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III. Münster i. E

Es war wieder ein herrlicher Morgen, als ich von Straßburg nach Münster fuhr, und so in der roten Sonne eines Sommertags durchs Elsaß zu fahren, ist lustig; und macht froh. Wahrlich »ein heiteres, fruchtbares, fröhliches Land«, und wohin immer man den Blick wenden mag, malerische Ruinen, schöne Kirchen, Dörfer, die stattlicher aussehen, als in Ostelbien die Städte, und Städte, deren jede wie ein Klein-Straßburg prangt, so altertümlich und zugleich mit stolzen Neubauten geschmückt. Und welche Namen schlagen einem dabei ins Ohr! Da Schlettstadt, die Hochburg des Humanismus, da, ob St. Pilt, auf stolzem Gipfel die Hohkönigsburg, dann die alte fröhliche Stadt des Weins und der Pfeifer, Rappoltsweiler ... Ich brauchte nicht erst im Reisebuch nachzuschlagen, die beiden Herren, mit denen ich das Kupee teilte, riefen die Namen aus; freilich sagten sie: »Schléstatt« – »Oconigsbourg« – »Ribeauville«, denn sie sprachen französisch. Der eine war ein Kolmarer, der andere ein Mülhausener Patrizier, und Beider Herz war ob ihrer Straßburger Eindrücke sehr bekümmert. Diese Leute würden gegen die Regierung immer zahmer, klagten sie einander, auch der Kolmarer seufzte, daß seinen Mitbürgern die rechte Kampffreudigkeit fehle, wogegen der andere stolz ausrief: »Mulhouse sera éternellement français!« Zum Beweis für diese französische Gesinnung von »Mülhüse« in Ewigkeit erzählte er Geschichten aus neuester und halbvergangener Zeit. Die erstere behandelte die unerhörte Frechheit eines rheinischen Fabrikanten, der einem Mülhausener Geschäftsfreund zugemutet hatte, seinem Schwager, einem dorthin versetzten Beamten, eine Wohnung suchen zu helfen; die aus halbvergangener Zeit die Suche nach einem Maire, den die Regierung bestätigen wolle. Man habe ein »amusant flon-flon« darauf gemacht, und dieser witzige Kehrreim lautete:

Z' Mülhüse wird a Maire gesuecht,
Das esch épatant,
Doch d' Laterne derzue,
B'halt 's Gouvernement.

Der Kolmarer war so entzückt darüber, daß er sich's ins Notizbuch schrieb, und ich that das Gleiche, auch ohne Schmerz. Das Ganze mutete mich gar nicht urfranzösisch an, im Gegenteil urdeutsch von Anno dazumal; so mögen um 1835 zwei deutsche Kleinstaatphilister gegen die hohe Regierung gestichelt haben.

In Kolmar zweigt das Bahnchen ins Münstertal ab; diesmal saß ich mit lauter wirklichen Franzosen im Kupee, doch sprachen sie kein Wort über Politik. Nur einmal klagte einer, es sei ein schönes Land, das sie verloren hätten, worauf ein anderer, die Deutschen hätten's nur »à termes« erworben. Ein karger Trost, denn wahrlich, auch das Münsterthal ist sehr schön. Nicht gleich im Anfang, aber mit der Zeit. Zunächst geht's nur in der Ebene und an einem Wald von Fabrikschloten vorbei: das ist Logelbach, wo die Herzog, Haußmann, Jordan, Hirn und andere Textilkönige jährlich einen Chimborasso von Baumwolle zusammenspinnen und weben; auf einem Kanal schleichen Lastbarken mit hochgetürmter Ladung gegen Kolmar. Dann tauchen grüne Hügel auf und wachsen an, je weiter die Lokomotive, immer scharf nach Westen, emporkeucht; wo keine Fabrik steht, da wogt ein Ährenmeer und grüßen Reben im Thal, von den Höhen aber winken Ruinen. Nun zur Linken der scharfgeschnittene Bergkegel, der die Plixburg trägt; zur Rechten das altertümliche Türkheim mit Mauern und Türmen; hoch über ihm, wie in den blauen Himmel hineingebaut, ein Gewirr gelbschimmernder Kirchen und Häuser: der Wallfahrtsort Drei Ähren. Hier tritt die Bahn ins Thal der Fecht, um es nicht mehr zu verlassen; steiler wird die Steigung, kühler die Luft, enger rücken die Berge zusammen und dichter wird der Wald; man kann auf Minuten glauben, im Schwarzwald zu sein: auch hier die hellgrünen Matten, die tiefgrünen Wälder, die sanft ansteigenden Berge, nur ist die Landschaft so viel fruchtbarer und belebter. Immer wieder Äcker und Weinberge, auf den Bergen die zerfallenen Ruinen; an der raschen Fecht viele Fabriken, dazu alle zwei Kilometer ein stattlicher Ort, Zimmerbach, Walbach, Weier im Thal, mächtige Kirchen, altersgraue Häuser, dazwischen weißblinkende Villen, kurz: alte Kultur und neues Leben. Wahrlich, auch in diesem Bergthal ist das Elsaß, wie der alte Sebastian Münster in seiner »Cosmographey« von 1544 rühmte, ein »voller Brotkasten«, denn in »diesem Landt findt du in dem Gebürg kein Ort, das nicht erbawn sey mit Weingärten oder Äckern«. Daher auch das rege Leben auf den vielen kleinen Bahnhöfen; der Zug wird immer voller. Von Weier bis Münster wandelt sich abermals der Charakter der Landschaft, hohe kahle Bergrücken werden sichtbar; auf den weiten grünen Matten stehen Sennhütten; es ist, als führe man den Tauern entgegen oder Kufstein zu; aber hier giebt's auch Fabriken, also Voralpen mit Industrie. Dichter rücken die Schlote zusammen, aber auch enger die Berge; eine Stadt, von hier gesehen stattlich und weit gedehnt, wächst dem Auge entgegen, über Häuser und Fabriken hinwegragend ein gewaltiger Dom von rotem Sandstein. Das ist Münster i. E.

Hier ist gut hausen, jedoch im Hochsommer hier ankommen ist minder gut. Das Bahnchen führt ja noch einige Kilometer tiefer in die Berge, aber in Münster leert sich's jählings, und auf dem neuen Steig, wie vor dem Bahnhof, ist ein Drängen und Schreien, daß einem die Rippen krachen und die Ohren gellen. Denn die meisten Reisenden, namentlich die Franzosen, wollen gleich weiter über die »Schlucht« nach Frankreich, und es stehen auch reichlich viel Omnibusse und Wagen da, sie zu befördern. Aber daran liegt's eben; die Wagen reichen, aber die Reisenden nicht, und so entbrennt um jeden Einzelnen grauser Kampf. Als ich bedächtig, weil durch das Wutgeheul gewarnt, aus dem Portal trat, bot der kleine Platz das Bild eines Kampfgefilds: je ein Reisender zwischen zwei Kutschern, die heulend an ihm zerrten – wohl den Besiegten, die bereits atemlos, mit geröteten Gesichtern und zerknüllten Hüten, im Omnibus oder Landauer saßen! Aber da ward auch ich gefaßt: »Mosié, voilà votre voiture!« gröhlte ein kleiner Schwarzer und riß mir den Schirm aus der Hand. »Mosie, do isch jo ihr Wägele!« ein langer Roter und entwand mir meine Handtasche. Und dann fuhren sie gegen einander los: »Lutzer!« – »Sempel!« – »Leäder!« – »Dreckspatz!« Mein Stock war mir geblieben; sanft hob ich ihn mit der Bitte, meinen Schirm fahren zu lassen, gegen den Schwarzen, dann mit demselben höflichen Wink gegen den Roten, – da brach ein neuer Kampf los, der unsere Aufmerksamkeit von unseren kleinen Meinungsverschiedenheiten ablenkte: die beiden riesigen Omnibuskutscher waren einander über eine ganz kleine Französin in die Haare geraten und wälzten sich im Staube. Schon waren beide ganz blau, als ein dicker Bahnbeamter erschien, eine hellrote Mütze auf dem Kopf und eine dunkelrote Nase im Gesicht. »Ruhe!« brüllte er, und da ward es still und die Wagen rollten ab. Ich habe in den Wochen, die ich hier verbrachte, fast täglich das Bahnchen benützt; nicht immer ging es so lebhaft zu, wie bei meiner Ankunft, aber zuweilen auch noch dramatischer. Sogar Blut sah ich fließen, wenn auch nur aus einer Nase, als ein Kutscher dem anderen zurief: »B'halt nur deine Pariser, du pariserest ja salwer«, denn »pariseren« heißt hier in wilder Ehe leben. Nun meine ich: Münster ist im Übrigen ein so friedliches und behagliches Nest, ließe sich dem nicht abhelfen?! Etwa so, daß der Würdige mit dem Hellrot über und dem Dunkelrot im Gesicht schon gleich bei Ankunft des Zugs »Ruhe!« brüllte?!

Im Übrigen will ich diesem Würdigen nichts Schlimmes nachsagen; er hat mir zwar wiederholt, wenn ich eine Fahrkarte verlangte, deren zwei hingelegt, aber das war nicht böse gemeint und hatte auch seine natürlichen Gründe. Ebenso habe ich das Schanbabtistle später besser schätzen gelernt, als am ersten Tag. Als damals nämlich die Wagen nach der Schlucht abgerollt waren, guckte ich mich nach den Spuren eines Münsterer Hotels um, und da gewahrte ich das Schanbabtistle in einer Ecke, die Mütze vom »Hotel Münster« auf dem melancholischen Köpfchen und das dünne, gebeugte Körperchen ganz mit Schirmen, Handtaschen und Plaids behangen. Es nahm aber doch geduldig auch mir Alles ab, den Gepäckschein dazu, und wies mir den Weg zum Hotel, das nahe dem Bahnhof in einem hübschen Garten liegt. Als ich eben in diesen Garten treten wollte, hörte ich hinter mir her rufen; da stand das Schanbabtistle und winkte mir zurückzukommen. Ich that's. »S'ischt nur«, sagte das Männchen in seinem schönsten Hochdeutsch, »a Hokele dabii. Namlig: b'sorge will ich Ihne die Bogosch gern, herzlech gern, aber Zimmer hätte mer net frei!« – »Und das sagen Sie erst jetzt?!« Worauf das Schanbabtistle so recht demütig: »Excüsez, Mosie, aber wenn Sie Portier im Hotel Münschter wäre, Sie thäte g'wiß no mehr verneglischire!« Da schlug ich ihm begütigt vor, zunächst wolle ich in seinem Hotel essen und dann solle er mir ein Zimmer suchen helfen. »Herzlech gern«, sagte das Männchen, »denn Sie, Mosie, thäte allein dumm ums Eck 'rum schieße.« So ging ich denn ins Hotel und aß im großen Saal mit sehr vielen Menschen zu Mittag, denn außer den Sommergästen, die stolz an einer gesonderten Tafel obenan saßen, waren noch zwei große Gesellschaften aus Straßburg und Kolmar da, die das feinste Elsässer Französisch sprachen. Das Essen war gut, das Hotel machte einen netten Eindruck, und wie ich so aus der Kühle in den Garten hinausstarrte, wo das Laub in der Hitze zitterte, ward mir bang vorm Zimmersuchen und ich guckte neidisch nach den Sommergästen hin. Neidisch, aber mit guten Gedanken. »Wenn doch einer von Euch«, dacht' ich, »jetzt eine Freudenbotschaft erhielte, die ihn zu sofortiger Abreise bestimmte!« Und siehe, diesen Edelmut lohnte der Himmel. Als wir beim Kaffee waren, trat ein Telegraphenbote ins Zimmer und rief: »Herr Polizeidirektor X.« Ein dicker Mann mit grimmigem Schnauzbart schnellte empor: »Hier, Rat X.« – »Direktor X.«, wiederholte der Bote. Die Ernennung! Freudiger Aufruhr, Glückwünsche, Champagner und Abreise. Nächst mir war das Schanbabtistle am vergnügtesten darüber. »Gottlowedank! D'Polizei is üs'm Hüs un i bräuch in d'r Hitz kei Loschi mit Faderbett z'süche!« – »Aber von einem Federbett hab' ich doch gar nicht gesprochen?« – »Jeder Berliner will a Faderbett!«

Nun, das hatte ich also und konnte daher die vielen, vielen Kissen schleunigst hinauswerfen lassen, aber im Übrigen fand ich das Haus freundlich und ebenso das Städtchen; zudem sollten's ja höchstens drei Tage sein, bis mein Zimmer auf dem Altenberg frei war. Und nun sind's drei Wochen geworden, und daß ich fort soll, will mir gar nicht zu Sinn. Ich hab's so gut hier; täglich sehe ich was Neues und Schönes und verbringe den Abend mit liebenswürdigen Menschen, die sich mit mir verständnisvoll des Gesehenen freuen und mir für den nächsten Tag wieder was Schönes wissen; ist's möglich, so begleitet mich einer von ihnen; wo nicht, so sorgen sie für einen kundigen Führer. Sitz' ich des Abends unter ihnen, dann glaube ich und vielleicht auch sie nicht, daß wir uns erst seit Wochen kennen, so gut sind wir einander geworden – und es sind doch Elsässer, aber neben dem Menschlichen bindet uns eben die gemeinsame Freude an ihrer herrlichen Heimat. Welche Fülle von Schönheit der Natur und gesegneter Arbeit der Menschen, von alter Kultur und Kunst und von Sage und Geschichte, und von neuem, überquellendem Leben! Gewiß, auch diese Fülle der Eindrücke ist's, die mich über die Zeit täuscht, die ich hier verbracht habe; jeder Tag brachte ja etwas Anderes, was ich nie vergessen möchte! Aber wie Vieles habe ich selbst in diesem Thal noch nicht gesehen! Wahrlich, wie ich mir nun, da sie zu Ende geht, so meine Münsterer Zeit überdenke, scheint's mir höchst vernünftig, daß ich blieb, und unsinnig, daß ich gehen soll. Nun, es wird ja wohl sein müssen, aber vorher will ich mir doch klar machen, was Alles mich freute und fesselte.

Was Alles?! »Das Städtchen gewiß nicht«, wird vielleicht Einer einwenden, der's flüchtig kennt. »Ein neuer, nüchterner Fabriksort im Thal!« Nun, wer so spräche, kennte Münster wirklich nur flüchtig, aber der fesselnde Magnet an sich war die Stadt auch mir nicht. Und die lieben Menschen, deren ich mich hier erfreuen durfte?! Gewiß, ohne sie wär's nicht halb so erquicklich gewesen, aber doch erquicklich genug. Denn sein Bestes bietet Münster Jedermann: es ist ein unvergleichliches Standquartier für den Reisenden, der diese reizvolle und merkwürdige Landschaft gründlich kennen lernen und dabei doch jede Nacht im selben Bette schlafen will. Wer von der Natur vor und nach der Table d'hôte nur so viel genießt, als ihm zu seinen eigenen Fenstern hineinguckt, wer nicht wandern und suchen, sondern ruhen und verdauen mag, für den ist Münster nichts. Aber wer sich am besten erholt, wenn er sich täglich ein neues Stücklein dieser schönen Welt erobert, der komme hierher. Auch wenn er nur die Bahn benützt, kann er haben, wonach ihn gelüstet, und täglich was Anderes: uralte, seltsame Städte und Flecken, wie Kaysersberg, Rappoltsweiler, Sulzbach, Weier und Türkheim, eine Kunststadt wie Kolmar, einen Wallfahrtsort, wie die Drei Ähren, merkwürdige Bergdörfer, wie Walbach, Mühlbach, Metzeral; nimmt er ein Wägelchen oder des Schusters Rappen zu Hülfe, so erschließt sich ihm das Gebirg von der Ebene bis zum Grenzkamm der Vogesen und nach Frankreich hinein: schattige Waldthäler, burggekrönte Höhen, einsame Seen im tiefsten Tannenforst, riesige Matten mit stillen Sennereien, verödete Grenzwege, auf denen der Pascher schleicht, und Pässe, über die der Weltverkehr fast betäubend flutet. Ich habe ein gut Stück Welt gesehen; kaum zwei oder drei Landschaften wüßte ich zu nennen, die solche Gegensätze der Natur und des Lebens vereinen, eine solche Fülle des Schönen oder doch Kuriosen aus der Arbeit eines Jahrtausends bieten, wie dieser Berggau zwischen Kolmar und Lothringen. Sein Mittelpunkt aber ist Münster; die Stadt ist, wie die größte, so die älteste Wohnstätte im Gau.

Das Alter, sagen Viele, sieht man Münster nicht an. Das ist richtig oder unrichtig, je nach den Augen, die einer mitbringt. Wer nur den Stadtgarten und das neue Hotel- und Villenviertel nahe dem Bahnhof durchstreift, mag freilich das Bild einer jüngst entstandenen Sommerfrische haben. Aber schon wer an den Webereien vorbei zum Marktplatz geht, müßte stumpfe Augen haben, um zu glauben, er sei in einem Fabrikstädtchen von gestern. Denn selbst die Gassen mit neuen Bauten sind eng und krumm, in anderen stehen mitten zwischen modernen uralte Häuser, und sieht er sich die Mauern der Fabriken recht an, so gewahrt er gewaltige Sandsteinbogen, mit Ziegeln ausgefüllt: Reste eines riesigen Klosterbaus; ähnlich sind die Mauern einer Brauerei in einen stolzen Kreuzgang eingebaut. Dann hier ein schönes altes Portal, dort ein Renaissance-Fries und dort wieder Giebel und Erker. Dazwischen öffnen sich uralte Gäßchen, auf der einen Seite wackelige Häuschen, auf der anderen eine dicke, aber brüchige Stadtmauer; eines, das »Grabengäßchen«, so schmal, daß einem beleibten Manne schwül wird und ein dicker stecken bleibt. Selbst Spuren der alten Thore sieht man noch, so nahe der Kirche St. Leodegar, wo heut' eine kleine Herberge steht. Von Denkmälern und Bauten aus alter Zeit, die sich unverändert erhalten haben, giebt's freilich nur noch wenige. Da steht im Stadtgarten auf einem Sockel ein verwitterter Löwe aus Sandstein, der vergnügt grinsend sein mächtiges Hinterteil emporstreckt. Die Fremden gehen achtlos daran vorbei oder wundern sich, daß man das wacklige Ding auf einen Ehrenplatz des modernen Parks gestellt hat, aber die Münsterer haben recht daran gethan: der morsche Löwe mit der üppigen Hinterpartie ist ein so schnurriges und zugleich beredtes Denkmal alter Bürgerkraft, wie es nicht viele Städte im Reich haben. Dann unter den Bauten das Rathaus, ein spätgotischer Bau von 1550, von dessen Giebel der Doppeladler des heil. Römischen Reichs deutscher Nation hinabgrüßt. Denn in der Ratsstube, wo heute die Gemeinderäte von Münster dem Herrn Kreisdirektor sauersüße Mienen schneiden, brachten einst die Bürger des Freistaats Münster im Gregorienthal für Kaiser und Reich freudig die schwersten Opfer, und im Archiv dieses modernen Fabrikstädtchens finden sich stolze Privilegienbriefe aus den Tagen, da Berlin noch ein Fischerdorf war.

Es ist nicht Jedermanns Sache, während seiner Ferien in verstaubten Urkunden zu kramen, obwohl das an Regentagen ein mindestens ebenso kurzweiliger Zeitvertreib ist, als im Wirthshausqualm Billard zu spielen, auch nicht Jedermanns Sache, sich viel um die Vergangenheit eines Orts zu bekümmern, wo er nur einige Wochen zubringt. Ehrlich gesagt, auch meine Sache ist das nur dann, wenn ich ohne die Vergangenheit die Gegenwart nicht ganz verstehen kann, denn das Leben um mich her zu erfassen, es mitzuleben, und wenn's nur für Wochen wäre, ist mir allerdings Bedürfnis. Münster ist erst seit zehn Jahren eine Sommerfrische, seit kaum vier Menschenaltern eine Fabrikstadt, unter zehn Menschen leben sieben vom Webstuhl oder vom Fremden, und doch wäre einem nicht blos das Stadtbild, sondern auch das Leben und die Art der Menschen unverständlich, wenn man nichts von ihrer Geschichte wüßte. Zudem ist diese Geschichte so reich, der merkwürdigsten Fügungen und Entwicklungen voll, – und so deutsch! Wie es einst hier aufwärts und dann abwärts ging und nun wieder allmählich aufwärts geht, ist im Kern ein Stück unserer deutschen Volksgeschichte. Und mögen sie nun den Herrn Kreisdirektor ärgern, in den Reichstag stets einen »Elsässer« wählen, für Paris schwärmen und unter einander französisch parlieren – wer da weiß, wie sie einst waren und nun geworden sind, sagt sich lächelnd: »Nur zu, Ihr Guten, das paßt eben für vos têtes carrées – ›Schwowe?!‹ Selber Schwowe, und was für echte!«

Das wichtigste Schicksal fast jeder Stadt – es giebt auch Ausnahmen, Berlin z. B. – ist ihre Lage und das erste und deutlichste Dokument ihrer Geschichte ihr Name. Beides trifft auch hier zu. Wer eine der südlichen Höhen ob Münster ersteigt und herabblickt, etwa von der Terrasse des schönen »Schloßwalds«, versteht sofort, warum hier eine Stadt erstehen mußte. Sie liegt, ein gewaltiger Haufen von grellem Weiß und Rot inmitten dem Grün ihrer Gärten, dicht zu seinen Füßen, an den mächtigen Rücken einer breiten Kuppe, des Mönchsbergs, geschmiegt, von dem hellen Grau ihrer Dampfschlote wie von einem Fähnlein überschattet, in einem mäßigen Kessel, wo sich zwei Thäler zu einem dritten, zwei Bäche zu einem Fluß vereinigen. Grundverschieden ist der Charakter dieser Thäler; hart zur Linken des Beschauers, gegen Südwesten steigt das breite, aber steile »Großthal«, aus dem ein glitzernder Bergbach zu Thal stürmt, zum Vogesenkamm empor, daneben, durch den Rücken des Mönchsbergs von ihm geschieden, gegen Nordwesten das engere, wildere, von grauem Fels und dunklem Tannenforst starrende »Kleinthal«, aus dem ein anderer Gießbach in die Tiefe stäubt. Nachdem sie sich im Weichbild der Stadt vereinigt, fließen sie als »Fecht« gegen Osten weiter; dies dritte Thal streckt sich zur Rechten des Beschauers: mäßig breit, aber anmutig und fruchtbar, von Hütten und Mühlen, Burgen und Fabriken erfüllt, in sichtbarer Neigung zur Rheinebene hinabsinkend. So liegt Münster an der Grenze zwischen Gebirg und Hügelland, der Stelle, wo die Waldbäche zum Fluß, die Saumpfade zur Straße werden, zugleich der einzigen Stelle, wo sich Raum für eine größere Siedelung bot, denn auch vor dem Beschauer und hinter ihm, also gegen Norden und Süden, steigen terrassenförmig Berge auf, heller und sanfter als die des Groß- und Kleinthals, schimmernd vom Smaragd der Matten und freundlichem Laubholz, jedoch auch hier den Raum des Kessels, in dem sich die Stadt breitet, beschränkend. Aber er hat bis heute genügt und konnte vollends den Gründern dieser Siedelung genügen; sie wählten den Ort trefflich, malerisch sollte die Lage sein und zugleich ein Magnet des Verkehrs, wie ja die meisten ihresgleichen ebenso glücklich wählten. Denn schon der Name erweist, daß der Ort aus einem Kloster erwuchs.

Das »Monasterium in valle Gregoriana«, das »Münster im Gregorienthal« war eines der frühesten Klöster auf deutscher Erde, schon kurz nach 600 Papst Gregor I. zu Ehren von Schottenmönchen gegründet. Freilich nicht gleich hier, im wohnlichen, geschützten Kessel, sondern hoch oben im wilden Kleinthal, wo zwischen den tiefen, schwarzgrünen Forsten des Abts- und Silberwalds vom Hoheneck herab ein Gießbach seine milchigen Wellen zu Thal wälzt, durch Jahrtausende ein Versteck der Eber und daher noch heute »Schweinsbach« genannt. Wer jetzt hier von Stoßweier her auf gebahntem Pfad zur »Schlucht« emporklimmt, fühlt sich fast beängstigt von der düsteren, unheimlichen Schönheit dieser einsamen Waldwildnis, und findet es begreiflich, daß die mittelalterlichen Chronisten hierher die Jagdgründe Julius Cäsars und Karls des Großen legten; freilich stammelten sie da nur der uralten Volkssage nach, die den wilden Jäger im Herbst allnächtlich über den Bergkamm dahinlaufen läßt. Staunend aber sieht der Wanderer die Kapelle, die den Ort bezeichnet, wo hier einst die ersten Zellen der Schotten standen, das »Scottenwirle«, das nahe »Stoßweier« hält den Namen, freilich bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, fest. Denn wenn's hier selbst heute noch so unwirtlich und todeseinsam ist, wie erst in jenen Tagen! Kaum betretener Urwald bedeckte das Grenzgebirg zwischen dem Frankenreich und seinem Vasallenstaat, dem von »Elisassen« (fremden, d. h. germanischen Bewohnern) bewohnten, von den Etichonen beherrschten Elsaß; mit dem Getier der Wildnis, dem Auerochsen, dem Bären und dem Eber, mit dem Brodem des sumpfigen Urwalds mußten die frommen Siedler unter ihrem ersten Abt Oswald den Kampf aufnehmen, eh' ihr Acker etwas Frucht trug. Was sie hierzu bewog, war jener brünstige Hang nach dem Märtyrertum, die scheue Weltflucht, die dem schottischen Zweig der Benediktiner vor allen anderen eignete. Aber schon des Oswald Nachfolger, Colduvinus, verstand die Weisungen, die Papst Gregor den Jüngern seines Lieblingsordens gegeben hatte, besser: nicht fern den Menschen zu leben, sondern unter ihnen, und die alten Götzentempel nicht zu zerstören, sondern zu Tempeln Gottes zu machen. Darnach handelte Colduvinus, als er den sündigen Merovinger Childerich II. bewog, den Mönchen zur Errettung seiner Seele in jenem Thalkessel Kirche und Haus aufzurichten. Denn hier gab es Menschen, wenn auch noch nicht viele: Jäger, Hirten und Sennen; an der Stelle, wo die beiden Bergbäche sich zur Fecht vereinen, stand zweifellos ein ihren Göttern heiliger Hain, und darum mußte Childerich hier das »Monasterium ad confluentes« erbauen. Auch schenkte ihm der König das gesamte Thal vom Vogesenkamm bis gegen Kolmar, dazu einige fette Höfe der Niederung bei Schlettstadt. Freilich wurde er kurz darauf von seinen Vasallen ermordet, das Kloster aber gedieh jählings zu großer Bedeutung.

Verschiedene Umstände haben diese rasche und doch lange dauernde Blüte bewirkt, reine und unreine, löbliche und häßliche, denn nur aus weißen Fäden ist kein Schicksal auf Erden gewebt, und vollends niemals die Macht. Vor Allem: die Äbte huldigten dem Mächtigen, stützten oder verrieten den Wankenden, je nachdem sie seinen Sieg oder sein Verderben witterten, und traten den Gestürzten in den Staub. Wer immer über das Elsaß gebot, so lang er zu schenken hatte, war der Abt von Münster sein Freund, freilich nicht länger. So war nach Childerich II. Tode das dann heilig gesprochene Scheusal Dagobert II. des Klosters Gönner und Donator, so alle, alle Merovinger und Karolinger, die Heinriche und Ottonen, die Salier und die ersten Staufen. Unzählige Weiler und Weingüter, Höfe und Dörfer der Niederung bis gegen Straßburg, Breisach und Basel hin fielen dem Kloster zu; in seinem Thal vollends, von Kolmars Thoren bis zum Vogesenkamm, war nur der Abt der Herr; selbst auf die Gerichtsbarkeit über die Freien hatte schon Ludwig der Fromme zu seinen Gunsten verzichtet. Bis ins XII. Jahrhundert hinein dauerte dies stete Wachsen der Klostermacht; Münsterer Mönche wurden Bischöfe zu Straßburg, und mehr als ein Graf war unter den Äbten; kein Wunder, das Amt forderte mehr weltliche, als geistliche Begabung. Aber zu dieser stetig geübten, ebenso schlauen als rücksichtslosen Politik im Erwerben trat die gleiche Kunst und Kraft im Festhalten und Entwicklen des Besitzes. Die einst so menschenarme Landschaft wurde binnen drei Jahrhunderten zu einem der bevölkertsten Bergthäler des Elsaß, weil sich die Mönche ebenso aufs Kolonisieren verstanden, wie sie selbst treffliche Ackerbauer und Winzer, Viehzüchter und Sennen waren. Fast alle Dörfer, die sich heute im Groß- und Kleinthal finden, sind uralt, und alle desselben Ursprungs: zuerst gründeten die Mönche einen Meierhof, dann wurden Hütten für die hörigen Knechte erbaut, der und jener freie Handwerksmann aus der Ebene zog hinzu; schließlich war, schon der großen Entfernungen wegen, ein Friedhof vonnöten, dazu eine Kapelle, die sich zur Pfarrkirche erweiterte. Die größte Siedlung aber, gleichfalls durchaus ländlich, entstand ums Kloster; von ihm ging alles Leben, alle Kultur der Landschaft aus, zu ihm strömte sie zurück, seinen Glanz zu erhöhen.

Man weiß, solcher Kreislauf dauert nicht ewig; dann kommt der Tag, da das erstarkte Geschöpf nicht mehr seinem Schöpfer, sondern sich selber leben will. Hier dämmerte dieser Tag gegen Ende des XII. Jahrhunderts, da im Elsaß der Gedanke der Städtefreiheit, im Sturmhauch der Not, die zur Selbsthilfe zwang, aus hundert Funken zur Lohe wurde. Straßburg hatte sich nach langem Kampf von seinem Bischof befreit, andere Städte waren gefolgt, da rüttelten auch die Bauern und Hirten im Münsterthal an ihrem Joch. Das war begreiflich, denn der Abt war nicht blos ihr Zinsherr, dem der Freie steuern, der Hörige frohnden mußte, sondern auch der Gerichtsherr und der geistliche Zwingherr obendrein; sie waren in seiner Hand, wie das Lämmlein in des Geiers Krallen. Und doch war diese Bewegung im Münsterthal, eine seltsame, ja einzige Erscheinung; anderwärts that sich eine geschlossene, wohlhabende Bürgerschaft zusammen, hier waren's die Sennen, Jäger und Hirten des Groß- und Kleinthals, die sich mit den Ackerbauern des Fleckens verbanden; Ähnliches hat sich auf deutscher Erde um 1200 nirgendwo begeben, erst ein Jahrhundert später im Schatten des Rigi. Sieht man von der Sage ab, die den Kampf der Eidgenossen verklärt, und darf man Kleines mit Großem vergleichen, so war's im Grunde dieselbe Erscheinung, erklärlich nur durch den ungeheuren Druck von oben und den trotzigen, im Kampf mit einer rauhen Natur erstarkten Charakter eines einsamen Bergvolks. Anders freilich, friedlicher und zahmer war hier der Verlauf; zu einem Morgarten kam es nicht. Durch ein Menschenalter blieb der Kampf zwischen Abt und Unterthanen unentschieden; hier die furchtbare Waffe des Geld-, Blut- und Kirchenbanns, dort zäher, alemannischer Trotz. Da siegte endlich der schlauere Theil. Also der Abt? Nein, die Bauern. Seit Kaiser Friedrich II. über Deutschland herrschte, mühten sie sich um seine Vermittlung; war er doch ein Freund bürgerlicher, ein Feind geistlicher Macht. Die Gefahr seines Eingreifens zu bannen, bestürmte der Abt den Enkel Barbarossas um die »protectio specialis«, die Reichsunmittelbarkeit, und gewährte als Gegenlohn, was der Kaiser forderte, das Recht der Gerichtsbarkeit über das Münsterthal. Das war im Dezember 1235; der Abt frohlockte, aber die Münsterer auch, und mit besserem Grunde, denn acht Tage später verlieh ihnen der Kaiser das an ihn zurückgefallene Recht der Gerichtsbarkeit und andere wichtige Privilegien einer freien Stadt. So sah derselbe Monat hier zwei Staatswesen entstehen: die Reichsabtei Münster und den Freistaat gleichen Namens.

Der wackere Dichter der »Abderiten«, der ja als Ratsschreiber der Reichsstadt Biberach seine Erfahrungen sammeln konnte, hat einmal geäußert, Kurioseres habe die Sonne nie beschienen, als die Zwergstaaten im römisch-deutschen Reich. Das Seltsamste vielleicht sah sie durch vier Jahrhunderte in diesem Thal. Zwar daß es hier zwei Souveräne – Reichsabtei und Reichsstadt – auf demselben Fleck gab, war, wie man weiß, keine Seltenheit; natürlich lagen sie einander auch hier in den Haaren und rauften um jede Trift, jeden Grenzstein, jeden Zins von drei Groschen. Wer dabei im Rechte gewesen, der Abt oder der Rat, findet sich in den beiden neuesten Geschichtswerken über Münster – von Friedrich Hecker (1890) und von Ludwig Ohl (1897) – ganz genau nachgewiesen; nur wirkt leider das gleichzeitige Studium der beiden stattlichen Bände mehr kurzweilig als klärend, denn nach Hecker, dem Protestanten, war immer der Rat, und nach Ohl, dem Katholiken, immer der Abt im Rechte. Die Wahrheit aber ist, daß es selbst heute im Kampfe um die Macht weniger darauf ankommt, im Recht zu sein, als Recht zu behalten; der liebe Gott ist sogar jetzt noch stets mit den »besseren Bataillons«, und war es damals mit dem größeren Häuflein Gewaffneter, und darum muß Ohl oft bittere, auch ausführliche Thränen weinen (sein Buch hat 550 Seiten!) während Hecker die Weltordnung kurz und fröhlich als gerecht rühmen kann. Die Münsterer fochten selbst, der Abt mußte Knechte mieten; wie fast überall im Elsaß minderte sich auch hier die geistliche Macht durch das Aufstreben des Bürgertums wie des Schwertadels, das Sinken der Klosterzucht, das Schwinden des frommen Glaubens. Wenn sich der Kampf hier noch rascher entschied als anderwärts, so lag dies an Unglücksfällen, so wiederholten Bränden, die das Kloster trafen, aber auch an der trotzigen, streitbaren Art der Münsterer und vor allem an der weisen Verfassung, die sie sich gegeben hatten. Auch diese Verfassung war in ihrer Art einzig und wie man, um für ihre Entstehung ein Ähnliches zu finden, nach der Schweiz blicken muß, so für ihre Ausgestaltung.

»Die Stadt und das Thal zu Münster im St. Gregorienthal«, wie der Freistaat bei Kaiser und Reich hieß, war ein Bund aller damals bestehenden Gemeinden des Thals, also der Stadt Münster und der Dörfer Sondernach, Metzeral, Mühlbach, Breitenbach und Luttenbach im Großthal, Stoßweier und Sulzern im Kleinthal. Oder richtiger: eine Verschmelzung aller, denn jeder Bewohner des Thals war »Bürger zu Münster und im Thal«, und alle Bewohner politisch ganz gleichberechtigt. Dem Freistaat gehörten die Äcker, die Forste, die Matten, ihm die Jagd, die Fisch- und Weidegerechtigkeit, sogar der größte Teil der Herden, namentlich die Stiere, war Eigenthum Aller, also nicht der Einzelnen, nicht der Gemeinden, die nur lokale Verbände innerhalb der Bürgerschaft waren. Dies kam auch in der Zusammensetzung der Regierung zum Ausdruck: jedes Dorf wählte je einen Ratsmann, also zusammen sieben, Münster sechs, die dreizehn aus ihrer Mitte den Bürgermeister, hierzu kamen in den ersten Zeiten, da die Abtei noch dreinsprach, drei Vertreter des Klosters, dann, da im Thal neue Dörfer (Eschach und Hohrod) entstanden, ihre Abgesandten. Also eine Dekapolis, völlig zu einer Einheit verschmolzen und – dies ist das Merkwürdigste von Allem – nie von einem Hauch der Zwietracht berührt; die einzige deutsche Reichsstadt des Mittelalters, von der sich dies sagen läßt. Staunend liest man ihre Annalen; viel Kampf, aber nur nach außen, nie ein Streit um die Verfassung, nie eine Änderung; sie blieb von 1235 bis zur Annexion an Frankreich dieselbe. Die Lokalhistoriker suchen diese beispiellose Eintracht durch die Heimatliebe der Münsterer zu erklären, aber der Nürnberger oder Erfurter liebte seine Stadt nicht minder; hier fehlten eben die Gründe, die anderwärts die Bürger entzweiten. Es war und blieb ein rauhes, armes Volk von Hirten und Sennen, Jägern und Krämern; die wenigen Handwerker und Bauern abgerechnet, lebten sie alle vom Acker, vom Wald, von der Alpenwirtschaft; was Sebastian Münster 1544 von ihnen sagt, gilt für Jahrhunderte vor und nach seiner Zeit: »Ihr Handel und Nahrung ist mehrerteils von dem Viech auf alle Höhen der Berge, gleichwie im Schweitzer Gebürg.« Der einzige Ausfuhrartikel war ihr trefflicher Käse, der im Mittelalter fast noch berühmter war, als heute; von draußen bezogen sie nur Salz, Tuch und Eisen. Wie etwa Schwyz noch heute keine Stadt in unserem Sinne ist, geschweige denn einst war, so wenig das Münster jener Zeit; es gab damals zwischen den Bürgern ums Kloster herum und denen zu Sulzern oder Sondernach hoch oben am Bergkamm kaum einen Unterschied in Sitte, Erwerb und Besitz. So gab es hier keinen Gegensatz zwischen Dörfern und Städtern, Patriziern und Plebejern. Die Reichsstadt Münster war eben keine Stadt, sondern, wie sie sich selbst nannte, eine Gemeinschaft; »Sigillum communitatis vallis S. Gregorii« lautet die Umschrift des uralten Staatssiegels.

So einfach sich die Verfassung und alle Formen des bürgerlichen Lebens darstellen, so verzwickt laufen anscheinend die Linien der äußeren Politik des seltsamen Staats. Fehde reiht sich an Fehde und oft genug ist der Feind von gestern der Freund von heute, morgen aber wieder der Feind. Jedoch auch diese wilden Historien lassen sich auf eine einfache Formel bringen; möglich, daß ich sie selbst herausgebracht hätte, aber jedenfalls hat sie das Schanbabtistle zuerst ausgesprochen. Nicht bloß Portier, sondern auch Stiefelputzer und Menschenfreund, sah er die Geschichtswerke und Urkundenbücher mit Mißvergnügen auf meinem Tisch. »Üns koscht's Lampeöl und Sie, Musie, Kopfschwiiß, ün Beid's ischt für'n Teufel! Was isch da z' stüdiere?! Höre Sie, so sin' mir Münschtertoler g'si, herbeini (hartbeinig) namlig: Mein isch mein; schagrinir (bedrücke) mi net oder i zann (zeige die Zähne).« Recht hat das Schanbabtistle, das ist der rote Faden dieser Politik. »Mein isch mein!« – sie wollten behalten, was sie hatten, und lieber noch was dazukriegen, als verlieren, darum waren sie immer gegen den Abt und für den Kaiser; und weil es damals Sitte war, daß ein Nachbar den andern »schagrinire«, so »zannten« sie allezeit. Nicht immer freilich ging's ihnen gut aus. Dem Nachfolger Rudolfs von Habsburg, Adolf von Nassau, ebenso getreu, wie sie es diesem und vorher den Staufen gewesen, überfielen sie auf sein Geheiß das ihm feindliche Weier im Thal und plünderten es; als sie aber zum zweiten Mal kamen, den Weierer Wein zu verkosten, wurden sie überrumpelt und nur wenige kehrten in ihre Berge zurück. Das war 1293 und noch heute geht im Thal das Wort, den Münsterern bekomme der Weierer Riesling schlecht; ich selbst habe es in einem verräucherten Kneiplein zu Weier gehört, aber was es bedeute, verstand niemand mehr. Ein Menschenalter später (1330) gerieten sie um Kaiser Ludwigs willen mit Kaysersberg in Fehde; hier lohnte sich ihnen die Treue besser und aus dem päpstlichen Bann, in den sie als Anhänger Ludwigs gerieten, machten sie sich wenig; den wagte ihr Abt ohnehin nicht in voller Strenge gegen sie anzuwenden. Dazwischen liegen zahllose kleine Fehden mit einzelnen Edlen oder Städten des Thals und Gebirgs um ein Weiderecht, einen Acker, einen Zins – wie die Urkunden besagen, Verteidigungskämpfe und meist mit Erfolg ausgefochten. Aber wer »herbeini« ist und an Spieß und Sturmhaube gewöhnt, macht leicht den Krieg zum Handwerk; wie die streitbaren Sennen von Schwyz und Uri sich Beute aus dem Tessin holten, so stießen die vereinten Münsterer und Colmarer 1350 ins welfische Lothringen nieder und kehrten schwer beladen heim, um freilich kurz darauf (1354) unter einander harte Fehde zu führen. Im selben Jahr aber gründete Karl IV., dem Münster auch eine Gerichtsordnung verdankt, um den Landfrieden zu wahren und dem argen Raubadel zu steuern, den Zehnstädtebund des Elsaß (Münster, Türkheim, Mülhausen, Kaysersberg, Rosheim, Oberehnheim, Schlettstadt, Colmar, Weißenburg und Hagenau); wohl hörten auch damit die Fehden nicht auf, doch minderten sie sich. Freilich, wieviel der beschworene Landfriede, wieviel die Not der Zeit dazu beitrug, mag dahingestellt bleiben; die Abtei war durch Beraubung des Adels und lockere Zucht so arg herabgekommen, daß hier für die Münsterer nichts mehr zu holen war, und da zudem neben der Abtei auch die Stadt von Bränden heimgesucht wurde, so fehlten ihnen die Groschen für Kriegszüge. Das Beuteland Lothringen aber war ihnen nun verschlossen; der Herzog hatte sich durch Abtretung von Weideplätzen am westlichen Abhang des Vogesenkamms Frieden von ihnen erkauft, auch hatten sie sich verpflichtet, keinen Raubzug nach oder aus Lothringen durch ihr Gebiet zu lassen.

Da bot sich ihnen 1465 unverhofft die Gelegenheit, ehrlich ein Stück Beute zu gewinnen. Einige elsässische Ritter, darunter Herr Hans v. Lüpfen auf Hohhattstatt, hatten in Lothringen geplündert und kehrten mit dem Raub durchs Gregorienthal heim. Die Münsterer warfen sich ihnen entgegen, wurden aber mit blutigen Köpfen heimgeschickt; nur ihre dicke Stadtmauer von 1308 wahrte sie vorm Untergang; sogar ihr Banner fiel in die Hände der Ritter und wurde nach Hohhattstatt gebracht. Wer heut' von Sulzbach aus die Marbacher Höhe emporsteigt, trifft im tiefen Forst auf steilem Hügel die spärlichen Reste der Ruine, die einst, aus gewaltigen Granitwürfeln erbaut, eine der wehrhaftesten Burgen des Gaus war. Auf der Zinne ob dem Hauptthor prangte ein seltsamer Schmuck: eben jenes Schaustück, das heute im neuen Stadtgarten zu Münster steht; von dort oben streckte einst der steinerne Löwe dem Beschauer hohnvoll das gewaltige Hinterteil entgegen. Diesen Löwen schmückte nun Herr Hans von Lüpfen mit dem Banner des Freistaats, so daß das alte zerschlissene Fähnlein, auf dem vor Strömen Bluts kaum noch das Wappen, die drei Türme von Münster zu erkennen war, trübselig das triumphierende Hinterteil umflatterte. Es war ein Witz im Geschmack der Zeit, aber dem entsprach auch die Vergeltung. Auf die erste Kunde vom neuen Schmuck des Löwen ließ der regierende Bürgermeister von Münster, Hans Vogel, das Stierhorn durch die Thäler gellen, und wer einen Spieß, ein Beil, einen Morgenstern tragen konnte, fand sich ein. So zogen sie nach Hohhattstatt und wie viele dabei auch ihr Leben lassen mußten, sie brachen die Burg, holten sich ihr Banner und den Löwen dazu; den stellten sie in ihr Zeughaus. Aber damit waren die Abenteuer des steinernen Ungetüms noch nicht zu Ende; etwa neunzig Jahre später fingen sie erst recht an. Als sich die Münsterer 1550 ihre neue »Herrenstub«, das Rathaus mit einem Brunnen zierten, da wußten sie für diesen keinen schöneren Schmuck als den Löwen von Hohhattstatt. Und da sie dem Kloster niemals grün und zudem damals schon lutherisch waren, so stellten sie ihn so, daß sich nun der Abt der Aussicht aufs Hinterteil erfreuen durfte. Böse Zeiten hatte damals das Kloster und der Abt große Sorgen, aber diese Aussicht glaubte er sich als souveräner Reichsstand nicht gefallen lassen zu dürfen, und klagte zuerst beim Landvogt, dann, da dieser sich unzuständig erklärte, bei den Gerichten auf Umdrehung des Löwen, denn da der Brunnen zum Rathaus gehöre, der Löwe zum Brunnen und das Hinterteil zum Löwen, und da der Brunnen vor dem Rathaus stehe, so gehöre auch der Kopf des Löwen auf den Markt und nicht sein Gegenspiel, wie ja doch auch das Rathaus seine Fassade nach dem Markt öffne und nicht seine verschwiegenen Hinterkammern. Die Münsterer aber argumentierten: da der Löwe samt Hinterteil ihnen gehöre und der Platz dazu, so könnten sie ihn stellen wie sie wollten. Zwei Menschenalter währte der Prozeß und verschlang große Summen; da entschieden die Richter für die Stadt, dieweil Löwe und Platz unzweifelhaft reichsstädtisches Eigen und ein, wenn auch noch so großes, aber steinernes Hinterteil keine ungebührliche Belästigung des Nachbarstaates sei. Dabei blieb's aber auch nicht; um 1700, da die Franzosen die Herren geworden und mit ihnen der Abt, wurde der Löwe umgedreht ... An die neunzig Jahre kehrte er so, gewiß innerlich darob trauernd, seinen getreuen Münsterern das Hinterteil zu, da brauste das Echo des Bastillensturms auch durch dies Thal und der Löwe bekam die alte Stellung, wie sie ihm nach Ausspruch der weisen Richter zukam. Nicht für lange! Da genierte eines Tages einen besonders frommen Unterpräfekten des Löwen Hinterteil, das er für eine Verkörperung protestantisch-republikanischen Übermuts hielt, und das arme Tier wanderte wieder ins Zeughaus; für Jahrzehnte, bis 1890. Da kam ihm die Erlösung; der Löwe wurde im neuen Stadtgarten aufgestellt, in Wort und Lied gefeiert. Aber gerade dies sollte ihm gefährlich werden. Unter den Dichtern, die ihm huldigten, war auch sein alter Verehrer, Th. Vulpinus in Colmar, der ihn schon Jahre zuvor in seinem »Carmina faceta« lateinisch besungen hatte; nun that er's deutsch:

In stolzer Würde steht er da;
Daß ihn der Abt von hinten sah,
Erfreut sein Herz noch heute.

Das Gedicht wurde öffentlich vorgetragen, in dem (nebenbei bemerkt, sehr gut geleiteten) »Boten aus dem Münsterthal« und dann sogar im offiziellen »Führer« durchs Thal abgedruckt. Nun gab's ja in der Stadt nicht Abt noch Mönche mehr, wohl aber Klerikale. Und eines schönen Maimorgens von 1891 lag der Löwe im Grase ... Aber das schicksalsreiche Tier war samt Hinterteil heil geblieben und wurde im Triumph auf einen noch höheren Sockel gesetzt. Nun steht es, wie gesagt, stolz und fröhlich im Sonnenschein mitten unter den rauschenden Eichen des Stadtparks, und könnt' es reden, es würde sicherlich sagen: »Schagrinir mi net oder i zann!«

Bei dem nächsten wichtigen Ereignis ihrer Geschichte, der Einführung der Reformation, hatten die Münsterer diesen Wahlspruch nicht nötig; sie vollzog sich ohne jeden Widerstand des Klosters. Kein Wunder, denn der erste und getreueste Anhänger Luthers im Gregorienthal war – der Abt von Münster, Herr Burkhard Nagel, ein tüchtiger und sittlicher Mann. Alle seine Konventualen, sofern sie jünger als siebzig waren, hatten ihre Liebste, er aber wollte seine Erwählte, ein braves Mädchen, ehrbar ehelichen, wie ja die neue Lehre gestattete. Die Münsterer, schon um 1530 zum Teil lutherisch, hätten nichts dagegen gehabt, aber die Mönche widerstrebten und zwangen ihn, gegen eine Pension auf die Abtwürde zu verzichten, worauf der »verkommene Lüstling«, wie ihn Ohl nennt, seine Braut heimführte. Nach seinem frühen Tode verweigerte das Kloster der Witwe eine Abfertigung, was nicht verwundern kann, aber merkwürdig und für den Geist der Zeit bezeichnend ist, daß sie eine solche durch Schiedsspruch erlangte. Ein katholisches Kloster, das Witwe und Kinder seines einstigen Abts versorgen muß – wahrlich, nichts ist so seltsam, als daß es die alte Sonne nicht schon beschienen hätte! Um 1545 waren bereits Stadt und Kleinthal fast ausnahmslos lutherisch; brünstiger, als die Münsterer, wandten sich die Sennen dem Evangelium zu; so namentlich die Sulzerer, die besonders gern Psalmen sangen; das thun sie heut nicht mehr, aber die »Psalterer« nennt man sie noch jetzt, soweit der Hoheneck den Schatten wirft. Am längsten blieb das Großthal katholisch, fiel dann jedoch auch ab, als die Abtei immer mehr verkam; Abt war nun der einzige Mönch im Kloster, Petermann von Aponex, der alles verkaufte, wofür er Käufer fand, Zinsrechte, Güter und Reliquien; ein ganz verkneiptes Peterle. Die Münsterer aber kauften ihm nichts ab, sondern nahmen, was ihnen paßte, auch mit Gewalt; die Hoheitsrechte der Abtei standen nur noch auf dem Papier. Um 1560 gab es im Gregorienthal nur noch einen Glauben und einen Herrn: die evangelische Reichsstadt.

Dabei ist's im Wesentlichen ein Jahrhundert geblieben; der Versuch einer Gegenreformation brachte nur kurze Wirren. Diese auszugleichen, unterwarfen sich Abtei und Reichsstadt dem Schiedsspruch des greisen kaiserlichen Feldherrn Lazarus von Schwendy (1575); er entschied, wie die Vernunft gebot, zumeist für die Stadt, denn die weltliche Gewalt der Abtei ließ sich ja im protestantisch gewordenen Thale nicht wieder aufrichten. Als der Abt ablehnte, sich dem Schiedsspruch zu beugen, setzte ihm der alte Hitzkopf den Dolch auf die Brust und er unterschrieb; »er hat ihm zügeredt, wie der Schwendy dem Fafe«, hört man noch heut im Thal, aber wenn auch vielleicht die Drohung des biederen, aber jähzornigen Soldaten ernst gemeint war, so doch schwerlich die Weigerung des Abts. Denn der Schiedsspruch gab der Abtei mindestens soviel an Macht und Einkünften, daß sie ihre Scheinexistenz als Reichsstand fortspinnen konnte. Eine jämmerliche Existenz, und wenn einer dieser souveränen Herren und Äbte in einem Schreiben an seinen Vetter, welches das Münsterer Stadtarchiv bewahrt, bittere Klage darüber führt, daß die scharfen Zungen der Ketzer ihn gezwungen, alle seine Köchinnen bis auf eine, die »leidergotts gar alt und fast häßlich«, abzuschaffen, so beweist dies eine beneidenswerte Fähigkeit, über persönlichen Entbehrungen das allgemeine Leid zu vergessen. Denn damals gab's noch zwanzig, 1630 noch zehn und 1636 zwei katholische Familien im Thal; schon vorher war der letzte Abt vor den Schweden geflohen. Das war das Ende der Reichsabtei Münster, obwohl sie als Schatten noch sehr lange fortspukte.

Und die Reichsstadt Münster? Auch ihr letztes Jahrhundert ist das unrühmlichste ihrer Geschichte. Natürlich gab's nun keine Fehden mehr, aber äußere Politik trieb die Regierung auch nun; in welchem Maßstab läßt sich denken, wenn man erwägt, daß der Zwergstaat damals, durch Seuchen decimiert, rund 1800 Seelen zählte, und 1630 nur noch 1500. Da Frankreich der Erbfeind war und von Straßburg die Weisung kam, die Grenzen scharf zu beobachten, that auch Münster seine Schuldigkeit und noch mehr; es entsandte auf seine Kosten einen »fiffigen Völkerknecht« (Sennen) nach Metz, um festzustellen, was der König von Frankreich plane; der Knecht machte seinem Epitheton Ehre, er meldete, Ludwig XIII. habe »garviel Söldner und Reutter«, dahinter stecke »iwle Sach«, was sich ja auch bewahrheiten sollte. Auch auf dem Kreistage zu Worms ließ sich die Republik vertreten, doch that dies leider ihr Gesandter selten mit dem nöthigen Nachdruck, weil er meist nur Naturallohn in Form von Münsterkäse und gedörrten Forellen erhielt, was ja thatsächlich trotz aller Genügsamkeit die würdige Repräsentation eines souveränen Staates schwer macht.

Das sind lustige Sachen; die inneren Verhältnisse aber bieten ein düsteres Bild. Die Not der Zeit – eine Seuche folgte der anderen –, der Haß gegen den mühsam abgeschüttelten Papismus, der Zufall, der ihnen in ihrem Prediger Leckteig einen kalten Fanatiker zuführte, ließ die Münsterer in eine finstere, starre Orthodoxie verfallen. »Dieweil der allmächtig Gott uns um unserer großen Sünden willen mit schweren Gewittern, Mißwachs, Krieg und Pestilenz jetzt heimsuchet und kein ander Mittel ist, um seinen wider uns gefaßten Zorn aufzuhalten« – so beginnt die Kirchenordnung: »Gebott und Verbott wider allerhand Laster« von 1775, und dann folgen drakonische Vorschriften, deren gleichen man selbst in jener Zeit suchen mag. Auf Gotteslästerung und Ehebruch stand der Tod, Konkubinat wurde mit immerwährender, Verkehr unter Verlobten mit einjähriger Verbannung gebüßt; auf Ausbleiben vom Kirchenbesuch stand zunächst eine Geldbuße von etwa fünf Thalern heutigen Geldwerts, dann Freiheits- und entehrende Strafe. Ihr zu entrinnen war aber kaum möglich, denn an den Sonn-, Fest- und (vier!) Bußtagen mußte jedermann, an jedem Mittwoch mindestens ein Glied der Familie die Kirche besuchen, und nun gab's außer Münster nur noch eine Kirche im weitgestreckten Thal! Bei schwerer Haft verboten waren die »Gweltstuben« (Kunkelstuben) und das »Schwammen« (Fensterln); bei Hochzeiten durften nicht mehr als zehn Gäste geladen sein. Merkwürdig ist die Bestimmung: »Wer sich mit einem Welschen verheiratet, wird aus Stadt und Thal verbannt«; sie hatte unleugbar auch nationale, hauptsächlich aber religiöse Gründe; die »Welschen« jenseits der nahen Sprach- und Reichsgrenze waren ja katholisch! ...

Ob die Strenge nützte?! Schon nach drei Jahren wurden die Zügel noch schärfer angezogen; 1758 gab der Rat den Predigern »Erlaubnis und Befehl, den christlichen Bann öffentlich zu führen«, – und wieder einige Jahre später zog die Exkommunikation den Verlust aller bürgerlichen Rechte nach sich – weiter ging's nun freilich nicht ... Es ist die alte, traurige Geschichte: der Gewissenszwang macht die arme Kreatur dumpfer, trauriger, heuchlerischer, aber nicht besser und reiner. Kein Wunder, daß im Brodem dieser stickigen Luft, unter einer Regierung von abergläubischen Kleinbürgern und Sennen der Berge, die sich finsteren Priestern beugten, auch die Pest des Hexenglaubens unerhörte Opfer forderte. Von 1596 bis 1632, also binnen einem Menschenalter, wurden, soweit die Aufzeichnungen des Stadtarchivs reichen – vollständig sind sie sichtlich nicht – rund 30 Hexenprozesse gegen etwa 50 Weiber, Männer und Kinder geführt; die meisten wurden zum Tode verurteilt und auf der »Pfistermatt«, einem Anger vorm Stadtthor, wo heute der Bahnhof steht, verbrannt. Schätzt man die Zahl der Opfer auf 40 und erwägt man, daß die Seelenzahl damals nur noch etwa 1 500 betrug, so ergibt schon dies das furchtbare, selbst in der Geschichte der Hexenprozesse beispiellose Rechenexempel, daß während jenes Menschenalters etwa jeder vierzigste Mensch im Thal auf dem Scheiterhaufen starb! Wie überall, richtete sich auch hier der wüste Wahn meist gegen ältere Weiber – namentlich das Gewerbe einer Hebamme ging geradezu an Hals und Kragen –, von Hexenmeistern waren nur zwei angeklagt, hingegen im Herbst 1632 fünf Kinder zwischen fünf und zehn Jahren. Und die entartetste Phantasie könnte nichts gleich Häßliches und Empörendes ersinnen, als diese in allen Formen der hochnotpeinlichen Gerichtsordnung geführten Prozesse gegen arme, hilflose Kinder, deren eines offenbar am Veitstanz litt, während die anderen das einzige verbrochen hatten, daß sie dem kranken Kinde nachplapperten, sie seien mit ihm auf Katzen nach Münster zur Kirche geritten! Die Prozesse gegen die Weiber gleichen sich natürlich aufs Haar; der Richter fragte eben, und die Gefolterte stöhnte ihr »ja«, kaum daß zuweilen ein hysterisches Weib etwas Farbe in dies Gemisch von Wahnsinn, Grausamkeit und Lüsternheit bringt. Sie war Witwe oder hat mit ihrem Ehemann in Zwietracht gelebt; da erscheint ihr der Böse als stattlicher Junker und verführt sie. Die Hochzeit wird dann auf einer der einsamen wilden Bergklippen im Kleinthal gehalten; die Morgengabe »Peterlins«, wie sich hier der Teufel fast immer nennt, besteht aus einem großen Stück Gold, einem Stock und etwas Salbe. Das Gold wandelt sich in Unrat, aber auf dem Stock kann die Hexe reiten, und die Salbe bringt jedem, den sie haßt, Siechtum und Tod. Auch die Veranlassung zum Prozeß ist fast immer die gleiche; irgendein Strolch schimpft ein verhutzeltes Weiblein eine Hexe, worauf sie ihm das Gesicht zerkratzt; aus Rache läuft er zum Rat, und sie kommt in den Hexenturm. Aber noch Schlimmeres steht in und zwischen den Zeilen der Akten. Die schöne, neunzehnjährige Anne Marie, eine reiche, verwaiste Erbtochter aus Sondernach, mußte sterben, weil ihre Verwandten, die sie dann beerbten, eidlich bekundeten, die Anne Marie haben ihnen gestanden, sie weise auf Geheiß ihres teuflischen Buhlen jeden Freier ab ...

Homo homini lupus – während die Unglücklichen sich selbst zerfleischten, fielen andere über sie her. Noch mehr als die meisten Gaue Deutschlands hatte das Münsterthal unter den Greueln des dreißigjährigen Kriegs zu leiden. Schon die Kriegssteuer traf das verarmte Thal hart, dazu die Kosten der kaiserlichen Garnison, aber noch schwereres Unheil brachten die Unthaten der Soldateska; die Kaiserlichen plünderten und mordeten, ehe sie flüchteten; die Schweden und die Franzosen zur Feier ihres siegreichen Einzugs. Wie das »wild gethier« hausten sie; das Thal verödete; an die sechshundert Menschen flohen, das nackte Leben zu retten; an die dreihundert mußten sterben, unter dem Schwert, an den Folgen der Mißhandlung, vor Hunger und Kälte. Stadtchronik und Kirchenbuch sind mit Ausbrüchen wilder Verzweiflung gefüllt, aber nicht sie sind das erschütterndste Denkzeichen jener entsetzlichen Zeit, sondern das Lob der göttlichen Vorsehung aus dem Winter 1640, weil sie Rudel von Wölfen geschickt, welche die Leichen gefressen, die sonst, unbeerdigt geblieben, wohl auch noch Seuchen hervorgerufen hätten! In Münster war kein Haus unversehrt; die Bürgerschaft am Bettelstab; im Gebirge aber führten einzelne Verzweifelte einen Guerillakrieg gegen die Dränger, ob es nun Kaiserliche, Schweden oder Franzosen waren. Unfern der »Schlucht«, am Nordabhang des Hoheneck, stürzt steil ein »Schlatten« (eine Schlucht) zum Frankenthal nieder; die Rinne heißt noch heute der »Soldatenschlatten«; hierher lockten die Sennen 1637 einen Trupp kaiserlicher Reiter, die im Kleinthal gebrandschatzt hatten, und drängten sie in die Tiefe; nur einer entkam. Im Frankenthal ist eine Höhle mit eiskalter Quelle, der Keller genannt. Der Pfad, der hinführt, heißt der »Königspfad«, hier soll sich einst der Merovinger Dagobert II. vor seinen Feinden verborgen haben. Diese Sage ist keinem Sennen bekannt, wohl aber weiß jeder, daß der »Keller« den Mädchen und Frauen des Kleinthals während des großen Kriegs eine Zufluchtsstätte geboten habe. In Sulzern führten sie mich, als die Rede auf jene Zeit der Not kam, zu einem versteckten alten Stall: hier habe damals die einzige Kuh im Gregorienthal gestanden, welche die Soldaten nicht weggetrieben; das Wasser sei ihr des Nachts gereicht worden; nur weil sie gekalbt habe, sei die »Münsterthaler Rasse« erhalten geblieben. Romantischer, wenn auch nicht bezeichnender ist das Münsterer Wahrzeichen jener Zeit. Im »Fohpurdelme«, wie's das Schanbabtistle nannte – »Faubourg d'Elme«, es ist aber die urdeutsche »Allmende« des Städtchens – liegt ein verfallenes Häuschen; hier hat der greise, riesige Schmied Hans Würth als Rächer seiner Ehre den beiden Schweden, die seine Tochter entehrt, mit seinem Hammer den Schädel zerschmettert. Freilich verfiel er dafür dem Henker, aber während seine Mitbürger um ihn weinten, ging er tapfer zum Galgenberg, wie der Hügel ob der Stadt noch heute heißt, stolz aufgerichteten Haupts, wie ein Sieger. Mir ist kein deutscher Gau bekannt, wo die Erinnerung an den dreißigjährigen Krieg im Volk so lebendig wäre wie hier. Kein Wunder, wenige haben damals gleich schwer gelitten.

»Dem Höchsten sey aufs Höchste gedanckt!« Mit diesem Beisatz verzeichnet das Münsterer Kirchenbuch von 1648 die Nachricht vom »allgemein Fridinsschluß.« Und ein zeitgenössischer Bericht fügt hinzu, daß »damahlen in Stadt und Thal seit Menschengedencken wieder zum Ersten mahl Freudthränen geflosen«. Nun war ja die Not vorbei, und sie durften bei ihrem »teutschen Reich und Lutherwort« bleiben. Österreich hatte an Frankreich seine eigenen Gebiete im Elsaß abgetreten, auch war nun Ludwig XIV. »Landvogt«, aber das bedeutete lediglich die Pflicht des Schutzes ihrer Reichsunmittelbarkeit. Ebenso klar wie die Freiheit der Reichsstadt Münster verbriefte der westfälische Friede auch die der Reichsabtei; beide blieben von rechts wegen souveräne deutsche Reichsstände. Daran zweifelte auch in der ersten Zeit nach dem Friedensschluß niemand. Heimgekehrt, schloß sich der Abt, um die kärglichen Reste der einstigen Macht im lutherisch gewordenen Thal zu bewahren, nicht etwa an das katholische Frankreich, sondern an die schwäbische Kongregation der Benediktiner an, die ihn dann durch Geld und Novizen unterstützte, weil er ins Kloster keine Welschen aufnehmen wollte; ebenso handelte sein Nachfolger. Noch nachdrücklicher hielt die Stadt am Reich fest, da hier die Sorge um den Glauben und die eigenen Privilegien mitsprach. Die Friedenssteuer wurde trotz der Not der Zeit willig getragen, weil es »fürs Reich« war; als sie von den Lothringern, die ja auch nach 1648 den Kampf gegen Frankreich fortsetzten, 1652 gebrandschatzt wurden, wandten sich die Bürger um Hilfe an den oberrheinischen Kreistag zu Worms, der sie auch, wenngleich nur kärglich, gewährte.

Während sie noch voll Zuversicht waren, begann Mazarin sachte mit den Reichsständen im Elsaß aufzuräumen. Es geschah anfangs vorsichtig, aber zielbewußt und unaufhaltsam. Im Gregorienthal wurde zunächst die Reichsabtei aus einem schwachen Bollwerk gegen ein starkes für die Franzosen, aber erst nach dreijährigem Widerstand der Mönche. Dieser Widerstand ist ein merkwürdiger Beleg, wie stark damals noch der Haß gegen Frankreich im Elsaß war. Als 1653 der deutsche Abt gestorben war, wählten die Mönche einen Schwaben, Kleinhans, während der französische Landvogt, d'Harcourt, kurzer Hand seinen Sohn zum Abt ernannte. Und nun erwäge man die Lage: die Anerkennung des Franzosen bedeutete für das Kloster Wohlstand und die Möglichkeit, wieder für die Ausbreitung des Glaubens zu wirken, die des Schwaben Armut und fortgesetzten Triumph der Lutherischen. Gleichwohl wehrten sich die Mönche trotzig gegen d'Harcourt; die »urald teutsche Abtey dürfet nit verwelscht werden«, erst 1656, da ihre Not aufs Höchste gestiegen war, fügten sie sich drein. Statt des jungen Harcourt bestimmte die Regierung jedoch nun einen Pariser Prälaten, Charles Marchand, Almosenier des Königs, für den politisch wichtigen Posten. Anscheinend änderte sich ja dadurch nichts; auch Marchand wurde deutscher Reichsstand und leistete den Bürgern von Münster den Eid, ihre Freiheiten nicht anzutasten; in Wahrheit bedeutete sein Amtsantritt den Beginn der katholischen Gegenreformation und schwerste Schädigung der Stadt. Schon 1659 trat die Abtei aus der schwäbischen Kongregation aus und der französischen von Saint-Vanne bei; die deutschen Mönche wurden gezwungen, das Kloster zu verlassen, und französische zogen ein; gleichzeitig wurde das Kloster neu aufgebaut. Dazu bedurfte es großer Mittel, aber Marchand schaffte sie; die Rechte der Abtei gegenüber der Reichsstadt wurden »revidiert«; Acker, Forst und Zins forderte der Prälat zurück, und die französischen Richter sprachen sie ihm zu. Auf die neu gewonnenen Güter aber wurden Katholiken gesetzt, Welsche aus Lothringen, Tiroler und Schweizer.

Wie die Bürger der Reichsstadt dies aufnahmen? Es braucht kaum gesagt zu werden, da man nun ihre Art kennt; sie »zannten« immerzu. Aber nur in den ersten Jahren, da die Franzosen noch Gewaltthat vermieden, fruchtete der Widerstand mindestens scheinbar. Gleich den Kolmarern bequemten sich die Münsterer 1650 nur dazu, den französischen Landvogt soweit anzuerkennen, als »Unß die Munsterschen Fridens Articul binden«, nächst den Kolmarern wars ihnen zu danken, wenn d'Harcourt den Zehnstädten, sie zu beruhigen, im Juli 1653 Achtung ihrer Reichsunmittelbarkeit zusichern mußte. Als aber Mazarin den Revers des Landvogts als zu weitgehend annullierte, erklärten sie im selben Jahr auf dem Reichstag zu Regensburg, sie hielten am Reich fest, es komme, was da wolle, und »jubilireten«, als ihr Vertreter 1655 vom Wormser Kreistag die Kunde mitbrachte, sie hätten nun nach des Reichs neuer Kriegsmatrikel »zween Mann zu Fuß und einen halben Mann zu Pferd« zu stellen; es war zwar ein halber Fußgänger mehr als bisher, aber das Reich mußte eben gegen den Welschen gerüstet sein! Als Frankreich 1657 den »Conseils Souverain d'Alsace« zu Ensisheim errichtete und den Zehnstädten auftrug, fortab dort Recht zu nehmen, erwiderte Münster, es sei seit 1235 selber Gerichtsherr und darüber hinaus lebe ja noch das Reichskammergericht. Und 1658 sandten sie, so arm sie waren, zur Krönung Leopolds I. einen Vertreter nach Frankfurt a. M., damit er im Verein mit den Abgesandten der anderen elsässischen Reichsstädte die Aufnahme eines sie betreffenden Artikels in die Wahlkapitulation durchsetze. Das gelang, der Kaiser beschwor, die Zehnstädte beim Reich zu erhalten, und obwohl der Münstersche Gesandte diesmal nicht bloß unzählige Käselaibe und ganze Tonnen gedörrter Forellen, sondern auch bar Geld liquidierte, reute sie dies doch nicht. Ach, der Schwur war keine Forelle, geschweige denn einen Laib ihres trefflichen Käses wert! Nun, wird man einwenden, das wußte eben das Häuflein einfältiger Sennen nicht und hielt Frankreich Stand, weil es sich durch das Reich geschützt wähnte. Aber – und dies ist das Merkwürdige, ja Rührende – sie blieben stark, trotzig und treu, auch als dieser Wahn ins Wanken kam.

Das war schon 1661, als der neue Landvogt, Armand de Mazarin, ein Neffe des Kardinals, den Treueid von den Zehnstädten forderte; sie verweigerten ihn und wandten sich um Hilfe an den Kreis; dieser aber – antwortete nicht! Trotzdem erklärten sie, »sie schwüren sich nimmer vom Reiche los«, der Landvogt ließ ihren Vertreter, wie den von Kolmar, »bei Mantel und Arm« zur Thür hinausweisen, schimpfte sie »öffentliche Rebellen« und drohte mit seinem Kriegsvolk, sie blieben fest. Da nun Mazarin das Äußerste noch nicht wagte, so lenkte er ein; die Eidesformel wurde 1662 soweit verändert, daß der Rat sie ohne Beschwerung seines Gewissens leisten konnte, aber auch dies geschah nicht eher, als bis Mazarin seinerseits der »Ville et Vallée Impériale de Munster« ein »serment corporel« geleistet hatte, ihr » tous les droits, privilèges, immédiateté, libertéz, immunitéz, franchises, anciennes coutumes« zu wahren. Aber was dieser Eid wert war, erwies sich schon wenige Monate später, als Abt Marchand, wie erwähnt, die Inventur des Klosters »revidierte« und gleich den halben Besitz von Münster, Türkheim und Kolmar in Anspruch nahm; er griff dabei bis auf die Schenkungen Dagoberts II. zurück und berief sich u. a. darauf, daß er ja die Krone des Merovingers als Abtmitra trage. Die Städte, obwohl die Gefahr nicht unterschätzend, erwiderten kaltblütig, das »alte Blech« beweise nichts; das möge der welsche Abt behalten, sie aber den von ihren Vätern ererbten Boden, beachteten die Ladung des Landvogts vor den »Conseil Souverain« nicht, sondern luden ihrerseits den Abt als deutschen Reichsstand vors Reichskammergericht zu Speyer. Mazarin untersagte ihnen dies, sie blieben fest. Das Reichskammergericht erklärte sich für kompetent; Frankreich und das Reich unterwarfen sich einem Schiedsgericht, das über die Kompetenz entscheiden sollte, jedoch erst sieben Jahre später (1672) trat dies Schiedsgericht zusammen, erst 1674 entschied es fürs Reich, erst 1675 begann das Verfahren, und als es zur ersten Ladung des Abtes kam, war Münster längst rechtlos geworden.

Gewehrt aber hat sich die winzige Republik noch ein Jahrhundert lang, tapfer und trotzig, schließlich tollkühn und verzweiflungsvoll. Auch die Geschichte dieser Kämpfe verdient erzählt zu werden. Im Elsaß jener Tage findet sich kaum ihres Gleichen. Man weiß, Ludwig XIV. fand dort geringen Widerstand; und das ist begreiflich. Ein starkes Nationalgefühl in unserem Sinne gab's ja damals noch nirgendwo; es war mehr Festhalten am Gewohnten und Ablehnung des Fremden, als Liebe zur eigenen Art; das ungleich stärkere religiöse Gefühl aber sprach selbst bei den Protestanten nicht gegen Frankreich, das gleich Schweden ihr Bundesgenosse im Kampf um die Religionsfreiheit gewesen. Ferner die Machtverhältnisse beider Staaten; hier ein zerbröckelndes Reich in morschen Formen, siech und von Zwietracht zerrissen, dort eine gleichsam täglich mehr erstarkende absolute Monarchie unter einem genialen Fürsten. Kein Wunder, daß damals gerade die besten Köpfe im Elsaß in der Herrschaft Ludwigs XIV. kein Unheil erblickten; am liebsten wären sie ja zugleich auch beim Reich geblieben, um ihre Privilegien zu bewahren; aber war's unmöglich, so trösteten sie sich mit der Zusage des Königs, diese zu achten. Mächtig wirkte endlich beim Adel wie bei den Patriziern der größeren Reichsstädte die Anziehungskraft der feineren französischen Sitte, wie der für feiner gehaltenen Sprache mit. Anders freilich das Volk, dem der Erbhaß gegen den Welschen im Blute saß; schon darum regte sich der Widerstand vornehmlich in den kleinen, demokratisch regierten Reichsstädten. Aber nicht darum allein: wie weltdumm – warum sollte man dies Wort nicht bilden dürfen, da wir »weltklug« sagen – die Bürger von Türkheim oder Hagenau auch waren, die Erkenntnis dämmerte auch ihnen, daß ihnen ein starker Großstaat ihre Freiheiten gar nicht lassen könne, z. B. das jus gladii oder das Zoll- und Wegerecht. Am stärksten aber mußte der Widerstand in Münster sein, wo Abt Marchand seit 1659 mit dem Verwelschen, seit 1662 mit dem Ansiedeln von Katholiken und dem »Rückfordern des Klosterguts« begonnen hatte, in allem von Frankreich gefördert und geschützt. Ferner aber, mit den Münsterern verglichen, waren selbst die Türkheimer noch weltkundige Diplomaten; dort saß ein armes, einfältiges Volk, rauh und einsam wie seine Berge. Gewiß, klug handelten die Münsterer nicht, als sie mit dem großen Frankreich haderten; aber diese dunkle Erde wäre noch viel lichtloser, wenn alle Menschen immer zahm und klug handeln würden, und wenn sie nicht zuweilen von der Lohe jenes Kampfs erhellt würde, welcher der heiligste ist, den Menschen durchzufechten haben, des Kampfs ums Recht. In diesem Sinne will ich's versuchen, zu berichten, wie sich hier ein Häuflein Gemarterter immer wieder gegen seinen Zwingherrn erhob, soweit ich es aus den mir zugänglichen Quellen erkunden konnte. Denn es ist für die Denkweise der gebildeten Elsässer nach 1870 gewiß bezeichnend, daß sowohl der Protestant Hecker wie der Katholik Ohl diese traurigen Dinge totschweigen oder doch zu beschönigen suchen.

Der erste energische Vorstoß Frankreichs gegen die Zehnstädte geschah 1664; ein Reskript Ludwigs XIV. sprach ihm die Disposition über Stadtmauern und Zeughäuser, sowie die in Kirchensachen zu und verordnete Vollziehung der Magistratswahlen unter Vorsitz des Landvogts. Der Herzog von Mazarin besuchte jede der zehn Städte, das Reskript zu verkünden. Fünf der Städte fügten sich; drei andere, Colmar, Schlettstatt und Türkheim hörten den Herzog an, protestierten aber, während Hagenau und Münster ihm ihre Thore schlossen. Nach Hagenau konnte er nun nicht, wohl aber nach Münster, weil eins der Stadtthore im Bann der Abtei lag; aber es nützte ihm nichts. Die zweihundert waffenfähigen Männer der Stadt und des Thals zogen vor die Abtei und forderten, der Herr möge sich wegscheeren; das Papier in seiner Tasche kümmere sie wenig; wörtlich läßt sich in unserer zahmen Zeit nicht wiedergeben, wie die Münsterer das Reskript Ludwigs XIV. einschätzten. Als er dagegen remonstrierte, ward ihre Haltung eine so drohende, daß er schließlich verkleidet entfloh. So mußte der Statthalter des mächtigsten Königs der Christenheit sich in schimpflicher Flucht aus dem winzigen Münster retten, um Schlimmerem zu entgehen; die Bank, auf der sie ihm eine Tracht Gegengründe gegen das Reskript aufzählen wollten, stand schon bereit. Es war billige Weisheit, den »groben Völkern« blutige Vergeltung vorauszusagen; sie kam aber, äußerer Verwicklungen wegen, erst 1673: da machte der König persönlich der »Rebellion« im Elsaß ein Ende. Am 18. August 1673 überwältigte er mit 5 000 Mann Kolmar; am 19. wurde Türkheim besetzt; am 25. ritten sieben Schwadronen Wallonen in Münster ein. Widerstand wäre Wahnsinn gewesen, wurde aber gleichwohl von den Sennen nur deshalb nicht versucht, weil sich der Rat verzweiflungsvoll dagegen stemmte. Münster wurde wie eine eroberte Stadt behandelt, die Bürgerschaft entwaffnet und gezwungen, Mauern und Türme selbst zu schleifen, eine hohe Kontribution zu entrichten. Das lief ohne Blutvergießen ab; anders aber, als im Winter neue Garnison kam, die es namentlich auf den abgelegenen Höfen bestialisch trieb. Der Rat konnte dies ebensowenig hindern, als daß dort oben mancher Reiter spurlos verschwand ...

Im Herbst 1674 kam den Bedrängten noch einmal, zum letzten Mal, die Hoffnung, das Reich werde sie »dene welsche Geyerskralle entreißen«. Die Franzosen hatten vor den Kaiserlichen und Brandenburgern das Elsaß geräumt, nach dem Gregorienthal kamen vier Schwadronen Brandenburgischer Dragoner; in der Abtei, aus der Abt Marchand geflüchtet war, residierte zwei Monate der Sohn des Großen Kurfürsten, Prinz Friedrich, der nachmalige erste König von Preußen. Es ist rührend zu lesen, wie die armen Thalleute ihr Letztes opferten, die Gäste gut zu bewirten; waren sie doch »ihre lieben Freundt und fast Retter« und wie sie »lutherisch und teutsch«. Ach ja, »fast« hätten sie sie gerettet; aber da kam die Schlacht von Türkheim, das Zerwürfnis zwischen dem Großen Kurfürsten und dem Kaiser, schließlich der Friede von Nymwegen. Das Elsaß war verloren, und keine Stadt bekam das so zu spüren wie Münster. Kaum erschwingbar waren die Kriegskontributionen; seit 1679 klang im Thale keine evangelische Kirchenglocke mehr, der Rat hatte sie verkaufen müssen. Zu dieser Mehrung der Lasten gesellte sich jähe Minderung der Einnahmen; unter dem Schutz der französischen Säbel beschlagnahmte die Abtei die von ihr beanspruchten Güter; auch dabei floß Blut, zu Sondernach und Metzeral, zu Sulzern und Stoßweier ... Ein Jahr später, 9. August 1680, sprach die »chambre des réunions« zu Breisach die Reichsstadt Münster der Krone Frankreichs zu. Das war der offizielle Sterbetag des merkwürdigen Staats.

Es giebt Orte auf Erden, wo das Schicksal die Curiosa häuft, als wollte es seinen Spaß mit ihnen treiben; zu ihnen gehört Münster. Zweierlei namentlich kam auch nun anders, als man für möglich halten sollte. Auch jetzt noch gab es von Rechtswegen zwei Souveräne im Thal: Frankreich und – die Abtei! Um sie kümmerte sich die Breisacher Kammer nicht; der welsche Abt blieb deutscher Souverän. Als die Gesandten des Reichs und der französischen Republik im Januar 1801 zu Luneville zusammentraten, den Frieden zu schließen, der den Rhein zu Deutschlands Grenze machte, revidierten sie vorsichtshalber ein altes Verzeichnis der linksrheinischen Reichsstände, um festzustellen, welche von ihnen als an die Republik abgetreten zu verzeichnen seien, – da fanden sie zu ihrer großen Heiterkeit die verschollene Souveränität in den Vogesen! Ein richtiges Gespenst von Staat, denn damals gab's schon seit zehn Jahren zu Münster keinen Abt und kein Kloster mehr. Aber das Kuriosum hatte gute Gründe. Die Äbte waren die geistlichen Büttel Frankreichs, das lutherische, deutsche, trotzige Thal katholisch, französisch und zahm zu machen; zum Lohn erhielten sie alles, was sie vom Gut der Bürger forderten. So windig damals die Rechtspflege war, so wäre dies doch schwer möglich gewesen; denn nicht blos vor Jahrhunderten gewaltsam genommene, auch käuflich erworbene Äcker wurden nun den Bürgern entrissen. Prozesse also wären unbequem, auch umständlich gewesen; darum wurde seit 1680 viel kürzer verfahren: der souveräne Abt sprach sich diesen Acker und jenen Forst zu, und der Nachbarsouverän lieh ihm seinen weltlichen Arm, sie zu behaupten. Wollten die Unglücklichen nun den Abt verklagen, so wurden sie hohnvoll ans Reichskammergericht verwiesen; dies sei ja noch immer kompetent! So hat es bis ins 19. Jahrhundert hinein in diesem närrischen heiligen Römischen Reich deutscher Nation auch einen deutschen Reichsstand gegeben, der es nur deshalb blieb, um Deutsche leichter verwelschen zu können. Klingt's auch wie Wahnsinn, so hatte es doch verflucht viel Methode.

Die andere, fast unglaubliche Thatsache aber ist, daß die Münsterer auch nun fortgesetzt rebellierten. So unsäglich der Druck, so trotzig der Volkscharakter war, hier bleibt ein Rest des Unbegreiflichen. Von 1680 bis 1788 immer dasselbe traurige Schauspiel eines Verzweiflungskampfes trotz entsetzlicher Vergeltung. Obwohl der Rat sowie der gemeinsame Besitz erhalten blieb, und zunächst nur ein königlicher Prätor (»Prévôt«) an die Spitze der Verwaltung trat, kam es bereits bei der Annexion, namentlich in den Dörfern, zu blutigen Szenen; die einzige Folge war freilich, daß sie nun zu allen anderen Lasten die einer Garnison zu tragen hatten. Trotzdem wiederholte sich der Aufruhr fast bei jeder einschneidenden Neuerung; 1682 wurde ein königlicher Richter bestellt, 1683 Zuzug nur Katholiken gestattet; 1685 in Gericht und Rat die französische als einzig erlaubte Sprache eingeführt; eine drakonische Härte, da, den Staatsschreiber abgerechnet, kein Eingeborener die Sprache kannte, die Leute also Verhandlung und Urteil über ihr Gut und Blut nicht verstanden; und ein unwürdiges Gaukelspiel, da nun Bürgermeister und Rat unterschrieben, was der Prévôt diktierte; ach, nun war die neue Aussicht auf des Löwen Hinterteil wirklich ihre geringste Sorge! Als dann der Intendant de la Grange 1687 gar die Verordnung erließ, die alte Bauerntracht abzulegen und sich französisch zu kleiden, drang er damit freilich nicht durch: die Leute weigerten sich; und als ihnen nun Hirtenwams und Kaputrock bei strenger Strafe verboten wurde, legten sie diese allerdings ab, zogen aber nichts anderes an, so daß die Verordnung einschlief, da doch der allerchristlichste König seine Untertanen nicht in adamitischem Kostüm herumlaufen lassen konnte. Auch ein anderes Mandat blieb ohne Wirkung: als Preis für den Übertritt zum Katholizismus war dreijährige Steuerfreiheit und ein ebenso langes Moratorium für Schulden ausgesetzt; aber das that in Münster selbst der ärgste Lump nicht; hier trat niemand über. Ein drittes Mandat wirkte gar nur segensreich: es verordnete, daß uneheliche Kinder katholisch getauft werden mußten – und siehe, was keine noch so drakonische Kirchenordnung bei den Thalleuten hatte erreichen können, bewirkte dies Mandat: nun sorgten sie dafür, daß der Verführer das Mädchen heiratete, ehe es Mutter wurde. Schlimme Entrüstung aber, die schlimmste, weckte und unterhielt die fortgesetzte Beraubung der Kommunität durch das Kloster; wie arg sie war, mag man daraus erkennen, daß der Nachfolger Abt Marchands, de la Grange, ein Bruder des Intendanten, Kirche und Kloster prunkvoll neu aufführen, mit Gold- und Silbergerät, Gobelins, Statuen und Schnitzwerk überreich schmücken konnte. Es konnte ja aus dem Vollen gehen: denn war einmal Ebbe in den Kassen, so nahm der Abt eben wieder neue Forste, Matten und Äcker in Beschlag, um sie an Katholiken zu verpachten oder zu verkaufen; bereits um 1700 gab es wieder drei katholische Gemeinden im Thal. Wie ein Schrei der Verzweiflung klingt eine Eingabe der Münsterer an den Rat aus derselben Zeit: man möge ihnen doch jetzt wenigstens ihr bischen Gut gönnen und sie ungestört arbeiten lassen, weil sie sonst verhungern müßten; denn nun mußte auch an den unzähligen katholischen Festtagen alle Arbeit ruhen. Aber statt der Abhilfe wurde zur Vorbeugung neuen Aufruhrs nur eine Verstärkung der Garnison verfügt, unter deren Schutz dann weitere Gewaltthaten folgten. Obwohl die neue Klosterkirche für die dreißig Katholiken, die außerhalb der Abtei in Münster wohnten, wahrlich ausreichte, wurde ihnen die protestantische Pfarrkirche 1704 zur Mitbenutzung eingeräumt; die Orgel ward entfernt, Altar und Chor blieben den Katholiken vorbehalten; nun waren die auch hier die Herren. Wieder kam es zu Aufläufen, 1708 aber, als Ludwig XIV. nach der Schlacht von Oudenarde zeitwillig bedrängt war, zu größeren Unruhen, die dann blutig unterdrückt wurden.

Nicht für lange. Oberhalb Sulzern zweigt heute von der Schluchtstraße gegen Norden ins tiefe Waldgebirg ein schmaler Fußsteig ab. Wenige folgen ihm, denn er führt in scharfer Steigung durch düsteren Föhrenwald; rechts und links die unermeßliche graugrüne Waldwildnis und als einziger Gefährte ein Bächlein, das zu Thal stürmt und sich, freilich nicht immer, das Bette so breit gegraben hat, daß noch für den Pfad Raum ist. Sehr einsam und traurig ist's hier; rings kein Laut als das Klingen der Nadeln im Windhauch oder eines hungrigen Falken Ruf; und wie nun der Pfad auch aus dem Wald und vom Bach hinwegführt, eine steile, kahle Halde empor, ist's, als schritte man der Grenze allen Lebens entgegen; denn ob der Halde türmt sich eine abenteuerlich gezackte Felsenwand; wäre sie nicht so hoch, man würde glauben, sie sei ein Gebild von Menschenhand, so täuschend gleichen ihre Zacken verfallenen Mauern und Türmen. Das ist der »Taubenklang«, hoch oben läuft die Grenze gegen Frankreich. Aber ist man die Halde emporgestiegen, so fühlt man sich belohnt; am Fuß des Taubenklangs umschließt eine freundliche, grüne Hochebene einen tiefen, kristallklaren See, dessen kaum bewegte Fläche das Blau des Himmels wiederspiegelt. Wer sich über die Flut beugt, kann da das Treiben unzähliger Fischlein sehen. Der See heißt heute auf der Karte der »Forellenweiher«, weil er, vor dreißig Jahren künstlich vertieft, nun auch zur Forellenzucht dient; und die uralte Bezeichnung »Forlewihr« scheint dazu zu stimmen. Aber »Forle« heißt in der Mundart dieses Thals die Föhre; es ist der »Föhrenweiher«, der höchste See der Vogesen. Diese grüne Seematte am Fuß der Felsenwand, damals vollends unzugänglich, ist das »Rütli« des Münsterthals. Aber das Rütli am Vierwaldstättersee dankt nur der Phantasie der Chronisten seinen Ruhm; auf der »Forlematt« hingegen ward wirklich ein Bund Geknechteter beschworen. Hier versammelten sich in einer mondhellen Herbstnacht von 1716 Abgesandte der neun Dörfer im Thal und schworen auf die Bibel, die alte Ordnung und Obrigkeit im Thal herzustellen. Unerträglich – so ihre »Articul«, die dann die Häupter von Hütte zu Hütte verkündeten – sei nun ihr Schicksal; sie selber seien rechtloser als das wilde Getier im Wald, denn das werde nur zu bestimmten Zeiten gejagt, sie aber immer. Vom Deutschen Reich trotz aller Treue verlassen, vom feigen, verwelschten Rat preisgegeben, vom meineidigen König um alle Rechte betrogen und im Glauben gekränkt und verhöhnt, vom habgierigen Abt um ihr Hab und Gut gebracht, durch die zuchtlose Soldateska, die ihr Fleisch und Blut entehre und vergifte, schlimmer als durch Skorpione gezüchtigt, hätten sie nun keinen Helfer mehr als den gerechten, erbarmenden Herrgott, von dem geschrieben stehe, daß er stark sei in den Schwachen. Darum wollten sie den Abt, die Soldaten und Beamten verjagen, den Rat absetzen, eine neue teutsche und lutherische Obrigkeit wählen, im Frieden in ihrem Gebirg leben, nichts von der Welt verlangen, wenn sie sie nicht antaste, und nur zur Abwehr Blut vergießen. Bei einer zweiten Versammlung am »Forlewihr« wurde der Rat der Neun, je einer aus jedem Dorfe, eingesetzt – fünf andere sollten die Münsterer wählen, bis sie befreit seien –, eine Kasse gegründet, in die fortab alle Steuern fließen sollten, und ein Wehrmeister eingesetzt, der Waffen beschaffen sollte. So rüsteten sie bis in den Frühling 1717 hinein; und es ist bezeichnend, daß sich, obwohl nun auch in der Stadt viele den Bund beschworen hatten, kein Verräter fand, auch die Dragoner auf den einzelnen Höfen nichts merkten. Erst als die Verschworenen die Steuereinheber fortschickten: sie zahlten dem König in Frankreich keinen Heller mehr, kamen der Münsterer Prévôt und der Abt zur Kenntnis der Verschwörung und boten die dortige Garnison auf. Nun entwaffneten die Bauern die einzelnen Reiter und schickten sie nach Münster; so furchtbar einige von diesen gehaust hatten, es geschah ihnen nichts, die Bauern hielten ihren Schwur. Erst als die Garnison ins Großthal einritt, dort Ordnung zu machen, floß Blut. Die Bauern forderten den Kommandanten auf, Kehrt zu machen, als nun dieser statt dessen Feuer geben ließ, gings der Truppe übel, ein Theil wurde getötet, ein anderer entfloh nach Münster. Nun rückten die Bauern gegen die Stadt; der Abt, die Mönche, der Prévôt und die Reste der Garnison entwichen nach Kolmar. Doch setzen ihnen die Aufrührer nicht nach; genau bis an die einstige Grenze der Reichsstadt rückten sie und keinen Schritt weiter. Der bisherige Rat wurde zur Abdankung gezwungen, der neue durch Wahl ergänzt, und auf dem Platz um den Löwenbrunnen ward feierlich ausgerufen: Das Regiment des Königs in Frankreich und des Abts sei nun für ewig zu Ende. Das war alles; niemand wurde körperlich geschädigt, selbst das Kloster nicht angetastet. Vier Tage dauerte die neue Regierung, da kam von Kolmar her der Prévôt an der Spitze der eilig zusammengezogenen Garnisonen und Maréchaussés des Elsaß heranmarschiert. Statt sich, wie vorgehabt, hinter das Bollwerk ihrer Berge und Wälder zurückzuziehen, beschlossen die Bauern, ihnen nun hier im Thale Stand zu halten, allen voran die gotttrunkenen »Psalterer« von Sulzern. »Gott will's!« war ihr Schlachtruf, und ihr Schlachtgesang erklang, wo lutherische Bauern in Kampf und Tod zogen:

Weils gilt den Glauben und auch das Blut,
So geb' uns Gott ein' Heldenmut:
Es muß sein!

Den Heldenmut hatten sie, aber die Franzosen die zehnfache Übermacht: in einer Stunde war der ungleiche Kampf entschieden. Und acht Tage darauf war auch bis an den Vogesenkamm hinauf wieder »alles in Ordnung«. Wer von den Aufrührern nicht niedergemetzelt worden, bevölkerte die Kerker bis Straßburg hin. Entsetzlich hausten die Sieger unter den Wehrlosen. »O des armen lutherischen Bluts!« wehklagte damals ein Chronist ihres Glaubens. »Wie der Löwe auf ihrem Stadtbronnen haben sich die Münsterer defentiret – und so kläglich ist das Endt! Nun ist der Löw' von Münster erschlagen!«

Er irrte, der Löwe von Münster lebte noch. Schon 1736 gab es wieder neuen Aufruhr, diesmal aber nur in der Stadt. War längst auch der Prévôt der Herr, so hatte doch der Rat die Verwaltung des gemeinsamen Besitzes behalten; nun entriß ihm ein Edikt auch dieses Recht. Die Bürgerschaft rottete sich zusammen und bot die Dörfer auf. Aber diese erwiderten: als sie sich vor 17 Jahren fürs ganze Recht erhoben, sei der Rat gegen sie gewesen, nun möge er für das »elendt Stückle Recht« selber kämpfen. So waren es diesmal nur Städter, die die Gefängnisse des Straßburger »Pont couvert« zu verkosten hatten.

Erst ein Edikt von 1765 rüttelte wieder das ganze Thal auf. Eine Inspektionsreise des Intendanten der Provinz hatte ihn darüber belehrt, daß »die guten Absichten der Regierung bisher im Gregorienthal weniger verwirklicht seien als irgendwo im Elsaß«. Mit anderen Worten: nirgendwo hatte Verwelschung und Katholisierung weniger durchgegriffen, nirgendwo war der Staat verhaßter. Während anderwärts die Zoll- und Handelsfreiheit, die Begünstigung der Industrie Frankreich Anhänger schafften, hatten diese Sennen und Hirten davon keinerlei Vorteile; während ferner der Katholizismus anderwärts zahlreiche Streber zu Proselyten machte, stand hier die lutherische Mehrheit von »Mölkern« und Bauern so feindselig wie nirgendwo der katholischen Minderheit – den Beamten, der Abtei und ihren Kolonisten – entgegen. Und was sollte gar den »Wilden« die fremde Sprache! Statt zu erkennen, daß zur Beruhigung der Gemüter vor allem dem Raubsystem der Abtei gesteuert werden müsse – um 1760 erfolgte wieder eine neue große »Revision«, um die Kosten für den prächtigen Neubau des Abthauses aufzubringen –, glaubte der Intendant alles erreicht, wenn er die Wahl eines französisch gesinnten Katholiken zum Bürgermeister durchsetzte. Denn so gering die Rechte dieses Würdenträgers nun waren, so hatte er doch schon kraft der uralten Tradition als freigewähltes Oberhaupt der zehn Gemeinden großen Einfluß. Demgemäß übertrug das Edikt von 1765 die Wahl des Bürgermeisters einem Ausschuß von zwei Protestanten und zwei Katholiken unter Vorsitz des Prätors; gleichzeitig aber wurde vorsichtshalber ein ganzes Regiment hierher verlegt. Gleichwohl kam keine Wahl zustande; vielmehr machte sich eine Gesandtschaft von hundert Thalleuten auf, Ludwig XV. um Gerechtigkeit anzuflehen. Sie waren bis Provins, also nahe ans Ziel gekommen, als man sie gefangen nahm; die acht erwählten Führer wurden zu lebenslänglicher Galeerenstrafe nach Rochefort gebracht; an siebzig kehrten auf dem Umweg über die Straßburger Kerker zurück; die anderen waren inzwischen von aller Tyrannei erlöst. Dennoch kam es schon 1770 im Großthal wieder zu einer Rebellion; auch diese wurde natürlich mit Feuer und Schwert unterdrückt.

Da sah man in Straßburg ein, daß »diesen Wilden kein Wahlrecht gelassen werden könne«, und das Edikt wurde durch ein schärferes ersetzt; der Rat bestand nun aus dem Prätor als Oberhaupt, zwölf katholischen und drei lutherischen Beisitzern. Da ein Drittel aller Männer im Thal niedergemetzelt oder im Kerker war, so blieb alles ruhig; triumphierend meldete der Prätor Barth, nun seien die Wilden zahm, und ließ die Soldaten abziehen. Als er jedoch die Bürger für den 1. Januar 1775 zur Eidesleistung auf die »neue Verfassung« entbot, sollte er seines Irrtums inne werden: wie ein Mann fanden sie sich ein, aber mit Sensen bewaffnet, und zwangen die ernannten Räte zum Rücktritt, im übrigen hielten sie Zucht. Abermals kam ein Regiment eingerückt; Stadt und Thal wurden unter Stadtrecht gesetzt; wie die Soldaten hausten, erweist die Thatsache, daß sich trotz aller Frömmigkeit die Fälle von Selbstmord unter den Frauen und Mädchen des Thals furchtbar häuften. Drei Jahre dauerte diese Schreckensherrschaft, da wurden die 250 lutherischen Hausväter zusammengetrieben und befragt, ob sie nun dem König und dem Abt Gehorsam schwören wollten, »denn«, argumentierte der Prévôt Barth – und selten ist Gemarterten von ihrem Quäler ein solches Ehrenzeugnis geworden – »nur ihr Eid kann sie binden, weil sie sehr ehrlich und gottesfürchtig sind«. Aber nur etwa jeder fünfte schwor, die anderen weigerten den Eid. Diese zweihundert wurden zuerst in den Gefängnissen zu Kolmar und Straßburg, dann, da ihr Unterhalt Schwierigkeiten machte, in der »Stadtlaube« zu Münster festgehalten. Unter den handschriftlichen Quellen, die mir meine Münsterer Freunde mitteilten, und auf denen sich dieser erste Versuch einer vollständigen Darstellung des Verzweiflungskampfs der Münsterer gegen die Franzosen aufbaut, findet sich auch der Bericht eines Kolmarer Bürgers vom August 1778, der die Unglücklichen dort gesehen hat, »bey 200 an der Zahl, ineinandergedrängt unter zwei Fenstern, im eigentlichen Sinne des Worts nach Luft schnappen. Am Tage des Herrn und im Anblick des Tempels des Herrn!« – »Welche Gesichter!« ruft er aus. »O Du nicht mehr Ebenbild Gottes, wie hat Dir die Verzweiflung die Augen tief in den Schädel eingedrückt, wie der peinliche Kummer das Fleisch der Wangen abgenagt! Noch glücklich im jetzigen besseren Gefängnis auf der Stadt-Laube, nachdem sie zuvor in tiefen Löchern unter der Erde, in sumpfigen, lichtlosen Thürmen mit Kröten und Schlangen ihr Brot teilen mußten! Und guter Gott, was für ein Brod? Was der einquartierte Soldate der abgehärmten Mutter übrig ließ, was sie den schwachen Kindern heimlich wegstahl! Ihr Schlachtopfer des Despotismus, warum denn so grausam, so unmenschlich behandelt! Um Euch zu zwingen zu thun, was Euch das Gewissen mißrät, um zu schwören Eurer Obrigkeit unbedingten Gehorsam und Liebe, gegen welche Ihr doch so begründete Klage führet!« Zur Zeit, wo dieser Gewährsmann sie sah, ließ man noch die Fenster der Stadtlaube offen, gab den Unglücklichen täglich frisches Wasser und gestattete ihren Weibern, ihnen wöchentlich zweimal Brot zu bringen; entsetzliche Scenen ereigneten sich schon bei der Fütterung in Zwischenräumen von drei oder vier Tagen, da »die unmächtigen Hände dem gierigen Schlund alles auf einmal überließen ...« Einige Wochen später wurden, um den Widerstand zu brechen, die Fenster geschlossen, Wasser nur jeden zweiten Tag gereicht und die Brotverteilung fand nur noch wöchentlich statt ... Da schworen endlich etwa fünfzig, andere erlöste der Tod, die Mehrzahl aber kehrte siech, gebrochen, aber reinen Gewissens in ihre Hütten zurück; sie hatten den Eid nicht geleistet ...

So die Märtyrer – und ihre Zwingherren?! Auch hier gebe ich zunächst einige Angaben aus handschriftlichen Quellen, weil sie eben ein Stück Leben sind. Der Prévôt Barth kam 1765 so bettelarm auf seinen Posten, daß er dem Tischler die Bettstelle nicht bezahlen konnte; zwanzig Jahre später besaß er ein Dutzend Häuser und gewaltigen Grundbesitz; ein sehr vorsichtiger Mann, veräußerte er seit 1787 alles um jeden Preis und konnte 1789 mit einem großen Barvermögen flüchten; die Republik konnte »nur« noch fünf Häuser konfiszieren, darunter das schöne Schloß nahe der Elmbrücke, das heute der Familie Hartmann gehört ... Vor mir liegt die Selbstbiographie eines einstigen Mönchs des Klosters Münster, Bufey; gelassen giebt der Greis 1798 Bericht über sein Leben. Er tritt 1760 ins Kloster und widmet sich theologischer Schriftstellerei; das wird, da es selten ist, gern gesehn; es geht ihm gut. Da wird ihm eines Tages ein Taschentuch zu wenig abgeliefert, was ihm empfindlich ist, weil er ihrer nicht viele hat; des Gebots des Subpriors Bassigny, die Waschküche nur zu bestimmter Stunde zu betreten, vergessend, eilt er sofort hin und findet Bassigny mit der Wirtschafterin in unzweideutiger Situation. Verblüfft zieht er sich zurück und schweigt gegen jedermann: da entzieht ihm Bassigny die übliche Weinration, zur Strafe für die Übertretung seines Gebots, und als sich Bufey nun an den Prior Aubertin wendet, sie wieder zu bekommen, lehnt dieser ab, weil Bufey gegen Bassigny ungehorsam gewesen. Entrüstet sagt ihm nun Bufey, was er gesehen. Das ist eine Dummheit, die er hart zu büßen hat. Zwar ist die Beziehung ebenso allgemein bekannt wie die anderer Mönche, aber Bufeys Zeugen lassen ihn im Stich, und er wird als Verleumder in einen engen Balkenkäfig gesetzt, wo er einige Jahre verbringt! Da meldet sich anläßlich einer Visitation einer der meineidigen Zeugen, vom Gewissen gedrängt, zum Widerruf; die Visitatoren weisen ihn ab, jedoch darf Bufey nun sofort in ein anderes Kloster. Hier lebt er in Frieden, da kommt zu seinem Unheil seine Unschuld ans Licht. Der Pfarrer von Münster und der Beichtvater des Klosters, Dom Antoine Maurer, ein sittenstrenger Mönch, hat die meineidigen Zeugen sämtlich zum schriftlichen Geständnis gebracht, das er von einigen katholischen Laien der Stadt mitunterschreiben läßt, um jede Vertuschung zu verhüten. Auf Grund dieses Schriftstücks muß Dom Aubertin, nun Abt des Klosters, Bassigny in ein anderes Kloster schicken, obwohl er es nicht ärger getrieben hat als die meisten. Schlimmer aber geht es seinen Gegnern. Aubertin setzt Maurer, weil er den Ruf des Klosters geschädigt, zuerst als Beichtvater, dann als Pfarrer ab; Bufey aber, der heuchlerisch zurückberufen wird, hat in Münster ein Höllenleben. Als er eines Tags einen der Mönche, die ihn quälen, durchprügelt, kommt er wieder auf ein Jahr in den Käfig, dann endlich bekommt er eine Pfarre angewiesen. Ich gebe diesen Bericht, weil er der druckbarste und tendenzlos ist; andere, die mir vorliegen, sind gar zu saftig. Das war damals die Kulturarbeit im Kloster.

Dies die Geschichte des Münsterthals bis zur Revolution. Ich hoffe die Berechtigung so eingehender Darstellung erwiesen zu haben. Nicht bloß merkwürdig ist diese Geschichte, sondern auch erhebend; sie zeigt wie wenige die Macht des Gewissens über arme, rohe Seelen. Und ferner: Klagt man heute darüber, wie schwer diese Alemannen Deutsche werden, so wisse man, wie schwer sie einst Franzosen geworden. Aber ganz wird mich der Leser erst verstehen, wenn ich ihn unter die heutigen Dörfler dieses Gaus führe. Ihre Art und Sitte, fast alles Gute und Ungute in ihnen, wurzelt, genau besehen, in ihrer Geschichte bis 1789. Wer heut' in ihre Hütten tritt, wird unendlich häufiger an die Tage ihres einstigen Freistaats und ihre Drangsale erinnert, als an die Konventszeit und was ihr folgte. Unzerreißbar spinnt sich überall die Kette der Ursachen und Wirkungen von Geschlecht zu Geschlecht, nur eben in abgelegenen Winkeln der Erde sichtlicher; so sichtlich aber, wie hier, nur sehr selten.

Das gilt auch von der Stadt Münster, jedoch in geringerem Maße. Ihr bedeutet die Revolution eine ungleich schärfere Wendung ihres Geschicks. Es giebt Städte im Elsaß, deren heutiges Wesen man versteht, auch wenn man nur ihre Geschichte seit der Konventszeit kennt; sie hat ihnen ihre Prägung, die Grundlage ihrer Entwicklung gegeben. Dem ist in der Stadt Münster nicht so, aber das wichtigste und folgenschwerste Jahr ihrer Geschichte ist gleichfalls 1789.

Man weiß: wenn irgendwo, so waren hier Jäger und Gejagte für eine Abrechnung reif. Dem erlittenen Druck entsprach nun der Jubel über den »Untergang der Tyrannei« – »als ob man«, sagt ein Augenzeuge, »hier mitten in Frankreich wäre, und nicht im Elsaß.« Die Bemerkung ist sehr treffend. Deutlicher als je erwies sich der Unterschied zwischen den Elsässern und den Franzosen im Sommer 1789; die Franzosen wollten einen demokratischen, zentralisierten Staat mit voller Gleichberechtigung aller Bürger, die Elsässer Wahrung oder Wiederherstellung ihrer alten Privilegien, also eine Sonderstellung. Daher trotz einzelner Aufläufe die kühle, konservative Stimmung im Lande. Aber wie das Gregorienthal unter dem absoluten Königtum eine andere Haltung eingenommen hatte als das übrige Elsaß – hier der »Löwen«-Trotz, dort kluge Schmiegsamkeit –, so nach dem Bastillensturm und aus demselben Grunde: weil hier ein rauhes, ungestümes, redliches Volk nur seinen Instinkten, aber auch seinem Gewissen folgte. Am 25. Juli 1789 verbreitete sich im Thal die Kunde von den Pariser Ereignissen des 14. Juli. Wie die Bäche des Groß- und Kleinthals hoch oben am Vogesenkamm entspringen, durch Zuflüsse erstarken und sich in Münster zum Fluß vereinen, so strömten die Bewohner von Sondernach und Sulzern mit gerade gedengelten Sensen zu Thal, die Leute aller tieferen Dörfer mit sich fortreißend, bis sie sich in Münster zusammenfanden. Der Prätor, der Abt und die Mönche, die meisten Räte waren geflohen; sie fanden keinen Widerstand. Und doch machte sich die furchtbare Erbitterung dieser maßlos gequälten Menschen nur dadurch Luft, daß sie zwei Räten vor dem Rathaus je »fünfundzwanzig« aufmaßen; dann drehten sie den Löwen um »und riefen die Freiheit aus«. Das war alles; an das Schloß des Prätors, die herrenlosen Schätze der Abtei tastete keine Hand. Was nun werden sollte? Sie wollten den Freistaat, für den sie 1717 geblutet, nur die wilden Sondernacher gingen noch weiter: die Stadtleute seien verwelscht und papistisch; die Kommunität müsse aufgeteilt werden, jedes Dorf sich selbst regieren. Acht Tage gab's keine Regierung, aber als der königliche Kommissar von Vietinghoff erschien, fand er leichte Arbeit. Fast alle erklärten: sie wollten zusammenbleiben wie bisher, auch bei Frankreich, nur müsse hier im Thal alles deutsch und lutherisch sein. Die Sondernacher wurden überstimmt; die Kommunität blieb erhalten; an die Spitze des Munizipalrats trat als »maire-président« der angesehenste Mann des Städtchens, Andreas Hartmann.

»Dem Herrn Andreas danken wir Alles«, sagen die Münsterer noch heute. Alles nicht, aber Vieles. Nüchtern und bedächtig, bieder und schlau, willensstark und schmiegsam zugleich, kurz: der richtige Elsässer, brachte er's zu stande, dem Thal die Schrecken der Revolution fernzuhalten, ihre Segnungen zuzuwenden. Hier gab's keinen Proskribierten, keine Guillotine, und nur für einen Tag wurde die alte Stadtkirche zum »Tempel der Vernunft«, dann ließ Hartmann das »dicke Weibsstück«, das die Göttin der Vernunft gespielt hatte, schleunigst abschieben; die Göttin soff Schnaps. Indem war er selbst strenggläubiger Protestant, freilich kein Fanatiker, und so hielt er von den Katholiken jede Bedrückung fern. Wahrlich ein schweres Werk in diesem Thal, aber nicht bloß dies, auch das schwerere gelang ihm, den Leuten klar zu machen, daß sie auch nun Steuern bezahlen, ja Soldaten stellen müßten. Trotz seiner persönlichen Eigenschaften hätte er dies nicht vollbracht, wenn er nicht so viel Macht in seiner Hand vereinigt hätte: er war Maire, Vorsitzender der »Revolutionären Gesellschaft«, Kommandant der National-Garde, Abgeordneter zum Konvent und obendrein der einzige wohlhabende Mann des Städtchens, der gerade den Ärmsten Brot gab.

Als armer Leute Kind 1743 zu Kolmar geboren, seines Handwerks Färber, war Hartmann 1775 als Werkführer einer kleinen Kattunfärberei nach Münster gekommen; das Geschäft ging aber elend, da übernahm er's und war schon 1789 ein vermögender Mann. Wie das Aufblühen des Münsterthals, hat er in jenen Jahren sein eigenes Glück gefördert und nach denselben Grundsätzen. »Am eigene Füür ün im eigene Häsele kochet man am beschte«, pflegte er zu sagen; Schritt für Schritt, aus eigener Kraft entwickelte er sein Geschäft, ebenso sorgte er dafür, daß das Münsterthal »im eigenen Häsele« koche. Als die Sondernacher fortgesetzt krakehlten, bot er nicht die Konventstruppen auf, sondern die Bürger und seine Arbeiter und brachte ihnen Vernunft bei, a posteriori, sagte man; jedenfalls fruchtete es. Auch einen anderen schlimmeren Sturm glättete er friedlich. Die Leute jubelten, als die Republik den Besitz des Prätors und der Abtei konfiszierte, denn nach ihrer Ansicht geschah dies natürlich zu Gunsten der Kommunität, war sie doch die Beraubte. Nein, war seine Gegenrede, billig könnten sie alles kaufen, aber nicht umsonst kriegen, denn die Republik brauchte Geld; an der Grenze stehe der Prätor und der Abt mit einer Million »Söldner der Tyrannei« – ob sie sie etwa wieder im Lande haben wollten? Bei der Feilbietung erstand er selbst das Kloster um einen Spottpreis und verlegte dorthin seine Fabrik, ebenso niedrig waren die Preise für die Wälder und Matten; Käufer waren einige Münsterer und Kolmarer Bürger. Auch ein anderes Sprüchlein Hartmanns hat er in der eigenen, nun gewaltig anwachsenden Fabrik ebenso bethätigt wie als Maire: »Heut isch net geschtern!« Wie er selbst in jähem Entschluß vom Kattunfärben zum Baumwollspinnen überging, weil dieses nun besser rentierte, so räumte er erbarmungslos mit allem auf, was ihm überlebt schien. Die schöne, eben erst neu aufgebaute Klosterkirche ließ er, nachdem sie eine Zeit lang den Jakobinern von Münster als Versammlungsort gedient hatte, demolieren, weil sich der Platz praktischer verwerten ließ; die Stadtkirche genüge ja beiden Bekenntnissen. Die Unteilbarkeit des Besitzes hielt er aufrecht, nicht weil sie uralt, sondern weil sie zunächst noch nicht zu entbehren war. Aber über dies Notwendige hinaus lockerte er den Zusammenhang der neun Gemeinden mit der Stadt so weit irgend möglich; die materiellen Interessen, meinte er, rissen sie auseinander. Münsters Zukunft sei die Industrie, die Dörfer blieben den »Mölkern«. Daß eine Zeit kommen könnte, da auch in einigen Dörfern die Dampfmaschinen dröhnen würden, sah selbst dieser weitblickende Mann nicht voraus; jedenfalls behielt er für lange recht. Daß man im Elsaß, namentlich in Münster sein langes, ebenso strammes wie verständiges Regiment überschätzt, ist begreiflich; es will aber auch nicht unterschätzt sein. Gewiß wäre das Münsterthal auch ohne ihn im XIX. Jahrhundert friedlich und den Franzosen treu geworden – jeder Soldat Napoleons, der heimkehrte, wurde ein Pionier der Staatssprache und Staatsidee –, und auch ohne Hartmann wäre das Band zersprengt worden, das Stadt und Dörfer seit mehr als einem Jahrtausend zusammenhielt. Aber sein Verdienst war es, diese natürliche Entwicklung erkannt und gefördert zu haben. Wie es den Dörfern erging, soll gesagt sein, wenn wir sie besuchen; die Stadt aber wurde thatsächlich Industriestadt und, mindestens anscheinend, auch die reglementmäßig gallisierte, »elsässische« Kleinstadt. In Wahrheit wahrten ihr die Traditionen ihrer merkwürdigen Geschichte und noch mehr die Art ihrer Bewohner ein gut Stück Besonderheit.

Wie dieses Münster bis 1870 war, läßt sich noch heute unschwer erkennen; gar so viel hat sich in dem Menschenalter deutscher Herrschaft nicht geändert. Man war hier so fleißig, wie es nur irgendwo Deutsche, so rührig, wie es nur irgendwo Franzosen jener Zeit waren und kam prächtig vorwärts. Freilich, so wie dem alten Herrn Andreas glückte es keinem; als er 1837 als 94jähriger starb, hinterließ er seinen Söhnen acht der größten Fabriken Frankreichs und ein riesiges Vermögen. Nach seinem Tode gedieh die Firma »Hartmann & fils« immer höher empor; ein kleines Heer von Beamten, ein großes von Arbeitern fand hier sein Brot, schon dies eine Welthaus sicherte der Stadt Wachstum und Gedeihen. Nun blieben zudem die Hartmann nur die größten, nicht die einzigen Fabrikanten; auch der Handel (Holz, Käse) brachte Geld ins Thal; die Bahn nach Kolmar, das Riesenwerk der »Schluchtstraße« über den Vogesenkamm nach Gérardmer hoben den Verkehr; ein anderes gewaltiges Projekt – Napoleon III. plante die kürzeste Verbindung zwischen Paris und Süddeutschland durch eine Bahnlinie Freiburg-Kolmar-Münster, von da durch einen Hoheneck-Tunnel nach Chaumont – blieb, nach Königgrätz begreiflicherweise eifrig gefördert, freilich nach Sedan auf dem Papier, was die Münsterer noch heute schmerzt. Alles in Allem: sie hatten Grund, mit der französischen Herrschaft zufrieden zu sein und waren es auch, schon aus materiellen Gründen, selbst davon abgesehen, was 1789 gerade hier bedeutete. Liest man, wie enthusiastisch sie den 22. Oktober 1848 feierten, den 200jährigen Gedenktag des Westfälischen Friedensschlusses, der ihnen die Vereinigung mit Frankreich gebracht, so mag man, wenn man der Haltung ihrer Väter gedenkt, dabei ein Gefühl der Wehmut haben, aber sicherlich keinen Grund zum Staunen. So ihr Staats-, wie aber ihr Volksbewußtsein?! Die Antwort ist gerade hier nicht leicht. Nur wenige, freilich die Reichsten und Angesehensten, fühlten sich als Franzosen: die Hartmann und ihre Oberbeamten. Von den drei Söhnen des Andreas spielte allerdings nur der jüngste, Fritz, als Pair de France eine politische Rolle, aber Jacques war ein freigebiger Mäcen französischer Künstler, Henri ein »wahrer Patriot«. Söhne hatte nur Henri; es stand um diese dritte Generation natürlich ebenso; nur einer von ihnen, Fritz Hartmann d. J., hielt auch nach 1870 die Pflicht gegen die Heimat höher als die Anhänglichkeit an Frankreich, er blieb als Bürgermeister auf seinem Posten, den er trefflich verwaltete. Heute ist der einzige Ururenkel Andreas Hartmanns Franzose; die sämtlichen Fabriken gehören nun einer Aktiengesellschaft. Von dieser kleinen entnationalisierten Gruppe der »Herrschenden« schied sich eine andere zahlreichere ab, die, treue Bürger Frankreichs, sich doch national nicht als Franzosen fühlten, freilich womöglich noch weniger als Deutsche, die »Elsässer«. Wir vereinen, dachten sie, in unserer Erwerbsarbeit die Vorzüge beider Nationen, warum nicht auch in unseren Sitten, unserer Kultur?! Das innige Familienleben, die Freude am kinderreichen Hause, die wärmere Auffassung ihres Glaubens – sie waren zumeist Protestanten –, sollte sich mit dem praktischeren, wenn auch oberflächlicheren Bildungsgang, den eleganteren Formen, der größeren politischen Reife der Franzosen vereinigen; ihre Zweisprachigkeit bedeutete ihnen darum schon an sich einen Vorzug vor beiden Völkern. Als typische Vertreter dieser Richtung mögen die beiden bekanntesten Söhne der Stadt genannt sein, Andreas und August Lamey. Andreas (1726-1802), Schöpflins Mitarbeiter an der »Alsatia illustrata« und »Alsatia diplomatica« hielt es, nachdem er längst Hofhistoriograph des Kurfürsten Karl Theodor zu Mannheim geworden, für seine höchste Lebensaufgabe, die beiden Werke zu vollenden, denn das Elsaß schimmere »als der besondere Edelstein zwischen Deutschland und Frankreich«; sein Neffe August (1772-1861), einst ein bekannter Dichter, besang abwechselnd die Revolution und die Sagen der Heimat und setzte Nikolaus Beckers »Rheinlied« eine »Streithymne« entgegen, die den Vorschlag zur Güte machte: müsse nun einmal Krieg sein, so mögen die Franken die Deutschen verhauen, ihnen dann aber die Hand reichen »zum Bunde auf lange Zeit«. Gewiß ein kurioser Standpunkt, aber so dachten damals die meisten Elsässer ... Daneben fehlte es aber auch gerade in Münster an einigen Deutschgesinnten nicht, eben den strengstgläubigen Protestanten; die Pfarrer von Münster galten immer als »nicht sehr patriotisch«. Einer von ihnen, David Steinbrenner, dichtete auch deutsch, was man nun freilich im Elsaß jener Tage beileibe nicht als Zeugnis deutschen Nationalgefühls auffassen darf; so war z. B. von den beiden anderen Münsterer deutschen Lyrikern der eine, Heinrich Lebert, »Franzose«, der andere, Johann Bresch, »Elsässer«. Die vierte und größte Gruppe, Handwerker, Ackerbürger und Arbeiter, waren eben »Münsterer« und sonst nichts. Sie waren Krähwinkler, gewiß, aber auch der Stolz auf die einstige Freiheit, die Liebe zur alten Art, der Trotz gegen die nivellierende Regierung lebte unter ihnen fort.

Man sieht, der alte biedere Reimschmied Bresch hatte nicht so unrecht, wenn er einmal von den »vier Nationen« in Münster sprach, und nicht alle ließen sich gleich leicht unter den großen Hut des Einheitsstaats bringen. Es ist für die Münsterer bezeichnend, welche der wechselnden Regierungen sie gern, welche ungern sahen. Jubelnd ließen sie 1789 über den Doppeladler des alten Deutschen Reichs an ihrem Rathause eine knallrote Jakobinermütze pinseln und mit fast noch größerer Freude 1804 die Mütze abkratzen, dem einköpfigen Adler Napoleons Platz zu machen, denn sie wollten Ruhe haben und nicht »alliweil neue Musiös«, aber als der Adler 1815 unter dem blauen Schild mit den drei goldenen Lilien verschwand, murrten sie, denn die Bourbonen waren ja »Fafeknecht« und reaktionär. Darum wurden auch die beiden Führer der liberalen Opposition, Benjamin Constant und General Foy von der Stadt zu Gast geladen und mit einer »Illumination féerique« begrüßt; mag diese Beleuchtung vielleicht auch ihren irdischen Ursprung nicht verleugnet haben, so war's doch das einzige Mal in seiner Geschichte, daß sich Münster in solche Auslagen gestürzt hat. Hiervon abgesehen, daß Karl X. eine »Patklock« (Betglocke) war, hatten sie noch einen besonderen Grund zum Groll gegen ihn, freilich keinen berechtigten. Die uralte »Communität« war nun nicht bloß ein Anachronismus, sondern allmählich bei städtischen Interessen ein Hemmschuh für beide geworden; die Stadt konnte vollends durch die Aufteilung nur gewinnen. Gleichwohl wollte die Mehrzahl der Bürger nichts davon wissen, das sei »ihr uralt Recht«, und als nun das Ministerium 1829 die Aufteilung verfügte, war darob große Entrüstung. Zudem konnten sie sich mit den Dörflern nicht einigen, was allerdings nicht ihre Schuld war; die Bauern waren noch rechthaberischer als sie. So endete der uralte, mit so vielem Blut besiegelte Bund mit einem Riesenproceß; an all dem war aber nur die »Patklock« schuld. Kein Wunder, daß sie am 31. Juli 1830 johlend die Lilien im Kot zerstampften und die Trikolore aufzogen; das Bürgerkönigtum war so recht eine Regierung nach ihrem Sinne; man konnte »Fränkle schäffle« und liberal sein. Mißtrauisch hingegen wurde die Republik von 1848, nicht viel besser Napoleon III. aufgenommen. Dann freilich ward er den Münsterern, wie mir das Schanbabtistle sagte, »fascht lieblech«. Vom nahen Plombières aus oft hier verweilend, gewann er die Münsterer durch persönliche Leutseligkeit, vor allem aber durch die bereits erwähnte Förderung ihrer Verkehrswege. Aber freilich fügte selbst ein so eingefleischter Bonapartist wie mein Schanbabtistle hinzu, in den letzten Jahren sei er »a Timler (Quäler) gsi«. Derselben Meinung waren damals auch die Münsterer und mit ihnen das ganze Departement Haut-Rhin. Beim Plebiszit vom 21. November 1852, welches die erbliche Kaiserwürde annahm, waren in diesem Departement 92 747 Ja, 2 841 Nein abgegeben worden, letztere durchweg von starren Republikanern; das Plebiszit vom 8. Mai 1870, welches das Kaisertum neuerdings sanktionierte, ergab hier nur 80 883 Ja, hingegen 19 467 Nein – und diesmal war es eine protestantische Opposition; in Münster, sagten mir einige, hätten wohl zwei Drittel mit »Nein« gestimmt. Das thaten sie dem »fascht lieblechen« Monarchen an, weil sie sich über die zuletzt sichtlich gewordene Bevorzugung der Katholiken ebenso ärgerten, wie über die völlige Verwelschung der Volksschulen, wobei namentlich die Kinder armer Familien, die eben nur ihr »Dütsch« mitbrachten, übel wegkamen. Es ist begreiflich, daß die Münsterer, die heute so bitter über die Verbannung des Französischen aus dem Lehrplan klagen, nicht gern daran zurückdenken, wie arg sie sich vor einem Menschenalter über die Verbannung des Deutschen aus denselben Schulen bedrückt gefühlt haben, freilich nicht aus Nationalgefühl, sondern aus Rücksichten der Kultur. Übrigens ließen sie sich's nicht gefallen und sorgten damals fast ebenso eifrig für Privatunterricht im Deutschen, wie heute für den im Französischen. Noch weniger ließen sie sich von den Katholiken unterkriegen, deren Zahl naturgemäß sehr gewachsen war; die lutherischen Dörfler blieben lieber »Mölker«, für die Fabriksarbeit wurden zumeist Leute aus dem nahen katholischen Urbeisthal herangezogen. Um 1790 hatte Münster unter 1 500 Einwohnern nur etwa 100, 1817 unter 3 100 auch erst 400, aber schon 1871 unter 4 600 rund 2 000 Katholiken. Die uralte Pfarrkirche, in die sich beide Kulte teilten, genügte nicht mehr; von der Regierung begünstigt, verlangten die Katholiken von der Stadt Erbauung einer neuen Kirche. Das schien den Protestanten, die ja etwa neun Zehntel der Steuern aufbrachten, nicht richtig; sie renovierten die Pfarrkirche mit einem Aufwand von 160 000 Franken und übergaben sie den Katholiken; für sich bauten sie mit einem Aufwand von 1¼ Millionen Franken, größtenteils aus Privatmitteln, den neuen Dom. »'s ischt nobel gsi«, urteilte mein Schanbabtistle, »aber pfiffi net.« Ihm war der Aufwand zu groß.

Seit jenem Herbst von 1674, da sie den Kurprinzen von Brandenburg hoffnungsfreudig in ihrer Mitte aufgenommen, waren 196 Jahre vergangen, als sie der Ururur-Enkel jenes Prinzen wirklich »dene welsche Geyersgralle« entriß. Aber sie nahmen es nicht eben freudig auf und haben sich noch heute nicht ganz darein gefunden. Besondere Gründe hat dies nicht. Münster blieb 1870 von den Kriegsereignissen unberührt. Im August und September kamen wiederholt Franctireurs von Gérardmer her ins Thal, fanden hier auch Zulauf, zogen aber dann wieder ab. Erst Ende Oktober durchstreifte ein kleines deutsches Korps den Paß; es fand einzelne Verhaue, hoch oben fiel auch ab und zu aus dem Dickicht ein Schuß, zu einem Gefecht kam es nirgendwo; die Münsterer vollends hatten sich nicht einmal über Einquartierung zu beklagen. Auch ist es ihnen seitdem unter der neuen Herrschaft trefflich ergangen; die Industrie blüht, die Munizipalverfassung ist dieselbe wie vor 1870, die Verwaltung eine wohlwollende. Die Stadt wächst an Wohlhabenheit wie an Bewohnern; 1895 waren's schon 5 800, auch hatten die Katholiken (2 900) bereits die Mehrheit; derzeit dürften's an 7 000 Seelen sein. Gebaut wird überall und dennoch herrscht Wohnungsnot. Kurz, wer Münster kennen lernt, muß sich sagen: den Leuten geht's gut und sie könnten zufrieden sein.

Nun, sie sind's nicht. Das liegt teils an jenen allgemeinen Gründen, deren ich gedachte, als ich von der gleichen Erscheinung in Straßburg sprach, teils an ihrem trotzigen Blut. Eben »Schwowe«. Die »vier Nationen« des guten Bresch kann man noch heute in Münster finden. Die »Deutschen« sind kaum zahlreicher, die »Franzosen« kaum minder zahlreich als einst; die »Nation« der »Münsterer« schwindet wie der Schnee im Frühling, wogegen die der »Elsässer« mächtig anschwillt. Politisch finden sich da alle erdenklichen Schattierungen: vom grimmigen Revanchemann – ganz vereinzelte Exemplare der Gattung, meist alte Soldaten – bis zum Phantasten, der ein neutrales Elsaß für möglich hält, und von diesem bis zum Opportunisten, der nimmer wünscht, daß über dem nun wieder freigelegten Reichsadler am Giebel des Rathauses noch einmal die Trikolore wehe. Aber das politische Moment ist ja viel weniger wichtig als das nationale, und hier mindestens sind sie leider so weit einig, daß »Elsässisch« und »Deutsch« in gewissem Sinne einen Gegensatz bedeuten, wie auch viel von »elsässischen« Kultur- und Lebensformen die Rede ist. Das sind Theorien, die im ganzen Lande zu finden sind; aber was ist bisher hier wie anderwärts ihre sichtliche Folge? Die wachsende Ausbreitung der französischen Sprache. Bis 1870 war natürlich auch jedermann, nur die tiefsten Schichten ausgenommen, der Staatssprache kundig, aber Umgangssprache war sie nur in den »feinsten« Kreisen, auch in diesen neben der Mundart, die für alle anderen die Umgangssprache war, und vollends redeten im Hause Eltern und Kinder fast ausnahmslos nur »dütsch«. Heute unterhalten sich nicht bloß die Notare, Ärzte, Fabrikanten, sondern auch ihre Beamten, die Ladenbesitzer und besseren Handwerker unter einander fast ausnahmslos französisch; selbst aus dem gemütlichen Wirtshaustratsch verschwindet die Mundart immer mehr und – was am schwersten wiegt – auch aus dem halbwegs gebildeten Hause. Es ist eine Thatsache: gerade unter der deutschen Herrschaft ist das Französische einem großen Teil der neuen Generation zur Muttersprache geworden. Als Grund hört man immer wieder: »Die Kinder brauchen ja beide Sprachen und in der Schule lernen sie nur Deutsch!« Aber der gewiß an sich vernünftige und berechtigte Zweck ließe sich wohl um einen minder kostbaren Preis erreichen, als es die Preisgabe der angestammten Muttersprache ist.

Indes, derlei findet sich im ganzen Land. Was einem hier als Besonderes entgegentritt, ist durchweg erfreulich. Es ist ein grundtüchtiger Zug in diesem, dem Blute nach kerndeutschen Bürgertum; unverkennbar ist die protestantische Prägung, aber auch eine klare, im guten Sinne liberale Weltanschauung; liberal bei aller Frömmigkeit, denn in Münster sind Viele sehr fromm, sogar Conventikel und Gebetkränzchen giebt's da. Die Volksschulen sind vortrefflich und trotz des Ansturms der Klerikalen konfessionslos, die Realschule eine Musteranstalt; das ganze Städtchen ist sauber und wohlgehalten wie selten ein Fabriksort. Etwas Besonderes ist auch die Art der Kleinbürger: sie sind noch heute minder glatt, rauher und grader als die anderen Elsässer; ferner der ungemeine Stolz auf die Vaterstadt und ihre Geschichte; man findet ihn ja – in scharfem Gegensatz zu Frankreich, wo die Revolution Alles nivellierte – auch anderwärts im Elsaß, nur nicht gleich stark. Auch reicht die Tradition hier in viel tiefere Schichten hinab, als etwa in einer schwäbischen Kleinstadt. Mir machte es Spaß, mich zuweilen zu Schlossern und Schneidern an den Kneiptisch zu setzen; da sie wußten, daß ich mich für ihr »Rotes Büch« (der Band im Stadtarchiv, der ihre wichtigsten Freiheitsbriefe vereint) interessierte, so nahmen sie mich gut auf; ich darf versichern: sie kannten ihre Geschichte. Freilich erzählten sie auch vieles, was in keinem Geschichtsbuch steht: z. B. wie Karl der Große (es ist aber Karl IV. gemeint) dem Bürgermeister für die Erstürmung von Hohhattstatt und die Erbeutung des Löwen einen Orden verliehen (ein Schneiderlein wußte sogar, es sei die »Leschiongdhonnör« gewesen!), oder wie der letzte Abt geflohen. Noch an einem Sonnabend hatten ihm die Hirten als Treiber bei einer Hirschjagd dienen müssen, da kamen sie Sonntags, als er eben beim Braten saß, und er entwich im »Schemisle, Unterhösle und Söckle«, aber unter Mitnahme vieler Kleinodien und »zehn Million Fränkle« Gold. Da müssen dann freilich die »Unterhösle« weite Säcke gehabt haben.

Die Münsterer Jugend spielt gleichfalls noch »Abt und Bauern«, wobei es unangenehm ist, der Abt zu sein, aber auch sehr moderne Spiele. So sah ich z. B. vor einigen Tagen hier folgendes Spiel: ein Knabe läuft vor einem Karren, einen Stab wagrecht in der Hand; drin sitzen ein Junge und ein Mädchen; die Knaben, die den Karren schieben, stoßen dabei eigentümliche dumpfe Laute aus, wie sie einem ungebildeten Menschen zuweilen nach reichhaltiger Mahlzeit entfahren; einem Gebildeten kann's ja nie passieren. Hinter dieser Gruppe laufen die anderen Kinder und halten sich die Nase zu. Als ich fragte, was das für ein Spiel sei, lachten sie unbändig, endlich kam's heraus: »M'r schpiele Auto!« Für dies naturgetreue Automobil-Spiel giebt's hier allerdings Vorbilder genug. Unablässig rasseln von Colmar her Automobile durch die Stadt und über die »Schlucht« nach Frankreich; namentlich Franzosen und Amerikaner bereisen so die Vogesen. Auch von Wagen und Radfahrern wimmelt es; das Münsterthal gehört heute zu den besuchtesten Reisegegenden Deutschlands.

Auch in Münster bleibt mancher, und macht, wie ich's gethan, von hier aus täglich einen anderen Ausflug. Ob sich freilich Viele gleich mir auch die alte, nun so kraftvoll verjüngte Stadt gründlich ansehen, weiß ich nicht. Es ist aber der Mühe wert. Weniges Alte, sagt' ich schon, ist unverändert geblieben, aber es beweist den pietätvollen Sinn der Münsterer, daß sie das Neue in altem Stil erbaut haben. Die gewaltige protestantische Kirche in rötlich schimmerndem Vogesensandstein macht mit ihren schweren, herb durchgeführten frühromanischen Formen zwar nicht den Eindruck eines uralten, restaurierten Doms, wie den Erbauern vorschwebte, wirkt aber gut und würdig. Dicht an dem Prachtbau klebt freilich ein schmutziges, verfallenes Häuslein; der Besitzer, ein Mann mit echt Münsterschem Hartschädel, will's nicht niederreißen lassen, wie viel man ihm auch bietet. Auch die neue »Stadtlaube« neben dem Rathaus ist der alten nachgebildet; sogar die Inschrift ANNO DNI MCCCIII DO WART DIS HUS GEMAHT wurde wiederholt. Der einstige Löwen-Brunnen auf dem Markt ist nun leider schmucklos, aber der Blick ringsum giebt noch ein hübsches Bild: links das hochgegiebelte Rathaus mit dem reichen Stabwerk einzelner Fenster, rechts die Überreste der Abtei, vor dem Beschauer die alte Pfarrkirche, im XIII. Jahrhundert erbaut und oft restauriert, romanische Säulen, gothische Fenster, dazu ein Barockportal. Der Schmuck der Rebenspaliere, die es einst umhüllten – die höchsten im Elsaß und darum in allen Chroniken erwähnt – fehlt ihm nun. Daß die Umgestaltung der Stadt ein Stück des alten Münster samt Resten der Stadtmauer unberührt gelassen hat, habe ich schon erwähnt; auch der Charakter der einzelnen Stadtteile hat sich noch nicht ganz verwischt; daß z. B. im »Birken« die reichen Protestanten, auf der »Elm« die armen Katholiken wohnten, erzählen einem noch heute einzelne alte Häuser. Natürlich wimmelt es hier von Wahrzeichen und Sagen. Wer die nun armselige »Alte Gasse« hinabgeht, trifft an der Ecke der »Uhrgasse« auf ein Häuslein mit einem roh, aber lebhaft gemalten, gut erhaltenen Wandbild. Es stellt einen Reiter vor, der einen breit anlacht und dabei scharf ansieht; »Fr. Zeinig, Bürgermeister« steht darunter. Das Bild hält die Erinnerung an ein verwegenes Reiterstück fest: der »Zeiniger« ritt als Jüngling die steile Treppe der »Stadtlaube« empor, eine Wette zu gewinnen. Dann wurde aus dem lustigen Burschen der finstere Torquemada von Münster; in seine fast 40jährige Regierungszeit als Bürgermeister fallen (er starb 1613) Beginn und Blüte der Hexenprozesse. Auf dem alten Friedhof spukt allnächtlich ein Ritter, an der Fecht geht mit Zipfelmütze und Pantinen ein Wirt spazieren, der hier einen Schneider ersäuft hat, im Kloster tanzen sündige Mönche mit wüsten Weibern einen Reigen, im Rathaus zählt ein ungetreuer Kämmerer heulend feurige Kohlen; auf dem Galgenberg geht's gar arg zu, wenn's Zwölfe schlägt ...

Das Interessanteste, was Münster aus ältester und neuester Zeit bietet, findet man auf einem Fleck beisammen: Die Reste der Abtei und die Hartmannschen Werke. Diese Reste lassen noch heute erkennen, wie reich das Kloster war, wie jählings reich geworden. Noch 1656 eine Ruine, in der drei Mönche ein Hungerleben führten, war die Abtei 1789 ein riesiger, prächtiger Bau, von rund 40 Mönchen und 100 Laienbrüdern und Dienern bewohnt, »eine der üppigsten fürstlichen Hofhaltungen im Elsaß«. Inmitten schöner, mit Springbrunnen und Statuen geschmückter Gärten und Orangerien, die sich weithin über den heutigen Marktplatz hinaus und bis an die Stelle des Bahnhofs dehnten, lagen Abtei und Mönchshaus, nach guten Mustern in schöner Spätrenaissance, obwohl erst 1680 erbaut. Die Reste, die man noch sehen kann, lassen den Untergang des Ganzen bedauern: im Gasthof »Zur Stadt Straßburg« der Theatersaal des Klosters mit prächtig geschnitztem Bühnenrahmen, im Haus daneben das Refektorium mit Resten der alten Holztäfelung, im Garten desselben ein schönes kleines Haus mit reichem Fries. Im »Straßburg«-Saal wird noch heute von Dilettanten Theater gespielt und im Refektorium jeden Sonntag getanzt. Wie stolz, ja fürstlich die gewaltigen Wohntrakte ausgesehen, kann man an einem Stück erhaltener Fassade (am Heitzmannschen Hause) sehen; denselben Eindruck macht im Innern eine Treppe aus Quadersteinen. Die anderen Bauten waren im üppigsten Barock gehalten, hingegen die prunkvolle, innen und außen von Gold und Marmor gleißende, selbst für den Geschmack jener Zeit überladen dekorierte Klosterkirche in gotischem Stil. Sie ist fast spurlos verschwunden, denn nur an einzelnen Häusern an der Süd-Seite des Marktplatzes sieht man im Mauerwerk Säulchen und Marmorschwellen eingebaut, die von ihr herrühren; der älteste Teil, ein plumper Turm mit hoher spitzer Erzhaube, stand am längsten, er wurde erst 1865 abgetragen. Die Reste des Kreuzgangs an der Brauerei habe ich bereits erwähnt, andere sieht man an den Mauern der Hartmannschen Fabrik; im Mönchshaus surren nun Maschinen; das kleine Refektorium ist das Schwimmbassin der Badeanstalt für die Arbeiter und die Zellen die Kabinen; der Klostergarten, der den Kreuzgang umgab, ist heut zum Teil der Fabrikshof, zum Teil verbaut. Erst nach 1780 wurde das neue Abthaus fertig; noch sieht man (am Eckardschen Haus) Reste der üppigen Fassade, der Bau muß ungeheure Summen verschlungen haben. Ebenso kostspielig war die innere Einrichtung, das Speisegerät aus Silber, die Betten »à la Duchesse« mit Seide und Spitzen. Und zu all dem lärmenden Prunk steuerte weder die Regierung noch ein Donator auch nur einen Heller bei; Alles ward aus Blut, Schweiß und Thränen der »canaille hérétique« von Münster bestritten ...

Aber dem armen Volk kommen diese mächtigen Hallen schließlich heut doch zu Gute. Es sind so hohe, lichte, luftige Arbeitssäle, wie man sie irgend wünschen kann. Auch sonst geht's den 3 000 Hartmannschen Arbeitern gut, die hier in der Weberei innerhalb der Stadt, in der Bleicherei außerhalb des Weichbilds, dann unten, wo die Bäche zur Fecht zusammenrinnen, in der Spinnerei thätig sind. Wie es in den Fabriken aussieht, will ich nicht beschreiben, erstlich versteh' ich zu wenig davon, und ferner ist ja der Betrieb wohl überall ein ähnlicher. Aber nicht überall wird so für die Arbeiter gesorgt. Ein Konsumverein, eine Bäckerei, ein Speisehaus (Suppe, Fleisch und Brod 10 Pfennige) stehen ohne Zwang der Benützung zu ihrer Verfügung; ebenso ohne Entgelt das vortrefflich eingerichtete Bad und das musterhafte »Hospital Löwel«, für ihre Kinder eine Krippe; ihre Ersparnisse verzinst die Fabrik mit 5. pCt. Auch hübsche und gesunde Arbeiterwohnungen hat sie gebaut; drei Zimmer und eine Küche kosten 13 Mark monatlich; doch wohnen auch viele in den umliegenden Dörfern und kommen am Morgen auf dem Rad zur Fabrik. Eine sehr reichliche Invaliditätsversicherung bestand hier seit lange; der Arbeiter wollte daher von der staatlichen nichts wissen. Da nun aber diese eingeführt werden mußte, so führte dies zu dem einzigen Ausstand, den es hier je gegeben hat! Auch für veredelnde Unterhaltung wurde hier schon vor 40 Jahren gesorgt; unter den Arbeitern besteht mit reichlichen Zuschüssen der Verwaltung ein Gesangs-, ein Musik- und ein Theaterverein; als Lokal für die Konzerte und Vorstellungen erbaute die Firma eine eigene, sehr hübsche Halle. Natürlich ist der Eintritt frei und nach der Vorstellung gibt's gratis Brödchen und ein Glas Wein ...

Nie bin ich ohne ein Gefühl freudiger Ehrfurcht – ich weiß es nicht anders auszudrücken – an dem Bau vorbeigegangen, wo der alte Kreuzgang vom Stampfen der Maschinen erzittert. Arbeit bringt Kultur. Es war einst im frühen Mittelalter eine Kulturstätte, und ist es seit hundert Jahren wieder. Und so ist der Klosterbau mit den Maschinen das richtige Wahrzeichen des merkwürdigen Städtleins, das aus dem alten Monasterium die Fabrikstadt Münster i. E. geworden ist.


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