewundert und berüchtigt, aber auch die Franzosen und Engländer standen nicht erheblich hinter ihnen zurück, während die Südländer von jeher relativ mäßiger waren. Endlich wird auch die Gabel, der wir schon einige Male begegnet oder vielmehr nicht begegnet sind, als nützliches Eßgerät anerkannt; ihr Gebrauch, der noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts von den Satirikern als affektiert verspottet wurde, setzt sich um 1650 am französischen Hofe durch, um daraufhin allgemein akzeptiert zu werden. Bis dahin hatte man das Fleisch entweder mit der Hand oder, was für das Feinere galt, mit dem Messer zum Munde geführt. Eine neue Sitte ist auch das Hutabnehmen: vorher hatte man beim Gruß die Kopfbedeckung entweder gar nicht berührt oder bloß in den Nacken zurückgestoßen. Die Reinlichkeit ließ auch in den höchsten Kreisen sehr viel zu wünschen übrig: hier ist ein entschiedener Rückschritt zu verzeichnen. Die öffentlichen Bäder, die im ausgehenden Mittelalter und auch noch in der Reformationszeit allgemein verbreitet waren, verschwinden vollständig; aber auch an privaten Badegelegenheiten herrschte fast gänzlicher Mangel. Die Toilette bestand gewöhnlich darin, daß man die Hände in Wasser tauchte und sich das Gesicht mit ein wenig Eau de Cologne betupfte; die Unterwäsche wurde erschreckend selten gewechselt, und selbst im Bett des Sonnenkönigs gab es Wanzen. Der verschwenderische Gebrauch aller Arten von Parfüms, Haarsalben und wohlriechenden Schminken ist unter diesen Umständen nur allzu begreiflich.
Die Beförderungsmittel sind noch recht primitiv. Erst gegen Ende des Jahrhunderts tritt der Wagen ebenbürtig neben das Reitpferd, nicht ohne heftigen Widerstand, da viele fanden, er wirke verweichlichend und schädige die Pferdezucht. Immerhin gab es in den großen Städten schon Droschken, in Paris fiacres genannt, aber der Mittelstand bediente sich hauptsächlich der Portechaise oder Sänfte, obgleich auch diese anfangs aus dem Gefühl heraus, daß es unwürdig sei, Menschen als Tragtiere zu benutzen, vielfach mißbilligt wurde; die höheren Stände hielten sich prachtvolle Karossen, die von Läufern begleitet und mit mindestens vier Pferden bespannt waren, was nicht nur in der allgemeinen Großtuerei und Prunksucht, sondern auch in dem schlechten Zustand der Straßen begründet war. In jenem Zeitraum kommt es auch allmählich zur Ausbildung der »Fahrpost«, der regelmäßigen Stellwagenverbindung, die entweder von Staats wegen oder durch Großunternehmer wie die Taxis in der Form hergestellt wird, daß an bestimmten Orten, den Relais, frische Pferde bereitstehen. Diese Stationen boten zumeist auch ermüdeten Reisenden Unterkunft, und so entstand das »Gasthaus zur Post«, die Keimzelle des Hotels. Der erste bequeme Reisewagen, die leichte zweisitzige »Berline«, wurde 1660 in Berlin gebaut und in ganz Europa nachgeahmt. Die Beförderungsgeschwindigkeit war sehr gering: die Fahrt von London nach Oxford, die heute mit der Eisenbahn in einer Stunde zurückgelegt wird, dauerte zwei Tage, und als eine neu eingerichtete Linie dazu nur noch dreizehn Stunden brauchte, erhielt sie wegen ihrer exorbitanten Schnelligkeit den Namen » flying-coach«. Daß die Wagen umwarfen oder überfallen wurden, war etwas ganz Gewöhnliches. Noch beschwerlicher und unsicherer war der Verkehr zu Wasser. Eine größere Seefahrt galt für ein Abenteuer, Schiffbrüche und Kämpfe mit Piraten wurden fast als eine Selbstverständlichkeit angesehen und bildeten den Hauptinhalt aller damaligen Reiseromane. Die Unterbringung in den engen finsteren Räumen war sehr unhygienisch; auch die Verpflegung, die ausschließlich in Pökelfleisch, Mehl und getrocknetem Gemüse bestand, führte zu häufigen Erkrankungen. Ob man überhaupt eine Verbindung bekam, war Sache des glücklichen Zufalls. Erst zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurden die packet-boats eingerichtet, regelmäßig zwischen England und dem Festland verkehrende Schiffe, die zuerst Pakete und Briefe, später auch Personen beförderten.
An die Einrichtung der Post knüpfte sich auch die Entstehung der Zeitungen. Sie waren zuerst nur handschriftliche Mitteilungen, die einzelne hochgestellte Personen von besonderen Korrespondenten bezogen und dann als »Gazetten« in den Handel brachten. Die ersten gedruckten Zeitungen wurden von den Postmeistern verbreitet, bei denen alle Neuigkeiten zusammenliefen, erschienen meist wöchentlich und enthielten bloß Tatsachenmaterial, ohne jede Reflexion oder Kritik, da sie unter sehr strenger Zensur standen. Eine um so freiere Sprache herrschte in der Flugschriftenliteratur, die bis in die Zeit der Reformation zurückgeht und, heimlich verbreitet, eine politische Macht darstellte: besonders die holländischen Pasquillanten waren bei allen europäischen Regierungen gefürchtet. Das erste Wochenblatt erschien 1605 in Straßburg, die erste Tageszeitung, der »Daily Courant«, erst nahezu ein Jahrhundert später in London. Von großer Bedeutung waren auch die gelehrten Zeitschriften: das Pariser »Journal des Savants«, die Londoner »Philosophical transactions«, das römische »Giornale dei Letterati« und die Leipziger »Acta eruditorum«.
Das wissenschaftliche Leben des Zeitalters nahm überhaupt eine staunenswerte Entwicklung. Von den außerordentlichen Leistungen Pascals haben wir schon gehört. Die bibelkritischen Forschungen Spinozas fanden in dem Pariser Oratorianer Richard Simon ihren Fortsetzer, der sich zwar äußerlich durchaus auf den Boden der Tradition stellte, aber in der historischen Erklärung der einzelnen Texte die größte Kühnheit zeigte und deshalb nicht nur von den katholischen, sondern fast noch mehr von den protestantischen Theologen aufs heftigste angefeindet wurde. Eine ebensolche Unabhängigkeit und kritische Überlegenheit entwickelte Mézeray in seiner »Histoire de France«; sein Programm ist die Boileausche Vereinigung des Wahren mit dem Schönen. Jean Mabülon wurde der Begründer der »Diplomatik«, der wissenschaftlichen Erforschung historischer Urkunden. Pierre Bayle verfaßte seinen gelehrten und scharfsinnigen »Dictionnaire historique et critique«, wohl das amüsanteste und geistreichste Wörterbuch, das jemals geschrieben worden ist. Alle Phänomene des Staats, der Kirche, der Sitte, der Kunst, der Wissenschaft werden darin, wie Bayle es mit Vorliebe bezeichnet, »anatomiert«: also auch in diesem verwegenen Skeptiker, auf den fast die ganze französische Aufklärung zurückgeht, waltet die cartesianische Methode der Analyse. Zugleich wird in diesem Werk noch einmal und für längere Zeit zum letztenmal der Versuch gemacht, zum »credo quia absurdum« zurückzufinden. Zunächst deckt Bayle allenthalben die Widersprüche auf, die zwischen Philosophie und Religion, Vernunft und Offenbarung bestehen: die Gestalten der Bibel, besonders des Alten Testaments, waren nicht immer heilige Personen, während sich andrerseits unter den Heiden und selbst unter den Gottesleugnern Männer von fleckenloser Größe befanden; die Tatsache des Sündenfalls ist eine für den Verstand unauflösbare Paradoxie, denn entweder ist der Mensch nicht frei, dann ist sein Handeln nicht Sünde, oder er ist frei, dann wollte Gott die Sünde, was mit seiner Güte im Widerspruch steht; hat er sie aber nicht gewollt, sondern bloß nicht verhindern können, so ist er nicht allmächtig, was ebenfalls seinem Begriff widerstreitet. Aber aus allen diesen Bedenken schließt Bayle nicht auf die Nichtigkeit des Glaubens, sondern auf die Nichtigkeit der Vernunft. Die Vernunft hat sich der Religion zu unterwerfen, sie hat kritiklos zu glauben und gerade aus der Erkenntnis ihrer Unvereinbarkeit mit der Offenbarung zur Einsicht ihrer Ohnmacht zu gelangen. Bayle ist also in der Tat Skeptiker, aber nicht in Ansehung der Religion, sondern der Philosophie. Er hatte jedoch ein so ungeheures Material von vernünftigen Einwänden gegen das positive Christentum zusammengetragen, um den blinden Glauben zu stützen, daß eine gegenteilige Wirkung nicht ausbleiben konnte. Das reiche und scharfe Rüstzeug blieb, auch wenn man die Folgerungen umkehrte. Und diesen Frontwechsel hat denn auch in der Tat das achtzehnte Jahrhundert vollzogen. Voltaire sagt von Bayle sehr treffend, es finde sich bei ihm zwar keine Zeile, die einen Angriff gegen das Christentum enthalte, aber auch keine, die nicht zum Zweifel führe; er selbst sei nicht ungläubig, aber er mache ungläubig.
Den eigentlichen Ruhm des siebzehnten Jahrhunderts bildet aber der Ausbau der exakten Disziplinen: es ist das Heldenzeitalter der Naturwissenschaften, weniger auf dem Gebiete der Praxis als in der Konzeption genialer und umfassender Theorien. Die Medizin war verhältnismäßig am wenigsten entwickelt. Die Pariser Schule, von Molière verspottet, kannte im wesentlichen nur zwei Universalmittel: Aderlaß und Irrigation, deren häufige Anwendung jedoch nicht ganz unberechtigt war, da die höheren Stände infolge des Mangels an Bewegung und des reichlichen Essens und Trinkens fast durchwegs an Hyperämie litten. Die holländische Schule huldigte der »Polypharmazie«, dem Gebrauch großer Mengen verschiedenartigster Medikamente, die oft von der entgegengesetzten Wirkung, im übrigen aber fast lauter harmlose Kräuter waren. Es zeigt sich selbst in diesen Dingen der Schwulst der Barocke, ihre Neigung zur Überladung, zum Schnörkel, zur erdrückenden Quantitätswirkung. Weiter gelangten schon die beschreibenden Naturwissenschaften: John Ray wurde der Schöpfer einer umfassenden zoologischen Systematik; er teilte die Tiere in Wirbeltiere und Wirbellose, die ersteren in lebendig gebärende Lungenatmer, eierlegende Lungenatmer und Kiemenatmer und die letzteren in Weichtiere, Krustentiere, Schaltiere und Insekten. Von großer Bedeutung war die Vervollkommnung des Mikroskops, das, obgleich früher erfunden als das Fernrohr, erst jetzt ausgedehnte Verwendung fand: mit ihm entdeckte Nehemia Grew die Spaltöffnungen in der Blattoberhaut, Leeuwenhoek die Infusorien, die Stäbchenschicht in der Netzhaut, das Facettenauge der Insekten, die Querstreifung der willkürlichen Muskeln und Malpighi die roten Blutkörperchen sowie eine ganze Reihe anatomischer Einzelheiten, die noch heute nach ihm genannt sind: das malpighische Netz, eine Schleimschicht unter der Oberhaut, die malpighischen Knäuel, eigentümliche Verzweigungen der Blutgefäße in der Niere der Säugetiere, die malpighischen Körper, kleine Lymphbläschen in der Milz, und die malpighischen Gefäße, als Nieren funktionierende Darmanhänge der Insekten. Nikolaus Stenonis erkannte, daß das Herz das Zentrum des Blutkreislaufs sei, wofür man bisher die Leber gehalten hatte, und fand den ductus Stenionanus, den Ausführungsgang der Ohrspeicheldrüse. Eine Art Zeitmikroskopie unternahm Olaf Römer, indem er als erster die Lichtgeschwindigkeit maß. Christian Huygens erklärte die Doppelbrechung des Lichts im isländischen Kalkspat, entdeckte den Saturnring, dessen Beobachtung schon Galilei begonnen, aber wegen widersprechender Wahrnehmungen wieder aufgegeben hatte, erfand die Pulvermaschine und die Pendeluhr und machte abschließende Untersuchungen über die Zentrifugalkraft, als deren Formel sich ihm m v 2/r ergab, wobei m die Masse eines im Kreise sich bewegenden Körpers bezeichnet, v dessen Geschwindigkeit und r den Halbmesser des Kreises; vor allem aber ist er der Schöpfer der Undulationstheorie, die erst zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts den Sieg über die Newtonsche Emissionstheorie davongetragen hat. Er nahm nämlich an, daß das Licht durch die Schwingungen einer besonderen Materie fortgepflanzt werde, nicht derselben, die zur Ausbreitung des Schalles diene. Denn diese sei nichts anderes als die Luft; es zeige sich aber, daß im luftleeren Raum zwar keine Schallbewegung stattfinde, das Licht aber ungehindert weitergeleitet werde; dieser von der Luft verschiedene Stoff, der »Äther«, erfülle das ganze Weltall, sowohl den unendlichen Himmelsraum wie die Spatien zwischen den wägbaren Teilchen der Körper; er verhalte sich vollkommen elastisch, besitze keine Schwere und sei somit dem Gravitationsgesetz nicht unterworfen. Newton hingegen betrachtete das Licht als eine feine Materie, die von den leuchtenden Körpern ausgesendet werde. Huygens erklärte sich auch gegen die Newtonschen Fernkräfte, die er durch Druck- und Stoßwirkungen ersetzt wissen wollte.
In Newton selbst schenkte das Zeitalter der Menschheit eines der größten spekulativen Genies, die jemals ans Licht getreten sind. Er bedeutete sowohl als Mathematiker wie als Physiker und Astronom eine Revolution. Er zeigte in seiner »Optik«, daß durch die Vereinigung sämtlicher Spektralfarben das weiße Sonnenlicht entsteht und daß die Eigentümlichkeiten der Farben auf der Verschiedenheit der Lichtstrahlen beruhen, machte mit seinem eigenhändig erbauten Spiegelteleskop eine Reihe folgenschwerer astronomischer Entdeckungen und wurde durch die von ihm geschaffene Methode der Fluxionen der Erfinder des Infinitesimalkalküls: die unendlich kleinen Größen und deren unmerkliche Veränderungen wurden damit zu einem Gegenstand exakter Berechnung gemacht. Die Summe seiner Forschungen zog er in seiner allumfassenden Gravitationstheorie. Durch einen fallenden Apfel wurde er auf die allgemeine Anziehungskraft des Erdmittelpunkts aufmerksam gemacht; und die Vermutung, daß dieselbe Kraft auch die Ursache der Mondbewegung, des Kreislaufs der Erde um die Sonne, ja sämtlicher mechanischen Vorgänge im Weltall sei, wurde ihm im Laufe langjähriger Studien allmählich zur Gewißheit. Das von ihm in seinem Hauptwerk »Philosophiae naturalis principia mathematica« aufgestellte Gravitationsgesetz lautet: die anziehende Kraft ist den Massen direkt, dem Quadrat der Entfernung umgekehrt proportional. Da alle Monde gegen ihre Planeten und alle Planeten gegen ihre Sonnen gravitieren, so gilt dieses Gesetz für den ganzen Weltraum. Mit Hilfe dieser neuen Theorie erklärte sich auch eine Reihe kosmischer Erscheinungen, die bisher rätselhaft gewesen waren: die Störungen der elliptischen Planetenbahnen, die Ungleichheiten der Mondbewegung, die Ebbe und Flut. Newton war jedoch ein viel zu großer Denker, als daß er aus seinen Forschungsergebnissen materialistische Schlüsse gezogen hätte. Gerade die bewundernswerte Gesetzmäßigkeit des Weltalls befestigte ihn in seinem Glauben an einen göttlichen Urheber und Lenker. Er versuchte sich sogar als Theologe und schrieb eine Abhandlung über den Propheten Daniel und die Apokalypse; in seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich fast ausschließlich mit religiösen Problemen. Die fast übermenschlichen Leistungen seiner spekulativen Schöpferkraft und die außerordentlichen Ehrungen, die ihm dafür im Laufe seines langen Lebens zuteil wurden, vermochten ihm nicht seine Bescheidenheit zu rauben: die vom Evangelium geforderte Einfalt, heißt es in seiner Grabschrift in der Westminsterabtei, bewies er durch seinen Wandel.
England befand sich damals an der Spitze der wissenschaftlichen Entwicklung. Das System Cromwells war mit dessen Tode zusammengebrochen. Der Sohn Karls des Ersten kehrte aus der Verbannung zurück und bestieg als Karl der Zweite unter allgemeinem Jubel den Thron. Er zeigte großes Interesse für die Wissenschaften, war Mitglied der Royal Society, der die hervorragendsten Naturforscher des Zeitalters angehörten, beschäftigte sich viel mit Astronomie und gründete die berühmte Sternwarte in Greenwich. Er war taktvoll, gutmütig, leutselig, hochintelligent; seine Artigkeit ging so weit, daß er noch am Morgen nach der Nacht seines Todeskampfes zu den Umstehenden äußerte, er liege eine ungebührlich lange Zeit im Sterben, aber er hoffe, sie würden es entschuldigen. Er war ein brillanter Tänzer, Ballspieler und Anekdotenerzähler und ein großer Freund der Künste, besonders des Theaters. Aber er war bei allen seinen liebenswürdigen und zum Teil blendenden Eigenschaften im innersten ein kalter und seelenloser, träger und frivoler Mensch ohne alle Grundsätze, auf nichts bedacht als auf die Befriedigung seiner stets wachen Genußsucht. Er ging sogar ins Parlament nur zum Vergnügen und pflegte zu sagen, eine politische Debatte sei so unterhaltend wie eine Komödie. Die Ausschweifungen seines Hofs bildeten das Londoner Tagesgespräch und die Engländer nannten ihn, nicht ohne einen verächtlichen Unterton, »the merry monarch«. Als er vom Grafen Shaftesbury eines Tages besucht wurde, sagte er lachend: »Ah, da kommt der liederlichste unter allen meinen Untertanen.« Shaftesbury verneigte sich tief und erwiderte: »Jawohl, Majestät; unter den Untertanen.«
Er war nichts weniger als ein rachsüchtiger Fanatiker, aber auch nichts weniger als ein Mann edler leidenschaftlicher Überzeugungen. Er hatte nichts von dem sinnlosen Machtdünkel der Stuarts, aber auch nichts von ihrem lebhaften Ehrgeiz. Er fühlte sich nicht als absoluter Gottesgnadenkönig, aber auch nicht als verantwortlicher Lenker der Volksgeschicke. Er war im Grunde nichts. Er war friedfertig, aber aus Indolenz; er war duldsam, aber aus Oberflächlichkeit.
Er hatte nur eine Passion: die harmloseste, aber zugleich die niedrigste von allen: die Geldgier. Für Geld war alles von ihm zu haben: Allianzen, Glaubensänderungen, Zugeständnisse an die Freiheit des Volkes, Zugeständnisse an den Despotismus einer Partei, Toleranzedikte, Terrorakte, Kriegserklärungen, Friedensschlüsse. Er verkaufte Dünkirchen, seine Neutralität, seine Bundesgenossen, seine königlichen Privilegien: was man von ihm wollte. Er war verschwenderisch nur für seine platten und zügellosen Lustbarkeiten, hingegen knauserig, wenn es sich um vernünftige Ausgaben für den Staatshaushalt handelte; seine Beamten ahmten ihm nach und waren von einer Bestechlichkeit, wie sie bis dahin in England unbekannt gewesen war: besonders die Minister erwarben sich in ihrer Amtsführung ungeheure Vermögen. Auch sonst war seine Regierung unglücklich: unter ihr geschah das Unerhörte, daß eine feindliche Flotte, die holländische unter Admiral Ruyter, die Themse hinaufsegelte und England mit einer Invasion bedrohte; ein neuer furchtbarer Ausbruch der Pest verseuchte das Land und eine ungeheure Feuersbrunst legte die ganze City von London in Asche. Gerade damals setzte sich die schon früher von Filmer vertretene Lehre vom »passiven Gehorsam« allgemein durch: der König habe die Macht des Vaters über seine Kinder, er sei nur Gott, nicht seinen Untertanen verantwortlich, und diese seien durch keine wie immer geartete Handlung ihres Monarchen zum Widerstand berechtigt. Aber niemals ist eine so absolute Unterwerfung einem Fürsten entgegengebracht worden, der sie weniger verdient hätte, weniger begehrt hätte und weniger mit ihr anzufangen wußte.
Auf Karl den Zweiten folgte sein Bruder Jakob der Zweite. Er war ein zelotischer Anhänger des Papismus, zu dem jener sich erst auf dem Sterbebette bekannt hatte, und der Autokratie, zu der jener niemals geneigt hatte. Er besaß alle schlechten Eigenschaften seines Vorgängers, aber keine von seinen guten, denn er war außergewöhnlich bösartig, dumm und eigensinnig. Gegen Andersgläubige und politische Gegner verfuhr er mit grausamer Strenge, worin ihn der Oberrichter Jeffreys unterstützte, ein groteskes Untier von rohem blutgierigem Trunkenbold, das wegen seiner Untaten noch heute, nach mehr als zweihundert Jahren, in England berüchtigt ist: er rühmte sich, daß er allein mehr Verräter habe hinrichten lassen als seine sämtlichen Vorgänger seit Wilhelm dem Eroberer. Jakob der Zweite war allem Anschein nach ein Sadist wie Heinrich der Achte, übrigens auch sonst sexuell pervers: er hatte nur Mätressen von ausgesuchter Häßlichkeit, eine von ihnen, Catharine Sedley, die daneben sehr geistreich war, sagte einmal von ihm: »Ich weiß nicht, was ihn an mir reizt. Von meiner Schönheit kann er nichts bemerken, weil ich keine besitze, und von meinem Verstand kann er nichts bemerken, weil er keinen besitzt.« Seine Polemik bestand darin, daß er, wenn man ihm Einwendungen machte, dieselbe Behauptung noch einmal mit den gleichen Worten wiederholte und nun glaubte, in der Debatte gesiegt zu haben. Ebenso machte es seine Tochter, die spätere Königin Anna, und Marlborough sagte, sie habe es von ihrem Vater. Doch braucht man, da sie eine Frau war, hier wohl nicht gerade hereditäre Belastung zur Erklärung heranzuziehen.
Nachdem er drei Jahre lang alles getan hatte, um auch die ergebensten und geduldigsten seiner Untertanen zu erbittern, kam es zur »glorious revolution«, und sein Schwiegersohn Wilhelm von Oranien, von Wighs und Tories einmütig ins Land gerufen, bestieg den Thron. Dem englischen cant machte es keine Mühe, das Recht auf Revolution und die Pflicht des passiven Gehorsams miteinander in Einklang zu bringen. Die Theologen erklärten, die Religion verbiete allerdings jeden Widerstand gegen den König, aber die Gebote der Bibel seien nicht ausnahmslos gültig; es sei erlaubt, sie in gewissen Fällen zu übertreten. Es sei untersagt, zu töten, aber dieses allgemeine Gesetz erleide eine Ausnahme im Kriege; ebenso sei es untersagt, zu schwören, aber vor Gericht sei der Zeuge verpflichtet, zur Bekräftigung der Wahrheit einen Eid abzulegen. Und ebenso sei es in gewissen Fällen gestattet, sich gottlosen Fürsten zu widersetzen: das Alte Testament habe selber dafür Beispiele. Andere wieder bewiesen, daß nicht das Volk sich gegen Jakob empört habe, sondern dieser sich gegen Gott, indem er seine Gesetze verletzte; er sei es gewesen, der dem Kaiser nicht geben wollte, was des Kaisers ist. Wilhelm von Oranien wäre jedoch gleichwohl nie zum Ziel gelangt, wenn ihn nicht Jakob selber durch seine unglaubliche Borniertheit und Ungeschicklichkeit aufs wirksamste unterstützt hätte. Der neue König war übrigens bei den Engländern als Fremder und auch wegen seines nüchternen und verschlossenen Wesens nicht viel beliebter als sein Vorgänger; indes der Umstand, daß seine Gattin, als Tochter Jakobs in den Augen des Volkes die eigentliche legitime Herrscherin Englands, ihm völlig ergeben war, erleichterte ihm seine heikle Stellung, und zudem war er einer der größten Diplomaten und Feldherren seiner Zeit. Er erblickte als Holländer, der er sein ganzes Leben lang blieb, in Ludwig dem Vierzehnten den Erbfeind, bewirkte einen völligen Wechsel in der englischen Politik, die bisher infolge der steten Geldbedürftigkeit Karls und der absolutistischen und katholisierenden Tendenzen Jakobs unter französischem Einfluß gestanden hatte, und brachte jene große Koalition gegen Frankreich zustande, von der wir bereits gesprochen haben.
In Dingen der äußeren Zivilisation war England damals noch nicht viel weiter als die übrigen Länder Europas. Von den schlechten Reiseverhältnissen haben wir schon gehört. Die Wagenfahrten waren wegen des Morastes langsam und beschwerlich und infolge der notwendigen starken Bespannung kostspielig; rasch kam man nur beritten vorwärts. In den Städten waren die Straßen so eng, daß Kutschen kaum passieren konnten, weshalb der Warentransport zumeist durch Rollwagen besorgt werden mußte, die von Hunden gezogen wurden. Die Wirtshäuser dagegen waren ausgezeichnet und in der ganzen Welt berühmt, auch die Briefbeförderung funktionierte für damalige Verhältnisse auffallend pünktlich, schnell und zuverlässig. Der Adel lebte noch zum größten Teil als gentry auf dem Lande in ganz bäurischen Verhältnissen. Wie die Beleuchtung außerhalb der Hauptstadt beschaffen war, kann man daraus entnehmen, daß erst im Jahre 1685 ein Privatunternehmer namens Edward Heming sich gegen eine jährliche Vergütung verpflichtete, in London vor jedes zehnte Haus bis Mitternacht ein Licht zu stellen. Die meisten Landhäuser waren noch Holzbauten, die Zimmer ohne Tapeten und Teppiche, mit einer Mischung von Kienruß und Bier gestrichen. In starkem Bier bestand auch das gewöhnliche Getränk des Landgentleman. Wie viel er davon zu sich zu nehmen pflegte, erhellt aus einer damaligen Bestimmung, nach der Kriegsgerichte nur von sechs Uhr morgens bis ein Uhr mittags berechtigt waren, auf Todesstrafe zu erkennen: man nahm offenbar an, daß die Herren sich nach dem Mittagessen nicht mehr in der Verfassung befänden, so verantwortungsvolle Urteile fällen zu können. Die Männer hatten wenig geistige Interessen und beschäftigten sich vorwiegend mit Jagd, Spiel und Politik; die Bildung der Frauen stand noch niedriger und war im Vergleich zur elisabethinischen Zeit sehr zurückgegangen: während sie damals vielfach in Musik, Mathematik und alten Sprachen Bescheid wußten, konnten sie jetzt kaum orthographisch schreiben und befaßten sich bestenfalls mit Handarbeiten und Romanen.
London hingegen war damals bereits eine vollkommene Großstadt, die eine halbe Million Menschen beherbergte, den zehnten Teil der Bevölkerung ganz Englands, während die beiden nächstgrößten Städte Bristol und Norwich nicht ganz dreißigtausend Einwohner zählten. Nach dem großen Brand wurde die City unter der Leitung Christopher Wrens in einem weichen und originellen Renaissancestil viel prächtiger und komfortabler wieder aufgebaut. Im übrigen war England damals nicht bloß politisch, sondern auch künstlerisch eine Art französischer Vasallenstaat. William Davenant, Dramatiker und Theaterunternehmer, reformierte die Bühne zum pompösen illusionistischen Barocktheater im klassischen Geschmacke Ludwigs des Vierzehnten unter starker Heranziehung der Musik, indem er auch die Stücke Shakespeares zu dramatic operas, Dramen mit zahlreichen Musikeinlagen, umarbeitete. John Dryden, der poeta laureatus des Zeitalters, ahmte mit virtuoser und kalter Wortkunst, die immer sehr geschickt den jeweiligen Wünschen des Publikums entgegenzukommen wußte, Boileau, Corneille und Racine nach. Noch Samuel Johnson sagte von ihm, er habe gleich Augustus eine Ziegelstadt vorgefunden und eine Marmorstadt hinterlassen. Aber im Laufe der Zeit haben die rohen Ziegel Shakespeares doch eine größere Schönheit und Haltbarkeit erwiesen als der leere unsolide Marmorprunk Drydens.
Damals jedoch erklärte Rymer, der Historiograph Wilhelms: »Ein Affe versteht sich besser auf die Natur und ein Pavian besitzt mehr Geschmack als Shakespeare. Im Wiehern eines Pferdes, im Knurren eines Hundes ist mehr lebendiger Ausdruck als in Shakespeares tragischem Pathos.«
Die Puritaner hatten das Theater immer beargwöhnt und schließlich überhaupt verboten. Als nun die Stuarts zurückkehrten, trat eine sehr natürliche Reaktion ein. Man drängte sich nicht nur zu allen Belustigungen, die bisher verpönt waren, sondern verlangte auch, daß sie so ausgelassen und zügellos wie möglich seien. Man verließ nicht nur die bisherige Prüderie und Bigotterie, sondern hielt Ehrbarkeit und Frömmigkeit geradezu für eine Schande und das sicherste Merkmal der Heuchelei. Infolgedessen nahm die englische Komödie sehr sonderbare Formen an. Die Frauen, die sogar in der lustigen elisabethinischen Zeit nicht als Schauspielerinnen auftreten durften, übernahmen nun die weiblichen Rollen und es wurde ein besonderer Reiz, gerade ihnen die derbsten Zoten in den Mund zu legen. Eine ganze Generation von Lustspieldichtern überschwemmte die Bühne mit den gewagtesten Cochonnerien. Der Held fast aller dieser Stücke ist der Wüstling, der von einer Verführung zur andern jagt. In Wycherleys »Countrywife« zum Beispiel ist die Hauptfigur ein Mann, der sich für einen Kastraten ausgibt, um dadurch das Vertrauen der Ehemänner zu erwerben, und es wird nun in zahlreichen Variationen gezeigt, wie ihm von allen Seiten junge Frauen zugeführt werden, die natürlich sehr entzückt sind, als sie bemerken, daß er durchaus nicht an den physischen Mängeln leidet, die er vorgetäuscht hat. Die Literaturgeschichte, die bekanntlich ausnahmslos von Philistern geschrieben wird, hat jedoch das Lustspiel der Restaurationszeit wegen seiner Obszönitäten sehr ungerecht beurteilt: es ist voll echter Laune, geistreicher Intrige und brillanter Konversation; von ihm stammt die englische Gesellschaftskomödie ab, die in ihrer ganzen Entwicklung, über Sheridan und Goldsmith bis zu Wilde und Shaw, einen der größten internationalen Ruhmestitel Englands bildet.
Der Philosoph der »glorious revolution« war John Locke, der in der Theologie den Standpunkt der liberalen »Latitudinarier«, in der Politik die Sache des parlamentarischen Konstitutionalismus vertrat. In seinen »Letters for toleration« erklärte er die Religion für eine Privatangelegenheit; in seinen »Treatises of civil government« forderte er die Teilung der Staatsgewalt zwischen Volk und König, wie sie tatsächlich in der von Wilhelm dem Dritten erlassenen »Bill of rights« zum Ausdruck gelangt war; in seinen »Thoughts concerning education« plädierte er für eine naturgemäße Erziehung als praktische Vorbereitung auf das Leben im Dienste der Gesellschaft. In seinem berühmten »Essay concerning human understanding« hat er ein bis in die letzten Konsequenzen durchgeführtes System des Empirismus entworfen: »Woher der gesamte Stoff der Vernunft und Erkenntnis stammt? Darauf antworte ich mit einem Worte: aus der Erfahrung.« Es gibt keine angeborenen Ideen, das sieht man an der Entwicklung beim Kinde, das erst langsam durch Einzelerfahrungen abstrahieren lernt. Die menschliche Seele ist nichts als die Fähigkeit, Eindrücke zu empfangen, ein Stück Wachs, eine unbeschriebene Tafel, ein dunkler Raum, der durch einige Öffnungen Bilder von außen aufnimmt und die Kraft besitzt, sie in sich festzuhalten. Die Wahrnehmung ist entweder eine äußere oder eine innere, je nachdem sie sich auf unsere Gegenstände oder auf unsere Zustände bezieht: die erstere nennt Locke sensation oder Empfindung, die letztere reflexion oder Selbstwahrnehmung. Alle Wahrnehmungen, innere und äußere, sind bloße Vorstellungen, daher vermögen wir nur die Eigenschaften, nicht die Substanz der Dinge zu erkennen, ihre Erscheinungen, aber nicht ihr Wesen. Indes genügt auch dieses relative Wissen für die Bedürfnisse des Lebens und die Regelung unseres Handelns. Das Dasein Gottes wird unmittelbar aus der Existenz und Beschaffenheit der Welt erschlossen; die Sätze der Sittenlehre sind einer ebenso exakten Beweisführung zugänglich wie die Sätze der Zahlenlehre. Locke hat zum erstenmal eine echt englische Philosophie geschaffen, in der alle entscheidenden Nationalzüge versammelt sind; sie ist deistisch und moralistisch, demokratisch und praktisch, ein Sieg des »gesunden Menschenverstandes«, der »goldenen Mitte« und der »Wahrheit der Tatsachen«; wir werden ihr in ihren verschiedenen Abwandlungen noch oft wiederbegegnen.
England war der einzige europäische Großstaat, der sich vom zeitgenössischen Absolutismus emanzipierte; hingegen wurde dieser in Deutschland fast kritiklos hingenommen. Die Devotion der Deutschen auch vor ihren kleinsten Potentaten war grenzenlos. Ein Publizist schrieb an den Duodezfürsten Ernst Ludwig von Hessen: »Wenn Gott nicht Gott wäre, wer sollte billiger Gott sein als Eure hochfürstliche Durchlaucht?«; auch vor den Beamten, von denen Christian Wolff lehrte, daß sie als Gehilfen des Monarchen »Fürsten im Kleinen seien«, erstarb man in Demut. Infolge der Theorie von der Omnipotenz des Staates hielt der Herrscher sich für berechtigt, ja verpflichtet, sich in alles einzumischen, das ganze Privatleben des Bürgers wie ein tyrannischer Hausvater oder Klassenlehrer zu beaufsichtigen und zu korrigieren. Selbst die »Acta eruditorum«, die einzige wissenschaftliche Zeitschrift des damaligen Deutschland, kündigten an, daß sie nichts ihrer Kritik unterziehen würden, was die Rechte und Handlungen der Fürsten betreffe. Man begrüßte den Monarchen durch Kniefall und kniete sogar vor seinem leeren Wagen nieder, wenn man ihm auf der Straße begegnete. Damals kamen auch die zahlreichen Hofchargen auf: Kämmerer, Kaplan, Medikus, Stallmeister, Jägermeister, Zeremonienmeister; auch die Gewerbetreibenden schätzten es sich zur höchsten Ehre, zum Hofbäcker, Hofschneider, Hofschuster oder Hofgärtner ernannt zu werden. Alle Nichtadeligen, Bürgertum und Volk, wurden als »Roture« verachtet, die nur dazu gut schien, dem Hof Geld, Soldaten und Handlanger zu liefern. Man war nicht eigentlich »grausam« gegen sie: man hielt sie bloß für Geschöpfe von einer anderen Gattung, die dementsprechend auch andere Pflichten und andere oder vielmehr gar keine Rechte hätten. Macaulay sagt sehr zutreffend, daß Ludwig der Vierzehnte sich keine Skrupel daraus machte, seine Untertanen aufzuopfern, weil er sie höchstens mit den Empfindungen betrachtete, die man einem abgetriebenen Postpferd oder einem hungrigen Rotkehlchen entgegenbringt. Daß diese Anschauungen auch in Deutschland durchdrangen, war eine der Folgen der Französierung, über die Christian Thomasius bemerkte: »Französische Kleider, französische Speisen, französischer Hausrat, französische Sprache, französische Sitten, französische Sünden, ja gar französische Krankheiten sind durchgehends im Schwange.« Dieser Thomasius bedeutete einen der wenigen Aktivposten des damaligen deutschen Geisteslebens. Er war einer der frühesten und leidenschaftlichsten Gegner der Folter und der Hexenprozesse, der erste Gelehrte von Rang, der deutsch schrieb und deutsche Vorlesungen hielt, und der Herausgeber der ersten populären deutschen Zeitschrift, der »Freimütigen, lustigen und ernsthaften, jedoch Vernunft- und gesetzmäßigen Gedanken oder Monatsgespräche über alles, fürnehmlich über neue Bücher«, in denen er in einer zwar immer noch schwülstigen, ungelenken und mit zahllosen französischen Brocken vermengten Sprache, aber mit viel Witz und Anschaulichkeit und staunenswerter Kühnheit fast ein halbes Jahrhundert lang alle Mißstände seines Volkes und Zeitalters bekämpfte: die Pedanterie und Aufgeblasenheit der Professoren, die Intoleranz der Geistlichen, die Charlatanerie der Ärzte, die Rabulisterei der Juristen, die Sittenroheit der Studenten, die Unredlichkeit der Kaufleute, die Trägheit der Handwerker, die Liederlichkeit des Adels und noch vieles andere. Seine Hauptforderung ist, »daß man sich auf honnêteté, Gelehrsamkeit, beauté d'esprit, un bon goût und Galanterie befleißige«; sein ausschließlicher Wertmesser ist »Nützlichkeit und Brauchbarkeit fürs Leben«. Er ist damit der Vater der deutschen Aufklärung geworden, zu einer Zeit, wo noch Mut und Originalität dazu gehörte, solche Prinzipien zu verfechten, und zugleich der Vater des deutschen Journalismus, indem er es zum erstenmal unternahm, geistige Fragen in einer Form zu behandeln, die für jedermann verständlich und anregend war. Neben ihm ist kaum etwas anderes erwähnenswert als die Bestrebungen der Pietisten, die mit Erfolg bemüht waren, den Theologengeist des Zelotismus und der Wortspalterei zu bekämpfen und ein praktisches Christentum der Brüderlichkeit und Einfalt ins Volk zu tragen, und die prachtvollen Predigten Abraham a Sancta Claras, dieses Kabarettiers auf der Kanzel. In ihm lebt noch der ganze Dreißigjährige Krieg mit seinem Plündern, Totschlagen und Weiberschänden und seinem primitiven Mutterwitz brutaler Augenblicksmenschen; er hielt es mit der Sitte der Zeit und hat die deutsche Sprache in seinen Bildern gebrandschatzt, in seinen Gleichnissen genotzüchtigt und in seinen Strafreden zum Totschläger gemacht.
In jenen Zeitraum fällt auch der erste Aufstieg des brandenburgisch- preußischen Staats, den der Große Kurfürst zu einer europäischen Macht erhob. Er befreite durch kluge und perfide Politik das Herzogtum Preußen von der polnischen Lehenshoheit und begründete in seinen Ländern durch Niederwerfung der Stände die unumschränkte Monarchie, wobei er vor großen Brutalitäten und Rechtsbrüchen nicht zurückscheute; zur Befestigung seiner Herrschaft im Innern und zum Schutz vor der stets drohenden schwedischen Großmacht schuf er das stehende Heer, den miles perpetuus. Er erbaute den Friedrich-Wilhelm-Kanal, der die Elbe mit der Oder verband, richtete eine eigene Post ein, die viel schneller fuhr als die Taxissche, reformierte das Steuerwesen und den Unterricht, auch den höheren durch Stiftung der Universität Duisburg, förderte den Ackerbau, die Viehzucht und die Moorkultur, vergrößerte und verschönerte seine Hauptstadt, unter anderem durch die Schloßbibliothek und die Baumanlagen vor der Schloßbrücke, die den Namen »Unter den Linden« erhielten, unterhielt eine kleine Kriegsmarine, die jedoch schon unter seinem Nachfolger wieder verfiel, und gründete sogar eine Handelskolonie mit einem Fort an der Goldküste von Guinea. In seiner Religionspolitik war er von der größten Toleranz geleitet: obgleich selber reformiert, gewährte er nicht bloß Lutheranern und Katholiken, sondern selbst Sozinianern und Menoniten völlige Freiheit, und sein »Potsdamer Edikt« lud alle Verfolgten ein, unter seinen Schutz zu kommen, wodurch vor allem viele Hugenotten ins Land gezogen wurden, die sich als Ingenieure und Architekten, Fabrikanten und Finanziers sehr nützlich betätigten.
Er war zweifellos eine der stärksten politischen Persönlichkeiten seines Zeitalters. Aber das damalige Staatsleben war überhaupt reich an markanten Erscheinungen. Eine solche war vor allem der Prinz Eugen, der, ursprünglich wegen seiner unansehnlichen Gestalt und seines schüchternen Wesens zum Geistlichen bestimmt, einer der glänzendsten Feldherren seines Jahrhunderts wurde. Seine Siege bei Zenta und Peterwardein, Höchstädt und Turin, Oudenarde und Malplaquet erregten das Staunen Europas und erwarben der habsburgischen Monarchie Italien und die Niederlande, Ungarn und Siebenbürgen, Serbien und die Walachei. Zugleich war er einer der gewandtesten und weitblickendsten Diplomaten: hätte man seinen maßvollen Vorschlägen gefolgt, so wäre es im Spanischen Erbfolgekrieg vor dem großen politischen Umschwung zu einem Friedensschluß mit Ludwig dem Vierzehnten gekommen, der für den Kaiser noch viel vorteilhafter gewesen wäre als der spätere; er war auch der einzige österreichische Staatsmann, der erkannte, daß das Habsburgerreich sich nur dauernd als Großmacht behaupten könne, wenn es Kolonien und Seegeltung besitze, und wünschte daher den Bau einer großen Flotte mit Ostende und Triest als Haupthäfen. Daneben war er ein wirklicher Freund der Künste und Wissenschaften, nicht aus leerer Prunksucht wie die meisten anderen Machthaber seiner Zeit, sondern aus echtem Bedürfnis und tiefem Verständnis. Seine Sammlungen wertvoller Münzen und Gemmen, Gemälde und Kupferstiche zeugten von reifster Sachkenntnis und erlesenem Geschmack; das Hauptwerk Leibnizens, die »Monadologie«, ist ihm nicht nur gewidmet, sondern überhaupt erst auf seine Anregung entstanden; die beiden genialsten Architekten der österreichischen Barocke haben für ihn gebaut: Fischer von Erlach das noble und heitere Stadtpalais und Lukas von Hildebrand das kokette und geistreiche, wundervoll in Park und Teich komponierte Sommerschloß Belvedere. Er war ein echter Barockmensch: von jener sublimen Nüchternheit, die stets das Merkmal großer Schicksalslenker ist, und voll heimlicher Sehnsucht nach jenen bunten, verwirrenden und narkotischen Dingen, die das Leben erst begehrenswert und interessant machen; ein starker, wissender und steuerkundiger Geist und doch umwittert von dem Aroma der problematischen Natur.
Eine sehr originelle Erscheinung war auch die Königin Christine von Schweden; sie gehörte zu jenen Persönlichkeiten, von denen im siebzehnten Jahrhundert am meisten gesprochen wurde. Ihr Äußeres war nicht schön, aber interessant; ihre forciert männlichen Manieren und Neigungen erregten überall Aufsehen und gaben sogar zu der Vermutung Anlaß, daß sie ein Zwitter sei: infolgedessen warf sie einmal beim Kutschieren absichtlich um, blieb mit aufgehobenen Röcken liegen und rief den herbeieilenden Dienern zu: »Geniert euch nicht, kommt nur näher und überzeugt euch, daß ich kein Hermaphrodit bin.« Sie war eine leidenschaftliche Reiterin, Fechterin und Jägerin, trug das Haar stets kurzgeschoren und verglich sich gern mit der Königin von Saba. Für die Wissenschaften, besonders für Mathematik und Astronomie, hatte sie das größte Interesse: sie beherrschte acht Sprachen, stand in Korrespondenz mit Pascal, berief Descartes an ihren Hof, um mit seiner Hilfe eine Akademie zu gründen, und schrieb selber zahlreiche Pensees. Sie war die erste Herrscherin, die die Hexenprozesse abschaffte, verzichtete aber bald auf ihren Thron, um nach Rom zu gehen, wo sie zum Katholizismus übertrat. Das Gefühl ihrer Stellung nahm bei ihr so größenwahnsinnige Formen an, daß selbst ihre Zeitgenossen davon überrascht waren. Ihr Buch »Histoire de la Reine Christine« ist Gott gewidmet, da auf Erden niemand dieser Ehre würdig sei; in ihren Briefen erklärte sie wiederholt, daß sie größer sei als irgend ein Sterblicher und alle irdischen Wesen als tief unter sich stehend empfinde; eine der Medaillen, die sie prägen ließ, zeigte auf der Vorderseite ihren Kopf, auf der Rückseite eine Sonne mit der Inschrift: » Non sit tamen inde minor«, was bedeuten sollte, daß sie durch die Entfernung von ihrem Königreich so wenig etwas von ihrer Größe einbüße wie die Sonne durch ihre Entfernung von der Erde. Dieses ans Pathologische streifende Selbstgefühl hat sich in Karl dem Zwölften wiederholt und zum Schaden Schwedens, die phantastischsten Folgen getragen.
Eines der bedeutendsten Ereignisse der Zeit ist der Eintritt Rußlands in die Weltgeschichte, und auch dieses geht auf eine einzelne Persönlichkeit zurück. Bis auf Peter den Großen ist Rußland ein christlich-orientalischer Staat; beim Übergang zum Monotheismus soll übrigens hauptsächlich das mohammedanische Alkoholverbot für das Christentum entschieden haben. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken verlegt die griechische Kirche ihr Zentrum nach Moskau, und Rußland tritt das Erbe Ostroms an; aber schon vorher war es in seiner Vergöttlichung des Herrschers, seiner rigorosen und absurden Hofetikette, seinen ständigen Palastrevolutionen und tumultuarischen Thronwechseln, seiner Popenherrschaft und seiner bizarren und großartigen Baukunst ein im wesentlichen byzantinisches Reich. Zugleich hatte die Mongolenherrschaft, die ein Vierteljahrtausend währte, im Volke jenen Geist der Unterwürfigkeit und Sklaverei gezüchtet, der durch alle späteren Phasen bis zum heutigen Tage seine Geschichte bestimmt hat. Denn auch die Sowjetherrschaft ist nichts als ein linker Zarismus. Die Richtung auf den Bolschewismus war übrigens im russischen Bauern von jeher vorbereitet, da das Ackerland jahrhundertelang Gemeindeflur war; auch in der Einförmigkeit und Einheitlichkeit des russischen Flachlandes findet sowohl die duldende Passivität wie die kommunistische Veranlagung des Russen ihr Symbol und ihre Begründung. Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts setzt die große politische Expansion ein. Im Jahre 1480 gelingt es Iwan dem Großen, das Tatarenjoch abzuschütteln; etwa zwei Menschenalter später besetzt Iwan der Schreckliche Kasan und Astrachan; in demselben Jahrhundert beginnt die Eroberung Sibiriens; um 1650 ist bereits der Große Ozean erreicht; 1667 gelangt der größte Teil der Ukraine von Polen an Rußland.
Diesem Volk, das dazu geschaffen schien, sich langsam, aber unaufhaltsam nach Süden und Osten auszubreiten und allmählich die Türkei, Persien, Indien, ja vielleicht selbst China zu verschlucken, hat nun Peter der Große gewaltsam das Antlitz nach Westen gedreht. Sein Lebensziel war ein »Fenster nach Europa«. Es gelang ihm, in dem langen und wechselreichen Nordischen Krieg, in dem Schweden, Dänemark, Sachsen-Polen und er selbst um das dominium Balticum rangen, Livland, Estland, Ingermanland und Karelien zu erwerben, womit er die Ostsee erreichte und Schweden zu einer Seemacht zweiten Ranges herabdrückte. Noch während des Krieges gründete er Sankt Petersburg, das er zu seiner Hauptstadt bestimmte und mit Fabriken, Spitälern, Kasernen, Bibliotheken, Theatern und anderen westlichen Erfindungen ausstattete. Indem er die Aufstände der Strelitzen, die sich unter seinen Vorgängern zu einer allmächtigen Prätorianergarde emporgeschwungen hatten, und die Konspirationen seiner Familie und des unzufriedenen Adels blutig unterdrückte, wurde er der Begründer des eigentlichen Zarismus. Mit ebensolcher Gewaltsamkeit suchte er im ganzen Lande europäische Kultur durchzusetzen. Er berief fremde Offiziere und Kaufleute, Gelehrte und Künstler, verbot die Bärte und die orientalische Kleidung, führte den julianischen Kalender ein, während man bisher von der Erschaffung der Welt gerechnet hatte, erbaute den Ladogakanal, beschränkte die Zahl der Klöster, zog die Frauen aus ihrem bisherigen Haremsdasein, kommandierte den Adel zu Studienreisen ins Ausland und zwang das Volk zum Besuch der neueingerichteten Schulen. Bei all seiner Größe, Weitsichtigkeit und Schrecklichkeit hatte er doch mit seinen steten Tobsuchtsanfällen und epileptischen Krämpfen, seiner nicht ganz stilreinen europäischen Kleidung, die er immer nur wie ein Kostüm trug, und seinen drei ständigen Begleitern: dem Affen auf seiner Schulter, dem grimassenschneidenden Hofnarren und der Flasche mit selbstdestilliertem Schnaps viel von einer grotesken Genrefigur.
Die überstürzte Reform Peters ist, im großen gesehen, für die Russen kein Glück gewesen: sie waren ein Volk, das eben erst sein Mittelalter erreicht hatte, und wurden nun gewaltsam und unvorbereitet in die Lebensbedingungen einer hochentwickelten Barockwelt geschleudert. Es war im Grunde wiederum ein Sieg des cartesianischen Geistes, den der Petrinismus errang, indem er nach einer vorgefaßten Formel in einem Menschenalter eine europäische Großstadt aus der Erde stampfte, einen theokratischen Bauernstaat in einen bürokratischen Seestaat verwandelte und ein Volk von barbarischen Orientalen zivilisierte und verwestlichte. Katharina die Große und die meisten späteren russischen Selbstherrscher haben dieses verkehrte Programm der unorganischen Europäisierung fortgeführt: seine letzte Vollendung aber ist der Bolschewismus. Lenin hat das selber sehr wohl erkannt, indem er Peter den Großen als seinen politischen Ahnherrn bezeichnete und von ihm sagte, er sei der erste Revolutionär auf dem Throne gewesen; aus diesem Grunde widersetzte er sich auch der Umbenennung der Stadt Petrograd. Petrinismus und Leninismus bezeichnen den Auftakt und das Finale eines einzigen großen Vergewaltigungsaktes, der an der russischen Seele verübt worden ist. Hiedurch ist in die Entwicklung dieses Volkes ein tiefer und wahrscheinlich unheilbarer Bruch gekommen. Man überspringt nicht ungestraft ein Jahrtausend. Noch heute ist der Russe innerhalb der europäischen Völkerfamilie der mittelalterliche Mensch. Deshalb gibt es nur in Rußland echten Expressionismus, nur in Rußland echten Kollektivismus und nur in Rußland noch Propheten wie Tolstoj und Heilige wie Dostojewski. Aber da es außerdem in Rußland von Peter dem Großen an auch alle »Modernitäten« der Neuzeit gab, so ist das Leben der russischen Seele seitdem eine einzige große Psychose. In der dumpfen Erkenntnis dieser erschütternden Tatsache haben die Bolschewisten zu dem sonderbaren Mittel gegriffen, daß sie die Seele einfach abschafften: was wiederum echt russisch ist, aber natürlich nur den Anfang einer neuen noch furchtbareren Tragödie bedeutet.
Blicken wir noch einmal zurück, so ergibt sich in großen Zügen folgendes Bild: etwa ein halbes Jahrhundert lang hegt Europa im Schatten des Sonnenkönigs; aber an den Rändern: in Rußland, Preußen, England erstarken insgeheim neue Kräfte, und als Ludwig der Große sein Tagewerk vollendet hat, ist die Welt völlig verändert.
Man muß jedoch auch während der Zeit der absoluten französischen Kulturhegemonie zwischen der Barocke Frankreichs und der des übrigen Europa einen Unterschied machen. Wir haben schon im ersten Buch hervorgehoben, daß Frankreich das einzige europäische Land ist, das die Stilprinzipien der italienischen Hochrenaissance, die man auch die lateinischen oder die klassizistischen nennen kann, voll übernommen und dauernd bewahrt hat. Im Cartesianismus, der dazu bestimmt war, fortan unter gewissen zeitgemäßen Abwandlungen die legitime französische Geistesform zu bleiben, erreichte diese auf Maß, Klarheit und Proportion eingeschworene Lebensrichtung ihren vollendetsten Ausdruck. Indes, die Barocke ist, wie wir im vorigen Kapitel gehört haben, nichts weniger als ein ungebrochener Rationalismus: in ihr lebt ein anonymer Wille zum Rausch und Nebel, zum Zwielicht und Dunkel, eine heimliche Sehnsucht nach den unterirdischen Welten der Seele, in die die Sonne der Raison nie hinableuchtet. Infolgedessen ist die französische Barocke keine reine Barocke und der außerfranzösische Cartesianismus kein reiner Cartesianismus. Frankreich ist und bleibt von der Hochrenaissance an vier Jahrhunderte lang in seiner Grundfaserung klassizistisch: im Calvinismus und im Jesuitismus, in Barock und Rokoko, in Revolution und Romantik; allemal siegt die clarté. Daher ist im Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten der Cartesianismus auf französischem Boden die echte Lokalfarbe des Geisteslebens, in den anderen Ländern aber nur eine feine durchsichtige Lasur. Oder, anders ausgedrückt: in Frankreich bildet durch den Wandel der Zeiten hindurch und daher auch in der Barocke der Cartesianismus den Generalnenner und die Zeitrichtung den variierenden Zähler, im übrigen Europa aber repräsentierte umgekehrt der Barockgeist den Generalnenner, dem der herrschende Cartesianismus nur als modischer Zähler aufgesetzt war. Das Weltgefühl ist in Frankreich ein barock gefärbter Klassizismus, in den anderen Ländern ein cartesianisch imprägnierter Irrationalismus, wir könnten auch sagen: Berninismus. Der Fall war aber noch viel komplizierter, als ihn diese Formel ausdrückt, denn einerseits waren auch die damaligen Franzosen in einem Winkel ihrer Seele echte Barockmenschen und andererseits war allen Zeitgenossen der Rationalismus nicht bloß durch die französische Kulturherrschaft aufgeprägt, sondern von vornherein eingeboren als eine der stärksten Seelenkomponenten des Menschen der Neuzeit.
Es lassen sich einzelne Völker und Zeitalter geradezu nach dem Gesichtspunkt unterscheiden, inwieweit sie die Welt als Realität oder als Schein konzipieren. Das erstere tun alle Naturvölker: für sie ist die Welt etwas, das man teils überwältigt, teils erleidet; und ebenso reagierten die Römer, die aber vielleicht das einzige vollkommen realistische Kulturvolk waren. Bei der zweiten Gruppe gibt es natürlich vielerlei Abarten. Man kann die Welt als Kunstwerk, als schönen Schein konzipieren: als verklärte, enthäßlichte, entschwerte Welt; dies taten die Griechen. Oder als logischen Schein: als vereinfachte, schematisierte, linierte Welt; dies taten möglicherweise die Ägypter. Oder als bloße Halluzination, als pathologischen Schein; dies war der Fall der Inder. Oder als magischen Schein: als Schauplatz übernatürlicher und transzendenter Kräfte; dies war, wie wir im vorigen Buche gesehen haben, die Weltanschauung des Mittelalters.
Alle diese Varianten finden sich in der Barocke bis zu einem gewissen Grade vereinigt. Sie hat, wie wir bereits hervorgehoben haben, das ganze Dasein ästhetisiert, indem sie es als ein Spiel lebte, sie hat den Versuch gemacht, die Realität der Herrschaft der reinen Logik zu unterwerfen, sie hat die Welt in einen Traum aufgelöst und sie hat sie als theatrum Dei empfunden. Und so völlig heterogen diese einzelnen Aspekte erscheinen mögen, so hat sie doch aus ihnen eine Kultur komponiert, die einheitlich war wie wenige.
Eine der stärksten Klammern, die diese Kultur in allen ihren Lebensäußerungen streng zusammenhielt, war zunächst ihr extremer Kultus der Form, in dem sowohl ihr geometrischer Geist wie ihr Wille zur Illusion zum Ausdruck gelangt. Hier ist der Punkt, wo cartesianischer Rationalismus und berninischer Irrationalismus sich schneiden: in beiden lebt der leidenschaftliche Wille, die Form über die Materie triumphieren zu lassen, ja die Materie auf bloße Form zu reduzieren. Die Barocke ist nicht nur eines der formfreudigsten und formgewaltigsten, sondern auch eines der formhörigsten und förmlichsten Zeitalter der Weltgeschichte. Schon in der äußeren Erscheinung zeigt sich das Streben nach steifer Distanz, dessen stärkstes Symbol die Perücke ist; rasche Bewegungen, impulsive Handlungen sind in diesem Kostüm einfach unmöglich: alles, Schritt und Gebärde, Gefühlsausdruck und Körperhaltung, ist in ein geheimes Quadratnetz gebannt. Ebensowenig gibt es ein improvisiertes Reden und Schreiben: die einzelnen möglichen Anlässe sind gegeben und für diese Anlässe sind bestimmte Worte gegeben; andere zu gebrauchen, hätte man nicht für Originalität, sondern für einen Mangel an Geschmack und künstlerischem Takt angesehen. Im Gegenteil: wer am vollkommensten die vorgeschriebenen Regeln erfüllt, gilt als der Geistreichste; denn Geist haben heißt: der Form zum Siege verhelfen. Der Stöckelschuh, die lange Weste, die riesigen Ärmel und Knöpfe: alle diese und ähnliche Details der Kleidung sind dazu da, den äußeren Eindruck der Würde und Gravität zu steigern; aus diesem Grunde kommt damals sogar die Fettleibigkeit in Mode. Betrachten wir die typische Erscheinung des Fettleibigen: den mächtigen geröteten Kopf mit den Backentaschen und dem Doppelkinn, den faßförmigen Unterleib, die langsamen Armbewegungen, den bedächtigen Gang mit hochgehobenem Kopf und nach hinten geworfenem Oberkörper, den ermüdeten und leidenschaftslosen Gesichtsausdruck, so haben wir genau den körperlichen Habitus, der dem Barockmenschen als Ideal vorschwebte. Das Benehmen dicker Menschen wirkt oft, ohne daß sie es beabsichtigen, affektiert; diese Menschen aber wollten affektiert wirken oder vielmehr: wo bei uns die Manieriertheit anfängt, begann in ihren Augen erst die Manierlichkeit. Eine ähnliche Rolle wie Perücke, Staatsrock und gespreizte Körperhaltung spielte der von einem mächtigen Knopf gekrönte Stock, der kein Utensil, sondern ein Ausstattungsstück war und auch im Salon nicht abgelegt wurde.
Da die Form in einem gewissen Grade erlernbar ist, so setzte sich damals die Ansicht fest, daß alles durch Fleiß und Studium erworben werden könne oder doch zumindest zum Gegenstand einer höchst bewußten, streng wissenschaftlich fundierten Virtuosität gemacht werden müsse. Es ist die Blütezeit der Poetiken und der »korrekten« Kunstwerke, der Gemälde, Gärten, Dramen, Abhandlungen, die wie mit Zirkel und Lineal entworfen sind. Die stärkste und wesentlichste Funktion des Verstandes besteht aber darin, daß er analysiert, und das heißt: auflöst, trennt, scheidet, isoliert. Und in der Tat kann man bemerken, daß es in jener Zeit eigentlich nur einzelne Individuen gibt. Die Menschen bilden untereinander bloße Aggregate, keine wirklichen Verbindungen. Die Zünfte sind aufs äußerste detailliert und aufs strengste voneinander gesondert: der Brotbäcker darf keine Kuchen backen, der Schmied keine Nägel fabrizieren, der Schneider keine Pelze verkaufen; Sattler und Riemer, Schuster und Pantoffelmacher, Hutmacher und Federnschmücker sind getrennte Gewerbe. Die Hierarchie der Stände wird aufs peinlichste betont. Der Hof ist von den übrigen Menschen vollständig abgeschlossen. Und über diesem steht, wiederum gänzlich losgelöst, absolut der Herrscher. Diese Verhältnisse bringt auch die Gesellschaftstheorie zum Ausdruck, die den Staat durch freiwilligen Zusammenschluß vollkommen selbständiger Einzelpersonen entstehen läßt. Ferner gelangt die atomistische Naturerklärung zur allgemeinen Anerkennung, die das gesamte physische Geschehen in eine Bewegung isolierter kleinster Massenteilchen auflöst. Und auch die gewaltigste Leistung des Zeitalters, die Gravitationstheorie, ist im höchsten Maße repräsentativ für das damalige Lebensgefühl: die Newtonschen Weltkörper berühren sich nicht, sondern ziehen, durch geheimnisvolle Fernkräfte gelenkt, einsam durch den leeren Weltraum; denn wenn Newton auch die actio in distans nicht ausdrücklich gelehrt hat, so hat doch der Glaube an sie seine ganze Schule beherrscht, die diesen Begriff aus seinem System ganz folgerichtig ableitete, ja es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß Newton sich auch die Atome durch unendlich kleine, aber unüberbrückbare Zwischenräume getrennt dachte.
Von der Malerei könnte man glauben, daß sie ein entgegengesetzes Weltgefühl zum Ausdruck bringt; aber es scheint nur so. Wir sagten im vorigen Kapitel: die Barocke verwischt die Kontur. Sie macht sie unbestimmt und undeutlich; aber sie löst sie noch nicht auf. Man kann die Figuren nicht mehr mit dem Messer aus dem Bild herausschneiden, aber die Lichtaura, in der der Umriß verschwimmt, isoliert noch immer: als Grenzzone, wenn auch nicht mehr als Grenzlinie. Das Licht der Barockmaler ist noch immer an die Objekte gebunden, die es umspielt, es ist noch kein völlig gelöstes, selbständiges, freies Licht, noch kein Freilicht. Jedes Objekt lebt als Monade in seinem geheimnisvollen Strahlenkegel, unbestimmt, unendlich, »infinitesimal«, ein kleines All, aber für sich. Seine Harmonie mit den anderen Objekten ist noch ganz so wie in der Renaissance von außen prästabiliert durch den Künstler, nur schwankender, schwebender, problematischer, mystischer: »religiöser«.
Eine Disziplin ist überhaupt erst damals zum Range einer Wissenschaft emporgestiegen: die Mechanik. Das ist sehr bezeichnend, eine Sache vollkommen verstandesmäßig erklären, heißt, sie mechanisch erklären. Das Ideal, das der Zeit vorschwebte, bestand nun darin, das mechanische Prinzip auf das Leben und den gesamten Weltlauf auszudehnen, um auch diesen ganz wie eine Maschine auseinandernehmen, in allen seinen Teilen erklären und in allen seinen Bewegungen ausrechnen zu können. Hiemit hängt es zusammen, daß für jene Menschen das Benehmen und Aussehen einer mechanischen Drahtpuppe zum Vorbild diente. Dies ist zunächst ganz wörtlich zu nehmen: die Reifröcke, Schöße, Westen, Ärmelaufschläge, Perücken waren mit Draht ausgesteift. Und damit stoßen wir auf eine Tatsache, die vielleicht den Schlüssel zur Barockseele enthält: ihre platonische Idee ist die Marionette. Die starren Gewänder, die den Eindruck des dreidimensionalen Menschenkörpers auf die Linienwirkung zu reduzieren suchen, die tiefen abgezirkelten Verbeugungen, die gewollt eckigen Bewegungen, die geometrische Haltung beim Stehen und Sitzen, die stets nach der Winkelform tendiert, die ungeheure tote Perücke, die dem Kopf etwas Grimassenhaftes verleiht: dies alles führt uns unwillkürlich zur Vorstellung einer Gliederpuppe. Descartes hatte die Behauptung aufgestellt, daß der menschliche Körper eine Maschine sei. Und Molière hat diese mechanistische Psychologie dramatisiert: seine Figuren sind gespenstische Automaten, die er von außen in Bewegung setzt. Dies geht bis zur Behandlung des Dialogs, der sich mit Vorliebe in kurzen Sätzen und Gegensätzen, in einem unerbittlichen Staccato, einer scharfen gehackten Klöppelmanier bewegt; diese überaus wirksamen Rededuelle erinnern an die allbekannten zwei Blechwurstel, die an einer Pumpe ziehen: drückt man den einen hinunter, geht der andere in die Höhe und umgekehrt. Und auch die Handlung gehorcht einer vollkommen mechanischen Kausalität, die phantastisch und grotesk wirkt, gerade weil sie so prompt und exakt funktioniert, wie es die des Lebens nie tut: es ist eine arithmetische, eine abgekartete, eine Schachkausalität.
Es wäre nun, wie man schon an dem Beispiel Molières sieht, höchst verkehrt, mit dem Begriff der Marionette ohne weiteres den der Geistlosigkeit und Seelenlosigkeit zu verbinden. Kleist hat das Problem des Marionettentheaters in einer ungemein geistreichen kleinen Abhandlung vom Jahre 1810 »Über das Marionettentheater« in sehr aufschlußreicher Weise behandelt. Er sagt darin, die Marionette besitze mehr Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit als die meisten Menschen, weil sich bei ihr die Seele immer im Schwerpunkt der Bewegung befinde: »da der Maschinist vermittelst des Drahtes keinen anderen Punkt in der Gewalt hat als diesen, so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollten, tot, reine Pendel und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere«; in einem mechanischen Gliedermann könne mehr Anmut enthalten sein als in dem Bau des menschlichen Körpers, ja es sei dem Menschen schlechthin unmöglich, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen; und er schließt mit den Worten: »Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. Doch so, wie ... das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt, so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so daß sie zu gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten scheint, der entweder gar keins oder ein unendliches Bewußtsein hat, das heißt, in dem Gliedermann oder auch in dem Gott.« Solche Götter begehrten die Barockmenschen zu sein; aus ihrem »unendlichen Bewußtsein«, aus einer fast schmerzhaften Schärfe und Überhelle des Denkens schufen sie sich das Ideal der Marionette, in der, wie Worringer einmal hervorhebt, »Abstraktion einerseits und stärkster Ausdruck andrerseits« vereinigt sind. Die Marionette ist zugleich das abstrakteste und das pathetischste Gebilde: in dieser Paradoxie sammelt und löst sich das Rätsel des Barockmenschen.
Aber weil nun jeder Mensch damals vollkommen solitär lebte, bildete er auch sein Eigenleben zu einer bis dahin unerhörten Feinheit und Kompliziertheit aus. Jeder war zwar nur eine Welt für sich, aber eben eine Welt, ein Mikrokosmus. Es ist nichts weniger als ein Zufall, daß gerade damals das Mikroskop zu einer solchen Bedeutung gelangte. Ein neues Reich des unendlich Kleinen tat sich auf, eine Fülle der erstaunlichsten Perspektiven, alle gewonnen durch die liebevolle Versenkung ins unendliche Detail. In denselben Zusammenhang gehört die Infinitesimalrechnung. Und was noch wichtiger war: auch auf dem Gebiet der Psychologie erwarb man sich das Witterungsvermögen für Differentiale. Wie die Kugel begriffen wird aus der Summe unzähliger Kegel, so begann man damals die menschliche Seele zu begreifen als den Inbegriff zahlloser kleiner Vorstellungen: eine Art Seelenmikroskopie entstand, die freilich nicht selten auch in geistige Myopie ausartete. Etwas Tüfteliges und Mikrophiles, eine übertriebene Vorliebe für die Miniatur und Niaiserie liegt dem Barockmenschen im Blute. Mit einer beispiellosen Beseelung gerade der starrsten und monumentalsten Kunst: der Plastik, die zum Ausdrucksmittel für leidenschaftlichste Verzückungen, zärtlichste und subtilste Erregungen wird, verbindet sich ein fast pathologischer Hang zur Kleinkrämerei: wohin man blickt, ein Gewirr von Säulen, Knöpfen, Kartuschen, Girlanden, Muscheln, Fruchtschnüren. Auch die Natur wird verkräuselt und verzierlicht: die Gärten sind angefüllt mit Kaskaden, Terrassen, Grotten, Urnen, Glaskugeln, »Vexierwässern«; das Kostüm strotzt von Passamenterien, Spitzen, Tressen, Brokat; die Umgangssprache bewegt sich in künstlich gefeilten Wortspielen und spitzfindigen Antithesen. Sogar im Gesicht findet sich ein Ornament: das unentbehrliche Schönheitspflästerchen. Das ganze Weltbild der Zeit ist ein Mosaik aus »perceptions petites«, aus unendlich kleinen Vorstellungen, und jeder Mensch ist eine Monade, in sich abgeschlossen, ohne Fenster, allein auf seinem Sonderplatz in einem sorgfältig abgestuften Kosmos, der, in allem prästabiliert, vorherbestimmt, seinen mechanischen Lauf nimmt wie ein Uhrwerk und darum für die beste aller Welten gilt. Denn man war tief innerlich überzeugt: das Bewundernswerteste und Prächtigste, das Kunstvollste und Geistreichste sei eben doch eine gutgehende Uhr.
Wie man bereits bemerkt haben wird, haben wir uns einiger Ausdrücke bedient, die der Philosophie Leibnizens entnommen sind. Und in der Tat: niemand hat den Sinn der Barocke tiefer und vollständiger zum Ausdruck gebracht als Leibniz in seiner Monadenlehre. Hier steht der Mensch der Zeit vor uns, losgelöst von äußeren Zufälligkeiten, in seinem innersten Wesenskern erfaßt. Leibniz war der vollkommenste Barockmensch schon in seiner schriftstellerischen Form, ein philosophischer Pointillist, der eine Art Spitzengeklöppel des Geistes betrieb, und in seinem Charakter, der bizarr, schrullenhaft, genrehaft, »barock« im heutigen Wortsinn war, ja sogar in seiner äußeren Gestalt, die von einem riesigen Kahlkopf mit einem Gewächs in der Größe eines Taubeneis gekrönt war. Auch seine in einer einzigartigen Vielseitigkeit begründete Vielgeschäftigkeit, die ihn niemals dazukommen ließ, seine Kräfte in einem großen Hauptwerk zu sammeln, ist echt barock. Diderot sagte von ihm: dieser Mann bedeutet für Deutschland so viel Ruhm wie Platon, Aristoteles und Archimedes zusammengenommen für Griechenland, und Friedrich der Große erklärte, er sei für sich allein eine ganze Akademie gewesen, hierin, wie in so vielem, anderer Meinung als sein Vater, der äußerte, Leibniz sei ein Kerl, der zu gar nichts tauge, nicht einmal zum Schildwachestehen.
Er erfand, unabhängig von Newton, die Differentialrechnung zum zweitenmal, verbesserte sie erheblich in ihrer Anwendung und gelangte mit ihrer Hilfe zu der Formel m v 2/2 für die Bewegungsenergie, von welcher er bereits erkannte, daß ihre Quantität im Weltall immer dieselbe bleibe, beschäftigte sich mit Bergbau und Geognosie und schrieb eine Urgeschichte der Erde, beteiligte sich an der Darstellung des Phosphors, arbeitete an der Verbesserung der Taschenuhren und der Erfindung von Schiffen, die gegen den Wind und unter Wasser fahren können, begann eine kritische Geschichte des Welfenhauses und edierte große Sammlungen mittelalterlicher Geschichtsquellen und völkerrechtlicher Urkunden. Außerdem verfaßte er eine Reihe hervorragender politischer Denkschriften, darunter eine an Ludwig den Vierzehnten, worin er ihm mit bewundernswertem historischen Weitblick den Plan zur Eroberung Ägyptens unterbreitete, der erst fünf Vierteljahrhunderte später von Napoleon zur Ausführung gebracht worden ist, und bemühte sich in umfangreichen Briefen und Programmen um die Vereinigung der lateinischen und der griechischen, der katholischen und der protestantischen, der lutherischen und der reformierten Kirche und um die Stiftung gelehrter Sozietäten in Berlin, Dresden, Wien und Petersburg, womit er seinen höchsten Traum, die Begründung einer europäischen Gelehrtenrepublik, zur Verwirklichung zu bringen hoffte. Man kann sagen, daß es schlechterdings nichts gab, dem er nicht sein belebendes Interesse zugewendet hätte. Er sagte selbst einmal von sich: »Es klingt wunderbar, aber ich billige alles, was ich lese, denn ich weiß wohl, wie verschieden die Dinge gefaßt werden können.« In dieser weitherzigen, humanen und im Grunde künstlerischen Billigung alles Seienden wurzelte seine unvergleichliche Universalität und seine ganze Philosophie. Er stand in Korrespondenz mit zahlreichen hervorragenden Zeitgenossen, unter anderen mit Arnauld, Bossuet, Malebranche, Bayle, Guericke, Hobbes, und in diesen Briefen, die er mit der größten Sorgfalt, oft dreimal ausarbeitete, sowie in Aufsätzen, die er in die führenden gelehrten Zeitschriften, besonders in die »Acta eruditorum« und in das »Journal des Savants«, schrieb, ist seine Philosophie niedergelegt. Zu seinen Lebzeiten ist nur ein einziges Buch von ihm erschienen, die »Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal«.
Friedrich der Große hat in geistreicher Übertreibung Leibnizens System einen philosophischen Roman genannt. Es ist ein vielteiliges, umfangreiches und völlig durchkomponiertes Gebäude, aber übersät mit Schnörkeln und Ornamenten; ein tiefsinniger Irrationalismus, aber ein aus dem Verstand geborner. An die Spitze der Leibnizischen Philosophie könnte man das faustische Wort stellen: »Im Anfang war die Kraft.« Kraft ist das Grundwesen aller Geister und Körper. Es liegt aber in der Natur der Kraft, daß sie tätig und immer tätig ist und daß sie durch diese Tätigkeit sich selbst, ihre Eigenart ausdrückt: also ist Kraft Individualität; daß sie Leben ist: also gibt es in der Welt nichts Unfruchtbares und Totes. Jedes Stück Materie kann als »ein Garten voller Pflanzen oder ein Teich voller Fische« angesehen werden, und »jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen Feuchtigkeit ist immer wieder ein solcher Garten und ein solcher Teich«. Jede solche Welteinheit, von Leibniz »Monade« genannt, ist »un petit monde«, »un miroir vivant de l'univers«, »un univers concentré«: sie hat keine Fenster, durch die etwas in sie hineinscheinen könnte, vielmehr ist sie ein Spiegel, der das Bild des Universums aus eigener Kraft, »actif« hervorbringt. Diese Monaden bilden ein Stufenreich. Es gibt so viele Monaden, als es Unterschiede des klaren und deutlichen Vorstellens, Grade der Bewußtheit gibt. In dieser durch unendlich kleine Differenzen ansteigenden Reihe gibt es keinen Sprung und keine Wiederholung. »Wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer ganz anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so kann durch die zahllose Menge der Monaden der Schein entstehen, als gäbe es ebenso viele verschiedene Welten, die doch nur Perspektiven einer einzigen Welt sind, nach den verschiedenen Gesichtspunkten der Monaden.« Diese leibnizischen » points de vue« hat die Barockmalerei mit ihrer neuen Technik des Abschattierens, der Perspektivik und des Helldunkels zum erstenmal auf die Leinwand gebracht.
Die großartigste und fruchtbarste Konzeption Leibnizens ist aber seine Theorie von den bewußtlosen Vorstellungen. Er unterscheidet zwischen bloßer und bewußter Vorstellung, zwischen » perception« und » apperception«, und erläutert diesen Unterschied am Wellengeräusch. Das Brausen des Meeres setzt sich aus den einzelnen Wellenschlägen zusammen. Jedes dieser Einzelgeräusche ist für sich zu klein, um gehört zu werden, es wird von uns zwar empfunden, aber nicht bemerkt, perzipiert, aber nicht apperzipiert. Die Empfindung, die von der Bewegung der einzelnen Welle hervorgerufen wird, ist eine schwache, undeutliche, unmerklich kleine Vorstellung, » une perception petite, insensible, imperceptible«. Ebenso gibt es in unserem Seelenleben zahllose verhüllte, dunkle, gleichsam schlafende Vorstellungen, die zu klein sind, um in den Lichtkreis des wachen Bewußtseins treten zu können, sie spielen dieselbe Rolle wie die winzigen Elementarkörper, aus denen die sichtbare Natur aufgebaut ist, sie sind gewissermaßen die Atome unseres Seelenlebens. Gerade diese » perceptions petites« sind es aber, die jedem Individuum das Gepräge seiner Eigentümlichkeit verleihen, sie sind es, wodurch sich ein Mensch von allen anderen unterscheidet. Eine jede von ihnen läßt in unserer Seele eine leise Spur zurück, und so reiht sich in geräuschloser Stille, von uns unbemerkt, Wirkung an Wirkung, bis der einmalige Charakter da ist. Der Schritt, den die leibnizische Psychologie hier über die cartesianische hinaus tut, ist ungeheuer.
In einer Welt, die sich derart schrittweise vom Kleinsten zum Größten, vom Niedersten zum Höchsten entwickelt, kann es nichts Überflüssiges, nichts Schädliches, nichts Unberechtigtes geben: darum leben wir in der »besten der Welten«. Gott, dessen Wesen Wahrheit und Güte ist, hat sie eben darum unter allen möglichen gewählt. Da die Welt aus Monaden, und das heißt: aus Individuen zusammengesetzt ist, das Wesen des Individuums aber in der Beschränktheit besteht, so folgt daraus nicht nur die Existenz, sondern sogar die Notwendigkeit des Übels, das nichts anderes ist als eine Beschränktheit oder Unvollkommenheit, entweder eine physische oder eine moralische. Ohne Unvollkommenheit wäre die Welt nicht vollkommen, sondern sie wäre überhaupt nicht. Die Übel in der Welt lassen sich den Schatten in einem Gemälde, den Dissonanzen in einem Musikstück vergleichen. Was als Einzelheit verworren und mißtönend erscheint, wirkt als Teil des Ganzen schön und wohlklingend: eine Argumentation, die sich, wie wir uns aus dem ersten Buche erinnern, schon bei Augustinus findet. Da Gott vollkommene Wesen nicht schaffen konnte, so schuf er Wesen, die von Stufe zu Stufe vollkommener werden: nicht perfekte, sondern perfektible. Auch der größte Künstler ist an sein Material gebunden: statt einer absolut guten Welt, die schlechterdings unmöglich ist, schuf Gott die beste Welt, das heißt: die bestmögliche. In dieser Welt ist alles durch die göttliche Weisheit vorherbestimmt und durch die göttliche Schöpferkraft in Harmonie gesetzt: durch diese alles durchwaltende prästabilierte Harmonie enthüllt sich die Welt als Kunstwerk. Aber Leibniz gibt diesem Gedankengang eine echt barocke Wendung, indem er das Kunstwerk einem Uhrwerk gleichsetzt. So versucht er auch eines der Hauptprobleme der zeitgenössischen Philosophie, die Korrespondenz zwischen Leib und Seele zu erklären: sie verhalten sich wie zwei Uhren, die so vorzüglich gearbeitet sind, daß sie immer genau die gleiche Zeit angeben.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob die Barocke, die in Leibniz kulminiert, einfach die Tendenzen der Renaissance fortsetzen würde, indem sie bemüht ist, das Dasein immer mehr zu logisieren. Und in der Tat: sie geht sogar noch einen beträchtlichen Schritt weiter, indem sie mechanisiert. Aber die Barocke ist ein viel verschränkteres, zwiespältigeres, änigmatischeres Problem als die Renaissance: ihr Seelenleben ist ungleich labyrinthischer, versteckter, mehrbodiger, hintergründiger, man möchte fast sagen: hinterhältiger. Sie flieht ruhelos und unbefriedigt zwischen zwei Polen hin und her: dem Mechanischen und dem Unendlichen, das sie sich als Korrelat erfindet zu einer rein mechanischen Welt, in der sie es nicht aushielte. Sie, und sie zuerst, empfindet infinitesimal.
»Es ist«, sagt Wölfflin in seinen entscheidenden Untersuchungen über »kunstgeschichtliche Grundbegriffe«, »als hätte der Barock sich gescheut, jemals ein letztes Wort auszusprechen.« Er getraut es sich nicht, er fürchtet, sich damit irgendwie zu binden, seine Scheu vor endgültigen Zusammenfassungen ist ein Produkt sowohl seines Freiheitsdranges wie seiner Frömmigkeit, denn wie der Jude den Namen Gottes nicht auszusprechen wagt, so schreckt auch der Barockmensch davor zurück, die letzten Rätsel der Natur, des Lebens, der Kunst in eine eindeutige Formel zu bannen. Hinter seinen scheinbar so klaren und scharf umrissenen Formulierungen steht immer noch ein Unausgedeutetes, Nieauszudeutendes. Das Weltall ist ein Mechanismus, nach streng mathematischen Gesetzen bewegt; aber durch mysteriöse Fernkräfte. Die menschliche Seele ist ein Uhrwerk; aber aufgebaut aus den irrationalen perceptions petites, die sich unserer wachen Beobachtung entziehen. Die menschliche Gestalt erscheint auf der Leinwand so lebenswahr erfaßt wie noch nie vorher; aber umspült von einem Astralschimmer, der sie wieder unfaßbar und tausenddeutig macht. Das äußere Gehaben des Menschen erlangt die Präzision eines Puppentheaters; aber zugleich dessen magische Unwirklichkeit. So zieht die Barockmenschheit an uns vorüber wie ein wohlgeordneter hellerleuchteter Maskenzug, der aber sein wahres Gesicht verbirgt, vor uns und vor sich selbst. Hierauf beruht der hohe ästhetische Reiz, der die Barocke umwittert und über die früheren und späteren Entwicklungsperioden der Neuzeit hinaushebt. Sie weiß trotz ihrer hochgespannten Intellektualität, daß das Leben ein Geheimnis ist.