Ilse Frapan
Arbeit
Ilse Frapan

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Buch

Josefine an Helene

Am Vorabend.

Liebe und vertraute Leni!

Dein dringlicher Brief ist schon drei Monate alt und noch immer unbeantwortet. Verzeih!

Du fragst, was sich bei uns ereignet habe seit den letzten vier Jahren – ja, sind es schon vier Jahre, daß du von hier fort bist? Mein Leben ist ein Wirbel, ich kann den Lauf der Tage nicht verfolgen, der Lauf der Jahre entgeht mir ganz. Wenn ich die Kinder ansehe, dann weiß ich's, daß die Zeit vergeht, sonst fühl ich nur »des Dienstes immer gleichgestellte Uhr«.

Liebste Leni, mein Uli war hier, eine ganze Woche! Du würdest ihn lieb haben, er entwickelt sich wunderbar, ganz meines Vaters Frische und Geradheit, wie er auch sein Gesicht hat. Mein Rösli hat ein Jahr lang gelegen, denk es! Sie ist zu schnell gewachsen, zu weich in den Knochen, Schlingpflanze – es ist mir oft unbeschreiblich bang um sie. Das ist keine, die ihren Weg macht, es sei denn durch ein Talent. Sie schreibt Verse, hat Temperament und Phantasie, wie aus einem anderen Himmelslicht, steckt voll süßer sentimentaler Dummheiten! – Wie oft hast du mir vorgeworfen, mir gesagt: »Du hast keinen Wirklichkeitssinn.« Nun, das war dahingestellt, aber dies Kind Rösi hat wahrlich keinen, Gott sei's geklagt!

Hermann studiert Theologie, es ist sein Wunsch und der seines Vaters ...

Ach, Leni, diese Kinder, über denen ein Schicksal schwebt!

Georges ... aber das interessiert dich wohl nicht ...

Das ist's, was sich bei uns ereignet, so im allgemeinen gesprochen. Auf Näheres einzugehen, hat keinen Zweck.

Meine liebe Leni, wie freut mich dein Bericht. Du bist gesund, arbeitest, strebst für die Frauen, ich fühle mit dir und wünsche dir Gutes.

Siehst du wohl, du kannst dich nicht entschließen, dich mit Lothar zu vereinigen, aus dem Grunde, weil er verwachsen ist! Du sprichst von deiner Verpflichtung als Weib, Gesundes zu vererben, nicht Krankes. Aber Schatzeli, denkt's dir noch, wozu du mir geraten einmal? Mir kam es wieder in den Sinn jetzt, und ich hab gelacht. Ein wenig stumpfsinnig warst du doch damals, liebe Leni, gibst du's jetzt zu? Übrigens, die Buckel sind nicht erblich, Schatzeli, dieser Skrupel fällt dahin. Liebst du Lothar – – 159 aber was red ich – meine weise Leni liebt überhaupt keinen Mann, nicht wahr? B'hütis!

Leneli, ich hab etwas Gutes gefunden! Ich drucksele seit fünf Jahren an dem Wunsch, öffentlich zu sprechen. Endlich, endlich muß es probiert werden.

Morgen Abend in der »Eintracht« mach ich den ersten Versuch. Mir ist fast schwindelig bei dem Gedanken und so froh wie vor dem ersten Ball oder vor noch Ärgerem – meiner Hochzeit oder so.

Fragst nach meinem Programm? Oh, das ist sehr lang und sehr kurz! Kampf gegen verstaubte und versteinerte Autoritäten im Leben und in der Wissenschaft, weiter ist es nichts! Auf Schritt und Tritt sind wir ja umgeben von diesen unsterblichen Götzenbildern – unsterblich deshalb, weil sie von Stein und Dunst und Trägheit gewoben sind, und weil Dummheit und Grausamkeit ihre Priesterinnen heißen. Aber sie sollen doch fallen, stürzen müssen sie und zusammenkrachen, und gesegnet jede Hand, die Hand mit anlegt!

Du siehst, ich bin nicht blöde, ich bin nicht überbescheiden. Ich werde mir zunächst die Autorität in der Familie aufs Korn nehmen, da, wo sie am wildesten und am verderblichsten wuchert!

Als Medizinerin seh ich nur zuviel. Wärst du hier, ich tät alles an dich hinschwatzen, und du würdest kritisieren und schimpfen wie gewöhnlich. Das wäre einmal nett.

Ob's wohl auch anderen so merkwürdig zu Mute ist vor ihrer ersten öffentlichen Rede? Hat niemand seine Sensationen über diesen Punkt niedergeschrieben? So viel kommt hier zusammen, weißt du! Innerliches, aber auch Äußerliches. Ich fand mein Haar zu lang und ließ es stutzen; ich wollte eine rote Krawatte anstecken, aber Rösi will, daß ich ein Sträußchen rote Nelken trage – ich, die seit zehn Jahren keine Blume getragen hat! Wird mir das Wort gehorchen? Wird es mir nicht in der Kehle stecken bleiben wie das Wasser in einer zu vollen Flasche? Wird meine Stimme ausreichen? Wird sich das Band der Sympathie weben zwischen mir und den Hörern, ohne das alles ein totes Gerede bleibt? Meine Hörer sind herrlich, das beste Auditorium, das denkbar ist. Ich kenne sie von manchem Abend her, diese Arbeiter und Arbeiterinnen, kenne ihre gespannten gläubigen Augen, ihre feurige und andächtige Bereitwilligkeit. Sie nehmen so auf, wie durstige Pflanzen dem Tau ihre Blätter hinbreiten.

Liebe Leni, ich habe aus meinen Sorgen zwei oder drei Bündel gemacht und sie in die Ecken geschleudert. Ich werde starken Tee trinken vor meinem Vortrage und in die Sonne gehen, damit ich warm werde, ganz warm und hell. Und dann werde ich mit warmer, heller Stimme meine Freunde rufen.

Werden sie mir antworten? Einige frühere Patientinnen kommen auch hin, sie freuen sich, wie sie sagen, die guten Dinger.

Wünsche mir Glück. 160

Deine Josy.

 

Helene an Josefine

Liebste Freundin!

Dein Brief voll Jugendschwung hat mich nicht mehr in Berlin erreicht, sondern hier in dem freundlichen Münden, wo ich bei Lothars Mutter Sommerfrische halten will.

Ich muß dir nur gleich mitteilen, liebe Josy, daß ich Lothar mein Jawort gegeben habe. Im Prinzip bin ich ja längst mit ihm einverstanden, und wenn es auch keine vulkanische Leidenschaft ist, die uns verbindet, so haben wir uns doch sehr gern und denken, daß unser neues Verhältnis unserer alten Freundschaft keinen Abbruch tun wird.

Zur Hochzeit kommen wir nach Zürich, du mußt dabei sein. Nachher mieten wir uns ein, am Dolder irgendwo; – ich denke es mir sehr hübsch, in Lothars Begleitung all unsere alten Plätze wieder aufzusuchen und besonders das Haus »Zum grauen Ackerstein«, wo ich so viel treue Freundschaft erfahren habe. Du verzeihst mir wohl, daß ich Lothar in deine Geschichte eingeweiht habe. Es konnte nicht gut vermieden werden. Seiner Teilnahme darfst du jedenfalls sicher sein. Im übrigen hält er dich für einen weiblichen Don Quixote, wie ich auch, liebste Josefine. Sonderbar, ich habe oft gelächelt, manchmal sogar gelacht, wie du weißt, über deinen Eifer, dir das Leben sauer zu machen, wo jeder andere vernünftige Mensch sich's möglichst süß machen will. Aber dann, wenn ich so über dich nachdenke, stehst du vor mir so hoch – und dem Lothar scheint es auch so zu sein. Geht es mir wie gewöhnlich, dann denke ich nicht an dich, Josy, du weißt, ich bin ganz offenherzig. Aber wenn es mir sehr schlecht oder, wie in diesem Augenblick, sehr gut geht, dann bekomme ich eine wahre Sehnsucht nach dir und bin ganz niedergeschlagen, daß ich nicht zu dir kann.

Siehst du, solch eine Liebeserklärung hab ich noch niemand gemacht – sie sieht mir fast nicht ähnlich – was meinst du?

Was hörst du von Bernstein?

Schreibt Zwicky dir nie?

Und Loginowitsch?

Meine ganze Jugend liegt dort, im »Grauen Ackerstein«, im unvergeßlichen Zürich! Ich komme mit Lothar hin und will sie mir wiederholen! Man hetzt sich zu Tode in der Weltstadt und lebt doch nicht. Ich bete Berlin an und hasse es.

Liebe Josefine, stärke mich mit deiner Kraft! ich fühle mich oft so müde, so altbacken, so eingetrocknet. Und das ist nun Braut. Glücklicherweise ist Lothar noch viel 161 müder, altbackener und eingetrockneter als ich. Aber ein feiner Philolog ist er und scharf in der Dialektik, da kann ich mich verstecken – huh! Wir gedenken ein Knabenpensionat zu gründen, für Ausländer, die gut zahlen. Ich übernehme die Mathematik. Mit Knaben werde ich sehr gut fertig. Wo – ist noch unbestimmt. Vielleicht in Zürich?

Wir freuen uns darauf, dich reden zu hören! Einzige Josy du, mit roten Nelken, feuerroten natürlich, in der feuerroten Volksversammlung! Im Grunde bekümmert es mich zwar sehr, daß du ganz in das äußerst Radikale gerätst, du bist doch aus so guter bürgerlicher Familie! Aber mit dir zu streiten lohnt nicht, du wirst nie etwas anderes tun, als was du willst. Bringe nur deinen Mann nicht mit in die »Eintracht«, wenn wir kommen, hörst du? Dann wird aus der Eintracht eine Zwietracht, denn wir zwei hassen uns nun mal, dein Mann und ich.

Schreibe doch, was er tut – von ihm möchte ich vor allem wissen.

Weißt du warum?

Grüße ihn und die Kinder. Rösi muß aber angehalten werden, du verliebte Mutter! Das sollte unsere Tochter sein. Sei herzlich umarmt von

deiner Helene Begas.

Gehorsamste Grüße sendet Ihnen, verehrte gnädige Frau, Ihr ergebener

Lothar Bröker,
Gymnasialoberlehrer.

 

Plattner an seine Tochter Josefine

Mein gutes Kind!

Meine kurze Meldung an dich von vorgestern muß ich leider heute bestätigen. Léon ist ruiniert, und – um dir's gleich zu sagen, mein ganzes Kapital ist mit verloren! Es geschieht mir recht; die großen Zinsen haben mich hineingekriegt, so gut wie die anderen. Aber, ich gedachte, dir einmal etwas Ordentliches zu hinterlassen, drum hab ich nach der Leimrute geluget – und so geschieht mir eigentlich nicht recht, sondern unrecht.

Der Herr Bankdirektor hat nicht dirigiert, der Herr Aufsichtsrat hat nicht beaufsichtigt – von dem Albert steckt auch das Hauptvermögen in der Sach. Sauerei! Eine Wut hab ich! eine Wut!

Sorg dich nur nicht um mich oder um den Uli, Kind; so lang ich arbeitsfähig bin, langt's ja zu allem. Aber dir hatt ich's zugedacht – du solltest's einmal in die Hände bekommen, was dein Vater zusammengeschafft – es kränkt mich, nicht zum Sagen.

162 Gelt du, Josy, das Kapital für dein Studium war doch meine klügste Anlag! Bist jetzt selbständig, hast gute Praxis, kannst Mann und Kinder ernähren. Gott segne dich, mein gutes Kind!

Mich wundert's fast, wie du's schaffst. Lese auch von Vorträgen, die du den Arbeitern hältst. Schön und gut, aber bitt dich, übertreib's nicht, Josy. Der Mensch ist kein Pferd. Mir ist's grad jetzt – briegen möcht ich wie 'n altes Weib, daß du keinen Centime von mir kriegen wirst. Es wär denn, der Herrgott schenkte mir noch zehn Arbeitsjahre!

Aber meine Schwiegersöhne sind flott, gelt du? Man weiß nicht, welches daß der Liebere ist! Saukerle, alle miteinander! Das heißt, vom Albert weiß man nichts anderes, als daß er den ganzen Aufsichtsrat gestimmt hat zur Vertrauensseligkeit, aber das ist Haufen genug! Und, nicht wahr, mit Rechtem ist doch auch der Albert nicht zu seinem Millionenbesitz gelangt. Vier Villen hat der Kauz: – eine in Flüelen, eine in Menaggio, eine in Lauterbrunnen, eine bei Zürich. Doch halt – hatte muß es heißen. Ob er heut noch 's Dach überm Kopf hat – wer kann's sagen.

Der Léon soll sich fortgemacht haben, denk auch! Doch heißt's, es sei ihm nichts anzuhaben. Jetzt – was so ein flüchtiges Bankdirektorshirn ausbrüten kann, der Léon wird's ausbrüten, und der Herr Aufsichtsrat wird ihm schon soufflieren, wo er stecken bleibt; gib Obacht! 's ist halt sehr verdächtig.

Dein gebeugter Vater.

 

Adele an ihre Schwester Josefine

Privatim und in Eile.

Geliebte teure Fifi!

Eine arge Komplikation in Léons Geschäften ist eingetreten, und unübersehbare Wirren stehen noch bevor. Mein Mann braucht Sammlung an einem unbekannten Ort. Bei euch könnte ihn niemand finden, dort wird man ihn nicht suchen, weil es ja allgemein bekannt ist, daß kein Verkehr zwischen uns besteht. Es handelt sich um einige Tage, dann muß sich alles aufklären. Schreibe mir sofort, ob du Léon verstecken kannst, ich würde mich dir in jeder Weise erkenntlich zeigen!

Adele.

 

Marie an ihre Schwester Josefine

Einzig geliebteste Josefine!

163 Zu dir komme ich in meiner Angst, weil ich niemand so vertrauen kann wie dir, Teure, Schwester! Mit Albert ist etwas passiert, und er wird gesucht, aber er will sich nicht finden lassen, er sagt, es sei noch nicht gut, lieber später – er möchte gern zu euch, es ist ja stadtbekannt, daß wir nie zusammenkommen, und bin ich schon oft deswegen gefragt worden. Aber Not bricht Eisen, und wir sind doch Schwestern, nicht wahr – oh, meine Josefine, wenn es nach mir gegangen wäre, diese Entfremdung wäre niemals eingetreten! Es handelt sich nur um einige Tage, Albert wird dann alles aufklären, er muß nur erst zu sich selber kommen und nicht die Meute hinter sich fühlen, sagt er. Er ist mit allem zufrieden, auch sollt ihr keinesfalls Umstände machen. Bitte, hilf uns, Teure, dies fleht in äußerster Angst

deine dich innig liebende Marie.

PS. Heute abend wird er im geschlossenen Wagen bei euch vorfahren, präzise elfdreiviertel Uhr. Er kann auf dem Sofa schlafen. Er nimmt mit allem vorlieb! Nur kein Aufsehen und überhaupt die äußerste Diskretion! Bitte Antwort durch eines der Kinder überbringen, aber versiegelt.

 

Josefine an Adele

Liebe Schwester!

Ich weiß nicht, ob es Léon bekannt ist, daß Albert dasselbe Gesuch an uns stellt wie dein Mann. Es wäre mir lieb, wenn ihr euch einen anderen Zufluchtsort aussuchtet. Gib Rösi, die dies überbringt, die Antwort mit. Falls die zwei Männer auf ihrem Plan bestehen, habe ich noch vieles anzuordnen.

Josefine.

 

Josefine an Marie

Liebe arme Marie!

Ich weiß nicht, ob dein Albert hier mit Léon zusammentreffen, oder ob er sich auch vor ihm verstecken will.

Das heißt, daß Léon gleichfalls seinen Besuch bei uns anmeldet.

Wie steht es denn jetzt? Kann Albert nicht wo anders hingehen? Die Sache ist mir sehr unsympathisch. Das Mädchen soll deine Antwort gleich mit zurückbringen.

Deine Josy. 164

 

Adele an Josefine

Teure Schwester!

Sei nicht hart! Es geht nicht anders! Die zwei Verfolgten haben sich zu beraten, und das kann ungestört nur bei euch geschehen. Sie werden zusammen um elfdreiviertel Uhr heute abend in geschlossener Droschke bei euch ankommen. Wir wissen, daß du über viele Dinge freier denkst als die engherzige Gesellschaft. Auch hast du keinen so strengen Moralbegriff, glaube ich; deine traurigen Erfahrungen, teure Schwester! Laß uns etwas davon zu gute kommen! weise uns nicht ab! Innig bittet

Deine Adele.

 

Marie an Josefine

Einziggeliebte Josy!

Was soll Albert anfangen, wenn du nicht willst! Wir glaubten, du seiest nicht so hart wie die übrigen, auch sind wir doch Schwestern, und nach diesem wird es keine Mißverständnisse mehr zwischen uns geben, dafür werde ich sorgen. Das Zusammentreffen bei dir ist verabredet, geliebte Josy, es ist notwendig. Du hast gesagt, es gibt keine Verbrecher, es gibt nur Kranke, vielleicht ist dies die Zeitkrankheit, denn man hört ja jeden Augenblick von solchen Zusammenbrüchen. Deine arme Marie ist unglücklich, und du willst sie abweisen? Nein, Josefine ist nicht schlecht, sie kann nicht nein sagen. Sie kommen heute abend elfdreiviertel Uhr. Bitte, bitte, bitte! Sie können auf dem Sofa schlafen, machen absolut keine Ansprüche! Ich rechne auf deine schwesterliche Liebe.

Deine unglückliche Mia.

 

Josefine an Adele

Liebe Adele!

Mitfolgend den Hausschlüssel zum »Grauen Ackerstein«.

Wir, das heißt die ganze Familie, reisen heute abend acht Uhr nach Chur zum Vater. Léon und Albert müssen sich selbst bekochen und versorgen, denn das Mädchen geht vorsichtshalber mit nach Chur. Wir bleiben eine Woche fort, hoffentlich sind die Herren bis dahin einig!

Ich muß noch eine Vertreterin besorgen, daher Schluß. In bezug auf Habsuchtsvergehen sind meine Begriffe sehr streng, liebe Adele! 165

D. J.

Nachschrift. Befördere, bitte, diese Zeilen an Marie weiter, ich habe nicht Zeit, zweimal dasselbe zu schreiben. Ihr müßt nicht vergessen, daß ich plötzlich aus meiner Praxis heraus muß, Kinder. Sage Mia, sie habe recht, aber es gebe für mich eine besonders abstoßende Krankheitsform, und das sei die Geldsucht. – Mög es euch gut gehen!

Josefine.

 

Josefine an den Arbeiterbund

Sehr geehrter Herr!

Mein auf übermorgen festgesetzter Vortrag muß leider verschoben werden, da ich verreisen muß. Bitte um Feststellung eines Tages nach dem zwölften Juli.

In Hochachtung
Jos. Geyer.

 

Josefine an eine Patientin!

Sehr geehrte Frau!

Bitte, erschrecken Sie nicht, wenn morgen Fräulein Dr. Lauterer statt meiner bei Ihnen Besuch macht. Sie vertritt mich während einer achttägigen Abwesenheit von Zürich, und vertrauensvoll können Sie sich mit allem an sie wenden. Zu dem kleinen Eingriff, den ich bei Ihnen vornehmen muß, werde ich in der übernächsten Woche zurück sein. Nur guten Mut und Hoffnung!

Ihre Dr. Josefine Geyer.

 

Josefine an die Operationsschwester im Schwesternhaus zum Roten Kreuz

Liebe Schwester Erna!

Die für morgen früh elf Uhr angesetzte Operation werde leider nicht ich ausführen – ich muß unerwartet verreisen. Fräulein Dr. Lauterer wird mich vertreten. Bereiten Sie die Patientin vor, und sagen Sie ihr, daß Fräulein Dr. Lauterer nicht nur so gut, sondern besser ist als ich. – Da ich acht Tage lang wegbleibe, werde ich eventuell auch die Patientin Allenstein abgeben müssen, was mir aber leid wäre, da sie sehr nervös ist. Ihr Fall verträgt Aufschub; will sie warten, so kann ich die Operation am zwölften Juli 166 nachmittags drei Uhr vornehmen – Um regelmäßigen täglichen Bericht nach untenstehender Adresse bittet

Ihre Sie herzlich grüßende
Dr. Jos. Geyer.
Chur, Landwirtschaftliche Schule,
Professor Plattner.

 

Josefine an die höhere Töchterschule im Großmünster

Sehr geehrter Herr Direktor!

Hierdurch bitte ich Sie um die Erlaubnis, meine Tochter Rösi schon jetzt, acht Tage vor Beginn der Sommerferien, aus dem Unterricht nehmen zu dürfen. Eine unerwartete Reise der ganzen Familie nach Chur macht diese Maßregel notwendig.

In Hochachtung
Dr. Jos. Geyer.

 

Schreiben des Missionshauses Basel an Frau Dr. med. Josefine Geyer

Sehr geehrte Frau!

Wir wenden uns an Sie mit unserer Antwort auf eine Anfrage, die vor ungefähr einem Monat an unsere Direktion gelangt ist, und zwar von einer Seite, die Ihnen die nächste ist. Ihr Gemahl, Georges Geyer, hat sich an uns gewandt in der Absicht, sich zum Missionar ausbilden und wider die Götzendiener senden zu lassen.

Wir wissen nicht, ob Ihnen diese Absicht bekannt ist, glauben aber aus gewissen Gründen daran zweifeln zu müssen. Es scheint uns, daß Sie dem Petenten würden abgeraten haben, aus Gründen, die Ihnen genugsam bekannt sind, und die wir hier nicht zu erörtern brauchen. Unser Herr Jesus Christus will reine Sendboten, wie kommt der Züchtling dazu, sich uns anzubieten? Wir ziehen es vor, dem Herrn Georges Geyer auf diesem Umwege die Antwort zu erteilen, die er verdient.

Bitte, dieselbe zu übermitteln und uns die Peinlichkeit persönlicher Berührung mit genanntem Herrn zu ersparen.

Der Herr erleuchte Sie und schenke Ihnen seinen Frieden. Amen.

Die Direktion. 167

 

Josefine in Zürich an Georges in Chur

Lieber Georges!

Du kommst zwar morgen zurück, aber dies ist etwas, das ich lieber schriftlich als mündlich mit dir bespreche. Weißt du, wenn du mit mir schlechte Witze machst, das schadet ja nicht, aber Leute wie diese Missionare haben ein zu kitzeliges Fell, die solltest du in Ruhe lassen! Du hast dir den schlechten Witz erlaubt, bei ihnen anzufragen, ob sie dich zum Missionar ausbilden wollen, und sie haben natürlich nein gesagt.

Die Antwort kam an mich, war grob abweisend, ich schicke sie dir nicht. Aber wie konntest du auch solche Leute necken!

Gefällt dir die Tätigkeit auf der landwirtschaftlichen Versuchsstation? Wäre das nichts? Auf Wiedersehen! Mit Gruß

Josefine.

 

Georges Geyer in Chur an Josefine in Zürich

Meine unvergleichliche Séfine!

Ich bin ein unglücklicher Mensch – das beste für mich wäre ein Mühlstein an meinen Hals gehängt und im Meere ersäuft.

Es war aber kein schlechter Witz von mir, es war mein heiliger Ernst, Missionar zu werden, und ich hoffe, meinen Plan doch noch durchzusetzen.

Ist es nicht unendlich viel leichter, den anderen zu predigen, wie sie sein sollen, als selber gut zu sein? Die Gabe des Wortes ist mir verliehen, wie du weißt, Séfine, ich besitze die Gabe der Beredsamkeit! Die Gabe des Guthandelns besitze ich nicht, also halte ich mich an das, was ich habe. Man muß Gott für alles danken! Wer war der heilige Augustinus, he? Ich identifiziere mich mit ihm, ich habe Visionen wie er, ich fühle den Drang, zu belehren, wie er! Die Baseler sind dumm, ein Genie wie meines zurückzuweisen! Sie werden es bereuen, wenn ich ohne ihre Hilfe zur Heiligkeit gelange. Denn dazu gelangen werde ich, eben weil ich die Gabe des Wortes besitze. Ich behaupte, daß ich durch den Besitz dieser Gabe und durch den Mangel an anderen Gaben zum Missionar geradezu prädestiniert bin. Mein ganzes früheres Unglück hätte mich nicht betroffen, falls ich meinen Beruf gleich anfangs erkannt hätte. Ich hätte tun können, was ich getan – es hätte nicht geschadet, einem Missionar hätte es nicht geschadet. Sie tun mehr, und es schadet ihnen nicht. Ich fühle den Beruf in mir, zur Buße zu posaunen!

Diese Schwarzen und Braunen und Gelben, die ich dem Himmel gewinne, werden für mich Fürbitter sein. Kurzum, es ist ein Geschäft, und ein gutes Geschäft, und ich 168 werde doch noch hineinkommen. Es ist leicht zu erlernen, ich besitze bereits die erforderlichen Kenntnisse. Predigst du nicht auch, unvergleichliche Séfine? Hast du für mich etwas anderes gehabt als schöne Worte? In deiner Frage, wie mir die bäuerliche Tätigkeit zusage, sehe ich sogar etwas Entwürdigendes. Du willst mich für ewig hinunterdrücken, Séfine. Aber ich, ich werde mich erheben und Missionar werden! Ich kenne die Sünde, ich kann also vor ihr warnen, ich freue mich darauf, unter Sündern zu sein! Aus gewissen Andeutungen deines Alten schließe ich, daß es geraten ist, auch Léon und Albert in mein Gebet einzuschließen. Charmante Familie! Wahrlich, wir brauchen unter uns einen, der zur Buße posaunt! Und dieser eine wird sein

dein gehorsamer Diener
Georges.

PS. Möglich, daß ich katholisch werde, wenn die Umstände es erfordern – mich bekreuzigen kann ich schon.

 

Rösi an ihre Mutter Josefine

Meine einzige Mama!

Ich danke dir, daß du mich hierher nach Weggis gebracht hast, und daß ich bei Laure Anaise sein darf. Laure Anaise ist eine schöne Frau, und ihr Mann ist nicht so schön, weil er zu klein ist. Ich möchte auch solch einen Mann haben, er ist so lieb mit Laure Anaise, und der Bubi kreischt vor Freude, wenn er ihn sieht, aber etwas größer möchte ich ihn haben, den Meinen. Doch das hat noch lange Zeit, und oft denke ich, ich möchte gar nicht groß werden, lieber klein bleiben und eine Nixe werden im Vierwaldstättersee. Hätte ich nur blondes Haar, meine Mama, eine Nixe mit schwarzem Haar gibt es nicht, oder? Dann käme ich heraus auf den blauen Felsen, wenn der Mond scheint, und er scheint gerade jetzt, und es ist so wonnig, dir ohne Lampe im Mondschein zu schreiben. Gegenüber ist der blaue Felsen, und das soll mein Platz sein, es ist nicht so schön, wenn er leer ist.

Wenn ich eine Nixe wäre, könnte ich auch singen, und ich weiß ein Lied, meine Allersüße, und das macht mich so traurig. In Laure Anaises Garten stehen viele Rosenbäumchen, und eins war so schön, und es ist plötzlich gestorben. Ich weiß nicht warum, und niemand weiß warum. Am Morgen sah ich, daß die halboffenen, großen, weißen Rosen ganz ruhig wie immer an dem Zweig hängen, aber die kleinen, jungen Knospen und die kleinsten bräunlichen Blätter sind so weich, ganz schlaff. Ich dachte zuerst an die Schlafblumen, die du uns früher gezeigt hast, an die Akazien, die nachts ihre Blättli zusammenfalten wie kleine Hände, die beten. Kann es nicht sein, daß ein 169 Rosenbäumchen auch einmal schläfrig ist? Vielleicht hat es die ganze Nacht in den Mond gesehen, oder der Wind hat soviel zu erzählen gehabt, oder es macht auch müde, wenn die großen Hummeln so laut um seine Ohren summen. Ich wollte die Knösplein aufwecken, aber sie fielen auf die Seite, so matt. Ist es Schlaf? dachte ich, wurde ängstlich.

Am Abend hingen die großen, weißen Rosen wie schwere Glocken herab, und die kleinen Zweige hatten alle Kräfte verloren, und ich brachte ihm Wasser, aber er war schon zu schwach, er trank nicht mehr, das Wasser rann über den Boden fort und benetzte es nicht. Er will sterben, sagte ich zu Laure Anaise, und Laure Anaise und ihr Mann und ich, wir mochten nicht essen, aber Bubi versteht es noch nicht. Am Morgen war er schon tot – so kalt und still, kein Blättchen fiel ab – nun rascheln sie wie Papier und sind klein und braun und die weißen Rosen wie gelbe Klüngel, und sie duften immer noch. Und die Rosenbäumchen stehen alle in einem Kranz, und sein Platz ist wie ein dunkles Grab.

Liebe Meine, bitte, bitte, schicke mir einen blaßblauen Schleier, aber ein großer soll es sein, so groß, daß ich ganz hineinschlüpfen kann. Dann brauche ich keine Kleider, die Hitze tötet mich. Sie hat auch das Rosenbäumlein getötet. In den blauen Schleier will ich mich einhüllen und auf dich warten, meine Allersüße. Kommst du und nimmst mich? Aber nimm mich nicht sogleich, es ist hier schön, man denkt, es ist die Sonne so groß, so flammend rot, aber es ist der Mond, der aufsteigt.

Deine müde Rösi.

 

Rösi an Josefine

Meine allersüße Mama!

Weißt du, wo ich bin? Kannst du mich sehen? Oh, ich bin im Nußbaum, und die Zweige sind ganz dicht um mich, und die Sonne ist wie grünes Gold, und ich bin nur ein Vogel im Baum. Ich denke an nichts den ganzen Tag, und du bist immer in meinem Herzen, und ich habe dich noch tausendmal lieber, und oben durch die kleinen Räume guckt der Himmel zu dir und mir herein.

Wenn ich deine schönen Briefe bekomme, klopft mein Herz, und ich will alles, alles tun, was du willst, Meine. Nur von dir will ich lernen, denn die Menschen sind nicht so gut, wie du sagst, Mama, sie sehen mich an mit Gesichtern und ängstigen mich mit Fragen nach dir und nach Papa.

Ich halte mir inwendig die Ohren zu. Alle Mädchen haben Liebesgeschichten, das finde ich so scheußlich. Ich sage immer den Vers, den du gemacht hast, und für den ich dir tausendmal danke: 170

Nie sollst du mich verliebter Schwachheit zeihen!
Dort will ich sein, wo Leid zu lindern ist!
Und keine Träne soll mein Aug entweihen,
Die weibisch um mich selber fließt.

Nein, keine Träne! keine weibische Träne! Ich will auch, ich will auch Leid lindern, wie du, du Allerbeste. Wir leiden viel vom Leide anderer, sagst du. Ja, es ist wahr, aber ich träume so Schönes, ich leide nicht viel, Mama! Im Traum wurde der blaue Schleier, den du mir geschickt hast, so lang wie eine Straße, und ich konnte darauf in den Himmel fliegen. Aber ich flog nicht, ich ging so sanft, über die Berge glitt ich weg und über den See und sah eine goldene Halle mit weißen Göttern und sah den Gott Odin, der sang, und die Töne fielen herab als goldner Regen in den blauen See. Und ich war die Nixe und hielt meine Hände offen wie zwei weiße Muschelschalen im Mondschein, und die goldenen Regenkörner fielen hinein und streckten kleine weiße zitternde Wurzeln aus, und nach oben wuchs ein Wald von weißen Lilien, wuchs über meinem Kopf zusammen, und ich ging verloren, weiß nicht, wo ich geblieben bin. Suche mich wieder, meine süße Mama!

Rösi.

 

Hermann an seine Mutter Josefine

Liebe Mutter!

Da du findest, daß ich so außerordentlich faul im Briefschreiben bin, will ich diesen Regentag benutzen, um dir endlich einmal zu antworten.

Es war sehr gut, daß ich nach Basel ging, in vieler Beziehung. Es gefällt mir hier außerordentlich, und ich werde wohl ein bis zwei Semester hier hängen bleiben. Die gefürchtete Tante Ludmilla entpuppt sich als eine zwar scheußlich anzusehende, aber sonst sehr brauchbare Dame, dank deren Bemühungen ich hier endlich in die besseren Kreise komme. Dazu hilft mir nun auch mein Studium in hohem Grade, und würde ich es schon aus diesem Grunde jedenfalls beibehalten. Es ist geradezu eine Kalamität, dieser Mangel an tüchtigen Theologen, eine Kalamität unserer Zeit, und wenn ich auch durchaus kein Mucker bin, so glaube ich doch, daß unserer Wissenschaft ein großer Aufschwung bevorsteht, und daß man dumm ist, wenn man die Gelegenheit nicht benutzt. Allerdings werde ich nach Deutschland übersiedeln, dort ist mehr zu holen für unsereinen – als Schweizer Bauernpfarrer dem Rindvieh zu predigen, das paßt mir nicht. Ich weiß, daß du über all diese Fragen ganz anders denkst, aber dafür bin ich auch ein junger Mann und muß einen Platz zu finden suchen, nicht zu weit von der 171 Sonne. Dazu ist bei uns leider keine Aussicht, bei uns sind nur die Pfarrer berühmt, die sich für Volksmänner ausgeben, und für die Ehre bin ich nicht zu haben. Ich habe mich, seit ich hier bin, also seit zwei Monaten, mehr und mehr zum Aristokraten entwickelt, es muß wohl so in meiner Natur liegen. Übrigens würde mir daheim Vaters Vergangenheit jede Carriere abschneiden, das sehe ich deutlich. Du hast uns in dieser Hinsicht stets wie blinde Hühner behandelt, liebe Mama, die Eltern denken ja immer, daß ihre Kinder nur immer das hören und sehen, was die Eltern gerade für wünschenswert halten.

Auch Onkel Albert und Onkel Léon werden hier unaufhörlich durchgehechelt, aber die Schlauheit, mit der sie ihre Millionen in Sicherheit gebracht haben, ist so genial, daß auch die Anerkennung nicht fehlt. Die sind nun alle beide mit ihren Frauen auf der Weltreise, heißt es. So etwas kann verblüffen, wenn es auch im Grunde genommen nur ein Blendwerk der Hölle ist. Tante Ludmilla wußte alles, sie ist trotz ihrer neunzig Jahre und ihrer Leidenschaft für den Alkohol einfach bewunderungswürdig. Sie behauptete mit wütendem Gelächter, Onkels Zusammenkunft in unserem Hause, während wir nach Chur fuhren, habe dem Vater fünfmalhunderttausend eingebracht! Als ich ihr sagte, daß sie sich leider irre, und daß wir die Sache nur aus Verlegenheit möglich gemacht hätten, stieß sie mich mit ihrem hornigen Zeigefinger in die Brust, daß ich es wohl einen Tag lang spüren mußte, und schimpfte auf dich wie maniakalisch. Tante Ludmilla hat mich schon in einige Familien eingeführt, wo es natürlich an hübschen Töchtern nicht fehlt. Neulich ließ sie etwas fallen von ihrer Absicht, mich eventuell zu adoptieren. Dann bin ich ihr Pflegesohn, und alle unnützen Frager sind aufs Maul geschlagen. Wie denkst du darüber, liebe Mama? Ich kann ja nicht anders hinaufkommen, es muß ja etwas für meine Zukunft getan werden! Ich will mich doch ausleben, ich bin doch kein Asket! Du mußt das doch begreifen, liebe Mutter, ich bin eben anders!

Dein gehorsamer Sohn Hermann.

 

Als Josefine Hermanns Brief gelesen hatte, beschloß sie, sofort nach Basel zu fahren.

Ihre heftige Entrüstung benahm ihr sogar während der Sprechstunde die gewohnte überlegene Konzentration. Sie mußte zuweilen ihre Frage an eine Patientin wiederholen, weil sie die Antwort nicht gehört hatte.

›Ich fahre mit dem letzten Zuge, spreche nachts mit meinem Burschen und bin mit dem frühesten Morgenzuge zurück,‹ dachte sie.

Es war November, aber laulich, und heller Mondschein.

›Die Fahrt muß ich zum Schlafen benutzen,‹ dachte sie, ›aber wie ist es denn möglich, zu schlafen? Dieser Bursch ist ja eine vollständige Widersinnigkeit! Hat man ihn in die Welt gesetzt, damit er die Leute betrüge?‹

172 Sie fuhr wie eine gewitterschwarze Wolke über Rösli her, die beim summenden Gaslicht einsam mit roten Wangen am Tisch saß und in ein winziges Notizbüchlein kritzelte.

»Ach, du mit deinen ewigen Verseleien, auch du machst mir Sorge!« schrie Josefine und riß dem erschrockenen Kinde das goldgeränderte Büchlein fort. Rösi starrte mit geblähten Nasenflügeln und dunkel offenen Augen auf ihre Mutter.

Sie schrie auf, wie ein verwundeter Vogel schreit.

»Was schreist du?« zürnte die Mutter wild und heftig.

»Gib mir mein Buch! mein Buch! mein einziges – einziges Glück!« flehte Rösi und begann zu schluchzen.

»Da ist's! weine nicht, du Dummes! man reißt dir nicht den Kopf ab.« Sie warf das Büchlein auf den Tisch. »Ich fahre nach Basel – ist der Papa daheim?«

»Weiß nicht,« schmollte das Mädchen, still weinend und mit dem Kopf nickend.

»Siehst du! sie weiß nicht! lebt taub und blind! Ach, ich möchte eine Tochter, die lebt, die stark ist und ein Mensch!« schrie Josefine außer sich.

Rösi stand auf, zitterte an allen Gliedern, ihr Gesicht war totenblaß. »Du liebst mich nicht mehr, Mama, ich weiß es, du hast mir so kalt geschrieben nach Weggis, alles, was ich tue, ist schlecht, aber – –« Sie warf das Büchlein vom Tisch herunter, trat darauf und schrie wimmernd ...

»Kind! Rösi! was ist das?«

Plötzlich hatte Josefine begriffen, plötzlich schmolz ihr Herz. Sie lief auf das Kind zu, umarmte es stürmisch, küßte es auf die nassen Augen, die nassen Bäcklein. Ihre Herzen klopften dicht aneinander.

»Verzeih! verzeih!« flüsterte die Mutter, flüsterte das Kind, und sie küßten sich und weinten miteinander. Dann, fest umschlungen, setzten sie sich auf einen Stuhl.

»Sieh, mein Alles, wie unglücklich ich bin über deinen Bruder! Sein erster Schritt hinaus ist ein Schritt in den Sumpf! Er will eine Rolle spielen, reich werden! Alles setzt er aufs Spiel, seine Mutter, sein Vaterland, seine Wissenschaft! Die abscheuliche alte Spinne in Basel will ihn adoptieren, und er sieht darin etwas Gutes, weil es ihm Vorteil bringt! Und dieses Bürschlein habe ich in die Welt gesetzt, damit es die Leute betrüge!«

»Aber ich, Mama, ich tue so etwas nie! ich bin doch deine Tochter, oder willst du lieber eine andere?« rief die Kleine, und mit zusammengebissenen Zähnen weinte sie Tränenströme in den Hals der Mutter.

Josefine küßte sie leidenschaftlich. »Ach, Kind, ich bin so abgehetzt! Ich bin so müde von diesem Sommer! Verzeih! verzeih! Was hat es alles gegeben diesen Sommer! Und nun Hermann!« Sie sprang auf. »Hilf mir, Kind, Rösi! Mein Regenmantel ist noch naß, die Schuhe müssen vom Schuster geholt werden. Auch mit Papa muß ich sprechen. Um halb acht Uhr geht der Zug.«

173 Rösi war wie Wachs; sie zerschmolz fast in Liebe und Schmerz, als sie die Mutter sich unglücklich nennen hörte. Alles, alles wollte sie tun! ... »Und ganz werden wie du! wie du!«

Georges kam nach Hause, und Josefine hatte noch eine kurze, dringliche Unterredung mit ihm, bei der sie fast allein sprach.

»Ich bringe unser Bürschli heim,« sagte sie endlich, nachdem sie ihm alles erzählt hatte, »und dann müssen wir weiter sehen. Cynismus ist Gift für Hermann, und diese alte Tante Ludmilla ist cynisch! Er muß zurück auf ordentlichen Weg kommen. Es geht nicht, daß er Theologie studiert, Georges. Widersetze dich auch und rate ihm zu etwas anderem, ich bitte dich! Er hört auf dich, er tut nur mir gegenüber so selbstgewiß, sonst ist er nur zu bestimmbar. Darf ich auf dich rechnen, Mann?«

»Du beabsichtigst vielleicht, einen Bankdirektor aus ihm zu machen?« lächelte Georges verbindlich, »auch das Geschäft nährt seinen Mann.«

Die gequälte Frau sah ihn an. Für einen Augenblick verkörperte sich ihr in diesem gelben, grinsenden Gesichte alles Widrige, Verwerfliche, Hassenswerte, das sie wußte. Alle Qual, alle Ratlosigkeit ihrer Lage spiegelte sich wie in einer trüben Lache in diesen matten roten Augen.

»Ja, ja,« sagte der Mann aufseufzend, »das Leben ist halt schwer.«

Sie hob den Kopf, die Verzweiflung übermannte sie. Suchte sie hier Hilfe? »Und weil es schwer ist, laß uns zusammenstehen,« sagte sie verwirrt, »laß uns in dieser Sache zusammenstehen, Georges. Tu nichts gegen mich!« Sie streckte ihm die Hand hin.

Über seine gelben Backen lief ein schwaches Rot, er berührte ihre Hand und murmelte: »Nein, nein.«

»Du bist sein Vater, Georges.«

»Leider.«

»Hältst ihn etwa für verloren?«

»Nein, aber du, Séfine.«

»Ich hol ihn,« sagte sie entschlossen, drückte dem Manne die kalten, widerstrebenden Finger und machte sich bereit. Georges bot ihr sogar seine Begleitung an. Verlegen lehnte sie ab und fuhr allein.

 

Aus dem heißen Coupé, das sie schläfrig und schwer gemacht, sprang sie auf den nassen, schmutzigen Perron hinab.

Josefine war in Basel. Es regnete schon, seit sie eingestiegen war. Ihre Unruhe verstärkte sich in dieser jetzt stillen, wie ausgestorbenen Stadt, über der eine dunkle Schwüle lag. Nur auf der Rheinbrücke ging ein frischer Wind und warf ihr die Kleider so um die Glieder, daß sie mühsam vorwärts kam. Der Rhein brauste im Regen – sie 174 blieb einen Augenblick stehen und sah ihn ziehen, geheimnisvoll wie den Strom der Unterwelt, glanzlos und farblos.

Sie dachte flüchtig an Sommertage voll Duft und Glanz, da sie über diese Brücke gegangen, über den jungen, grünen, schäumenden, herrlichen Rhein.

»Wäre ich nie geboren! wäre ich doch nie geboren,« sagte sie voll Bitterkeit.

Es schlug elf Uhr, als sie vor dem Hause stand, in dem Hermann ein Zimmer gemietet hatte. Es war ein kleines Hotel; unten, in der Bierstube wurde laut gesprochen, eine keifende Frauenstimme zankte mit einer dumpfen, weinerlichen. Man hörte Gepolter, Geschirr klapperte.

Josefine zog die Glocke, und sogleich erschien, mit gerötetem, zornigem Gesicht, die Frau aus dem Gastzimmer, die Wirtin. Mißtrauisch betrachtete sie die Fremde, die hier nach ihrem Sohn fragte.

»Weiß nit, ob er daheim ist.«

Ein Trupp Gäste unter triefenden Regenschirmen kam in den Flur. Mit erheiterter Miene wandte sich die Wirtin ihnen zu; gleichgültig, über die Schulter weg, rief sie nach dem Mädchen, daß es die Dame hinaufbegleite.

Hermanns Tür war verschlossen, kein Klopfen half.

»Er ist jedenfalls noch nit daheim,« sagte das Mädchen, ein hübsches, junges Ding mit verweinten Augen und trotzigem Munde, und ohne viel Umstände stellte sie den Leuchter auf ein halbrundes Tischchen, nahe der Tür, knixte »Sküsi« und rannte wieder hinunter zur Bedienung der Gäste.

Josefine verlangte ein Zimmer.

Es war alles besetzt bis auf eine Mansarde, droben, neben Hermanns Stübchen.

»So ist's am besten,« sagte die Mutter erfreut, »ich werde hören, wann er kommt. Kommt er oft spät heim?« machte sie hastig.

Das Mädchen blinzelte mit den schweren Augenlidern. »I könnt's gewiß nit sagen – 's sind halt junge Herre. Wünsche Sie no öppis?«

Da saß sie nun neben dem Stearinlicht auf dem Stuhl und wartete auf ihren Sohn. Sie hatte Regenmantel und Hut abgelegt, fröstelnd drückte sie die Arme an den Leib, hielt sich steif aufrecht, um wach zu bleiben.

Langsam verrann die Zeit.

Sie legte ihre Uhr vor sich auf den Tisch, horchte auf jedes Geräusch. Manchmal kam es über die Treppen, eine Tür wurde aufgeschlossen. Dann sprang sie auf und starrte hinaus, aber es war niemand ins Nachbarzimmer gegangen.

Der Regen floß in breiten, ölartigen Streifen an den kleinen Scheiben hinunter – die Kerze, die einen Bruch in der Mitte hatte, fiel bald auf die eine, bald auf die andere Seite und tropfte schnell ab, stand schon in einem weißen See ...

175 ›Ich bin ganz kopflos hierher gekommen, ich hätte schreiben sollen vorher,‹ dachte sie.

Es war halb zwei jetzt.

›Weiß Gott, wo der sich herumtreibt. Man muß nur die Ruhe nicht verlieren – mit Heftigkeit geht es nicht – ich werde ganz ruhig –‹

Langsam begann sich das Licht zu vergrößern – wurde undeutlich, wurde wieder groß – die Stube drehte sich – das Fensterchen, von dem ein Stück fehlte, weil die schräge Wand da hinunterschnitt –

Ha – a – a – a – a – h.

Sie schreckte plötzlich auf, erschreckt durch ein Geschrei, ein Sprechen und Winseln!

Sie setzte sich aufrecht auf dem Sofa – wie kam sie hierher? – dieser erstickende Qualm, diese Dunkelheit – dieses Geschrei?

Durch die Wand, an der sie saß, hörte sie es wieder, grob und heiser: »Usse! usse! 'es Chaib ist besoffen! hehheh! Usse! Usse! Usse!«

Josefine tastete nach der Tür, die Kerze war verbrannt, sie fand sich nicht zurecht –

Nebenan winselte die Frauenstimme: »Laß mi doch schlafen! 's ischt kalt! kein Obdach bei der Nacht, o bitt di, noch e halbe Stund!«

Und dann wieder: »Schieb! Usse! I will denn emal schlafen, du –«

Die Schimpfwörter schienen einander zu ersticken, so dicht folgten sie sich ...

Josefine hatte endlich den Türdrücker gefunden, schaudernd zögerte sie noch, dann riß sie die Tür auf ...

Ihr gegenüber, in der offenen Tür, stand – Hermann – im Hemd – barfüßig, die Kerze in seiner Hand beleuchtete hell sein blasses, stumpfes Gesicht mit der nassen, hängenden Unterlippe ...

Über die knackenden Treppenstufen verlor sich das Gewinsel in der Tiefe des stummen, dunklen Hauses.

Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken und lallte noch: »Chaib! Saumensch! Verfluchtes.«

Die Mutter wich zurück, sah und wollte nicht sehen, hörte und glaubte nicht ... Gespensterfurcht lähmte ihr die Hände, die Zunge.

Aber als er sich umdrehte, in die Tür zurücktreten wollte, stürzte sie sich plötzlich vor und schrie in der Raserei ihres Schmerzes: »Selber verflucht, schamloser Hund!«

Er zuckte wie getroffen, ließ den Leuchter klirrend fallen, warf seine Tür zu, verriegelte.

Sie rüttelte, sie drohte, er gab keine Antwort, er machte nicht auf.

176 ›Nun stellt er sich tot,‹ dachte sie, ›der Feigling! Eben noch hatte er den Mut der Brutalität! Grausam, feig, gemein – ein schädlicher Wurm! Und das ist mein Geschenk an die Menschheit!‹

Sie trug einen Stuhl heraus vor seine Tür und saß dort.

›Er soll mir nicht entkommen,‹ dachte sie. ›Hätte ich eine Waffe gehabt, ich hätte ihn niedergeschossen. Und warum auch nicht? Das ist mein Geschenk an die Menschheit!‹

Nun schlief sie nicht wieder ein, nun saß sie mit groß offenen Augen und wartete auf den Tag.

›Er wird nicht so bald aufwachen, aber ich lasse den Schlosser kommen, er soll mir Rede stehen. Ich werde nicht mehr schimpfen – ich habe geschimpft wie er, ich habe mich gemein gemacht. Hätte ich einen Revolver gehabt, ich hätte ihn erschossen! Er spie auf sein Spielzeug, als er ein kleiner Bub war. Spie darauf und zertrat es, wenn es ihm genug gedient hatte. Dies ist mein Geschenk an die Menschheit! Es ist gut, daß ich keine Waffe habe. Ich muß noch leben für Rösli. Ich hatte Pläne – große Pläne – Entwürfe – Hoffnungen – ich wollte etwas Gutes hinterlassen, etwas Nützliches – dem Leben dienen –‹

Ihre Gedanken verwirrten sich, kreisten wild umeinander, kehrten mit tötender Schärfe zu dem einen Punkt zurück: ›Was ist alles, das ich bestenfalls tun könnte gegen dieses Geschenk an die Menschheit! Hier ist das Wirkliche, das Schreckliche, Unentrinnbare! das Unaufwägbare!‹

Als sie Schritte auf der Treppe unten hörte, ging ein Dröhnen durch ihren Kopf: ›Sie werden heraufkommen, werden mich hier sehen, sie, die alles wissen, unsere ganze Schande.‹

Mit tiefgebeugtem Nacken, des Schlages gewärtig, saß sie eine ganze lange Zeit.

Aber die Tritte verhallten wieder, und unsäglich traurig schien der halb verzehrte Mond über die schmutzigen, leeren, sich heraufwindenden Stufen.

Ach, daß es nicht wahr wäre, dieses Letzte, Abscheulichste! Daß ihr Sohn jetzt da heraufkäme mit dem elastischen Schritt seiner zwanzig Jahre, über diese leeren Stufen heraufspränge, die Augen glänzend vom langen, feurigen, begeisterten Gespräch mit den jungen Kameraden, sorglos pfeifend, unter dem triefenden Hut, voll schönen, unklaren Überschwangs, wie der junge Zwicky nach Hause zu kommen pflegte, die Arme reckend: ›Hah, jetzt muß es dann anders werden! jetzt probieren wir's emal, wir, die Jungen.‹ Ach, käm er selbst, den Hut schief, selbstgefällig kichernd, mit Kotillonorden behängt, mit dem Sträußchen im Knopfloch – es wäre gut, es wäre alles gut! Nur nicht so! nur nicht dieses!

Und sie sah ihn heraufkommen, rot vor Scham und Stolz und Leidenschaft, mit der Zitternden, Scheuen, die halb Lächeln, halb Traum ist, die eine Augenblicksliebe 177 ihm in den Arm geworfen, und die sich vergessen hat, Werkzeuge der Natur sie alle beide, der blinden, nicht bösen, nicht guten, gleichgültig schaffenden Natur ...

Gut selbst dieses! Alles gut! Nur nicht so! Nur dieses Letzte nicht!

Sie konnte nicht länger warten. Sie schlug wieder an die Tür. »Hermann! öffne! ich bin da!«

Nichts regte sich, kein Laut kam.

Sie beugte sich zum Schlüsselloch, horchte an der Türritze: kein Atemzug war zu hören.

›Ein Grab,‹ dachte sie, ›schlimmer als ein Grab, viel schlimmer!‹

Und sie begann zu weinen, heiße, mühsame, versprengte Tränen.

›Mein Geschenk an das Leben Gift, meine Gabe an die Menschheit diese fressende Pest!‹

Sie starrte in den gelben Mond hinter dem nassen Treppenfenster.

Moral insanity! dies ist moral insanity! Wir haben wenigstens auch dafür einen Namen! Vielleicht wäre es besser als alles andere, das ich tun kann, wenn ich ihn tötete. Ich würde es tun, wenn ich ihn liebte, aber – ach, ich liebe ihn nicht genug, um mich mit ihm zu vernichten.‹

Sie dachte an ihre Pläne, ihre Bestrebungen, und es schien ihr, als wären ihre Hände voll grauer Asche.

›Ist nicht alles dies nur ein Mittel, um sich zu betäuben? Auch nur ein Opium? Damit ich den Abgrund nicht sehe, aus dem alles Leben aufgestiegen ist und in den es hinabsinkt? Wenn mein eigener Sohn, den ich von Kind auf hinüberziehen wollen auf die gute, auf die positive Seite – was ist dann Erziehung? Beispiel? Gewöhnung? Zu wem redet man?‹ Und es fiel ihr ein, zu wem seit Jahrtausenden die Weisen und die Dichter geredet, und eine ungeheure Angst ergriff sie. Ihr Mittel versagte, ihr Opium versagte, und sie stürzte in das Bodenlose hinab.

 

»Junger Herr! Herr Geyer! Ihre Mutter ist kommen!« schrie die Wirtin und bearbeitete kräftig die Tür. Es war heller Tag.

Gedemütigt stand die Mutter daneben.

»Meine Mutter? – Sofort!« rief es aus Hermanns Zimmer und dann noch einmal: »Ich komme schon.«

Die Tür tat sich auf.

»Nun, da haben wir den jungen Herrn.« Lachend trottete die Wirtin davon. Hermann war da.

»Liebe Mama, diese Überraschung. Willst du nicht Platz nehmen? Du mußt aber früh von Zürich fort sein! Es ist doch nichts passiert? Entschuldige die Unordnung, 178 ich habe spät gearbeitet. Oder willst du dir nur einen Feiertag gönnen? Was ist denn los?«

Hermann war wohlgewaschen und frisiert, in guten Kleidern; das Zimmerchen duftete nach Veilchenseife und war aufgeräumt, das Bett zugedeckt; auf dem ovalen Tische vor dem Sofa lagen viele Bücher in neuen, schönen Einbänden, mit glänzenden Goldtiteln. Aufgeschlagen aber war eine große, silberbeschlagene Bibel, von deren vergilbten Seiten bunte Initialen leuchteten.

Ohne die Mutter anzusehen, fuhr Hermann herum, das heißt: er glitt mit unhörbaren, geschmeidigen Bewegungen. Eben trug er eine Schnurrbartbinde von der Kommode zum Lavor und legte sie schmunzelnd in Papier, rosa Seidenpapier, das fröhlich knisterte. Dabei sprach er fortwährend.

»Tante Ludmillas Familienbibel, die mußt du dir ansehen, Mama. Nun, wie geht's daheim? Aber daß du dich losgemacht hast!«

Auf seinen blassen Backen waren hektische Flecke, die Nervosität seiner Gebärden nahm zu, als die Mutter noch immer schwieg.

»Aber schlechtes Wetter! Es regnet,« sagte er mit harmlosen Blicken nach dem Fenster.

Josefine konnte nicht sprechen, und er sprach immer weiter, mit immer mehr sich rötenden Backen und immer unruhigeren Gebärden. Schiefe Blicke fuhren über sie hin, über ihr eingefallenes Gesicht, ihre nassen Kleider.

Mit trockenem Gaumen brachte sie endlich hervor: »Genug. Packe zusammen. Heim.«

Er sprang empor, tat, als verstehe er nichts ...

Da sagte sie's ihm.

Aber er leugnete rundweg.

›Ein falscher Verdacht! Ganz falsch! Schließlich, warum nicht zugestehen, wenn es nicht falsch wäre? Alle tun so, man ist keine Ausnahme. Es gehört sich, daß ein junger Mann das Leben kennen lernt. Frauen – natürlich – anständige Frauen wissen diese Dinge nicht und brauchen sie auch nicht zu wissen. Aber ein Mann – das ist etwas ganz anderes! ...

»Ich saß hier und arbeitete, habe das Zimmer den ganzen Tag nicht verlassen. Es kann ja sein, wenn du mich gesehen haben willst, daß ein anderer – Hier im Haus wohnen mehr Leute – Und jeder findet, daß man das Leben kennen lernen muß. Ein Mucker, ein Duckmäuser? aber wozu denn? Welche Mutter verlangt von ihrem Sohne, daß er wie ein Asket lebe? welche anständige Mutter kümmert sich überhaupt? das sind die Nachtseiten des Lebens! Man ist sinnlos betrunken, nun ja. Auch das muß man einmal durchmachen. Und was man in der Betrunkenheit tut oder sagt – dafür ist man nicht verantwortlich. Nicht mal vor Gericht. Ich weiß von nichts, entsinne 179 mich nicht. Du bist eine Ausnahme, Mama, aber ich bin normal! Ein gewöhnlicher, normaler Mensch, Gott sei Lob und Dank. Du denkst nun gleich, ich sei schlecht, ich sei verloren, aber das ist sehr unrecht von dir, und wenn du das Leben sähest, wie es wirklich ist – Verachten? nicht verachten etwa? ein feiles Geschöpf, das sich für ein paar Centimes preisgibt, das soll ich nicht verachten? Aber du, Mama, du hast sogar vom Onkel Léon und Onkel Albert verächtlich gesprochen, nur weil sie am Gelde gehangen sind!«

Auf all seine Verteidigungsversuche erwiderte Josefine nur das eine: »Zusammenpacken! Sofort.«

Mechanisch gehorchte er, fortwährend redend und scheltend: »Du bist die schrecklichste Despotin, Mama, die es geben kann! Es wird mir bei dir gehen, wie es dem Pape gegangen ist. Eine Puppe, eine Mumie machst du aus dem Menschen. Ach, du fängst ja sogar mit Rösli an,« sagte er mürrisch und hämisch, »sie schreibt mir, du sähest es nicht gern, daß sie Verse macht. Alle, alle willst du uns zerquetschen! Aber ich muß heraus! Ich lasse mich von Tante Ludmilla adoptieren, und dann geh ich nach Deutschland und werde deutscher Bürger. Eine Stellung und ein Vermögen ist gar nichts Schlechtes! Du verdrehst alles. Du mußt also überall nur schlechte Menschen sehen, denn alle wollen eine Stelle und Geld. Nirgends, in keiner Familie, gibt es eine Mutter, wie du bist.«

Als sie nach Zürich zurückkamen, mußte sich Josefine sofort zu Bett legen.

Die Kollegin konstatierte eine Nervenüberreizung und Erschöpfung.

Drei Wochen lag sie krank und fast ohne zu reden. Dann erhob sie sich, nahm ihre Bücher wieder vor, nahm ihre Praxis wieder auf.

Die Patientinnen brachten ihr viele Blumen, und Rösli schrieb ein Gedicht zu ihrer Genesung.

 

Mit vergrößerten Augen und ruhelos ging Josefine ihrer Tätigkeit nach, das Opium schien nicht mehr zu wirken. Sie hatte einige Vorträge angesagt, aber sie verschob das alles auf eine günstigere Zeit, und sie schalt sich deshalb. ›Ein fauler und ungetreuer Knecht,‹ dachte sie, ›der sein Pfund nicht benutzt, das ihm verliehen. Wer weiß, wie lange ich noch sprechen kann – wie lange ich noch lebe.‹ Und dann schien es ihr, als kämen Schatten geschlichen und hüllten sie ein in dunkle Tücherwolken und begrüben sie unter den Nebeln, den ewigen Nebeln der Niederung.

Mit melancholischem Achselzucken beobachtete sie sich selber und die nachgebliebenen Spuren der kaum überstandenen Krankheit. Laute Musik durchschütterte sie; bei einer Aufführung des »Fliegenden Holländers« fiel sie in Ohnmacht und brauchte einen Tag nachher, um sich ganz zu erholen. Plötzlich, beim ersten Erblicken einer Verwundung oder nur bei der Abnahme eines Verbandes erfaßte sie ein unbezwinglicher 180 Ekel – ja, als sie eines Tages aus einem Bande von Langs »Vergleichender Anatomie« ein flüchtig hineingeschobenes Rezept herausnahm und sich das Buch dabei aufblätterte, erschrak sie heftig bei der Abbildung eines ganz gewöhnlichen Skorpions.

Sie fühlte es kalt vom Kopfe abwärts rinnen, warf das Buch hastig auf die Seite, und es schien ihr, als sähe sie das vielgliedrige, rotbraun schillernde Fußtier auf der grünen Schreibtischplatte herankriechen. Mit einem Schrei sprang sie auf, faßte sich an die Stirn und zwang sich zur Klarheit, während sie zitterte und einen süßlichen, betäubenden Geruch in der Umgebung verspürte.

»Dumm! dies ist dumm!« murmelte sie und schlug das Buch wieder auf, sah den Skorpion lange und aufmerksam an. »Ich werde mich doch nicht vor mir selber lächerlich machen?« Und – in der Tat – das Häßliche verlor seine Wirkung, und sie war imstande, ein Spiritusexemplar eines Skorpions aus ihrem Schrank zu entnehmen und mit der Abbildung zu vergleichen. Es ging auch vollständig gut, bis sie in dem Chitinpanzer des konservierten Tieres seitlich eine weiche, gelbweiße Stelle entdeckte, aus der eine gefranste Masse hervorquoll. Da kam der Widerwille so stark, daß sie Brechreiz verspürte ...

Und als sie bei einer Sektion im Irrenhause das stark veränderte Hirn eines Trinkers zugereicht bekam, entglitt die Schale ihren plötzlich entkräfteten Händen, und das frische, blutige Hirn und die blutige Schale, auf der es so weich und rund aufgelegen, und die Medizinerin – alles fiel miteinander auf den Boden, in den Staub. Es war sehr unangenehm – das kostbare Präparat war stark beschädigt und fast unbrauchbar geworden durch Staub und Glassplitter, und die Medizinerin war mehrere Stunden hindurch ohnmächtig und tief beschämt.

Nach diesen Vorfällen wurde Josefine ein wenig ängstlich, und was noch seltsamer war – ihr Mann, Georges Geyer, wurde ängstlich und bekam einen Blick und eine Aufmerksamkeit für Josefine – etwas ganz Neues und Unerhörtes bei ihm.

»Hermann hat dich auf dem Gewissen,« wiederholte er oftmals bedauernd, »das Mutterherz bleibt eben doch der schwache Punkt ...«

Vor diesen anteilvollen Blicken, diesen mitfühlenden Worten floh Josefine, sie waren ihr die bitterste Bestätigung ihrer Schwäche.

›Es wird vorübergehen,‹ dachte sie, ›mir wurde auch einmal schlecht, anfangs, im Präpariersaal, als ich die Hand der Näherin sezieren mußte! Und ist's nicht später gut gegangen? Aber er wünscht es, er wünscht, mich herunterkommen zu sehen.‹

Und sie hielt sich steif aufrecht und bemühte sich, ruhig und heiter auszusehen, wenn Georges in der Nähe war. Und die Gebärde der Ruhe und Heiterkeit wirkte stärkend auf ihre Stimmung.

Seltsame Ableitungen für ihre Unruhe suchte und fand sie in dieser Zeit: Ein notwendiger Besuch beim Zahnarzt brachte sie auf die Wahrnehmung, daß körperliche 181 Schmerzen ihre Erregung abzustumpfen vermöchten. Nun wurde sie eine tägliche Patientin des Zahnarztes, ließ plombieren, feilen, ein paar alte Stumpfe beseitigen und fand dabei fast Vergnügen. Schmerz wurde als Wohltat empfunden, als angenehmer Reiz, als die beste und vollkommenste Zerstreuung. Später dann, betroffen, unheimlich klar, gestand sie sich, daß hier eine Vorstufe jener Selbstverletzungen und Verstümmelungen vorliege, die den Irrenärzten so viel Kopfzerbrechen über ihre Patienten verursachen.

Und sie unterließ jene Besuche und zwang ihre Unruhe nieder, verschrieb sich selbst Beruhigungsmittel und kräftige Diät.

»Etwas Blut pflanzen!« sagte sie sich, wie sie es ihren Patientinnen sagte, aufmunternd, lächelnd.

»So lange ich noch meinem Willen gehorche, nicht meinem Widerwillen, so lange bin ich noch nicht verloren,« redete sie sich zu.

Und sie vermochte es, ihren eigenen Willen zu tun, sie hielt auch wieder Vorträge gegen die Autorität.

Aber sie fühlte, wie das, was einmal lebendige, glühende Empfindung gewesen, allmählich zum Wort, zum fertig geprägten Satz erstarrt war, und daß zuweilen nicht sie es war, die redete, nicht ihre Seele, sondern aus ihr heraus ein täuschend ähnlicher Automat, sodaß sie sich vor ihm entsetzte.

Einmal, in einem der Vorträge, war Georges anwesend, ohne daß Josefine davon wußte.

Beim Hinausgehen durch das lebhaft interessierte Publikum, das ihr noch dankte, gesellte sich der kränklich aussehende, gebeugte Mann mit dem ergrauten Spitzbart ostentativ zu ihr. Mit einer lebhaften Bewegung streckte er ihr die Hand hin, über einige Dazwischenstehende hinweg. Und laut sagte er mit seiner röchelnden Stimme: »Ausgezeichnet! Bravo, Séfine, das war eine Leistung!«

Die Frau schrak zusammen bei der lauten Anrede, starrte wie eine Nachtwandlerin und stammelte: »Was war es denn? was habe ich gesagt?«

Und erschöpft und ängstlich ließ sie sich von ihm hinausführen, an seinem Arm, durch die Menge, die er triumphierend und mit Schweißtropfen auf der kahlen, gefurchten Stirn betrachtete.

Sein Arm, seine Stimme zitterte.

»Willst du fahren, Séfine?« sagte er zärtlich und beugte sich zu ihr, »willst du etwas trinken?«

Sie faßte sich an die Stirn. »Was habe ich gesagt? Wenn ich nur wüßte –«

Sie vergaß alles, lehnte sich an ihn und empfand nur noch seine Zärtlichkeit wie etwas Stützendes, Gutes.

182 »Séfine, teures Weib, ich werde jetzt arbeiten, ich werde Agenturen übernehmen,« sagte Georges beim langsamen Heimgehen, »wenn zwischen uns wieder – zwischen uns die alte Liebe –«

Er bebte vom Kopf bis zum Fuß, schlotterte im Gehen, schluchzte, preßte ihren Arm.

»Ja, ja, ja,« murmelte die Frau, immer die Hand an der Stirn, »wenn ich nur wüßte –«

Im Hausflur nahm er sie in die Arme und küßte sie.

»Ach nein, ach nein,« wehrte sie und begann zu weinen, aber alles still wie im Traum.

Mit einem wirren, abwesenden Ausdruck langte sie endlich in ihrer Wohnung an.

»Heute hat ein anderer gepredigt,« sagte sie zu dem aufgeschreckt horchenden Rösli. »Ich war nicht da.« Sie lachte und sah sich nach Georges um, der mit erregtem Gesicht ihren Hut betastete, der ihm am Arm hing.

»Wir haben ihn abgenommen, er hat keinen Schaden gelitten,« sagte er und legte den Hut auf den Tisch. »Tee! geschwind! siehst du nicht, daß sie erschöpft ist?« schrie er Rösli an, und dann ging er mit großen Schritten auf und nieder. »Ich werde hier das Regiment übernehmen, so geht es nicht länger.« Und er hielt das erschrockene Mädchen in der Tür auf: »Rösli, ich erwarte es von dir! Du hast dich zu sehr gehen lassen. Wir haben uns alle zu sehr gehen lassen.«

Dann setzte er sich neben Josefine auf das Sofa, umarmte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter! »Teure! schlafe! ruh aus! Ich werde das alles in Ordnung bringen.«

Josefine schlief sanft ein.

 

Sie wußte nichts von all diesem am anderen Tage.

Ihres Vortrags entsann sie sich ziemlich gut wieder, nicht aber der späteren Vorgänge.

»So entstehen die Geschichten von Doppelgängern,« sagte sie nachdenklich, »oder vom zerlegten Ich. Es ist interessant, das alles an sich selbst zu beobachten.« Dann fragte sie Rösli: »Jemand war gut zu mir, stützte mich, führte mich. War es der Vater?«

Und sie errötete bei dieser Frage, sah, daß auch das Kind errötete und nickte.

»Nun, wir sind wunderlich, wir Menschen, gelt, Rösli? Was wissen wir von uns? was wissen wir von einander? Machst du noch Verse?«

»Ja,« sagte die Kleine schüchtern.

»Und auf was? an wen, Rösli?«

»An dich, Mama,« innig sagte es das Kind und beschämt.

»An mich?« Josefine staunte und seufzte, streckte die Hand aus ... »Und es war der Vater, der mich führte?« träumte sie verwundert, laut.

»Er war so in Angst um dich, Mama,« lispelte Rösli.

183 »Ist das wahr?«

Josefine blickte in den matten Februarsonnenschein, der die kleinen Brötchen auf dem Frühstückstisch und die gelbe Butter und das schlanke Stengelglas mit den gelben, duftenden Trompetenblumen sanft vergoldete.

Sie fühlte sich gerührt und schwach.

Mit matten Flügelschlägen bewegte sich um sie, so schien es ihr, ein armes, gedrücktes, lichthungriges, liebedurstendes Leben, wartend – gespannt – unheimlich....

Und sie stützte den Kopf und schloß die Augen, und es war ihr wie einer ruhmlos Überwundenen.

 

In diese Schwüle flog wie ein Bote himmlischer Erquickung ein von fremder Hand mit blauem Tintenstift geschriebener Brief.

Er lautete so:

Dorf Glatt, Ct. Zürich. 3. 3. 199 ...

Verehrte Frau!

Obwohl ich Sie nie gesehen, bewahre ich doch ein so deutliches Bild von Ihnen in der Seele, daß ich in einer schwierigen und furchtbaren Angelegenheit mich an Sie wende, als an die einzige, die helfen kann.

Ich habe ein großes Vertrauen zu Ihnen; Ihre Bemühungen um die unschuldig gekränkte Kindheit sind mir wohlbekannt, und mit innigem Anteil und herzlicher Dankbarkeit bin ich Ihren Bestrebungen seit Jahren gefolgt. Ja, es kann nicht übel stehen um die Welt, solange »gute Kräfte sinnvoll walten« wie in Ihnen, verehrte Frau! Oft schöpfe ich Freudigkeit aus dem Gedanken an Sie, die Sie kein Verzagen, kein Ermatten kennen.

Die Angelegenheit, in der ich Ihre gütige Hilfe heische, verlangt persönliche Besprechung. Leider, leider kann ich zu Ihnen nicht kommen, das ist mir nicht vergönnt. Werden Sie die Güte haben und zu mir kommen? Ich bitte Sie darum im Namen der Menschlichkeit, der Sie dienen, im Namen der unschuldig gekränkten Kindlein, deren Recht Sie verkündigen.

Nur Sie können helfen, nur auf Sie hab ich meine Hoffnung gesetzt. Es wird Ihnen Zeit kosten, aber da Sie retten sollen, wird es Ihnen um die Zeit nicht leid sein, wie ich Sie kenne. Unser Dorf liegt vier Stationen von Zürich weg, kommen Sie, wann Sie können, ohne Anmeldung. Fragen Sie nur nicht nach im Dorfe – ich lege Ihnen eine Skizze des Weges bei, den Sie gehen müssen, um mein Haus zu finden. Von der Kirche zum Brunnen links, dann über die Brücke, an der die große Linde steht. Von da ist's 184 nimmer weit, die Kiesgrube bleibt rechts, hinter unseren Häusern beginnen gleich wieder die Felder.

Ich erwarte Sie mit Sehnsucht und grüße Sie in Verehrung.

Ihr Rudolf Fischer.

Josefine hatte schon öfter Briefe ähnlichen Inhalts empfangen, sie kamen von jenen unbekannten Freunden, die sie in ihren Vorträgen anrief, die sie überall in der Welt verstreut wußte, und deren Dasein ihr Herz gewärmt und erhoben hatte bis zu diesem letzten, schweren Erlebnis.

In den Tagen dieses Kummers, in den Wochen dieser Niederlage, in den Monaten dieser Verzweiflung hatte sie die unbekannten Freunde vergessen.

Und nun meldeten sie sich wieder, meldeten sich durch diesen Brief des Vertrauens und der Sympathie, riefen sie zu Hilfe, wandten sich an ihre Kraft.

›Wer ist Rudolf Fischer?

Warum kann nicht er kommen?

Was verlangt er von mir?

Wie ist es möglich, daß er an mich glaubt, an mich, die ich selbst nicht mehr an mich glaube?‹

Der warm innige Ton des fremden Briefes war wie ein Duft auf ihren Wegen. ›Die Veilchen kommen wieder, und es wird nun Frühling, und ich – ja, ich fühle, daß die Sonne wärmt, auch mich wärmt, und ich bin nicht mehr schwach, ich werde niemand enttäuschen, der mich für stark hält – ich werde sogleich – sogleich heute – heute ist Sonntag, und ich bin frei – sogleich fahr ich zu diesem Rudolf Fischer im Dorfe Glatt!

Dies ist eine dringliche Sache!‹

Sie rief Rösli und fragte sie, ob sie mit ins Dorf fahren wolle.

Das Mädchen zauderte. »Ins Dorf möcht ich schon, aber zu den Kranken nicht.«

»Dies ist kein Kranker, Mädchen – dies ist ein kräftiger Mensch, der um andere sorgt.«

Rösli drehte sich hin und her. »Wenn er nicht krank wäre, gingest du nicht, Mama – du gehst ja nur immer zu Kranken.«

»Aber ich sage dir – und – übrigens – ist es dir denn so unangenehm, zu Kranken –«

Die Kleine nickte kummervoll; ihr zartes Gesicht drückte heftigen Ekel aus.

»Ich kann es nicht, Mama – laß mich zu Hause, sie sind so häßlich anzusehen, und« – aus den glanzlosen, dunklen Augen kam ein Anklageblick, zornig und düster – »du gehst ja nur immer zu ihnen, sogar am Sonntag.«

Josefine wandte sich ab. »So bleib,« sagte sie herb, »es wird einmal niemand glauben, daß du mein Kind bist. ›Häßlich und langweilig‹ – andere Worte hört man nicht von dir! Schäme dich!«

185 Rösli nickte, blutrot im Gesicht, dann tropften Tränen herunter auf die zusammengepreßten Hände. »Immer sagst du das! Immer! Immer!«

Josefine wurde ungeduldig. »Ach, das Gewinsel! Mach dich fertig und komm! Zu Mittag sind wir zurück, aber Papa und Hermann sollen voraus essen, auf alle Fälle.«

Rösli wollte nicht, nun erst recht nicht ...

»Heut nachmittag ist doch die Vorstellung, Mama! Ich will lieber ins Theater. Ich freue mich so auf die ›Versunkene Glocke‹. Es kommen Elfen drin vor und Waldgeister. Gehst du nun nicht mit hin?«

»Weiß nicht, ob ich zurück bin – die ›Versunkene Glocke‹ kann man noch immer sehen, Kind.«

Ein Wehlaut schrillte. Rösli weinte laut. Plötzlich schrie sie ganz außer sich: »Ich hasse die Kranken! Oh, wie haß ich sie!«

Sie stampfte mit den Füßen, wie sie als eigensinniges Kind zu tun pflegte, schüttelte ihre Locken, lief endlich hinaus.

Nicht einmal Adieu hatte sie gesagt.

 

Josefine fuhr.

Aber sie war tief niedergeschlagen, und zuweilen vergaß sie ganz, wohin sie fuhr.

›Sie sind mir entglitten, alle miteinander. Nina, meine kleine Knospe, die dort oben liegt unter den Gletschern von Camischolas, Hermann, der dort unten kriecht im Sumpf der gemeinsten Niedrigkeit seinen widrigen Genüssen nach – und mein Rösli – mein Rösli ein Nichts, eine kleine, enge, hirnlose, eifersüchtige Taube!

Was wird ihr Schicksal sein?‹

Der Zug rollte langsam durch eine hellbesonnte Hügellandschaft. Zwischen den blauenden Wäldern dehnten sich ebene, weiße Streifen, die Täler im leichten Schneeüberzug, der vor der Sonne zerfloß. Hier und da lag schon eine Matte schneefrei im gelblichen Sammetgrün des Frühlings. Buchen und Eichen glitten nahe am Wege vorüber, rostrot und blank im Schmuck der vorjährigen Blätter. Ein kleiner Birkenwald, durch den sie fuhren, stand noch blattlos, aber sonnig rotbraun das kahle Geäst; schon stieg darin der Saft des neuen Lebens. Und als Josefine den Wagen verließ, begrüßte sie auf dem lehmigen Eisenbahndamm die kleinen, goldgelben, feinstrahligen Sonnen des Huflattichs, die sich überall zwischen den Steinen hervordrängten, mit denen die Böschung belegt war, in kleinen Trupps, die rotbraunen Knospenknöpfchen dreist und hoch zwischen den aufgeblühten Sonnchen.

›Wäre doch mein Rösli hier,‹ dachte die Mutter, und sie atmete tief den frischen, feuchten Hauch der sprossenden Erde, und dann bückte sie sich zu den frühen Blumen, dem Huflattich und dem zarten Ehrenpreis, der am naßglitzernden Feldrain dicht über dem Boden seine kleinwinzigen Blauäugelein aufsperrte. Aber sie pflückte sie nicht.

186 Und wieder beschwichtigte sie ihre Angst mit der Hoffnung, daß Rösli ein Talent entwickeln würde, eine musikalisch-dichterische Begabung.

›Sie ist noch Kind,‹ tröstete sie sich, ›und Kinder sind Egoisten. Sie wird über sich hinauswachsen, und allmählich wird in ihre kleine Versmusik eine Seele einströmen. Meine weiße Hyazinthe im Keller, meine seltene Blume,‹ dachte sie zärtlich.

Sie trat auf den Dorfweg, und die köstliche Frische des Frühlingstages kühlte ihr die Stirn. Wie ein Hort des Friedens lag das saubere, behäbige Dorf mit seinen großen, weiß oder rosa getünchten Häusern, eingebettet in die weiten Felder, zwischen denen der Pfad hinführte. Überall ragten die grünen Spitzen der Saat aus der leichten Schneebedeckung, einladend wand sich links ein schmaler Fußsteig in den Wald, einen lichten Buchenwald, voll dunkelgrünen Efeus am Boden und an den weißgrauen Stämmen hinauf.

Josefine hielt den kleinen Plan aus Fischers Brief in der Hand. Sie blickte darauf von Zeit zu Zeit und fand ihn wunderbar genau, jedes Haus, jede Straßenkrümmung war darauf verzeichnet.

Still und feiertäglich, mit blanken Fenstern und blühenden Geranien und knospendem Goldlack dahinter lagen die Häuser. Die Scheuern waren geschlossen, kein Ackerwagen stand im Wege, die Dungstätten waren sorgfältig aufgeschichtet, die Stalltüren standen halb geöffnet, um Luft und Sonnenschein zu den friedlich wiederkäuenden Tieren einzulassen.

Aus dem roten Kirchlein, an dem Josefine vorüberkam, erklang des Pfarrers skandierende Stimme; das stattliche, steinerne Schulhaus trug in breiten, weißen Buchstaben auf rotem Grundbande die Inschrift: ›Wissen ist Macht.‹

Am Gasthaus »Zum Hirschen,« dessen Fenster aus neubemalten, rotbraunen Rahmen wie dunkle Augen blitzten, trat der Wirt unter die Tür und prüfte den Eindruck des Geweihschmuckes an seiner Mauer auf die Vorübergehende.

Dann war das schnelle, glatte, grüne Flüßchen da, mit spielenden Kindern an den grasigen Hängen; die Kinder boten ihre schmutzigen Händchen dar und lispelten ein scheues, verwundertes »Grüeß Sie.«

Dann kam die Linde, kurzstämmig, mit einer mächtigen, halbkugeligen Krone, die sogar laublos einen großen, netzartigen Schatten warf über den hellgetrockneten Weg und das glatte, gleitende, grüne Flüßchen, und aus der es in klaren, sonnenblitzenden Tropfen regnete.

Und dann war links ein niederes Häuschen mit grünen Fensterrahmen und braunem Fachwerk auf weißgetünchter Wand, und das kleine Haus hatte ein schmales, abgegriffenes, lose angelehntes Türchen über drei ausgetretenen Steinstufen.

Josefine sah nochmals auf die kleine Bleistiftskizze: dies war das Haus.

187 Sie schlug das Türchen nach innen und befand sich auf einem schmalen Gange, wo es nach Heu roch und ganz dunkel zu sein schien, aber das war nur der Gegensatz gegen die Lichtfülle des Frühlingsmorgens, aus der sie kam. Im Türchen war ein Fenster, und auch die kleine Tür, auf die sie zuging, besaß ein Fensterchen.

Sie tastete sich entlang und klopfte.

Eine Stimme, die lauter Willkommen war, sagte »Herein!«.

Das braune Zimmerchen mit der niederen Balkendecke war hell durchsonnt. Und all das klare Frühlingssonnenlicht fiel auf ein weißes Bett und auf einen dunklen Kopf auf den Kissen, einen Kopf, der tief und unbeweglich fest liegen blieb, während die Stimme, die wie von fernher hallende Stimme eines Menschen, der im Wald nach seinem Freunde ruft, unsicher aufhorchend sagte: »Grüeß Sie Gott ...«

Befangen, überrascht blieb Josefine an der Tür stehen. »Ich bin hier eingedrungen,« sagte sie, »verzeihen Sie doch, ich suche Einen, Namens Rudolf Fischer.«

Der bleiche, dunkle Kopf unter dem dunklen Haar lag regungslos und tief wie zuvor, aber in die Wangen strömte es rot, und die seltsam ergreifende Stimme sagte: »Sie sind am rechten Ort.« Und plötzlich lauter rief er: »Ach, aber Sie kommen von Zürich? Sie sind die Frau Josefine Geyer? O, Mutter! Mutter! es freut mich! aber es freut mich!«

»Sie sind der Rudolf Fischer, der mir geschrieben hat?« Josefine kam an das Bett.

Er bewegte die Hand ihr entgegen, aber zitternd, schwach, auf der Decke entlang. Josefine nahm sie in die ihre; es war die heiße, überzarte, durchgeistigte Hand eines Schwerkranken. »Ich bin's, der Ihnen geschrieben hat, und so schnell sind Sie gekommen zu dem ganz Fremden,« sagte der unbeweglich auf dem Rücken Daliegende, ihre Hand fest drückend, und immer noch mit dem Rot der Erregung in dem feinen, scharfen Gesicht mit der breiten Stirn über den tief eingesenkten Augen. Das gleichmäßige, gelbliche Blaß war wie von einem inneren Feuer durchglüht, wie durchscheinender Marmor, hinter dem das Abendrot brennt. »O, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind! Ich danke Ihnen.« Und mit ein wenig erhobener Stimme rief er wieder: »Mutter! Mutter!«

»Sie sind krank? Ihr Brief ließ mich das nicht vermuten. Sie liegen schon längere Zeit?«

»O ja! Seit zweiundzwanzig Jahren. Mutter! Mutter!«

Wie aus der Wand hervor trat ein altes Weiblein, braun wie eine ausgebrannte Kohle, verbrannt vom Leben, auf dem Kopfe ein wenig aschengraues, dünnes Haar, mit roten, ausgeweinten Augen, in deren Grund es warm und stetig leuchtete. Sie streckte eine hartgearbeitete, runzelige, aber feingeformte Hand aus, der Besucherin entgegen; mit der Linken hielt sie ein großes, frisches Brot an das weite, blaue Kattunjäckchen gedrückt. Die ausgeweinten Augen blitzten auf, und eine tiefe, innige Güte, die kein Leiden zu verzehren vermocht, sprach aus ihrem Gesicht. Mit den Worten 188 des Sohnes begann sie: »Ach, aber das freut mich! Frau Josefine Geyer, das freut mich aber auch, daß Sie zu uns kommen! Sitzen Sie! Nicht auf die Bank, hier auf den Sessel, daß mein Rudolf Sie auch sehen kann!«

Josefine saß und blickte bald den Kranken, bald die Mutter an. Wie ähnlich sie sich waren, obwohl in den Zügen ganz verschieden, und obwohl die Frau in Tracht und Aussehen eine schlichte Bäuerin war, während der Sohn mit dem geistvollen Gesicht und den schlanken Händen keinem Stand und keiner Klasse angehörte.

Aber auch der Mutter Ausdrucksweise und Benehmen hatte etwas Freies, Vornehmes, Gehobenes, wie Josefine das nie bei einer Bäuerin gefunden. Mit unendlicher Liebe blickte sie auf den kranken Sohn und sagte: »Er hat's sich so arg gewünscht, daß Sie kommen möchten, er hat etwas auf dem Herzen ... Es plagt ihn bei der Nacht.«

»Ja, es plagt mich,« wiederholte der Sohn, »aber Sie sind nun meine Hoffnung.« Er hob mit der rechten Hand ein ovales Spiegelchen am Griff von der Wolldecke seines Lagers und brachte es unter seine Augen. »Ich sehe Sie gut,« sagte er lächelnd, »wie jung und frisch Sie sind, o, das ist herrlich! Mit Hilfe dieses kleinen Spiegels, den ich bewege, schaffe ich mir Ersatz dafür, daß ich die Augen nicht bewegen darf. Nein, den Hals kann ich nicht drehen, die Nackenwirbel sind verwachsen. Die kleinste Bewegung – auch der Augen – macht mir arge Krämpfe, tagelang. Aber so geht's.« Er bewegte das glitzernde Spiegelchen. »Das Gras wird grün, die Spatzen tragen zu Nest. Aber die herrliche Zeit für mich ist vorbei – nun – es geht halt auch so ...«

»Wann war die herrliche Zeit für Sie?« fragte Josefine mit angehaltenem Atem.

»Im Winter, da ist meine Mutter bei mir,« lächelte der Kranke, »im Sommer bin ich viel allein, die Mutter ist draußen, auf unserem Land. Aber die Tür ist offen, es kommt Besuch, sie kommen alle herein, bald der eine, bald der andere, ›Grüeß Gott‹ sagen. Das ganze Dorf kommt, sogar jene, die ich lieber nicht sähe,« setzte er mit unterdrücktem Ton hinzu.

Die Mutter ging hinaus, um einen Kaffee zu bereiten für die Besucherin.

»Wie konnten Sie den Weg aufzeichnen, den Sie so lange nimmer gegangen sind?« wunderte sich Josefine.

»Den habe ich im Kopf. Das Gedächtnis ist eine wunderbare Kraft! Ich habe nie zuvor daran gedacht, daß ich die Lage unserer Wohnung im Dorfe und das Dorf selbst so fest im Kopfe hätte, aber als ich mir überlegte, daß Sie den Weg nicht kennten, und daß es notwendig wäre, Sie allen Fragens zu überheben, da nahm ich den Stift und das Papier und zeichnete jenen Weg ohne Mühe und ohne Nachsinnen. In solchen Augenblicken fühlt man sich reich. Sie fanden sich gut zurecht? Es gab keine Fehler?«

Er war unbeschreiblich rührend in seinem kindlichen und so begreiflichen Ehrgeiz und bewunderungswürdig in seiner Dankbarkeit.

189 »Oft und oft, viel öfter wohl, als ich selber weiß, bin ich, während ich hier lag, den halbstündigen Weg zur Station und zurück gewandert und habe so im Geiste repetiert. Aber Häuser sind gebaut worden, die ich nie gesehen, Güter haben andere Grenzen erhalten, da kam dann die Phantasie, die unentbehrliche Göttin, zu Hilfe, daß alles der Wirklichkeit entsprach. Innig dankbar zu sein – wieviel Ursache habe ich jeden Tag!«

Er sah so gehoben, so glücklich aus, dieser Leidende mit dem unbeweglichen Nacken und der beweglichen Seele; mit den kraftlosen Gliedern und der sieghaften Intelligenz. Und dazu diese kindliche Freude an seinem eigenen Können, dieser liebenswürdige menschliche Zug, der alle Zärtlichkeit erweckt.

Josefine sprach mit ihm über seine Krankheit. Er antwortete so, als handle es sich um eine dritte Person, nicht um ihn selbst. Eine heitere Objektivität war hier, eine abgeklärte Ruhe ohne Hoffnung.

»Ich habe eine Entzündung und Verwachsung der Halswirbel, eine dadurch bedingte Zerrung und Schädigung des verlängerten Marks. Es begann, ohne nachweisbare Ursache, als ich im Seminar war, ich zählte siebzehn Jahr. Gelähmt? Nein, bis jetzt nicht, dauernd nicht, aber kraftlos. Ich wäre so dankbar, wenn es nur so bliebe. Aber es wird nicht. Schon einmal gab es eine Lähmung hier im rechten Arm. Vorübergehend war ich blind, und die Gefahr des Erblindens besteht immer. Noch kann ich lesen und schreiben, wie Sie wissen. Das kleine Pult von der Decke wird dann herabgelassen. Ich lese viel – der Pfarrer liest mir auch vor. Mit dem Essen ist's einfach, ich hab seit vielen Jahren meinen Teller nicht mehr gesehen, und mein Speisezettel ist der denkbar bescheidenste. Es ist nicht ganz leicht, als vermögensloser Mensch zweiundzwanzig Jahre lang krank zu sein.«

Noch immer wußte Josefine nicht, wozu Rudolf Fischer sie hergerufen. ›Vielleicht ist's doch die Medizinerin, von der er ein neues Mittel für sich erhofft,‹ dachte sie, und ihr sank das Herz. Wenn dem so wäre, wer hätte die Unbarmherzigkeit, hierin etwas Herabsetzendes für den Kranken zu finden? Aber wir sind so geartet, daß wir uns fieberhaft sehnen nach dem Unbegreiflichen, nach dem Übermenschlichen im Menschen, nach dem, was wir selbst nicht tun könnten, das wir nicht von uns fordern würden, und das wir uns nicht zutrauen.

Und Josefines Seele, die so lange das kleine Stöhnen des Mitleidheischenden gehört hatte und den dumpfen Schrei des gepeinigten Fleisches – bebend horchte sie auf die Stimme dieses bleichen Überwinders im niederen Bauernstübchen. Daß er nicht für sich selber bitte, sondern für einen anderen, wünschte sie zu erleben. Es war etwas Mitleidloses, fast Grausames in diesem Wunsch, das fühlte sie. Aber mit abergläubischer Heftigkeit bewegte er sich in ihr. Sie sehnte sich, wieder zu glauben an den Menschen in der Erhöhung, nachdem sie so lange den Menschen in der Erniedrigung gesehen.

Und der Kranke schien ihre Sehnsucht zu erraten.

190 »Bis die gute Mutter mit dem Kaffee kommt, sag ich Ihnen geschwind, weshalb ich Sie da herausbemühen mußte,« begann Rudolf Fischer, und wieder war sein Ton so frisch und lebhaft, daß man sein Kranksein vergaß. »Es ist besser, die Mutter ist nicht zugegen, sie fürchtet sich meinethalb, die treue Mutter, und nicht ganz grundlos, aber hier gilt es, keine Furcht zu haben, denn es geht um zwei Menschenleben. Merken Sie auf. Nicht weit vom Haus, bei Nachbarsleuten, sind zwei fremde Bübli untergebracht, vier Jahre und zweieinhalb, Kostkinder, von einer Dorfgemeinde eines anderen Kantons für das übliche Kostgeld hierher versorgt. Aber die Kosteltern sind völlig gewissenlose Menschen: Hunger, Schläge, Unreinlichkeit, Zurücksetzung gegen die eigenen, schlechtgewöhnten Kinder – Milch von einer kranken Kuh und, wenn sie schreien, Einsperrung zu den Säuen im Schweinestall – so ist ihre Elternschaft. Ohne Fürsorge, ohne Reinlichkeit, wie man sie für das Vieh aufwendet, und ohne einen Funken Liebe. Und wie kann ein Kind ohne Liebe gedeihen?« Seine Stimme brach, seine Lippen wurden bleich, Schweiß stand auf seiner Stirn.

Josefine hatte sich aufgerichtet, kaum bezwang sie sich: »Man muß sie holen, sofort! Ich nehme sie mit heim zu mir – man muß!« rief sie erregt.

»Warten Sie! warten Sie!« sagte der Kranke, »hören Sie alles. Der Vater der Kinder, der leibliche Vater ist nicht von hier; er soll einen Einbruch verbüßen, befindet sich im Strafhause für lange Jahre. Die Mutter hat sich von ihm geschieden, Vermögen gibt es nicht – begreiflich! – so hat die Gemeinde die Bübli ausgetan. Ich höre ihr Angstgeschrei alle Stund, da man sie plagt. Sie kommen zu meiner Mutter um ein Stücklein Brot, eine gelbe Rübe. Aber die Mutter ruft sie dann hinter die Tür oder in den Schopf, denn es darf s niemand sehen im Pflegehaus, man vergönnt's ihnen nicht. Wagt einer der Nachbarn etwas dawider zu sagen, so gibt's grobe Reden. Immer heißt's: Die Lausbuben sind in den Grund verderbt, das werden einmal auch Zuchthäusler, das schlimme Blut muß herausgeprügelt werden –«

In zorniger Aufregung unterbrach ihn Josefine: »Die rohen Unmenschen! Ja, ja, so reden sie! Das ist ganz typisch, immer, ohne Ausnahme reden sie so. Immer wälzen sie ihr Verbrechen auf die Kinder über, schreien, die Kinder seien schlecht. Und was das tollste ist – man glaubt's! Kinder von zwei, von vier Jahren sind schlecht, müssen mißhandelt, körperlich und moralisch zerdrückt, zu den Säuen gesperrt werden, weil sie schlecht sind! Ich habe einen Kerl gekannt, einen Schlosser aus Bayern, der brannte seinen neunjährigen Buben mit glühenden Eisen auf dem Rücken, um ihn zur Achtsamkeit zu gewöhnen! Es gibt Lehrer, die ihre Schüler mißhandeln, weil sie kurzsichtig oder schwerhörig sind. Es gibt Lehrer, die ihre Schüler töten, um sie gründlich zu bestrafen. Wegen eines nicht gelösten Rechenexempels hat ein Lehrer in Schöneberg einen zehnjährigen Schüler getötet. Wahrheit! Aber der Lehrer hieß dann nicht Mörder, sondern ›schneidiger Kerl‹. Oh, wie ich diese rohe Bande hasse!«

191 »Ja,« sagte der Kranke tiefatmend, »ich hasse sie auch! Aber viel ist Mangel an Phantasie, meinen Sie nicht? Man sollte diesen Leuten auch die eigenen Kinder nicht lassen, sie taugen nicht zum Erziehungswerk.«

Josefine war aufgestanden und ging unruhig umher. »Es tut mir körperlich weh, diese Vorstellung, daß die Bübli dort schmachten. In der Räuberhöhle. Lassen Sie mich hin. Auf den Armen trag ich sie hinaus. Sie sind dann feig, die Quäler. Nicht eine Stunde mehr möcht ich sie dort lassen. Eine Stunde ist viel, wenn man gepeinigt wird. In den Stall zu den Säuen, sagen Sie? aber sie können epileptisch werden vor Angst und Schrecken!« Sie hatte den Hut, ihr einfaches schwarzes Filzhütchen, vom Nagel genommen.

Aber der Kranke hielt sie ängstlich zurück. »Nicht! o bitte nicht so! es ist unmöglich, sogleich dorthin zu gehen, ohne daß Sie meiner Mutter das größte Elend bringen,« flehte er. »Ja, wenn's so leicht wäre, Abhilfe zu schaffen – aber das muß alles gesetzmäßig und überlegt geschehen! Die geben sich nicht leicht, die wollen ja das Kostgeld nicht verlieren! Und es darf nicht heißen, daß ich die Sache verraten habe, der Mutter halb darf es nicht sein. Ich hab auch lang gekämpft, ob ich schreiben darf. Im Dorf hängt halt alles zusammen. 's ist nicht wie in der Stadt. Wenn einer den Ackerwagen will, so geht er in meinen Schopf, ohne langes Fragen, und nimmt ihn, wann ich nicht daheim bin. Wenn einer etwa ein Blatt Papier, irgend einen Gegenstand nötig hat, so geht er in ein Haus, nimmt den Schlüssel, wenn keiner daheim ist, schließt Kisten und Kasten auf, holt sich heraus, was er braucht, und meldet's später einmal. Wir sind alle einander verpflichtet, wir sind alle einander nah. Aber dieses Verhältnis fordert auch Schonung der Fehler. Die Augen drückt man zu. Es ist schwer, zum Nachbar zu sagen: ›Gottlos handelst du an anvertrautem Fleisch und Blut.‹ Die gute Mutter bringt's nicht fertig, es würd auch keinen Wert haben. Die rohen Leute taugen nicht zum Erziehungswerk, ich sagt's schon, man sollt ihnen auch die eigenen Kinder nicht anvertrauen. So pflanzt sich Roheit ohne Ende fort. Dann aber ertrug ich's nicht mehr, ich schrieb an Sie, von der ich soviel Gutes gehört, und gleich sind Sie gekommen! Ich kann Ihnen Ihre Liebe nicht vergelten! Gott segne alles, was Sie tun.« Erschöpft schwieg er.

Die alte Frau mit den ausgeweinten Augen kam wieder herein, mit ihr der kräftige Geruch brennenden Reisigs. Sie blickte ängstlich von dem Sohn auf die Besucherin. »Nun, wissen Sie's dann? Mein Rudolf gab nicht Ruh; Tag und Nacht sind ihm die armen Bübli im Kopf gelegen. Aber mir ist angst um meinen Rudolf. So herzlose Leut, wo unschuldige Kinder mißhandeln, können auch dem Rudolf –« Sie brach ab und seufzte aus schwerbedrückter Brust. Dann, während sie ein Tischtuch ausbreitete, blickte sie flehend zu Josefine auf: »Schonen Sie meinen Rudolf! Er hat keine Furcht, aber mir ist's fürchterlich angst bei der Sach. Wann jetzt Nachfrage kommt bei den Kosteltern, und sie wissen, daß der Rudolf –« Sie legte die runzeligen Arbeitshände 192 zusammen: »Sie täten ihn überfallen – er ist immer allein –, täten da hereinkommen und ihm böse Grobheiten machen, ihn bedrohen – wohl gar –« Sie drückte ihre ausgeweinten Augen zu, als fürchtete sie, weiteres zu sehen, das da in diesem friedlichen, liebedurchwebten Stübchen geschehen könnte.

Ein gutmütiges Lachen vom Bett her ertönte: »Nun, so gar gefährlich ist's nicht! Aber die Mutter hat schon so viel um mich geweint – Vorsicht ist nötig, ihrethalben. Sie werden schon einen Weg finden, Frau Josefine, wo wir keinen wissen.«

»Ich werde einen finden. Sie und Ihre liebe Mutter müssen ganz aus dem Spiel bleiben. Es muß ja gelingen,« sagte Josefine warm.

In tiefer Rührung hatte sie zugehört. Die Offenbarung, die sie hier empfangen, überwältigte sie. Sie wird den Weg finden, ganz gewiß, in das Zuchthaus gehen, mit dem Gefangenen reden, mit dem Direktor der Strafanstalt, in seinem Namen die Kinder hier fortnehmen, es wird ja gehen. Aber was war ihr Tun gegen das dieses wunderbaren Schutzlosen, der noch schützend und warm das Ärmste umfaßte, das es auf Erden gibt: mißhandelte, gedemütigte Kinder, Kinder ohne Fürsprecher – wie leuchtete sein Bild sonnenumflossen im reinsten Schein! Weder seine eigene Hilflosigkeit noch die Angst seiner Einzigen, Geliebten, hatten ihn zu hindern vermocht, das auszuführen, was er für seine Pflicht erkannt: die Rettung dieser preisgegebenen Kleinen.

»Und war denn kein Gesunder da?« sagte Josefine, laut mit sich selber sprechend, händefaltend.

»Sie haben dann nicht Zeit,« erwiderte er sanft, »überlegen's auch wohl nicht so; wenn man so daliegt, da sind die Gedanken reger, als wenn man mit den Armen schafft. Ich habe Zeit für alles,« sagte er, »und die Phantasie, die es braucht.«

Es klang nicht wehmütig und nicht bitter, und es durchschütterte die horchende Frau.

›Mut und Kraft und Hoffnung strömt aus von dem Hoffnungslosen – Macht, eine gute, rettende Macht von dem Ohnmächtigen,‹ fühlte Josefine.

»Sie kommen oft daher um einen Rat,« sagte die Mutter, »mein Rudolf ist halt der Kopf vom ganzen Dorf, sag ich«.

»Ja!« rief Josefine, ihr die Hand drückend, »das ist er gewiß.«

Und vor ihrer erregten Phantasie erschien dies Dorf wie ein einziger Organismus. Viele Arme bewegte es, viele Muskeln, die sich rührten, aber hier, hier konnte sie das geheimnisvolle Leben des Hirns beobachten, das jenem dumpfen Treiben einen Sinn und ein Ziel verlieh.

Und wie sie weiter und weiter blickte, überschaute sie so die Erde, die ganze Erde, und sie war wie ein wüstes Durcheinander von Leibern ohne Kopf, die sich mit Fäusten und Waffen zu vernichten bemühten. Aber hier und da in dem Chaos glänzte ein heller Schein auf, derselbe Schein, der von Rudolf Fischers bleichem Haupt ausstrahlte. 193 Und jeder dieser hellen Punkte war eine fühlende Intelligenz. Und so blitzschnell die ganze Wunderwelt an Josefines Augen vorüberzog: doch entdeckte sie mit unendlicher Freude und Beruhigung, daß diese scheinbar isolierten Punkte durch feine, leuchtende Fäden miteinander verknüpft waren, und daß diese Fäden und diese Sterne ein harmonisch schönes Ganzes darstellten, Worte des Friedens und der allumfassenden Liebe über dem dunklen, eklen, wimmernden Chaos ...

»Sie schweigen, Frau Josefine,« sagte der Kranke, »aber nicht wahr, Sie werden die ärmsten Bübli retten? Ich fühle mich so beruhigt, seit Sie da zu mir hereingetreten sind. Es geht von Ihnen eine Kraft aus und ein Mut und eine Hoffnung – gelt, Mutterli? Oh, das ist herrlich! Sie sind eine glückliche Frau.«

»Ich werde die armen Bübli nicht mehr acht Tage dort lassen«, sagte Josefine entschlossen. »Es wird ohne alle Belästigung für Sie gehen.« Und dabei dachte sie unablässig: ›Kostbare, seltene Minuten, die ich hier verlebe! So groß ist der Mensch! So wohl tut es, einem großen Menschen zu begegnen. Was für ein Glück, daß ich gekommen bin.‹

»Glücklich sind Sie,« sagte der Kranke leise seufzend, »selber dürfen Sie handeln, müssen nicht andere vorschieben. Das muß herrlich sein.« Und mit einer leisen Schwärmerei im Ton fuhr er fort: »Wenn ich mir denke, daß Sie nun gehen, frei und leicht, ganz selbständig Ihrem freien, starken Herzen nach – wie ein Mann – und doch kein Mann, sondern ein Weib und mit dem Herzen eines Weibes – und die Welt, die Sie so nötig hat! Ich habe schon lange von Ihnen gehört – von Ihren Vorträgen – auch Ihre Schriften gelesen vom Recht des Kindes, das sonst nirgend ein Recht hat! Mir ist's jedesmal warm worden und der Mutter auch. Gelt, Mutterli? Ach, sprach ich das erste Mal, da finde ich eine Freundin. Verzeihen Sie meine Dreistigkeit: Sie sind mir Freundin! Und jetzt – was sollte ich beginnen, ohne Sie, ich Hilfloser –«

Josefine beugte den Kopf wie unter einem Blütenregen. Eine leichte Betäubung überfiel sie. Von allen Seiten schwirrten die Blüten um sie, und es duftete so süß, so schmeichelnd ... Keine Einsamkeit mehr, Liebe über ihr Verdienst, o weit darüber hinaus, Verständnis, Freundschaft.

Und dann – in jähem Stimmungswechsel, den die Erregung hervorrief, gedachte sie der Qual all dieser Monate, und sie begann zu weinen, unterdrückt zwar, aber dennoch hörte es der Kranke, den leisen schluchzenden Ton.

»O, o,« sagte er mit hellseherischer Sicherheit, »das war verfehlt! Ich habe nicht gefragt, was Sie angeht. Sie sind im Leid! Ja ja, Sie sind im Leid! Und ich habe Torheit gesprochen.« Sein Gesicht wurde ängstlich und traurig.

»Was ist Ihnen geschehen? Wer kann Ihnen Leid zufügen, daß Sie weinen müssen?«

Josefine erschrak vor seinem Ton. Sie wollte sich zurückhalten, aber der quälende Drang, auf eine Minute ihre eigene Last einem anderen zuzuwerfen, übermannte sie: 194 »Ich bin frei und gesund, zu gehen. Aber einen Sohn hab ich – und er – nennen Sie mich nicht glücklich!« rief sie leidenschaftlich, »Sie sind glücklicher als ich.«

»Er ist vielleicht auch krank, Ihr Sohn?« sagte die Frau Fischer mitleidig und sah voll Sorge auf ihres Rudolfs bebende Hände.

»Ach, wäre er so gesund wie Ihr Rudolf,« rief Josefine schmerzgepeinigt, »ich wäre glücklich!«

Die ausgeweinten Augen in dem sonnenbraunen Gesicht der Bäuerin starrten sie mit vorwurfsvoller Überraschung an. Sie hatte nicht verstanden.

Josefine aber sah, daß sie grausam gewesen, denn der Kranke atmete heftig, als wehre er sich gegen etwas Drohendes.

»Nein,« hauchte er schwach, »nein, nein, nein.«

Die Mutter ging an sein Bett, legte ihm die Hand auf die Stirn. Es schien, als bitte ihre Gebärde demütig um Erbarmen für den Sohn.

Eine stumme angstvolle Viertelstunde verging.

Die Wanduhr tickte mit metallisch hallendem Schlag – Schritte der Vorübergehenden, Kindergeplauder, das regelmäßige Klopfen kleiner Steine aufeinander ertönte – dann das liebkosende tiefe »gurr! gurr!« von Tauben auf dem Fensterbrett draußen.

»Die Täubli wollen Futter!« sagte Rudolf, wie erwachend, »Mutterli, gib ihnen auch.«

Reuevoll und unruhig hatte Josefine dagesessen – nun sah sie erleichtert zu, wie die alte Frau das Fenster auftat, und wie ihr die zwei zartblauen Tauben auf die körnergefüllten Hände flogen und pickten. Sie brachte die Zutraulichen dem kranken Sohn, und sie wichen kaum seinen streichelnden Händen aus, schlugen nur ein wenig mit den Flügeln und stiegen dann auf seine Bettdecke, um sich auch dort Futter zu holen.

»Verzeihen Sie nur meine Schwäche,« sagte er bittend zu Josefine, »so ein Anfall ist allemal etwas Arges. Es schwindelt einem so sonderbar, es ist grad so, wie wenn ich auf dem Kopf stände. Oder das Bett kehrt sich um, und ich schwebe über einem Abgrund, falle nicht, finde aber auch nirgend Halt. Oft geht es eine ganze Nacht so – ich liege dann angeklammert und falle doch unaufhörlich, wie mir scheint.«

»Ich bin zu lang geblieben, verzeihen Sie mir!« bat Josefine und wollte gehen. »Mir ist's jetzt angst, daß ich Ihnen geschadet habe.«

Aber nun baten Mutter und Sohn, daß sie noch bleibe, den nächsten Zug benutze.

»Ich habe immer viel Besuch, aber Ihr Kommen – das ist eine besondere Freude, das dürfen Sie mir nicht abkürzen, weil ich jetzt nicht brav gewesen bin! Aber nun werd ich schon.«

Und voll Stolz erzählte die Mutter, wie viel Briefe immer kommen »und Karten und Grüße jeden Tag für meinen Rudolf. Aus der ganzen Welt.«

195 »Die Schwerkranken und Unheilbaren sind auch eine Brüderschaft,« lächelte Rudolf, »und wir schreiben uns, deutsch und französisch. Das ist ein Trost und ein Genuß. Vielleicht haben Sie, als Medizinerin, von dieser Einrichtung gehört. Sie zieht sich um die ganze Erde. So lebt man trotzdem mit. Und auch Gesunde schreiben mir. Ich habe liebe Freunde.«

Er griff in ein ganz niederes Bort, das zu rechter Hand über dem Bette befestigt war, und holte einen kleinen Stoß Briefe und Karten herunter. »Viele liebe Freunde,« wiederholte er, »der liebsten einer ist der.«

Und er tat mit der rechten Hand in die linke eine photographische Karte und schob das Bildchen Josefine auf der Decke hin, die eben die Tauben verlassen hatten.

Josefine nahm das Bild – zuckte zusammen, bückte sich, um näher zu sehen, und dann, mit durstigen Augen sog sie sich dran fest ...

Es war Hovannessian.

»Sein Name ist Hovannessian,« sagte der Kranke mit zärtlichem Triumph, »und das Bild kommt aus Persien, denken Sie nur! Ein Armenier und mein Freund! Wie kann das sein? Aber er war in Zürich vor sechs Jahren, und zweimal war er bei mir. Mein Arzt hatte ihm von mir erzählt, und darauf besuchte er mich. Der liebe, liebe Freund Hovannessian.«

Die Mutter Rudolfs trat hinter Josefines Stuhl, umfaßte zutraulich ihre Schulter und betrachtete mit ihr das Bildnis.

»Und ich seh's auch immer wieder gern, weil er mir so lieb ist! Ja, der ist uns ins Herz eingegraben, gelt Rudolf? Die Stadt ist Tabris, sag ich's richtig? Ach, wieviel hat er auch erzählt, wie er hier war! Da ist er gesessen, auf dem gleichen Sessel, und wir sind nicht müd worden zu hören, der Rudolf nicht und ich auch nicht. Wie man dort im fernen Land das Brot macht und den Wein und die Teppiche, und wie man tanzt, und wie die Frauen so verschleiert sind und kein Recht haben, und wie man sich Märchen erzählt, die erwachsenen Leut, denken Sie auch!« Sie lachte mit kindlichem Wohlgefallen.

»Schöne Märli, wir haben's auch gern gehört, gelt Rudolf. Aber jetzt ist er dann ein Großer worden, schreibt sein Freund, wo auch manchmal an den Rudolf schreibt, Schulen gründet er, Schulen in Persien, für die Armenier, denken Sie. Aber einfach und arm ist er geblieben und geht noch immer im russischen Hemd, lueget Sie nur das Bild an.« Und sie deutete eifrig auf die Photographie.

»Und ein Dichter,« fiel der Kranke begeistert ein, »ja, das ist ein Mensch, wie ich sonst keinen kenne. Er dichtet das Leiden des unterdrückten armenischen Volkes, das die christlichen Völker von Europa hinschlachten lassen aus Freundschaft für die Türken, die sie morden. Aus Freundschaft – nein! aus Profitsucht! Ach!«

196 »Wenn man's nur lesen könnte!« sagte die Mutter, und ihre geschwächten Augen bekamen Glanz, »es muß herzzerreißend sein!«

»Ja, es ist dann russisch! Schad dafür!« Und mit einem sehnsüchtigen Seufzer setzte der Kranke hinzu: »O, daß ich ihn nur noch einmal sehen dürfte im Leben, den lieben, meinen lieben Hovannessian, Tag und Nacht möcht ich ihm zuhören.«

»Gefällt er Ihnen nicht?« fragte die Alte, jetzt völlig aufgelebt und beglückt; »gelt, er ist ein edler Mann? Ja, und wann ich hundert Jahr alt werde, nimmer vergeß ich's, wie er da saß und erzählte und so gut mit dem Rudolf war.«

Der Kranke faltete die Hände: »Er lebt, und Gott ist mächtig in ihm,« sagte er mit hingerissener Stimme, »und mir ist's ein Trost, daß ich ihn in der Welt weiß ... Ach, daß Sie ihn nicht kennen, Frau Josefine! Sie hätten sich auch verstanden, Sie zwei! Wieviel Gemeinsames, wieviel Ähnliches.«

In ihrer Begeisterung war es weder Mutter noch Sohn aufgefallen, daß Josefine ganz verstummt war.

Sie aber saß auf dem Stuhl, auf dem einst er gesessen, und hörte aus dem Munde reiner Liebe wiedererzählen, was er auch ihr erzählt, und sie fühlte seine Gegenwart hier so deutlich, daß Schauer auf Schauer sie überrann.

»Sie müssen dann einmal seine Briefe lesen,« sagte Rudolf, und ein zärtlicher Jubel war in seiner Stimme, »wenn Sie wieder kommen. Sie nehmen auch schon teil an ihm, ich fühl es. Ach ja, gewiß, Sie lieben ihn auch schon.«

»Ich liebe ihn,« erwiderte Josefine, und wieder fühlte sie den Blumenregen leise und duftend über sich herunterfallen, und sie schloß die Augen und lächelte: ›was für ein schöner Traum.‹

Eine kleine Weile stand sie noch an Rudolfs Bett, der fest ihre Hände hielt.

»Sie werden die Kinder retten,« sagte er. »Oh, dank Ihnen! Schönes haben Sie mir gebracht, Unverlierbares. So dankbar lassen Sie mich zurück, so beruhigt. Ich vertraue auf Sie für die armen Bübli! Und noch etwas ... Als Sie weinten, zuvor, da fand ich kein Wort. Zu tief – litt ich – mit Ihnen. Nun ist mir eins eingefallen, und ich bitte, nehmen Sie es mit. Es ist aus dem Augustinus: ›Ein Sohn solcher Tränen kann unmöglich verloren gehen!‹ Gott segne Sie! Gedenken Sie daran: ›Ein Sohn solcher Tränen kann unmöglich verloren gehen!‹ Gott segne Sie und segne alles, was Sie tun!«

 

Von Segenswünschen und Abschiedsgrüßen umflattert, von der alten Frau noch geleitet, trat Josefine auf die Dorfstraße hinaus.

»Kommen Sie wieder zu uns! Kommen Sie wieder!« bat die Frau mit den ausgeweinten Augen, und ihre Hände wollten Josefines nicht loslassen. Und als sie endlich fortgegangen war, die Straße hinab, sah sie noch immer die alte Frau stehen im blauen Kattunjäckchen, wie sie die Augen mit der Hand schützte und ihr nachblickte.

197 Im warmen Frühlingssonnenschein, der breit auf der stillen Dorfstraße lag, ging sie mit schwingendem Schritt entlang.

Es war ihr wunderbar froh zu Mut, und je weiter sie ging, umsomehr vertiefte sich dies ganz neue Wohlgefühl. ›Ist die Welt so schön? Ist das Leben so reich? Und diese Erde, die von neuen Kräften bebt, ist dies mein Boden? mein Wohnort? mein Aufenthalt? Aber das ist ja alles so reizend, so traumschön, so jung, so nie gesehen! Wo bin ich denn?‹

Sie schritt über das Brückchen und sah das glatte grüne Wasser ziehen, mit Goldfunken überstreut.

Sie schritt querfeldein und sah mit trunkenen Blicken das Sonnenglitzern auf der jungen grünen Saat, auf der kein Schneestäubchen mehr lag. Alles funkelte und blitzte und leuchtete, und ihr Herz schlug ungestüm, und immer schneller wurden ihre Schritte. ›Erneuerung!‹ fühlte sie, und das Wort durchzuckte sie wie ein belebender Kuß.

›Wiedergeburt!‹ fühlte sie, und es schien ihr, daß sie emporsteige aus einem dunklen Grabe, mit zitternden Augenlidern, mit ängstlich an den Leib geschlossenen Armen. Empor, empor, in die frischen, veilchenduftenden Frühlingslande, mit der Sonne über dem Scheitel und mit Freundesrufen von allen Seiten!

›Hier ist meine Welt,‹ fühlte sie, ›hier sind die Meinen! Hier, diesen gehöre ich – endlich, endlich habe ich gefunden.‹

»Hovannes,« sagte sie vor sich hin, und ihre Lippen küßten seinen Namen, und ihr Herz stürmte, daß sie gesagt, dort gesagt: »ich liebe ihn.«

»Ja! ja! In Ewigkeit! In Ewigkeit! Er lebt, und Gott ist mächtig in ihm,« widerhallten in ihr Rudolfs Worte, und auch ihre Hände falteten sich. ›In ihm liebe ich das Leben, oh, welcher Reichtum, welche Fülle, wie unerschöpflich reich bin ich selbst!

Ja, ich lebe, ich lebe wirklich. Ich habe gekämpft, ich habe gefühlt, ich habe gedacht, ich habe teilgehabt an den Gedanken meiner Zeit, ich bin ein Mensch!

Aber wo war meine Hoffnung? Hatte ich eine Hoffnung? War nicht alles nur Arbeit, Arbeit, Arbeit, Opium, um die Schmerzen zu betäuben, die Schmerzen und die Öde und die Hoffnungslosigkeit?

Aber nun – nun habe ich das heilige Land gesehen.

Nun funkelt über mir der schöne Himmelsstern, und trostreich ist sein Glanz.

Die große Güte – die ursprüngliche Schönheit der Menschennatur – sie ist Wahrheit, kein Traum – sie, sie allein ist Wahrheit, und einmal, einmal wird sie die Welt besitzen.‹

Und eifrig und glücklich begann sie, während sie schneller und schneller durch die sprossenden Saaten schritt, überall in dem, was sie bis jetzt erlebt, in den Menschen, die sie gesehen, in dem gesamten Menschheitsausschnitt, der ihr bis jetzt zugänglich gewesen, das Gute zu suchen.

198 Und – o Wunder – nun war es überall! Ja, es schien schamhaft, es verbarg sein errötendes Antlitz, es schien fast, als ob die Menschen sich schämten, ihre Güte zu zeigen. Aber es war überall, und es herrschte im stillen und machte alles wieder gut.

Aus dem Moder des Elends, des Unrechts, der Schmach brach es hervor in tausendfältigen Blüten, in allen Farben des Regenbogens. Selbst das, was am härtesten macht, Gewalt, Besitz, Dienst, bevorzugte Stellung, Wohlleben, war nur eine harte Rinde, aber gleichwohl durchdringlich für die Gewalt des Guten. Auch diese Rinde spaltete sich oft und oft, und auch aus diesen starren Stämmen brachen die zarten Blättchen, die freundlichen Blumen hervor.

Als seien ihr plötzlich neue Organe gesproßt, das überall verbreitete Gute wahrzunehmen – so war ihr zu Mut.

Und wieder sah sie jenes weite, großartige Bild vor Augen, das ihr in des Kranken stillem Stübchen so wunderbar das Herz geweitet und erhoben hatte.

Aber es war nicht mehr wie zuvor geschieden in Finsternis und Licht, nicht mehr so grell.

Auch über dem entsetzlichen, wüsten, eklen Chaos der gegeneinander erhobenen Fäuste und Schwerter lag schon jener zarte Schein, der der Morgendämmerung vorausgeht, und dieser Schein, unsicher und zitternd, floß zusammen aus Millionen und Millionen unsichtbarer Quellen. Das Heer der Sterne aber, das über jenem Chaos stand, war ein so starkes, unübersehbares Lichtmeer geworden, daß es unmöglich war für menschliche Augen, hineinzusehen.

›Sie hängen alle zusammen,‹ fühlte sie, ›mehr Licht in einem, weniger im anderen – es wird alles ausgeglichen! Wie schön! o, wie schön!‹

Und mit schwingenden Schritten und stark vor Freude und Hoffnung ging sie geradeswegs in den Glanz hinein.

 


 


 << zurück