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Auf der letzten Station vor dem Endziel sprang Rudolf Rabener auf den Bahnsteig.

Er reckte sich, seufzte und lächelte. Allen Reiseunbilden hatte er mit schier muselmännischem Gleichmut standgehalten. Zur bösesten Unbill rechnete er unbedingt das Eingepferchtsein in die peinliche Enge, in Staub und Kohlendunst solchen kleinen Eisenbahnabteils. Sie schenkte einem nichts, sie ließ sich tüchtig bezahlen, diese sogenannte moderne Kultur.

Aber nun waren mit einem Male Geduld und Stoizismus zum Teufel. Es war schließlich mit den meisten Unternehmungen so, die letzte Etappe erforderte den größten Energieaufwand. Gut wenigstens, daß Semesterschluß bevorsteht. Arbeit? Verkehr? Familiensimpelei – das alles kann er für eine Weile nicht brauchen. Nun fängt er erst wieder an aufzumerken. Das Stück Italien zuletzt, das Land aller Jugendsehnsucht – zu anspruchsvoll für einen Müden. Danach tut die norddeutsche Farblosigkeit wohl, Stille und Maß.

Der junge Professor Rabener steht auf dem Bahnsteig der fast dörflichen Station. Spärliches Kleinstadtgewusel schiebt sich um ihn herum, und plötzlich schweben über dieser gesunden Alltagsprosa zwei weiße Schmetterlinge, fesseln Rabeners Blick, wie sie da silberschillernd umeinander gaukeln. Plötzlich fällt ihm seine Schwester Sabine ein, ist Sehnsucht nach ihr da, denn immer waren sie die besten Freunde gewesen, von Kindertagen an. Ein Vorwurf regt sich in ihm: er hat sie zu lange allein gelassen und weiß doch, wie wenig sie in ihre Umwelt paßt.

Die Eltern hatten keine gute Ehe gehabt, davon hatte schon das kleine Mädchen Scheu und Sorge getragen. Der Schaffner warf die Türen zu, und Rabener kletterte in sein Abteil.

»Tag, Rudel. Höllisch nach Forschungsreise siehst du aus; interessant – die Mädel werden schauen. Aber vergrübelt hast du dich.«

»Tag, Fitting –« sagt nun auch Rabener – »gute Vorbedeutung, daß du hier hockst – und nicht ein schwerer Geheimbderat. Vergrübelt? Kein Wunder. Ich habe viel Einsamkeit geschluckt in den drei Jahren.«

Der Zug rollte zwischen Feldern und ebenen Wiesen. Seen und Flußläufchen blitzten auf, über den Himmel strömten golddurchschimmerte Lämmerwölkchen.

»Du hast dich ansehnlich gerundet, Fritzing, du prosperierst?«

»Man prosperiert immer, wenn man Kompromisse mit dem Leben schließt. Meine Klinik blüht, Honorare erdrückend für mich Spartaner. Professortitel. Nur Titel – macht sich mal hübsch auf meinem Grabstein. Sabine hab' ich nicht bekommen können – war ja auch vermessen von mir – aber meine Hauswitib ist ein Kochgenie. Wenn das keine Kompromisse sind! Aber nun du –«

»Mich laß ungeschoren, Fitting, ich muß mich erst mal ausschweigen.«

»Verstehe ich vollkommen bei allem, was in die Tiefe geht. Hättest nur früher wiederkommen sollen, den grandiosen Unfug hintertreiben.«

»Lieber Kerl, wovon sprichst du denn?«

»Hast du keine Briefe von zu Hause gekriegt?«

»Doch, natürlich. Aber zuletzt änderte ich die Route. Gröben lebt doch mit seinem Lungenrest in Kairo. Kaum ein Umweg für mich. Dort brach das Fieber aus, das wohl schon länger in mir gesteckt hatte. Darüber haben mich Briefe verfehlt. Bitt' dich, was gibt's denn?«

»Sabine ist seit acht Tagen verheiratet.«

»Sabine? – Und ich ahne nichts? Mit wem?«

»Das ist's eben – mit Köppen.«

»Du lügst – mit dem Geheimrat, dem Theologen?« Rabener packte Fitting hart an den Schultern. »Einen Grund, Fritz, einen Grund – –«

»Tja – die stille Sabine, die keusche; vielleicht wollte sie sich vor Leidenschaft schützen, ich habe viel darüber gedacht. Da nahm sie denn einen Alten und einen Gelehrten. Du mußt es eben schlucken. Aber da sind wir, Rudel. Ich lasse dich zunächst in Ruhe.«

Der Zug hielt. Die beiden jungen Männer schüttelten sich die Hände. Rabener sah dem Freunde nach. Rüstig ging der dahin in seinem Lüsterjakettchen, den Strohhut aus der Stirn geschoben. Grundgut und tüchtig – aber auch der hätte ihm für Sabine nicht gepaßt.

Da steckt Mutter dahinter – dachte er bitter. Alle trüben Stunden rückwärts hingen so oder so mit seiner Mutter Wesensart zusammen. Davon hatte er sich frei gemacht, aber in manchem Moment wachte die Pein wieder auf. Gut, daß er seine Ankunft nicht angezeigt hatte. Mutter liebt ja keine Überraschungen. Die will das alte Haus auf den Kopf stellen, dann erst wird ihr festlich zu Sinn. Danach kann sie nicht genug zu hören bekommen, sitzt still, die harten Händchen im Schoße gefaltet, mit ihrem aufmerksamen Lauerblick – und alles Gehörte setzt sich in ihr in Renommierstoff zurecht.

Nein – zu Mutter heute nicht. Auch nicht – – zur Geheimrätin Köppen.

Damit ist Rabener unter den Baumanlagen angekommen, die in breitem Gürtel den Kern der alten Universitätsstadt umgrenzen. Die neuen Villenstraßen liegen außerhalb dieses Walls. Unter dem Laubdach der alten Buchen und Kastanien gleißt der Rasen in blanker Frische. Einsam ist es, die Hitze hält die Leute in ihren Häusern. Das tut gut. In dieser warmen Stille löst sich die Spannung seiner Nerven. Er setzt sich auf eine leere Bank und hat nun in Gedanken das ganze Bild der Stadt vor sich, den alten Marktplatz mit den steinernen Lauben am Rathaus und den hochgegiebelten Patrizierhäusern. Weiter hinaus dominiert der weite Gebäudekomplex der Hochschule. Da liegen die naturwissenschaftlichen Institute, Kliniken und Bibliotheken. Und in allen den ihm so vertrauten Wohnhäusern pulst Menschenleben, altern Kraftvolle und wachsen Junge ihrer Fülle entgegen – wird Pein und Jammer unter schwer erworbener Haltung verborgen – Lust und Wonne genossen. Menschenleben! Aber hier, wo er nun die Fäden neu zu knüpfen hat, packt ihn dies Bild heftig an.

Rabener sprang auf. Er wußte auf einmal, wen er zuerst begrüßen wollte. Eine Tasse Kaffee war ihm begehrenswert. Aber dünner Kaffee mußte es sein, bei vertrauten Leutchen, an gemütlichem Gartentisch, in einem altmodischen Garten voller Rittersporn und Balsaminen. Ein Wohnhaus, von knorrigen Ästen der Sauerkirsche umklammert. Die herben Kirschen waren just reif und hingen in blanken Büscheln zwischen dem grünen Geblätter, und die alten Wesemihls teilten sie redlich mit den Spatzen und mit den Kindern, die sie lieb hatten. Kamilla Wesemihl buk dann solchen guten Kuchen von Hefenteig. Jede hellrote Kirsche lag da in ihrem Grübchen, und die Säure kämpfte siegreich gegen die dicke Zuckerdecke an. Gegen die kam einfach nichts auf. Aber schön war es doch, denn es waren eben Wesemihls Kirschen.

Da war schon die Stelle erreicht, wo noch eine Reihe winkliger Bürgerhäuser stehen geblieben war. Da hatten auch Wesemihls ihr Wohnhäuschen, mit einem kleinen hochgebauten Altan über die alte Stadtmauer hinweg. Viele Generationen von Wesemihls hatten drin gesessen, alle lang und hager, als Handwerker, Kantoren und Bürgerschullehrer. Und so viel Lebensweisheit hatte sich angesammelt, daß es beim jetzigen, dem Franz, zum Universitätsprofessor gelangt hatte, zu einem von hohem Ansehen, wenigstens bei der alten Philosophenschule.

Wie mit der Wunschrute getippt, tat sich das Pförtchen auf, und da stand Frau Professor Wesemihl mit ausgestreckten Händen, und ihr fein verblühtes Altjungferngesichtchen strahlte, denn die Rabenerskinder hatte sie ganz fest ins Herz geschlossen, vermutlich, weil es denen nie so recht heimisch zu Hause gewesen war. Da stand sie wie immer im blaßgrauen Kleide und trug noch hinter jedem Ohre die zwei schmachtenden Locken, die ihr so einen leisen Hauch von wehmütigem Romantizismus verliehen.

»Willkommen daheim, mein lieber Junge – ich hab' dich schon lange von da oben erspäht. Meinem Franz hast du arg gefehlt. Und wenn man sich nach jemand bangt, das ist so ungemütlich wie leise Zugluft.«

Rabener legte den Arm um die ältliche Dame und küßte mit söhnlichen Gefühlen den Mund, dessen viele Fältchen von gütigem Lächeln und zärtlichem Fühlen zeugten. Sie traten in den Garten, und da saß der Professor im Leinenröckchen am Holztische, die lange Knasterpfeife zwischen den Zähnen. Am übergelegten Bein hing der leichte Lederpantoffel, als ob der sich auf und davon machen wollte. Aber der lange Fuß und der braune Pantoffel wußten genau, was sie an einander hatten.

»Na endlich, Ausreißer,« rief der Professor mit frohem Lachen, »da wär'n mer ja wieder beisammen. Kaffee und Kirschkuchen sind auch vorhanden, was, Kamilla?«

Wesemihl zog den jungen Freund auf den Brettstuhl neben sich: »Gesprochen wirst du noch keinen haben, Rudolf, darauf kenne ich dich. Also uns zwei Alten geht's gut. Den Kirchenlichtern, Bazillenjägern und Philosophieprofessoren auch. Drei Jahre bist du fort gewesen, das ist keine Ewigkeit. Neue Leute haben wir 'ne ganze Menge. Ist ein neuer Gelehrtenschlag. Patentfritzen, die alles Alte totschlagen möchten, auf alles Neue schwören. Du siehst nicht gut aus, Rudel, wo fehlt's?«

»Müdigkeit, Onkel Franz, Überfülle im Gehirn. Das gibt sich schon. Aber Sabine! Ein schlechter Empfang!«

»Hm – Sabine? Das Leben gibt schnurrige Rätsel auf – man weiß nicht, was man denken soll.«

Die Frau kam wieder und brachte Gutes für den Vespertisch. Rabener kannte die blaue Kuchenschüssel, die Glasschale mit dem silbernen Streuerchen und die kleinen, vielgestopften Serviettchen. Als er, überreichlich versorgt, den Löffel in seinen Kirschkuchen senkte, sagte Wesemihl: »Könntest doch mal erzählen, wie wir zusammengekommen sind, Kamilla.«

Die Frau ließ die Hände mit der Häkelarbeit sinken: »Was geht denn das den Jungen an?«

»Vielleicht kann er sich dann einen Vers auf Sabines Wahl machen. Ehen schließen sich aus so verschiedenen Motiven – von den gemeinen weltläufiger Habsucht ganz abgesehen.«

»Erzähl mal, Tanting,« bat Rudolf. Er kannte diesen rührend einfachen Roman. Aber er wußte auch, welches Heiligtum Rückerinnern für die beiden Alten war.

»Also,« fing die kleine Professorin an und legte die Arbeit sachte neben ihre Tasse, »mein Vater war doch der Pastor Mettmann an der Marienkirche. Vater gab auch den Religionsunterricht in der Prima. Da fiel ihm mein Franz auf, der wuchs und wuchs und müde in den Schultern hing, weil doch Mutter Wesemihl vier Jungen satt zu machen hatte. So kam der Franz alle Sonntag zum Essen zu uns, und auch sonst wohl manches liebe Mal. Wir zwei Pastorstöchter wurden wie Geschwister mit ihm. Und wie der Franz so in den Klassen aufrückte, studierte und Examen machte, da gab es Fäden hin und her, alles in guter Freundschaft und Harmlosigkeit. Danach durfte er Sextaner und Quintaner ins lateinische Land führen – und da regte sich's in ihm und er verschoß sich in meine Schwester Suse. Die hatte ihr Herz inzwischen an meinen Schwager Kruse vergeben, weißt ja, den Weinhändler in Stettin. Die Suse hätte auch zu keiner Gelehrtenfrau gepaßt. Die nahm das Leben allegrissimo, wie mein Schwager sagt, der das Kornett à Piston bläst.

Da habe ich meinem Franz redlich zur Seite gestanden, denn es war ihm hart und ging ihm tief. Und ob ich allein ihn hätte trösten können, ohne seinen Liebesbund mit dem Aristoteles – das ist mir sehr unsicher. Nach Jahren starb Vater, hat aber noch erlebt, daß mein Franz sich habilitierte, mit seiner Aristotelischen Ethik, und daß er nach sechs Jahren Extraordinarius wurde. Damals ging alles noch gemächlich und die Leute waren geduldiger. Aber so ein geduldiges, eintöniges Leben war länger – und ein Leben haben wir doch nur.«

»Zur Sache, Kamilla,« sagte Wesemihl.

»Bei uns war es recht still geworden, aber jeden Sonntag kam mein Franz. Als stummer Gast saß allemal noch einer mit bei Tische, der Aristoteles, mit dem mein Franz immer intimer wurde.«

»Die alte Geschichte vom Löwen und der Maus,« warf Wesemihl ein und paffte mächtig.

»Ist dir jemals so ein Mann vorgekommen,« rief die Professorin hitzig, »der alte Griechenprofessor kann froh sein, daß ihr ihn vor dem Vergessenwerden bewahrt.«

»Hohoho,« lachte Wesemihl, »zur Sache, Kamilla.«

»Um es kurz zu machen: der Franz wuchs immer mehr, und ich verblühte so allgemach. Das kommt langsam, und plötzlich ist's da.«

»Du warst ein schönes und anziehendes Mädchen, Kamilla,« sagte der Professor ritterlich.

»Dann starb Mutter Wesemihl; die Söhne waren in aller Welt, der Franz saß hier allein im Hause. Er war Mitte vierzig, und ich schon scharf Ende dreißig. Und er hatte nun seine Ordnung nicht, wie es sich gehört, so ein bedeutender, berühmter Mann. Da faßte ich mir mal ein Herz und sagte zu ihm: ›Franz, du tätest am gescheitesten, wenn du mich noch auf unsere alten Tage heiraten würdest, denn sonst kriegst du niemals deine Ordnung.‹ Und mein Franz stand feierlich auf und sagte: ›Liebe Kamilla, warum hast du diesen vorzüglichen Gedanken nicht früher gehabt?‹ – So wurden wir also noch ein Paar.«

Wesemihl sagte mit blanken Augen: »Und so, mein lieber Rudolf, haben wir auch noch unsern Roman gehabt, und hatten von allem, was das reiche Leben schenkt, unser vollgerüttelt Teil. So denk' ich, Menschen kommen auf mancherlei Weise zu einander, und wir zerbrechen uns nicht den Kopf über Sabines Wahl. Mit Fragen quälen darfst du sie nicht. Dich frage ich heute auch nichts mehr –«

»Das danke ich dir wahrhaftig, Onkel Franz,« fiel Rudolf ein, »schon der Gedanke genügt, daß mich nun Hinz und Kunz nach den Ergebnissen dieser Forschungsreise fragen werden, vielleicht aus bloßer Höflichkeit. Denn, lieber Himmel, Wissenschaft wird ja heut so massenhaft popularisiert, daß den Leutchen der Segen schon über sein wird. Euer alter Garten tut mir so wohl. Italien hat mich gequält. Pathetische Pinien und Zypressen gegen die fabelhafte Himmelsbläue gesetzt – trockene Felsgrate, Staub, Hitze – das sinnlose Gebrüll der Südländer. Die Augen kann man ja schließen, das Ohr muß man mißhandeln lassen –«

»Du bist überreizt,« sagte Wesemihl, »das kuriert sich hier aus, du mußt nun zu deiner Mutter.«

»Laßt mich bei euch,« bat Rudolf, »ich schlafe auf dem Feldbett in der Giebelstube.«

»Nein, Rudolf, du mußt zu deiner Mutter.«

»Verlangt sie denn nach mir?«

»Und wenn selbst nicht – Natur fordert das Normale.«

.

Als Rudolf unter die Wallbäume trat, verkroch sich gerade die Sonne hinter grellgelb durchleuchteten Wolken. Durch Laub und Gräser lief ein zischelndes Rieseln. Der Weg war leer; nur ein älterer Herr kam rüstig geschritten, den Panama in der Hand, Rock und Weste weit offen, und sah mit sattfreundlichem Lächeln vor sich hin. Recht wie ein Mensch in seiner Kraftfülle und Unangreifbarkeit. Das war der vielgefürchtete und vielumworbene Geheimrat Köppen.

Rudolf wäre am liebsten ausgebogen, aber das hätte wie schüchternes Ausweichen, hätte fast kindisch ausgesehen. Und da Köppen seinen Hut zu schwenken begann, blieb ihm nichts übrig, als auch seine Schritte zu beschleunigen.

»Mama Rabener hat uns kein Wort von Ihrer Heimkehr verraten, mein Teurer,« rief der Geheimrat und streckte ihm die volle weiße Hand entgegen, die nach Art der Rotblonden mit Sommersprossen gesprenkelt war.

»Ich bin eben erst angekommen, Mutter weiß noch nichts davon, Herr Geheimrat.«

Köppen zog die Uhr: »Der Zug ist vor mehr als zwei Stunden eingelaufen,« und Rudolf antwortete flink: »Unter Naturvölkern, von der Heimat um den halben Erdkreis getrennt, verlernt man das Kontrolliertwerden.«

»Der Altmeister – Goethe – sagt in den Prosasprüchen: zwei Gewalten regieren die Welt, das Sittengesetz und die Schicklichkeit. Also werden Sie sich wenigstens die Kontrolle der Liebe gefallen lassen müssen. Wir müssen es alle, mein – lieber Schwager.«

Köppen sah den jungen Mann scharf an. Rudolf starrte mit der Verdrußfalte zwischen den Brauen vor sich nieder. Er wußte also schon um die Heirat seiner Schwester, er freute sich ihrer nicht.

»Mein lieber Rabener,« sagte Köppen freimütig, »hüten wir uns vor Empfindlichkeiten. Die neuen Verhältnisse gefallen Ihnen nicht – aus dem Wege sind sie nicht zu schaffen. Darum kommen Sie mit – zu meiner Frau. Das Gewitter bricht gleich los, die Mama und ein paar neue Leute werden den Abend bei uns sein.«

Und da Rudolf vor sich hin schwieg, fügte er hinzu: »Ich bin all mein Lebtag keinem Übel so entschieden aus dem Wege gegangen, wie der Lächerlichkeit. Ich bin kein verliebter Alter, obschon ich mein hohes Wohlgefallen an der jungen Sabine habe. Ich stellte sie auf den Platz, der ihr gebührt. Sie verstand meine Absicht. Es sind schon ganz ordentliche Ehen auf geringerem Fundamente aufgebaut worden. Mein Haus ist nahe. Darf ich Sie einladen, mir zu folgen?«

Rudolf verneigte sich steif. Er hatte starke Abneigung gegen den heitern Mann, der von seiner hohen Warte aus so oft kühl bestimmend in Existenzen eingriff. Aber dieser Mann hatte auch wieder überaus glänzende Seiten. Schlimm – dachte Rudolf – für schwankende Naturen wie mich, wenn Menschen, die wir hassen müßten, unsern Geist bestechen.

»Mein neues Haus liegt ein Streckchen weit draußen,« sagte Köppen, »wo die junge Garde sich angesiedelt hat. Bei Kauf und Bau schon leitete mich der Gedanke an Sabine.«

Köppen schwieg und dachte: wird dieser junge Mann hier neben mir so wortkarg bleiben?

»Sie hatten ein schönes altes Familienhaus,« sagte Rudolf endlich.

»Ich wohnte gern darin, solange ich allein war. Das neue Leben hat vieles umgewühlt. Ich brach ja auch schon früh mit den Familientraditionen, als ich ganz jung zu den Saxo-Borussen nach Heidelberg ging. Meiner Mutter war das zu feudal. Protzig hätte sie es genannt, wenn man das schöne Wort schon gekannt hätte. Geschah ja auch aus renommistischer Jugendeselei. Und doch griff ich instinktiv nach dem Richtigen. Ein Theolog ist heut ein Kämpfer, muß es sein. Das Feudale und das Dekorative gibt gutes Relief.«

»Legen Sie denn Wert auf Äußerlichkeiten?«

»Den denkbar größten. All unser Tun zielt doch auf Wirkung – und Wirkung will inszeniert sein.« Währenddessen dachte Köppen, ob er dem jungen Schwager das »Du« anbieten solle, es würde Sabine vielleicht freuen. Aber dieser Rudolf, so hager, tropenbraun und wortkarg, wäre imstande, ihm einen Korb zu geben. Ein Refüs ist wie ein Pfeil mit empfindlichem Widerhaken – lieber alles Schwebende in Ruhe abwarten.

»Da wäre unser Häuschen,« sagte er frohgelaunt, »nun kommen Sie durch diesen Laubengang, wir wollen unsre Leutchen überraschen. Sie hören, die sind schon versammelt. Bei mir gelten frühe Stunden.«

Sie gingen unter pompösen Schleppen von wildem Wein. Das Haus, mit Terrassen und Veranden, hob sich hell vom Hintergrunde alter Buchen ab. Blumen prangten vor dem Hause, ganze Flächen von Heliotropen und glühenden Geranien. Fenster und Glastüren standen der Sommerluft offen.

Konnte dieser Glanz Sabine verlockt haben? Rudolf schüttelte entschieden den Kopf. Der da neben ihm sah auch wahrhaftig nicht wie einer aus, der sich so als Zugabe nehmen ließe.

Das Haus schien zu tönen. Rudolf unterschied den festen, feinen Strich der Geigen, das schluchzende Pathos des Cellos. Sie spielten Schubert, und nun unterschied er das quellende, plaudernde Forellenmotiv.

Die Leute hier ließen es sich wohl sein. Unter den jungen Dozenten hatte man öfter ein Wort Köppens zitiert: die Welt ist für den bestimmt, der sie nimmt – ein italisches, ein Mediceerwort. Der hier neben ihm hatte etwas von einem Renaissancemenschen. Lieber Herrgott – erhalte mir meine eiskalte Opposition gegen alle unbillig Bevorrechteten!

Sie stiegen eine schmiedeeiserne Seitentreppe empor, die in des Hausherrn Schlafzimmer führte. Köppen riß die Tür zu einem Toilettezimmer auf, ließ Wasser in ein mächtiges Becken sprudeln; brachte braungoldigen Südwein und ein edel geformtes Glas; sprengte Kölnisches Wasser auf Batisttücher, die auf einem Tischchen lagen. Damit zog er sich in das erste Zimmer zurück und stand nachdenklich am Fenster. Seine Heirat hatte er fast ungebührlich überhastet, aus Sorge vor Rudolfs Einfluß auf Sabine. Jetzt lächelte er darüber. Diesen werde ich schon erobern, dachte er, bin schon mit ganz andern Leuten fertig geworden.

Als die beiden Herren sich dem Musikzimmer näherten, fing der Regen an herabzurauschen. Das gab mit dem Quintettspiel zusammen ein eigenartiges Tongewoge. Im Vorzimmer schob der Hausherr Rudolf vor einen Spalt im bernsteinfarbenen Seidenvorhang. Es gab ein hübsches Gesellschaftsbild. Da saßen die jungen Dozenten an ihren Instrumenten völlig in die Musik vertieft; die Männer überwogen unter den Gästen. Die meisten Damen waren Rudolf unbekannt, sie hatten alle etwas Großstädtisch-Weltläufiges, ganz anders als der frühere Typus der kleinstädtischen Professorenfrau. Ein neuer Geist, klarblickend, aber auch anspruchsvoll-unduldsam, schien hier zu walten.

Frau Professor Rabener saß auf einem kleinen Ecksofa, fest und einfach in braune Seide gekleidet. Das Haar lag wie zwei Rabenflügel den Schläfen an, die dunkeln Augen wanderten rastlos; es lag ein unablässiges Abschätzen von Personen und Verhältnissen in ihnen.

Der letzte Allegrostoß erfolgte soeben. Leichter Applaus erhob sich, lebhaftes Stimmengewirr, und Köppen zog den Vorhang beiseite. Im Augenblick war Rudolf umzingelt. Aber der Geheimrat schob die Herren sachte fort, denn da hing schon die kleine Professorin Rabener an ihres Sohnes Hals.

»Das nenne ich eine wirkungsvoll inszenierte Überraschung,« rief Köppen, sich die Hände reibend; aber Rudolf dachte ärgerlich: welches Theater! Er schüttelte Hände, antwortete auf Anrufe und legte dann den Arm um seiner Mutter Schultern. So führte er sie in ein stilles Nebenzimmer.

»Mein lieber Sohn,« schluchzte die Mutter, »welche Überraschung! Aber daß du dich nicht angekündigt hast! Was sollen die Leute denken!«

»Was sie wollen, Mutter.«

»Das sagst du so. Aber wenn man so mittendrin sitzt und hat für sein bißchen Position zu kämpfen!«

»Für welche Position denn, Mamachen?«

»Als Dazugehörige! Daß man doch nicht ins pure Nichts sinkt! Dein seliger Vater ist immer ein Sonderling gewesen und wäre am liebsten nie aus seiner Arbeitshöhle hervorgekrochen. Immer war ich die Kämpferin, mußte ich ihm die Anstöße geben. Auch dir, mein bester Junge, als du in die Arena tratest –«

»Ich bin drei ganze Jahre fortgewesen, Mutter,« sagte Rudolf traurig.

»Gott, ja – und du siehst mitgenommen aus. Ich werde dich schon wieder schön zurechtpflegen.«

»Ich ziehe morgen hinaus in den Fährkrug.«

»Morgen schon? Das sähe aber merkwürdig aus. Schieb es hinaus. Und was willst du im Fährkrug, wo du jetzt hier Mittelpunkt sein kannst!«

»Einsamkeit und Stille will ich. Und wie geht es dir, Mama?«

»Gut – sehr gut. Was sagst du zu Sabines Glück?«

»Ist das Glück?«, fragte Rudolf melancholisch, »mir will es gar nicht so erscheinen.«

»Aber denke doch mal,« fuhr die Dame auf, »Sabine ist Mitte der Zwanzig. Und nach der Liebelei mit Gröben –«

»Mit Gröben?« Rudolfs Herz krampfte sich zusammen, »und da hast du ihr zugeredet, Mutter?«

»Als ob das Einfluß gehabt hätte! Darin seid ihr beiden gleich, das habt ihr vom Vater. Der hat sein Innerstes immer vor mir verschlossen gehalten. Nein – eines Tages überraschten sie mich mit dem fait accompli. Köppen hat sie genommen, wie so ein Mann ein Mädchen nimmt. Der ist eine Herrschernatur – aber Sabine dient er.«

Sabine kam herein, stürmisch: »Rudolf,« rief sie und warf sich dem Bruder ungestüm in die Arme.

Er drückte sie fest an sich: »Du glühst und blühst, Sabine.«

»Mir geht's ja auch gut,« sagte sie tief atmend und sah ihn scharf an. Es lag wie Trotz im Hintergrunde dieser frohen Augen. Ich werde dich schon nicht quälen, Schwesterseele – antwortete sein Blick. Da erstrahlte ihr schönes Gesicht. Sie stand im weißen Kleide, um den feinen Hals schlangen sich glitzernde Topase.

»Nimm alles als gegeben und natürlich, wie du es hier triffst,« bat sie leise; und er küßte ihre Hand zum Zeichen, daß er in ihr den reifen Willen anerkenne. Armes Herz – dachte er – der, den du lieb hattest, siecht seinem Ende zu – und war doch nur ein windiges Kerlchen.

Man ging zu Tische. Eine überschlanke Dame, mit unschönen, aber geistvollen Zügen, trat auf Rudolf zu. »Ich soll den großen Vorzug haben.« Charmant war ihr Lächeln, es markierte die große Dame.

»Gnädige sind nicht aus unsern Professorenkreisen,« sagte Rudolf, und die Dame rief: »Aber Sie sind ja ein Menschenkenner, mein Herr Australier, nein, ich bin nur ein aufgepfropftes Reis am alten Hochschulbaum.«

Sie nahmen an der schimmernden Tafel Platz. Wachskerzen steckten in altertümlichen Silberleuchtern; die gaben mit dem Tageslicht eine unruhige, aber festliche Beleuchtung.

Rudolf fand die Mutter zu seiner Linken. Die flüsterte ihm zu: »Deine Dame ist eine Gräfin und eine Dichterin.« Und auf dem Tischkärtchen seitwärts las er: Frau Professor Goldschneider. Ja so, das war der neue Physiker; den Namen hatte er schon in Zeitschriften gelesen. Die Dame hatte sein Äugeln bemerkt und lachte freimütig. »Es amüsiert mich, daß nun ich Sie über allerlei hier unterrichten kann, die ich selbst erst hereingeschneit bin. Da drüben,« sie zeigte auf einen lebhaften Herrn, der beleibt war und mit einem dunkeln Gambettakopf um sich blickte, »das ist mein Gatte. Ein expansives, glückliches Naturell, das meint, die Welt gehöre ihm allein. Daneben ich, die ich mein bißchen Leben nur aus meiner Umwelt sauge – –« sie lachte sarkastisch.

Rudolf sah auf das lange, vornehme Profil, die schmalen Hände, an denen Edelsteine blitzten, die nervös mit einem Zweiglein spielten. »Gnädige Frau sind Dichterin?« fragte er, und sie gegenfragte flink: »Sie kennen Gedichte von Irene Goldschneider?« Sie hatte ihr leises, tiefes Lachen. »Diese Jugendsünden deckt mein Mädchenname, Irene von Pfeil-Guntenhausen. Papa ist kommandierender General. Wir standen damals in Mainz und da so herum, rheinauf und -ab. Die Leutnants blendete ich als Dichterin. Aber meine Muse war nur eine kleine Schoßmuse, schwächlich und verzogen. Eine Frau muß doch heute etwas sein!«

»Muß sie –?« fragte Rudolf.

»Ich denke doch.« – Irene Goldschneiders Blick lag voll auf Sabine und Köppen, die schräg gegenüber nebeneinander saßen. Lehrt dich dein Schwesterlein nicht, daß man sich zu plazieren, Platz zu ergreifen hat? – fragte dieser Blick.

Da aber Rudolfs Stirn sich krauste, seine Unterlippe sich grollend vorschob, so lenkte sie schnell ein und bat lächelnd: »Erzählen Sie mir von australischen Moden!«

Rudolf ging lächelnd auf den Plauderton ein; man brummt doch nicht über den Fächerschlag einer interessanten Frau. Leichtigkeit fehlt dir, mein Junge, dachte er – und wie kann diese Dame wissen, wie Jugendleid uns zwei Geschwisterseelen zusammengeschweißt hat, und wie empfindlich ich für das Mädchen da drüben bin. Noch gelang ihm nicht, Sabine voll als Frau, als Frau dieses selbstsichern und hochmütigen Mannes zu denken.

»Jenun,« sagte er, »das ist schnell berichtet. Die Damen dort tragen die europäischen Moden, vielleicht etwas verspätet, ich bin kein Kenner. Die Schönen, auf die sich meine Forschung ausdehnte, leiden unter empfindlichem Stoffmangel. Dafür hat die Tropensonne sie mit atlasblankem Braun bekleidet.«

Er erzählte noch allerlei und fand sich beinahe ein bißchen ruchlos, steif und zurückhaltend, wie er sonst gegen Fremde war.

Die Mama nahm ihn in Beschlag. »Nach drei Jahren endlich wieder daheim,« sagte sie gefühlvoll.

Rudolf hörte einen falschen Ton heraus. »Mutter, ich kann anderswo schlafen. So spät noch ein Zimmer richten –«

»Auf keinen Fall. Ich überziehe dir mein Bett und schlafe auf dem Sofa in der Eßstube.«

Rudolf sah auf alle die angeregt Plaudernden. Er war sich bewußt, feine Dinge zu speisen, erlesene Weine zu trinken. Der Tischdienst vollzog sich lautlos. Alles war glänzend zusammengestimmt.

»Warum wolltest du dich kasteien?« fragte er verwundert.

»Das Leben ist schrecklich teuer geworden. Ich habe alles Verfügbare vermietet.«

»Auch mein Zimmer, Mutter?«

Die Mama wand sich und sagte dann kleinlaut: »Ich ahnte ja nicht –«

»Mache dir keine Sorge, ich komme schon unter –« Aber es verstimmte ihn, daß seine Stube mit den Familienbildern, mit Andenken und Naturaliensammlungen nun für ein paar Mark an Fremde abgegeben war.

Frau Goldschneider berührte ihn leise am Arm. Nun merkte er erst die Stille. Drüben stand Köppen, den betauten Römer in der Hand, und sprach ganz persönlich zu ihm. Er sprach von den Hindus der Wüste: die Hindus der Wüste geloben, keine Fische zu essen. Weise Männer und – Schalksnaturen, denn in der Wüste sind keine Fische. Gelübde, das man nicht brechen kann. Mein teurer Schwager kehrt aus den Hungerdistrikten des Welt- und Genußsinnes heim. Damit fällt für ihn das Fischgelöbnis fort. Ich meine die Fische künstlerischer Genüsse und geistreichen Minnedienstes bei anmutigen Frauen. Ich wünsche Glück zu schwer erworbenen Forschungsergebnissen, aber auch zur Heimkehr in die Welt der Sinnenfreude, der Sinnenfreude im göttlich-goethischen Sinne.«

Rudolf sah sich von Menschen umringt; Gläser wurden ihm entgegengestreckt, Hochrufe schallten, er war der Mittelpunkt des fröhlichen Tumultes; das elektrische Licht flammte auf.

Gegenüber war ein Platz an der Tafel leer geblieben. Albert Lender fehlte, der Nervenspezialist, von dem sie viel Aufhebens machten.

Gerade trat der kleine soignierte Herr in den Saal und eilte mit kurzen, flinken Schritten auf den Hausherrn zu. Er sprach leise mit Köppen, und dem fiel zerschellend das Glas aus der Hand. Er stützte sich schwer auf das weiße Damasttuch. Aber er hatte sich gleich wieder beisammen und hob mit mühsamem Lächeln die Tafel auf. Der Schwarm der Gäste ergoß sich wieder in die vorderen Räume. Aber die Stimmung blieb gedrückt. Hunold hat sich erschossen – flüsterte man. Tot? – man nickte mit erschrockenen Augen. Laut sagte es keiner, eine Minute später floß das Plätschern leichten Gesprächs im alten, bequemen Bette.

Rudolf entfernte sich während des Aufbruchs. Er hätte vielleicht besser im Rauchzimmer vor den Kollegen Reisefrüchte ausbreiten sollen – er würde später schon seinen Mann stehen. Hut und Stock mußte er sich aus Köppens Arbeitszimmer holen. An der Hauptwand stand des Geheimrats Messingbett mit hoch aufgebauten Kissen und zurückgeschlagener Seidendecke. Daneben ein Tisch, mit Büchern und Broschüren beladen.

Sie lebt neben ihm wie eine Tochter, dachte Rudolf erleichtert. Sabine sich zu einem Überreifen, einem Alternden denken – fatale Vorstellung – häßliches Bild.

In der linden Nacht, der regenerfrischten Kühle, unter weißem Sternenlicht atmete er auf und ging langsam genießend in die schmalen Gassen der inneren Stadt.

Er kam an einem der Verbindungshäuser vorbei. Licht brach aus den offenen Fenstern des Erdgeschosses. Bänder und Fahnen an den Wänden, Schläger und studentische Embleme. Etwa dreißig junge Männer standen um die Kneiptafel, die Präsiden mit den Schlägern in der Faust: Alles schweige – jeder neige ernsten Tönen nun sein Ohr.

Sie sangen den Landesvater: Seht ihn blinken in der Linken – diesen Schläger unentweiht –

Der Lauscher vorm Fenster riß den Hut vom Kopfe und wischte sich über die Augen. Herrgott ja, die Alma Mater – die allumfassende, segenspendende – die ewig, ewig Junge. Das war die erste quellend warme Freude an diesem Tage für Rudolf Rabener.

Das Lied ging weiter, die Degenspitzen durchbohrten die Mützen, die Schläger rasselten: ex est commercium, initium fidelitatis – rief der dröhnende Baß eines der beiden Präsiden, das schöne Gesicht in Glut und Glanz getaucht.

Donnerwetter – dachte Rudolf – der Ludwig Grundmann. Wie werde ich erst Olga und Lisa finden – drei Jahre bedeuten etwas für Mädchen.

Er riß sich los und ging auf Fittings Haus zu. Das lag in einem Gärtchen voll Flieder- und Jasmingebüsch. Rudolf stieg über die niedrige Einfriedigung. Das Fenster zum Wartezimmer stand der Nachtluft offen. Drin wußte Rudolf einen gemütlichen alten Diwan. Er turnte über die Fensterbank, warf die Oberkleider ab und streckte sich zum Schlummer aus.

.

Morgenfrische weckte den Schläfer. Rudolf reckte die Glieder. Er hatte hart gelegen, aber die schwere Ermüdung hatte ihn dann doch geknebelt gehalten. Um ihn gelbe Birkenmöbel, Gipsbüsten auf Bücherregalen, alles ganz kleinbürgerlich – Fittings Stellungnahme zum steigenden Luxus der Universitätskreise.

Fittings ärztliche Weisheit gipfelte in dem Satze: Kunst hat erst einzutreten, wo Natur versagt. Natur versagt, wo sie beleidigt wird. Der Mensch ist der Schmied seiner Todeskrankheit; dieser dumme Mensch, der nur ein Leben hat.

»Wir zwei sind Antipoden,« hatte er zu Lender gesagt. »Sie behandeln Ihre Leute mit Kaviarschnittchen und kandierter Ananas – auch seelisch. Sie machen in Gefühlen und Literatur – Parerga – Zarathustra – pah!«

Lender hatte seinen gebrannten Schnurrbart gestreichelt: »Ich komme weiter, wenn ich die Leutchen bei ihren netten kleinen Schwächen packe. Man kann auch ein Prinzipienprotz sein. Bin ich nicht, und mit meinen Erfolgen kann ich ja zufrieden sein.«

Fitting hatte darauf den kleinen Lender durch halbgeschlossene Augen angeblinzelt; der wirkte immer so frisch gebadet, trug ein kokettes Myrtenreis im Knopfloch und das neueste Modeparfüm im weißen Seidentuch. Pöh –! machte Fitting, das lag ihm nicht, und Lenders Prinzipien wohl erst recht nicht.

Rudolf setzte sich auf den Stuhl vor Fittings Bett. Der lag auf dem Rücken. Eine Trotzfalte lag zwischen den rötlichen Brauen, die Arme hielt er über der Brust verschränkt.

Mit diesem hier hatte Rudolf in Kindertagen in Gassen und Gärten herumgespielt, harmlos, wie junge Tierchen spielen, als sie noch gar nicht ahnten, daß ein Unterschied sei zwischen der Geltung der Väter, des Hochschulprofessors Rabener und des Schreinermeisters Fitting.

Im Ringkampf hatten sie später ihre Kräfte gemessen; oft war die robuste Muskelkraft des Blonden der sehnigen Zähigkeit des schlanken Schwarzen unterlegen. Mitsammen waren sie von Klasse zu Klasse gestiegen, immer mehr getrennten Zielen und Richtungen entgegen. Fritz Fitting hatte oft versucht, des Freundes reizzarte Fliegerseele anzupacken und auf soliden Boden zu stellen. Andre Male hatte er gedacht: wie darf ich ihn fesseln wollen, da meine Welt die engeren Grenzen hat!

Etwas Knabenhaftes lag noch im Gesicht dieses kraftvollen Schläfers. Das hatte Rudolf öfter an sich und auch an manchen andern Männern beobachtet. Irgend etwas war da von ursprünglicher Anlage zurückgeblieben, was weder vom Leben noch von der gewissenhaftesten Selbstzucht in das Gesamtwesen eingeschmolzen war.

Bei ihnen beiden lag es in der leidenschaftlichen Opposition gegen kleine Schliche und große Arroganzen. Gegen kaltblütige Egoismen, die sich ungescheut und kaum versteckt im großen Organismus, im Prachtbau dieser buntscheckigen Hochschulwelt gehen lassen durften. Fittings Gesicht trug auch im Schlaf den unbestechlichen Trotz. Da mußte Rudolf lachen und rüttelte die stämmigen Arme des Schläfers. Sofort saß der Professor in seinen Kissen aufrecht.

»Der Rudel,« sagte er verwundert, »bin froh, daß du so bald den Weg zu mir gefunden hast.«

»Ich habe sogar bei dir genächtigt –«

»Etwa auf der alten Lederpritsche? Steckt doch in dir noch genau der Bub, dem man die Häppchen in den Mund stecken und die Hände unter die Füße breiten mußte.«

Als die beiden beim Frühstück saßen, versorgte Fitting den Freund mit fraulicher Sorgfalt. Rudolf erzählte von seiner Begegnung mit Köppen, von dem gastlichen Abend und allen neuen Eindrücken. Er fühlte sich erleichtert, als Fitting alles ganz natürlich fand. »Wir sind Schachfiguren, das Leben rückt uns oft erstaunlich herum. Mit unsrer Willensfreiheit ist's nicht weit her.«

»Wer ist Hunold, und warum hat sich der Mann erschossen?« fragte Rudolf.

Fitting wand sich einen Augenblick. »Wollen wir uns wirklich die gute Stunde verdüstern? Aber freilich – du mußt ja doch wissen, was hier schwebt und schwingt. Erich Hunold? Privatdozent, Mathematiker. Vielversprechend, sagen seine Fachgenossen. Pastorenwitwensohn. In Remshagen sitzt die Mutter, das Häuschen ist nicht viel besser als eine Kate.«

»Was trieb ihn denn, unglückliche Liebe?«

»Ne – absolut nichts Romantisches. Eine der kleinen Hochschultragödien, etwas ganz Alltägliches – nur daß der ›Held‹ selten so mit Eklat abtritt. Mutter und Sohn natürlich in chronischer Geldnot. Wie nur so einer durch Pennal und Studium durchkommt, das begreift keiner – geschieht aber alle Tage. Wird auch gar nicht als Tragödie empfunden, denn da geigen und trompeten alle Zukunftshoffnungen; die betäuben den knurrenden Magen.«

»Sieh die Geschichte der Genies,« sagte Rudolf, und er sprach von den unerhörten Entbehrungen, die er im tiefen Innern von Queensland und Tasmanien mit Gleichmut ertragen hatte.

»O,« rief Fitting, »solches Darben ist halber Sport. Aber droben zwischen dem Wohlleben der gut Gebetteten! Dazu falsch geleitet, oder gar nicht geleitet.«

»Wieso?«

»Erst gehört sich doch die Brotstelle! Aber nein, die Universität muß es sein. Und der Hunold hungerte nicht nur nach Brot, sondern nach Lebensreizen. Wesemihls, Grundmanns, noch ein paar luden ihn zu ihrem Sonntagsbraten – aber die Woche hat sieben Tage.«

»Hör auf, von allen Tragödien sind die vulgären am peinvollsten.«

»Hunger ist nicht vulgär,« sagte Fitting bedächtig, »Hunger ist eine Großmacht.«

»Wie kam es dann weiter?«

»Allerlei Gerüchte kamen auf. Der Hunold spielte im Klub seinen Skat. Spielte fein. Gewann er – so rechneten sie ihm nach – dann tafelte er gute, nahrhafte Sachen. Verlor er, dann bröckelte er an einem Stück Brot herum. Fatale Sache unter lauter rangierten Leuten mit gespicktem Beutel.

»Vor ein paar Tagen, im Weindusel – was sonst nicht seine Sache war – erzählt der Unglücksmann, daß er jetzt Kolportageromane schreibe – lacht noch wie über den schönsten Witz. Und weil's ihm keiner glauben will, schickt er den Pikkolo nebenan in seine Bude, läßt so ein Häufchen grellgelber Hefte holen, auch gleich den Verlegerbrief und die Abrechnung, die der abgeschmackten Chose beilagen.«

»Das ist nun aber doch unwürdig,« sagte Rudolf leise.

»Ich habe nie gehört, daß chronischer Hunger Würde brächte. Nun also kurz: das Hintertreppengeschäftliche ist so flink umgelaufen wie der Funke am Zunder, wie bei uns jeder Klatsch läuft und jedes Geschehnis. Da standen sie Kopf, die Heiligen wie die Profanen. Hochwürdiger Senat läßt sich den armen Schächer kommen und fordert klipp und klar die Niederlegung der Dozentur. Zwei Tage ist er rumgelaufen, in Scham und Not.«

»Und im ganzen Senat hat sich keine Stimme für ihn verwendet?«

»Doch. Wesemihl sprach für ihn, Dittmar, Harschner. Aber die Catone siegten. Streng waren besonders die Neuen, Goldschneider, Lender, alle, die in der Wolle sitzen, finden den Hunger unfair.«

»Und du, Fitting?«

»Mich hat man nicht gefragt im Kreise der Halb- und Vollgötter. Ich hätt' ihnen was gepfiffen; hätt' ihnen meine wissenschaftliche Kapazität bewiesen. Aber da lag nun gleich der Revolver zur Hand, gefährliches Spielzeug für Temperamentsmenschen. Bei Hunold war es eine Affekthandlung, wie bei den meisten, die freiwillig den unwiderruflichen Sprung ins Dunkle tun. Ein Prachtmensch in voller Schönheitsblüte. Der liebte das Leben und alle starken Lebensreize.«

»Und Köppen?« fragte Rudolf mit gefurchten Brauen.

»War die treibende Kraft – wie bei allem, was hier geschieht – der starke Wille, die ausführende Hand. Kraft seines Amtes, hier auch wohl kraft seiner unbedingten Überzeugung.«

Sie ließen die traurige Sache fallen. Fitting sah nach der Uhr. Über die neunte Stunde hinaus konnte er nicht frei über sich verfügen.

»Und wie steht es bei meiner Mutter,« fragte Rudolf grollend, »hatte sie nötig, aus unserm alten Hause eine Fremdenkolonie zu machen?«

»Deine alte Dame gediehe bei trockenem Brote, nur stillsitzen kann sie nicht. Alle die Studentinnen und Doktorfräuleins bringen ihr Leben ins Haus. Sind sehr Respektable drunter, die sich blindlings in den Lernstoff stürzen, anpacken, festhalten –«

»Aber du bist diesen femininen Doktoranden dennoch nicht besonders grün?«

»Als Berufsmensch habe ich großen Respekt. Als Mann – aus solchem Lager kampfbereiter Energieen holte ich mir die Genossin nicht. Aber ich bin ein Proletarier und hänge am Hergebrachten. Nun sieh, wie du dich durchfindest. Du ziehst in den Fährkrug?«

»Noch heute.« Rudolf lachte. »Schon von Kairo aus habe ich mir meine alte Stube gesichert. Das war wohl das erste Telegramm an Heine Fleet aus dem Pharaonenlande.«

Die jungen Männer schieden. Heut nacht schon würde Rudolf in der blaugetünchten Kammer schlafen, als Wiegenlied das Plätschern der Wasser, die am Plankenzaun des sandigen Kohlgartens anklatschten. Erst natürlich zur Mutter. Die fing ihn gleich auf der Treppe ab. Heiß und rot schleppte sie ihre Markteinkäufe hinauf.

»So plagt man sich für seinen Jungen,« sagte sie lachend zu Rudolf, der ihr Korb und Netz aus den Händen nahm. »Hähnchen und Steinpilze und Weincreme, deine Lieblingsspeisen.«

Rudolf folgte der Mutter in die Küche. Er sagte, daß er in einer Stunde auf und davon fahren werde.

»Da wird nichts draus,« rief die Frau empört, »dann wären etwa alle die guten Sachen für die Schmidt, die Sarassin und alle die andern?«

Er mußte lachen, das war die ganze Mama. Die stand am Herde noch mit dem verrutschten Capothut, schürte die Glut und rückte am Suppentopf. Dann richtete sie sich stramm auf und packte ihres Sohnes beide Hände. »Du kannst übrigens tun, was du willst, ich schicke mich in alles, denn für mich will ich nichts,« sagte sie eindringlich, »nur bring's zum Ordinarius. Mein Vater hat's nicht erreicht, und nicht mein Mann.«

»Liebe Mutter,« fiel Rudolf ein, »wollen wir nicht zu solchen Gesprächen ins Zimmer gehen – und wollen wir das nicht alles der Zukunft überlassen!«

»Ins Zimmer kann ich jetzt nicht; ich habe keine Perfekte.«

Frau Professor hängte Hut und Umhang an einen Wandhaken und wusch die Hände unter der Leitung. Nun stand sie am Küchentisch und schälte die Steinpilze. Rudolf setzte sich auf den Schemel dichtbei, der Erdgeruch der sahnefarbenen Pilze, die goldbräunlichen Stiele und Häutchen ergötzten ihn. »Du bist solche kluge und tüchtige Frau, Mamachen, weshalb so wohlfeilen Ehrgeiz in dir nähren?«

»Wohlfeilen Ehrgeiz,« fuhr sie auf, »mich hat das Fieber nicht verlassen; das Fieber der Erwartung nicht – und nicht das Fieber der Enttäuschungen. Aber nun in der dritten Generation – Rudolf – da muß der Erfolg kommen – muß! Aber du bist zu sehr nach dem Vater –«

»Vater war ein Prachtmensch,« fuhr Rudolf auf.

»Will ich denn deinen Vater verkleinern,« sagte sie weinerlich, »weißt du – als sie ihn zum Honorarprofessor machten, der doch im Senat genau so einflußlos ist wie der Außerordentliche, Rudolf, da ist dein Vater weiß geworden wie ein Tuch. Ist still in seine Stube gegangen. Ich mußte dem Pedell einen Taler geben und ein Glas Wein. Schöner Titel – hat Vater nachher bitter gescherzt – ist aber doch nur der Sargdeckel auf eine ehrenvoll begonnene Laufbahn!«

»So hart ist's dem Vater gewesen?«

»Jawohl, mein Lieber. In seinen wissenschaftlichen Leistungen ließen ihn alle gelten – aber Vater wußte nichts aus sich zu machen.«

Wie sie ihn wohl gequält haben mochte, seinen guten, guten Vater – die Frau, mit ihrem rasenden Ehrgeiz. Den Sohn packte herbe Trauer.

Die Mutter nahm die Hähnchen auf ein Küchenbrett und band Speckplättchen darüber. Ihren ganzen Tag füllten solche Bagatellen – ein ganzes Leben lang Bagatellen. Und die Flamme dieses engen Lebens – Geltenwollen! Er hätte sich gerne ausgesprochen, vom unerhörten Glück vertiefter Arbeit, in die er nun erst wieder hineinwachsen müsse – wie solche Arbeit sich selbst belohne. Als er aber die Augen zu der Mutter strengem Gesicht mit den hart geschlossenen Lippen hob, zuckte er stumm die Achseln. Ihn packte wieder das Knabengefühl, als sprächen er und Mutter verschiedene Sprachen.

Es brodelte und briet ganz behaglich unter den blauen Deckeln; da setzte sich die Mutter dicht neben ihren Sohn und legte ihm eindringlich die Hand auf den Arm. »Denn weißt du,« sagte sie, »es ist hier nicht mehr wie früher. Geld tut viel bei uns, Schneid, Repräsentation. Mit an dem Strang ziehen, den die Mächtigen in der Faust halten! Keine Seitensprünge – und ja kein Isolieren! Zu dem letzteren neigst du, Rudolf. Immer präsent sein. Vergiß auch nicht, daß wir jetzt deinen Schwager Köppen haben: Trumpfaß.«

Rudolf fuhr auf; seine Mutter hätte nichts für ihn Aufpeitschenderes sagen können. Aber die kleine härtliche Hand drückte noch energischer. »Seit dein Vater tot ist, war mir alles abgeschnitten, und kein Hahn krähte nach mir. Köppens Schwiegermutter ist auf einmal wieder persona grata. Wenn man doch die Politik der Gesellschaft kennt! Alle ihre herz- und rücksichtslosen Praktiken!«

Sie zuckte die Achseln und Rudolf sprang auf. Vater – dachte er – mein armer Vater! Er griff nach seinem Hute.

»Du bleibst also nicht zu Tische?« fragte die Mutter verstimmt.

»Ich kann nicht,« sagte er verstockt. Ich will nicht – dachte er.

Die Professorin hielt sich innerlich an Köppens für sie willfährigen Einfluß. Wir werden dir schon vorwärts helfen, mein guter Junge, dachte sie beinahe schadenfroh.

Als dann Rudolf langsam die schmale, blank gebahnte Treppe hinunterstieg, putzte das kleine Dienstmädchen gerade die Flurfenster. Da rief die Professorin ihr zu: »Mach dich mal fertig zum Ausgehen. Du sollst Frau Professor Grundmann und die Fräuleins Heilberg für heut abend zum Whist einladen.«

Rudolf lachte nun doch vor sich hin – Julchen Schmidt – der Name war ihm unter den Pensionärinnen der Mama haften geblieben – und die andern Damen würden die Delikatessen also nicht zu verspeisen bekommen.

.

Seit Jahrzehnten gab es einen stillen Kampf zwischen dem flinken, aggressiven Wasser und dem zähgeduldigen Krüger Fleet. Wenn das Wasser frohlockend in den Sand zischte, wo der Zaun sachte anfing, sich krumm zu legen, dann kam der alte Fleet mit seinem ebenen Gesicht, rammte die Pfähle fest, spickte die Bohlen mit fingerlangen Nägeln und sah weit über den Bodden hinaus mit seinen kühlhellen Augen. Dann spuckte er ernsthaft in das bißchen Wasser, das wie spaßend bis an seine Füße leckte.

Der alte Fleet war Junggeselle geblieben, nachdem ein holländischer Steuermann ihm seine Jugendliebe abspenstig gemacht hatte. Sein Herz hatte das ausgehalten, sogar recht gut; Natur hatte ihn seelenruhig und praktisch werktätig angelegt. Nur eine ungeheure Verwunderung wurde er nicht los, wie so etwas ihm hatte begegnen können. Schnurrig auch, daß es ein Mädchen gab, dem irgendein Platz in der Welt besser gefallen konnte als das Fährhaus am Bodden. Er stellte sich drum die Ungetreue gern in mißlichen Verhältnissen vor. Nicht aus Herzenshärtigkeit, sondern aus einem Bedürfnis im Untergrunde seiner Seele nach ausgleichender Gerechtigkeit. Mit einer Zweiten hatte er es nicht versucht. In ihm war schon von der einen Erfahrung her eine wohlwollende Geringschätzung des gesamten Weibervolkes zurückgeblieben.

Den Fährkrug hatten Fleet und seine verwitwete Schwester stattlich ausgebaut. Gerade gegenüber seiner Front, einen knappen Kilometer nur entfernt, lag die Insel, ein flaches Weideland. Sommers hielten da ein paar Schäfer mit ihren Hunden den Schafbestand der paar kleinen Ackergüter beisammen. Da gab es langgestreckte Räucherschuppen, aus deren Schloten sich die schweren fettigen Dünste der räuchernden Flundern und Aale wälzten, und nach Osten hatten sich Netzstricker und Seiler angesiedelt. Die ganze Insel war allmählich von kleinen Leuten mit Beschlag belegt worden, und dieses magere Eiland hatte nicht mal einen eigenen rechtschaffenen Namen, es hieß eben schlechtweg die Insel, und Heine Fleet fuhr mit seinen guten Booten die Leute mit ihren Waren hinüber und herüber.

Recht als ein Eigenbrödler hatte er im Fährhaus nur mit einem alten Knecht gehaust. Wenn sommers die feinen Leute von weither zugereist kamen und ein gewaltiges Wesen von Wasser, Wald und Bodden machten, schöne Gefühle auskramten und wohlgesetzte Worte bereit hatten, dann machte Fleet sein zugeknöpftes Gesicht und zog die Schultern hoch. Chottedoch – wie hätte es wohl anders sein können? Himmel, Wasser, Sonne – Wind; in tausend Jahren wird es auch nicht anders sein. Schon in seiner Jugend hatte der Ferge die übersteigerten Leute nicht ausstehen können.

Dann war eines Tages – Fleet war da schon ein Vierziger gewesen – eine rüstige Frauensperson gekommen, seine Schwester Hanne, die weit weg verheiratet gewesen war. »Ick bliw nu hier,« hatte sie sich eingeführt, »min Mann is dot,« und hatte dem Bruder fest und trocken die Hand geschüttelt. Mit der Trauer mußte sie wohl schon fertig sein, davon war nichts zu merken.

Fleet saß gerade in seiner kleinen Küche um die Vesperstunde hinter einem Knast Brot und einem Stumpen Korn. Und er blieb sitzen mit offenem Munde, völlig verbast, denn einst hatte der Hanne quicke Entschiedenheit in Streitfällen seinen passiven Widerstand einfach beiseite geschoben.

Sie setzte sich und traf seine Tonart, denn sie schalt auf die Ehe, wenn schon nur auf ihre eigene. Das tat sie in maßvollen und gehaltenen Worten.

»Jedwerein paßt sich nich in die Eh',« sagte sie, »un wir stimmten nich recht tosam. Hei woar langsam as de düre Tid, un ick woar flink. Hei spoarte un spoarte un günn sich nix nich – un ick hätt' girn wat anfungen mit uns' oll beten Geld. Wat schall ne Fru sünst anfangen, wenn se keen Kind nich het – wat?«

Daß sie »wat?« frug, machte auf Heine Fleet Eindruck. »Mit'n Kopp dörch de Wand willt du woll hüt nich mihr?«

»Wenn't nich abslut nödig is!« Sie hatte kluge Augen und sah sauber und zuverlässig aus. Da hatte er sie bleiben lassen, was hätte er auch wohl machen sollen – und sie hatte das Haus auf den Kopf gestellt mit Scheuern und Tünchen. Danach war Friede gekommen und ein fühlbares Behagen. Heine Fleet war offenbar leichter zu behandeln als der Selige. Frau Hanne setzte dem Hause einen Halbstock auf mit Zimmern für Sommergäste. Daneben entstand ein langer Glaskasten, die breiten Fenster dem Wasser zugekehrt. Da kamen gelbe Tische hinein mit Stühlen ringsum und ein richtiges Schankbüfett. In diesem »Restorang« verkehrten auch die Städter, denn Frau Hanne wartete mit Bratfischen auf, mit gutem Kaffee und Grog, im Spätherbst mit Krammetsvögeln, wenn zwischen den Vogelbeeren überall die Sprenkel hingen.

Stadt und Fährdorf verband ein Buchenwald, der der Stadt zu in gärtnerische Anlagen gezwängt worden war, der sich hier am Bodden in spärliche Buschpartieen verlor. Hier trieben sich immer viele Jungen herum, die Heine Fleet durch lärmhafte Spiele und überflüssige Fragen störten. Rudolf Rabener, der Knabe, hatte seinerzeit den Alten erobert, ganz ohne sich etwa Mühe zu geben; merkwürdig, der Junge konnte ›sin Mul‹ halten wie ein Alter.

Der Junge hatte jenseit des schiefen Zauns im weißen Sande gelegen und ungeblendet auf Wasser und Himmel geschaut.

»Wem sein büst du?« hatte Fleet gefragt.

»Professor Rabener seiner.«

»För so'n dumm Jung kannt du lange still swiegen!«

»Sind Sie denn wohl ein Freund vom vielen Klähnen?«

Heine Fleet hatte still in sich hineingelacht. »He kann sin Mul halten as en ollen, drögen Kirl,« und von Stund an hatte er den ranken Jungen in sein Herz geschlossen. Sie hielten dann noch manchen Schnack, fuhren nächtens zum fischen, und Rudolf hielt dann ein abgegriffenes Büchlein in der Hand und las vor, Homer. Der Alte lauschte. »Dolle Kirls, ganzen dolle Kirls.« Seine Augen leuchteten. Diese Nächte waren der Kitt ihrer Freundschaft gewesen.

Rudolf saß am Gartentisch im Kohlgärtchen. Die Beete mit den weißlichen und violetten Kohlhäuptern. Da lehnten steif an ihren Holzpfählen die farbenglühenden Rosetten der Georginen. Kosige Winde strichen vom Wasser herüber, es schwirrte und summte von Insekten. Vor Rudolf lag ein Haufen von Tagebüchern, wahllos aus dem großen Koffer aufgegriffen. Aber er konnte sich noch nicht sammeln.

Drei Jahre sind keine Ewigkeit – hatte Wesemihl gesagt. Aber alle Verhältnisse hier kamen ihm verändert vor, verschoben oder scharf zugespitzt – oder hatte ihm Entfernung erst den Blick geschärft? Und Köppen? Der Mann hatte ihm einen unerwünscht guten Eindruck gemacht – und er hatte doch schon als Knabe das hochmütige Haus der Köppenfamilie gehaßt. Protzen – dachte er – Gott ja, auch stolz! Wie solche Familien in Städten mit stark entwickeltem Bürgerpatriziat eben sind. Haben sich viele Leute verpflichtet, Dankbarkeit gesäet nach allen Seiten. Verzichten sogar auf Dank, fromm wie sie sind. Ich bin nicht fromm – dachte Rudolf – aber wenn ich einem armen Deubel einen Gefallen tun kann, schäm' ich mich, daß mir's besser geht wie ihm. Aber daß Köppen ihm starken Eindruck gemacht hatte, dagegen sträubte sich sein Gefühl vergebens. Distanzen – sagte er ganz laut – Distanzen legen zwischen sich und alles Konträre, das ist entscheidend für die Arbeit.

Die Sonne sank schon und streute pures Gold übers Wasser. Das endlich löste Rudolfs Seele. Was er sich wünschen, was ihm nun wohltun könnte in der Heimat? Stille, vor der Welt verschlossen; eine gute Mutter; so eine, die nur da ist, wenn das Herz sich nach ihr bangt. Ein schönes Mädchen, heiter und unverbildet – sei's selbst nicht zum Besitze, nur sich daran zu freuen!

Er ging am Ufersaum entlang. Der Wald rauschte ihm sein altvertrautes Lied.

Rudolf kam an der Ruine vorüber, die zu den Wahrzeichen der Gegend gehörte. Der graue Steinbogen, von roh behauenen Pfeilern getragen, stand fremdartig mitten im platten Lande. Um die leeren Fensterhöhlen fielen Efeu und Convolvolus in schweren Schleppen.

Um diese Ruine hatte sich ein ganzer Sagenkreis gewoben. Ein stolzes Kloster sollte hier gestanden haben. Aber schon um das Jahr tausend seien die starken Mauern zerborsten gewesen, die letzten Mönche unter ihren Gruftplatten zur langen Nacht gestreckt. Wer fein hören konnte, vernahm noch heut in klinghellen Winternächten Glockenläuten und die Vigilien gespenstischer Klosterbrüder.

Ein Nordlandherzog hatte in dem Gemäuer seine schöne Geliebte verborgen gehalten; ein feines, rankes Dänenmädchen mit lachendem Plaudermund, aber Gram in ihren Märchenaugen. Da hatte der Mann sich aufgemacht zu Kaiser und Papst, seine Ehe scheiden zu lassen und seinen Ehering neu vergeben zu dürfen. Denn das Mädchen trug ein Kind von ihm unter dem Herzen, und er hatte keinen Leibeserben.

In der Nacht aber schickte die Herzogin gewappnete Männer, die Schöne zu fangen und an ihr Hoflager zu bringen. Die Dänin aber entschlüpfte aus dem geborstenen Mittelfenster, huschte mit nackten Füßen über den weißen Sand, schritt flink und leicht in das mondweiße Wasser. Erst haben die Wellen nur linde an ihrem Kleidersaum geleckt. Wie aber das junge Weib mit singendem Munde tiefer hineingeschritten war, sei das Wasser an ihr emporgestiegen, aber immer nur lockend und kosend. Lag da eine breite silberige Mondstraße vor dem Dänenmädchen. Dahin schritt sie, immer den fremdartigen Singsang auf ihren roten Lippen, bis sie vor den Spähern im Glanz und Wellengeriesel verging – die Wogen mögen sie wohl dem großen Meere zugetragen haben. Was aus dem Manne geworden ist, ob ihm sein Herz zersprang – oder ob er sich danach seinem Weibe unterworfen habe – davon wissen die Leute nichts mehr zu sagen.

Rudolf dachte der alten Sage nach. Wie gar wenige Motive Volksdichtung kenne; wie sie sich Lebensblut trinkt und tiefe Kraft aus den wenigen Grundleidenschaften der Seele. Für ihn war von Kind an der Hain und das Wasser belebt gewesen von diesem blonden Weibe, das singend im Wellenschaum zerrann. Da war ein Samenkorn in sein Phantasieleben gefallen und weckte noch im Manne Sehnsucht nach Schönheit und Poesie – die das Leben doch wohl versagen würde. Denn wo in der weiten Runde sah er sie erfüllt?

So schritt er in sich versunken am Wasser entlang unter dem rauschenden Laub der Waldbäume, und stand verwundert vor einem Hause, das da früher nicht gestanden hatte. Ein kleines Gebäu zwischen Villa und Bauernhaus, aus Fachwerkwänden mit Kalkbewurf. Glastüren standen offen, man konnte ungehindert in ein Sälchen blicken. Nichts rührte sich im Hause. Das Erdgeschoß bildete einen einzigen Raum. Rudolf trat zögernd näher, und doch wie unter einem Zwange.

An der Rückwand stand ein kleiner Kochherd, Zinngeschirr und Irdenzeug blinkten herüber. Linker Hand an der Wand das alte gelbe Tafelklavier kam ihm ganz seltsam vertraut vor. Rechts, bequem unter ein Fenster gerückt, hatte ein Schreibbureau seinen Platz. Rudolf trat scheu über die Schwelle, aber da war keiner, den er hätte um Erlaubnis fragen können. Dabei hatte er das sichere Gefühl, daß der genius loci ihm wahlverwandt und wohlgesinnt sei.

Auf der grün tuchenen Schreibtischplatte lagen Bücher und Hefte in peinlicher Ordnung.

Jesus ja, das gehörte ja alles den Grundmanns. Hier durfte er sich kühnlich als zuhause betrachten. Der ganze Raum hatte nichts Verwunderliches mehr. Denn der erste Grundsatz der bequemen und duldsamen Mama Grundmann lautete: Raum für alle hat die Erde – und unser Haus erst recht. Auch nutzte man gern das Licht der Hängelampe und im Winter die Ofenwärme gemeinsam aus. Auf diese Weise genoß man auch alle Freuden, jeden Momentsärger und die vielen Momentsbegeisterungen gemeinsam. Der junge Rudolf hatte seinen Spaß daran gehabt, wie oft sie in Seelenwärme aufgelodert waren, um sich gleich darauf wieder in ihre Arbeiten zu stürzen.

Er lächelte gerührt, als er auf den Schildchen der blauen Hefte den Namen »Olga Grundmann« las. Damals hatte die Olli noch mit den Referendaren, den Assistenten der Kliniken und den Korpsstudenten getanzt. Daß sie sich nebenbei – und mit nur weniger Nebenhilfe zum Abiturium vorbereitete, hatte man nicht ernst genommen. Professorentöchter – da lag das Spielen mit gelehrtem Apparat so nahe! Wenn ein Mädchen doch tanzt – und flirtet? Nun nannte sich die Olli Olga, und das Abiturium hatte sie hinter sich.

Mit Englisch war sie beschäftigt. Grammatiken lagen da; eine kleine Bibliothek über das angelsächsische Epos, den Beowulf; Wülker und Müllenhoff neben den Faksimiles des Zupitza; Bleistiftstriche, Papierzeichen zwischen den Blättern.

Halb lächelte, halb seufzte Rudolf. Wie hatte doch gleich mal Fitting gesagt? »Eine wütende struggle-for-life-Zeit.« Die kleine Olli – und der schwere, abgeleierte Philologenstoff, den sie durch die Jahrhunderte schleppten.

Er rief mehrmals ins Haus hinein: Olli, Lisa – aber es blieb alles still.

Im Umblicken bemerkte er am entgegengesetzten Fenster noch einen Tisch. Nach Grundmannscher Methode mußte sich da ein andres Familienglied seine Privatresidenz eingerichtet haben. Er schritt neugierig hinüber. Auf der blanken Tischplatte lag zusammengeballt ein großer Seidenlappen; pfaublau und schmiegsam war der prächtige Stoff, halb erst durchstickt mit phantastischen Ornamenten. In einer Glasschale daneben lagen Himbeeren und Brombeeren auf grünen Blättern aufgeschichtet. Auch zwei Bücher lagen da. Rudolf sah nach den Titeln: Lyrik; Stefan George, Christian Morgenstern. Die beiden Namen kannte Rudolf nicht, und er schüttelte lächelnd den Kopf. Neue Lyrik lesen und dazu süße Waldbeeren naschen – das konnte nur Lisas Platz sein. Für die gab es wohl keinen Beowulf und keine Canterbury tales; was mochte die Lisa betreiben, die Schönheit der Familie?

Wie alt war sie damals gewesen? Siebzehn etwa. Jetzt also ein vollentwickeltes Weib – die lockende Frucht der Schöpfung. Die Versucherin und das Opfer in einem Wesen – o ja, dieses blonde Mädchen hatte das Zeug dazu in sich, die Olli nicht.

Er trat ins Freie und besah sich das Haus von außen. Über dem Unterstock hockten nur noch ein paar Mansardenfenster im hohen Dache. Eine Strecke weiter, unter dem tiefen Baumschatten, schimmerte ein weißer Fleck. Ein flockiges Badetuch lag auf dem Rasen, scharlachrot an den vier Kanten. Das Wasser war matt überlichtet. Weit hinten bewegte sich etwas; Schwimmer oder Schwimmerin – Lisa? Ja, warum denn nicht? Das Haus lag nahe, und hier kam um diese Zeit kein Mensch her.

Doch – da stand jemand, ein Mann, der sich vorsichtig im Schatten hielt. Für Rudolf war das weiße Weib kaum wahrnehmbar, das da hinten so ruhig seine Kreise zog. Aber der da, der stille Spähling hatte vielleicht unkeusche Augen. Diese Schwimmerin sollte nicht unziemlich bespäht werden. War der Kerl da ein Vagabund? – lag dem Übles im Sinn? – – Oder – hatte der ein Recht, da zu stehen? Rudolf schoß das Blut zu Kopfe. Dann fragte er sich plötzlich kaltblütig: ja, was geht denn mich die Lisa Grundmann an – und ob sie Amouren hat? Und wurde gleich danach hitzig: die kleine Lisa – die sich mir in den Arm hängte, als ich ein junger Bursch war? Die nicht unterschied zwischen dem eigenen Bruder und mir? Oho!

Er pirschte sich unhörbar an den Fremden heran, aber ein trockener Zweig knackte unter seinem Fuß, und der Späher kehrte sich, aufhorchend, dem Geräusche zu.

Nun erkannte Rudolf den kleinen Nervenprofessor Albert Lender, über dessen Personalien ihn gestern die kluge ›Gräfin‹ Goldschneider unterrichtet hatte. Er tat einen weiteren Schritt, aber da geriet er in ein ganzes Häufchen dürrer Äste; es raschelte und knackte im Grase. Da zog sich der Herr Professor eilfertig ins Dickicht zurück. Was wollte der? Die Stadt lag über eine Wegstunde entfernt. Dieser korrekte, verzärtelte Herr sah nicht aus wie ein Freund von Mondscheinpromenaden. Lisa und – der? Rudolf empfand ein heftiges Mißbehagen.

Das Mädchen schwamm jetzt in langen Stößen dem Ufer zu. Da wandte sich Rudolf und lief eilends seinen Weg heimwärts. Dann stand er aufatmend still. Das geht nicht, Freundchen – sagte er sich – recht trocken an deine Arbeit gehen sollst du – und weiter sollst du nichts!

Er mußte an der verglasten Wand von Fleets »Restorang« vorbei. In der Mitte der Wirtsstube, unter der Hängelampe, hatten sich junge Menschen ein paar Tische zusammengeschoben. Junge Fräuleins, Studentinnen mochten es sein, saßen da, mit klugen, ernsthaften Gesichtern.

Neben einer üppigen Blonden saß der Ludwig Grundmann und hatte seinen Arm auf ihrer Stuhllehne liegen. Die junge Dame saß so fest angelehnt, als schmiege sie sich in seine Umarmung. Und heute sah Ludwig aufgeregt und genußsüchtig aus. Da war auch Olli. Rudolf erschrak über die Spitzigkeit ihrer Züge. Sie war gealtert und doch kaum über die Mitte der Zwanzig. Albert Lender stand hinter ihrem Stuhle, die beiden hatten eindringlich zu sprechen. Die feinen blasierten Züge des Professors waren unmutig gespannt, die Unterlippe ärgerlich vorgeschoben. Olli hatte die Hand auf seinem Arm liegen, wie man einen festhält, der auf und davon will. Die kleine Gesellschaft hatte sich in Zwiegespräche verstrickt; diese jungen Damen fingen immer gleich an fachzusimpeln. Das behagte Ludwig nicht, der schon eine hübsche Zahl mehr Semester hinter sich hatte, als sein Studium erforderte. Er tat einen festen Zug aus seinem Bierkruge, stemmte sich gegen die Stuhllehne und intonierte: »Ein finstrer Esel sprach einmal – zu seinem eh'lichen Gemahl –«

Da sie alle sprachen, rief die Blonde: »Still – Grundmann hat's Wort –«

»Ein finstrer Esel sprach einmal
Zu seinem eh'lichen Gemahl:
Ich bin so dumm, du bist so dumm,
Wir wollen sterben gehen, kumm!«

Die ganze Gesellschaft wiederholte im Chorus den Refrain.

Ludwig Grundmann, in der jugendlichen Pracht seiner Athletengestalt, stand vor dem verdrießlichen kleinen Lender, hob seinen Krug und schloß: »Doch wie es kommt so öfter eben – – die beiden blieben fröhlich leben.«

»Das ist auch das Gescheiteste,« rief die kleine Sarassin, »wie heißt der Dichterphilosoph, dem dieser Tiefsinn entquoll?«

»Christian Morgenstern heißt er,« sagte Ludwig mit der Gebärde des Hutziehens, »der Mann hat viele schöne und tiefe Gedanken ›vermetrisiert‹ – ich bitte dies Gegenwort von ›vertonen‹ zu beachten, es ist propre crû

»Sie haben zu viel getrunken, Grundmann,« bemerkte Lender trocken.

»Das sagen Sie, Professor, weil Sie nichts vertragen. Erst das Räuschlein, zart wie Aeolsharfenklang, hebt in Stimmungen. Dieser Esel zum Exempel.«

»Kommen Sie lieber mit zur Stadt, Grundmann, unsre Stahlrösser grasen da unten. Sie könnten die Nacht bei mir bleiben,« sagte Lender. Er wollte den beiden Schwestern den Unsinn sparen, den der überreizte Mensch nachts oft verübte.

»Wie war das mit dem Esel?« fragte die Schmidt dringend. Ihr gefiel Ludwig gerade in seiner Aufregung. War er nüchtern, dann hatte er nicht viel für sie übrig, dann steckte er ernsthaft in seinen Studien. Er wollte sich amüsieren, aber vor allem wollte er Karriere machen. Nicht an der Staatskrippe, nein, auf dem Großstadtboden ganz in Freiheit.

»Dieser Esel hatte Selbsterkenntnis und zog den Schluß: Selbstvernichtung. Nachher war die Materie stärker und siegte über die Logik,« er trank seinen Krug leer: »prost Rest!« und wendete sich zu Lender: »Solchem Eselein gleicht einer, der sich ein Mädel in den Kopf gesetzt hat, das ihn nicht mag. Wir wollen sterben gehen – kumm! Und mich wollen Sie abstinent machen, aber ich kumme nicht – die Materie siegt.«

»Was meinen Sie denn mit dem ganzen Schmarrn, Grundmann?« fragte Lender scharf. Flackernde Röte überflog sein hübsches fades Gesicht.

»Mit dem verliebten Esel natürlich meine Wenigkeit – und mit dem Mädchen, das mich nicht will – – Fräulein Julchen Schmidt.«

Sie lachten alle, und Olli hob die Sitzung auf. »In acht Tagen kommen wir wohl wieder zusammen. Ludwig, du bleibst dann fort, sonst müßten wir das Lokal wechseln. Zum Spaßen haben wir keine Zeit.« Das ernsthafte kleine Gesicht wandte sich dem Bruder mit Geringschätzung zu.

Rudolf ging kopfschüttelnd weiter, zur Haustür. Er verstand die Frozzelei dieses Studenten gegen den älteren Professor nicht; warum der es sich gefallen ließ?

Was geht's mich an – sagte sich Rudolf, und dann stand das strenge Gesicht Ollis vor ihm. Die nimmt das Leben auch schwer, dachte er.

Olga Grundmann lief davon. Sie bangte sich schon nach ihrer Schwester, die den Abend allein verbracht hatte, weil sie nicht zu den Studentinnen gehörte.

Über dem Laufen dachte Olli rückwärts. Zwei Jahre war nun der Vater tot, und sie hatten zuerst ein ganzes Jahr betrübt und ratlos dagesessen. Hatten auch schon gleich ein Stückchen ihres kleinen Kapitals aufgegessen, denn die Witwenpension – du lieber Gott! Olli freilich hatte ihr Studium mit zusammengebissenen Zähnen fortgesetzt, so schmerzlich ihr auch der Vater gerade hierbei fehlte. Allmählich fing die Lage der Familie an, die alten Freunde zu beunruhigen.

Frau Valeska Grundmann hatte kein Talent für sorgende Vorausschau. Auch die herzinnige Trauer um den Gatten störte nicht ihre sanguinische Lebensauffassung. Wenn man nun wirklich das bißchen Vermögen angriff? Verschwendete man etwa? Noch dazu, wenn man den Lebensfuß der reichen Kollegenfamilien in Betracht zog? Würde es etwa in Zukunft der Schönheit Lisas, dem Charakter ihrer Olli und diesem genial angelegten Ludwig an Erfolg fehlen? Gewiß – das Leben sei teuer – aber waren sie nicht immer bei Tee und Butterbrot vergnügt gewesen? Und das Geld läge heut sozusagen auf der Straße.

»Wo – meine Allerbeste – ich bitte Sie, wo?« rief Wesemihl, der Vormund der minorennen Lisa.

Die noch immer hübsche Frau hob ihre prachtvollen Arme. »Hier – hier kann es gar nicht fehlen. Und es wäre pietätlos gegen meinen Toten, wenn ich nun kümmern und sorgen wollte. Wir haben uns nie um des Morgen willen das Heute verkümmern lassen.«

»Sie wäre ja schlechthin eine Törin, ohne dies prachtvolle Herz,« sagte der weichmütige Philosoph Wesemihl.

Fritz Fitting fand endlich einen Ausweg. »Sie ist eine verblendete Nachtwandlerin, aber eine mütterliche Natur.«

Er hatte schon vor Jahren ein Rekonvaleszentenheim aufgetan, das alles bot, dessen ein Genesender bedarf, der den Ansprüchen von Haus und Amt noch nicht wieder gewachsen ist.

»Übernehmen Sie einen Posten in meinem Heim, Frau Valeska,« hatte er ziemlich bärbeißig vorgeschlagen, denn er fühlte, daß Herz und Zunge mit ihm durchgingen. Ob sie den ganzen Haushalt leiten solle – fragte Frau Valeska bedenklich. »Daß Gott erbarm – nein –«

Fitting war nicht immer Hofmann und die Haushaltungskunst der Grundmanns bestand für ihn aus lauter Impromptus und Intermezzi.

»Sie könnten das frohe Element im Hause sein; Gedrückte zur Tätigkeit und Aufgeregte zur Ruhe bringen. Autoritative Persönlichkeit und gute Freundin in einer Person.« Fitting erwärmte sich für seinen Plan. Es würde wirklich keine Sinekure sein. Er bot ein reichliches Honorar, das mochte sie ihren Kindern zuwenden und damit meinen, eine neue Hypothek auf die Zukunft erworben zu haben. Das nahm die Frau an. Noch steckte ihnen allen die Grundmannsche Wohnstube im Blute, sie wurden unruhig, wenn einer aus ihrer Mitte fehlte. Mama tröstete: »Fangt keine Grillen; freut euch des Lebens, man hat's nur einmal, und es ist famos, wie's auch sei.«

Draußen am Bodden das Waldhaus hatte sich ein spleeniger Engländer bauen lassen. Nachher war es ihm leid geworden, die Geschwister hatten es lächerlich billig zur Miete bekommen.

Und wie mußte es sich da arbeiten lassen! Dies Argument hatte Ludwig in die Wagschale geworfen. Nun lag er unter den Bäumen oder im Ufersande. Schlenderte in die Stadt, weil er die Bibliothek brauchte, und kam abends heim – wie man eben aus der Bibliothek nicht kommt; oder kam auch nicht heim.

Olli blieb stehen und preßte die Hand auf die Brust. Sie kam immer ins Rennen, wenn die Sorgen sie jagten. Und brauchte so nötig Arbeitsruhe. Die Arbeit wurde ihr ja so sauer, wie sie es gar nicht aussprechen durfte. Die würden Mitleid fühlen, und jene Schadenfreude.

Und Lender! Es war doch alles Mögliche, daß der so zähe an der Lisa hing, daß er alle seine affektierte Fadheit fallen ließ, sobald es sich um Lisa handelte. Der Berliner Hochfinanz gehörte seine Familie an; dorthin strebte er natürlich zurück. Heut hatte er sein Ultimatum gestellt: nun bitte – ja oder nein, klipp und klar. Er wollte sich nicht zerreiben. Tränen in den Augen, der kleine Lender. Und er hatte so viel zu bieten, und war nicht ohne geistige Feinheit. Mit der Mutter hatte sie drüber gesprochen: »Bitt' dich, Goldkind, wenn sie ihn doch nicht mag? Möchtest du ihn nehmen?«

Ich – hatte Olli gedacht – ich schon, bei der Zerfahrenheit unsres Hauses. Erlösung von der Fron – sicheres Dach – und Mann und Kind! Ich – o ja – gleich vom Fleck weg. Gesagt hatte sie aber nur: »Um mich handelt sich's ja nicht, Mamachen. Für Lisa ist es eine große Chance.«

»Nein, wie kommst du nur zwischen uns vergnügte Leute! Könntest viel hübscher wirken mit deinem feinen Gesichtlein, heute noch, lieb Kind – wenn du leichtblütiger wärst. Will der Lender die Belagerung aufgeben – glückliche Reise! Mir könnt' so ein kleiner Geschniegelter auch nicht passen!«

Die Fensterläden im Waldhaus waren vorgelegt, Olli schloß sich die Türe auf. Drin brannte die Hängelampe. Die Lisa mit ihrem schimmernden Blondkopf saß in Vaters Lehnstuhl, hatte sich in das Tuch mit den roten Borten gewickelt und war über ihrer Seidenstickerei eingeschlafen.

Olli setzte sich leise daneben. Sorgenkind – dachte sie – alle ihr meine Sorgenkinder, die ihr das Leben nicht sehen wollt, wie es ist, dürr und steinig. Sie seufzte, die Schläferin lachte leise und schlug die Augen auf.

»Warum spielst du mit mir Komödie?« fragte Olli unmutig.

»Weil ich froh bin und weil ich dich lieb habe, Schulmeister!«

»Warum bist du froh, wo doch kein Anlaß ist?«

»Weil ich lebe – Anlaß genug.« Lisa sprang auf, dabei glitt das Tuch herunter, sie zog es erschrocken wieder um sich.

»Lisa,« rief Olli empört, »du hast wieder im offenen Wasser geschwommen. Wenn dich Menschen gesehen haben –«

»Hier kommt keiner heraus. Der Mond hat mich gesehen.«

»Lender war draußen.«

»Lender!« Die Schöne zuckte die Achseln.

»Er will wieder nach Berlin. Er hat das Gaukeln satt um ein Mädchen, das Männer anlockt und mit ihnen spielt.«

Lisa lachte ihr gescheites Lachen: »Sagt er das?«

»Nein, das sage ich. Lisa,« fuhr Olli beschwörend fort, »du hast kein Talent und keine Willenskraft. Du bist steuerlos. Haus und Mann und Kind – Lisa, das ist was ganz Großes. Du spielst mit dem Leben.«

Lisas stahlblaue Augen wurden schwarz vor Leidenschaft. »Du kannst ganz ruhig sein, Olli, ich spiele nicht. Neben meinem heißen Blut hab' ich meine scharfen Augen. Die helfen mir. Nenne es einen Augenfehler – ich kann mich nicht verblenden: ich sehe den eitlen Streber, sehe, wo die Phrase einsetzt, oder das konventionelle Mitlaufen. Ich wittere den Geilen und den Schwächling – ich dächte, gerade wir Hochschulkinder wären in guter Schule. Was sind es denn für Männer, die ich an mich ziehe? Locke ich sie – bin ich nicht reizbar und launenhaft?«

»Gröben hast du Sabinen abspenstig gemacht – du, Sabinen!«

»Dann soll sie mir danken. Gröben ist krank und – eine Windfahne. Sabine hat den mütterlichen Zug. Sie umsorgte ihn in ihrer Art, die wir ja alle lieben. Da fing er an, sie wie eine Schwester zu fühlen.«

»Weil du ihn blendetest!«

»Möglich. Aber nicht mit Absicht. Das Kranke stößt mich ab. An Gröben trag ich keine Schuld. Der kleine Lender« – sie lachte, – »es prickelt einen wohl, sein bißchen Macht zu fühlen. Der geht schon nicht zugrunde, wenn er auch jetzt an der Angel zappelt.«

»Herrgott, bist du leichtfertig!«

Lisa hob ihre beiden Arme: »Sieh diese Arme, Olli – sind sie nicht gemacht, den Mann zu umschlingen – und sie sollten sich mit dem Männchen begnügen?«

Olli rang die Hände. »Zu solcher Sinnlichkeit bekennst du dich?«

»Ja – seid ihr Vernünftigen so losgelöst von der Natur, daß ihr euch eurer stärksten Triebe schämt?« – Lisa setzte sich nieder und zog ihr Tuch dicht unter dem Kinn zusammen. »Du kannst ganz ruhig sein, Olli, ich mach' dir schon keine Dummheiten. Neben meinem heißen Blute habe ich meine scharfen Augen. Nenne es einen Augenfehler.«

Die blonde Lisa nahm Ollis Hände fest in die ihren. »Wenn du einmal in love bist, Schwesterseele – dann stoß ich dem den Dolch ins Herz, der sich nach mir auch nur mit halbem Blicke umsähe – da hört der Spaß auf. – Du, der Rudel ist zurück und wohnt hier draußen bei den Fleets.«

»So – – ist der zurück?« Olli ging über dem Teppich auf und nieder. Sie war sehr blaß geworden. »Mich friert, komm mit hinauf zu Bett.«

Lisa wäre gern noch unten geblieben, sicher würde sie noch in Stunden nicht schlafen. Aber sie folgte gehorsam, ach – sie würde ihrer Olli noch viele Sorgen machen.

Die Schlafstube unter dem Dach war niedrig. Die Betten standen sich gegenüber. Sie lagen noch in wachem Nachdenken, da richtete sich Lisa auf: »Ohne die Enttäuschung mit Gröben hätte Sabine sich nie zu ihrem Mann gefunden. Und Köppen ist ja doch ein Mann! Geliebte, zeige mir den, für den mein Blut brennen kann –«

»Ich kann das nicht hören,« schrie Olli, »hast du keine Scham?«

»Stolz hab' ich – Stolz – dann wart' ich nicht, bis er mich fragt, dann –«

»Das tut kein Mädchen, sonst höhnt sie der Mann.«

»Der nicht, dem ich mich schenke.«

Lisa sah mit leuchtenden Augen ins Dunkel und horchte zu ihrer Schwester hinüber. Die aber schwieg; nur die Nachtstille sang und klang lautlos um sie her.

Da legte sich Lisa seufzend in die Kissen zurück. »Wir sind doch arme Dinger, wir Mädchen.«

»Das sind wir wohl,« sagte Olli leise.

.

Am Morgen fiel der Regen. Wasser und Himmel flossen ineinander. Der Wald stand finster, wie eine schwarze Mauer. Rudolf war es recht, so fühlte er ich sicher vor Störung.

Auf dem Tisch am Fenster lagen seine Reisetagebücher. Er war innerlichst froh. Er hatte Neuland gefunden, Gebiete, die der Handel und Sport aufgesucht, die Wissenschaft aber noch nicht gestreift hatte. Bis in die Sandsteppen und Felswüsten des dürren, regenlosen Innern war er vorgedrungen, den Spuren der einstigen Herren dieses Landes nach, die sich vor den weißen Eroberern mit ihrer Besitzgier und Verstandesüberlegenheit in unwegsame Schlupfwinkel verkrochen hatten.

Da lagen die Aufzeichnungen über die verschiedenen Idiome, da selten ein Stamm die Sprache des andern versteht. Da lagen Zeichnungen nach primitiven Mustern, die er, mit scharfem Griffel in Steine und auf Geräte geritzt, gefunden hatte. Wie diese schwarzen und kupferroten Männer Pflanzen, Sternbilder und Naturkräfte in bilderreichen Ausdrücken bezeichneten, voller Schwung und Anschauung – Rudolf sann dem allem nach. Jene Ärmsten trugen in sich auch die Keime einer Kultur, einer Ethik. Gastfreundschaft hatte er genossen, hatte Familiensinn, Zärtlichkeit für die Kinder gefunden, Geduld und Freude bei ihren Kunstarbeiten; Religion – aus Furcht und Aberglauben gemischt. Rudolf saß in tiefem Nachdenken. Lieber Gott, er brachte, wie es sich gehört, Scherben mit und Gewebe, Amulette, Schriftproben; Schmuck aus Körnern und Gräten, Federn und Pflöckchen, manches erstaunlich sinnreich zusammengefügt. Aber was er an Leben beobachtet hatte, am menschlich Gemeinsamen, das war ihm persönlich am wertvollsten gewesen. »Unwissenschaftlich,« sagte er lächelnd vor sich hin, »viel zu stark mit dem Herzen gesehen, Schwarmgeist – bleib in den Grenzen deiner Zunft.«

Es pochte an der Tür, der Landbote brachte die Post. Rudolf verwunderte sich über das ansehnliche Häufchen: was tausend, nimmt man so eifrig von mir Notiz? Zeitungen brachten die Nachricht von der Heimkehr des rühmlich genannten Forschers Rudolf Rabener von seiner Australienfahrt. Wer mochte das lanciert haben? Die Geographische Gesellschaft wünschte einen Vortrag über Papuas und Negritos. Tante Kamilla bat um eine Plauderei im Gustav-Adolf-Vereinsnähnachmittag. »Mein Franz«, schrieb sie mit ihrer altmodisch-zierlichen Handschrift, »muß auch jeden zweiten Winter dran glauben. Und es näht sich nochmal so hübsch, wenn man dabei ein kluges Wort zu hören bekommt.«

Alle die kleinen Attacken hatte Rudolf nun erst wieder zu lernen. Zuletzt eine Karte von Fitting, er möge um drei Uhr den kleinen Weg nach Remshagen nicht scheuen. Beerdigung des ärmsten Hunold. Parteisache, dort nicht zu fehlen.

Rudolf machte sich Notizen und blickte dazwischen auf schiebende Wolken, die mit matten Sonnenstrahlen kämpften. Bilder und Gedanken drängten sich. Es störte auch nicht, daß das kleine Dienstmädchen sein Mittagsmahl auf dem Sofatische ordnete. Er nahm sich ein Heftchen mit hinüber, schnitt sich das Fleisch, um beim Essen weiterlesen zu können, trank sein Glas Wein, ohne sich dessen bewußt zu werden, und stand endlich beglückt auf: er hatte sich wieder – den Arbeitsmenschen – und damit die Lebensfreude.

Die Krügerin räumte danach das Gerät zusammen; Rudolf saß schon wieder am Fenster. Sie trat zögernd näher, so daß Rudolf freundlich fragte, ob sie noch etwas wünsche.

»Ja, Herr Professer, ik wull so girn noch wat fragen. Da is nu hüt dat Gräfnis von den armen jungen Minschen. Dat wos so'n hübschen, frischen Jung – un is de enzig Söhn von sin Modder. Weiten Se nich, worüm he dat dhan het?«

Rudolf sann nach. Wie konnte man Leuten mit einfacher Lebensauffassung diesen Tod erklären? »Ich habe den armen Menschen gar nicht gekannt,« sagte er ausweichend.

»Denn freilich,« meinte die Krügerin, »hier in uns' Vagelburken – so seggd he to uns' Restorang – da is he oft inkihrt – un nu so! Se seggen jo, he het wat schrewen – war dat denn kriminalsch – dat he sik fürcht oder schämt het?«

»Nein,« sagte Rudolf, »der Mann hat nichts gegen Gesetz und Obrigkeit getan.«

Und da die Frau ihn mit bekümmerten Augen ansah, die mehr zu wissen verlangten, sagte Rudolf hastig: »So etwas geschieht oft in einem Augenblick geistiger Verwirrung.«

Die Krügerin ging kopfschüttelnd hinaus. Daß man doch dieses Toten Ende einem schlichten Herzen nicht ausdeuten konnte, daß der Anlaß dieses Selbstmordes mehr verzwickt und grotesk als tragisch war. Hunold hatte nur getan, was die extrem Honorigen von ihm erwartet haben mochten. Schlichter Abschied – nannte man das beim Militär. Der Ehre war genügt.

Rudolf stand pünktlich auf dem kleinen Friedhofe. Die Gräber lagen um die Dorfkirche, wie Schäflein um den guten Hirten. Rings um den Gottesacker wiesen uralte Pappeln strenge gen Himmel. Der schmale kranzbedeckte Sarg Erich Hunolds war im Freien, vor dem Kirchenportal, aufgebahrt. Es hatten sich nun doch viele Leidtragende eingefunden. Die verheirateten Dozenten waren vollzählig erschienen, auch sonst noch viele vom Corpus academicum.

Kamilla Wesemihl stand neben ihrem Franz. Der Tote hatte viele Güte von ihnen erfahren; das hinterließ ihnen ein tiefes Dankgefühl. Man hätte nur noch viel mehr tun sollen – das erpreßte der gefühlvollen Kamilla immer neue Tränen.

Valeska Grundmann sah fast provozierend prachtvoll unter dem schicklichen Trauerschleier aus. Ihr Sohn Ludwig blickte finster auf den Sarg: ein Gescheiterter, der da. Hüte dich – sagte er sich mit gerunzelten Brauen. Dabei brütete wasserschwere Wärme in der Luft – und da drüben stand eine alte Frau, hager und aufrecht, wie ein harter Stein – die Mutter des Toten. Es überschüttelte Ludwig. Ungemütliche Sache, so jemand die letzte Ehre zu geben.

Zwischen den Damen standen auch Olli und Lisa. Rudolf hatte flüchtig hinübergeblickt. Also so sah seine kleine Jugendfreundin aus. So große, erschrockene Augen starrten in unbestimmte Fernen. So ergriffen preßten sich die kleinen Hände zusammen. Hier ist an den Tod zu denken, nicht an das Leben – dachte Rudolf. Aber die Gedanken gehorchten ihm nicht.

Und plötzlich ging eine fast unmerkliche Bewegung durch die Versammlung. Den schmalen Kirchsteig herauf kam Köppen etwas hastig geschritten. Er war in seinem Kanzelornat. Die Prunkkette der Magnifizenz hatte er nicht angelegt. Der Tote hatte schon in seinen letzten Lebensstunden nicht mehr zur Universität gehört. Nun stand Köppen zu Häupten des Sarges, mit seitwärts geneigtem Haupte, wie einer, der den inneren Stimmen lauscht. Er nahm seinen Text aus dem dreiundfünfzigsten Psalm.

»Die Toren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott – und er wirkt doch in uns für und für. Er gibt den starken Geist und das mutige Herz; das feine Gefühl der Verantwortung, die da in uns flüstert, wenn wir straucheln wollen –«

Man sah sich unbehaglich an. Sollte das ein Totengericht werden?

Die Bruderhand dem, der da strauchelt – so noch zu helfen ist – eine sanfte, gerechte Rückschau dem, der über menschliche Hilfe hinaus ist – treues Gedenken der vielen Stunden gewissenhaften Fleißes, gelehrter Inbrunst, in denen der Geschiedene die Gaben entwickelt hat, die der gnädige Gott ihm anvertraut hatte – ein stilles Gebet für das zertretene Mutterherz. Bei dieser Ärmsten verweilte der Geistliche. Etwas wie Dichterschwung schien ihn zu beseelen – aber die Flammen sanken in sich zusammen und der Knecht des Herrn schloß mit dem Vaterunser.

Fittings Augen hatten mit harter Frage zu Rudolf hinübergeblickt, und der hatte sich abgewendet; ein Sturm widerstreitender Gefühle durchbrauste ihn.

Köppen trat als erster zu der Mutter Erich Hunolds. Die andern alle folgten. Die Frau ließ sich ganz automatenhaft die Hand drücken. Sie mochte denken: euer Gott verteilt seine Gnadengaben ganz unbegreiflich und unfaßbar ungerecht – ihr Wohlgebetteten – ich habe nichts mit euch zu schaffen. Sie ließ sich willenlos fortführen.

Die Leute gingen langsam aus der Friedhofsenge auf den dörflichen Platz. Sie fingen schon wieder an, von ihren weltlichen Angelegenheiten zu sprechen.

Olli wandte sich knapp um. Sie wußte, daß Rudolf Rabener hinter ihr schritt. »Ich hörte schon, daß Sie zurück sind –«

» Sie?« fragte Rudolf, »seit wann denn Sie?«

»Wir sind nun alte Leute geworden, da schickt sich's besser so,« scherzte sie mühsam.

»Lassen wir's beim Alten, Olli; wir sind gute Freunde, da kann sich gar nichts ändern.«

Sabine schob sich neben ihren Bruder: »Du Böser,« sagte sie und preßte seine Hand, »man wird ja deiner gar nicht froh.«

»Du mußt mir Zeit lassen,« meinte er langsam, »so vieles ist anders geworden. Ich müßte viele Fragen tun, wie dies und jenes so geworden ist. Ich weiß von mir selber, wie schwer auf manche Frage antworten ist.«

»Mir nicht,« rief Sabine lebhaft und hielt im Weiterschreiten seine Hand fest, »oder doch nur auf Fragen, auf die ich mir selber keine Antwort weiß.«

»Du hast jetzt deinen Mann; da gehört kein andrer dazwischen.«

»Eifersüchtig, Lieber?«

Und da er eine unbestimmte Handbewegung machte, rief sie eifrig: »Schuldig bist du mir, wieder mein Zweieiniger zu werden; hast mich so lange allein gelassen –.«

Er drückte ihr stark die Hand: »Ich komme ja morgen zu dir, Kind –«

»Zu uns!« – Da schwieg er.

»Komm für ein Stündchen mit ins Waldhaus zu Olli und Lisa,« bat sie, »Wesemihls kommen auch. Mein Mann fährt gleich zurück. Examen, Sitzungen; vor der Reise häuft sich so vieles.« – Rudolf sagte auch das zu.

Ganz vorn, weit voran ging Köppen allein, er hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er ließ sich nicht gern stören, wenn er gesprochen hatte. Sie ließen ihn also ungestört. Aber Köppen hatte den Friedhof schon weit hinter sich und dachte an andre Dinge. Flüchtig nur an sein altes Familienhaus, das stolz, aber finster die eine Schmalseite am Marktplatze einnahm. Er hatte der Universität eine Schenkung damit gemacht. Ein Predigerseminar sollte darin gegründet werden; aber es war nur für starke Talente bestimmt, die aus dem Kanzelamt heraus den Weg zur Professur finden würden. Das war ein Lieblingsgedanke Köppens. Hier wollte er seinen ganzen Einfluß ungehemmt ausströmen, und schon um Weihnachten hoffte er das umgebaute Haus seiner Bestimmung zu übergeben. Er lächelte vor sich hin; er schuldete den Göttern eine Opfergabe – er wollte das Schicksal bestechen in der späten Liebesunruhe seines starken Herzens.

Er wußte, daß er in geistigen Dingen ein Sybarit war. Ihm hatten sich noch alle Lebenslagen zum subtil ästhetischen Genießen gestaltet. Und nun war ein neuer Lebensabschnitt für ihn angebrochen. Diese junge Frau, zu der er sich bisher nur als ergebener und führender Freund gestellt hatte, nicht als der fordernde, der zum Fordern berechtigte Gatte, die wollte er sich nun erst in der Ehe erobern – erobern, ohne doch nur eine Spur seiner Wesensart aufzugeben; denn das war selbstverständlich für Adalbert Köppen. Und nicht in einer Überrumpelung der Sinne wollte er sie nehmen, nicht so! Er preßte die Lippen zusammen und sah mit halb geschlossenen Augen spähend in die Weite hinaus, als läge da weit hinten das ersehnte Ziel.

Nein, nichts Gewaltsames, das Beschämung und Bedauern bei ihr zurückließe. Geben sollte sie sich, aus eigenem Entschlusse, im Erkennen seines Wertes. In diesem Gedanken: sie zu gewinnen aus der Fülle seiner geistigen Kraft, er, der Alternde – hatte er geschwelgt, seit das Verlangen in ihm gereift war, sein erfolgreiches Leben noch durch Ehe und Vaterschaft zu krönen. Nie noch hatte sein junges Weib einen so fest in sich Beruhenden gekannt. Sabines Vater – o, ein feiner Kopf, ein Gelehrter vom alten Schlage – Idealist. Aber weich, schlapp – diese Frau hatte ihn untergekriegt – diese seine gute Schwiegermama. Köppen lächelte mit dem Gleichmut der Olympier. Und Rudolf?

Die Landstraße war erreicht. Köppen wandte sich zurück, er war weit voraus. Wie eine dunkle Schlange schob sich der Trauerzug zwischen den rostgelben Feldern hin. Der Geheimrat schwenkte nach rückwärts sein Barett und stieg rasch in den Wagen, dessen Schlag der Kutscher geöffnet hielt.

.

Sie saßen im Waldhause am Kaffeetisch.

»Wollen froh sein, daß wir noch atmen im rosigen Licht,« damit schloß Wesemihl eine trübe Gedankenreihe ab, »und nun beichte mal, Rudolf, ob du dich zwischen uns nach deinen braunen Schönen zurücksehnst.«

»Ihr wißt gar nicht,« sagte Rudolf, »wie gut ihr Mädchen es hier habt gegen meine ›Wilden‹, und wie – ihr mögt euch noch so sehr sträuben – doch auch Gemeinsames ist zwischen euch und jenen.«

»Erzähl mal, Rudel,« sagte die blonde Lisa, »ob die auch Examen machen, nach der Brotstelle jagen und sich nach dem Manne den Hals ausrenken –«

»Nein – Not um den Mann ist dort nicht,« und Rudolf erzählte von den Eukalyptuswäldern, deren Stämme höher sind als die Kirchtürme aller Metropolen, von den Kasuarinen mit ihrem blutfarbenen Holze. Von den kraftgestählten Menschen, deren Gesichter boshafte Teufel dem lieben Herrgott nachgepfuscht hätten. Rudolf wandte sich an Wesemihl, was er hier erzähle, habe ja so recht mit seiner Arbeit nichts zu tun. Onkel Franz werde mit seiner Ausbeute zufrieden sein.

»Ich will auch hinaus ins Leben,« rief Lisa feurig, »laß mich los, Onkel Franz, ich hab' dich schon so oft angefleht, ich finde schon allein meinen Weg!«

Wesemihl kraute sich mit der knochigen Rechten in seinem angegrauten Vollbart: »Na, da entwickle mal dein Programm; nenne mal die Kräfte, mit denen du dir deine Zukunft aufbauen willst.«

Lisa flammte. »So schüchterst du mich nicht ein, Onkel Franz. Ich habe keine besondern Talente und habe auch nichts Rechtes gelernt –«

»Bitte – das scheinst du ja nun nachholen zu wollen.«

»Was ich habe,« fuhr Lisa fast heiser fort, »sind meine scharfen Augen. Scharf, Onkel, für Menschen und für Verhältnisse. Schreiben will ich – dazu muß ich hinaus, das Leben studieren.«

»Wo –?« fragte Wesemihl hart.

»In Berlin; ich will mir Stellen suchen, mich kann man überall brauchen.«

»Wo?«

»Im Warenhaus, am Theater. Im Empfangssalon beim Photographen, beim Arzt. Fürs Feuilleton will ich anfangen. Jeder Junge darf seine Flügel rühren!«

Wesemihl konnte gewaltig ironisch über seine feine Gelehrtennase fortblicken: »Mir ist da neuerdings was von einer Kußgeschichte zu Ohren gekommen –«

Lisa übersprühte die Anwesenden mit ihren hellen Augen. »So eine harmlose Sache – da siehst du, daß ich raus muß aus unsrer stickigen Gesellschaft.«

»Gemach, gemach – man ist hier nicht übler als anderswo.«

»Ein Klatschnest, ein Klatschnest,« sie mußte einen Schluck trinken, die schöne Leidenschaftliche, »das könnt ihr alle hören. Ich bin gut Freund mit dem jungen Otzen, dem Majoratsherrn. Weil wir beide jung sind und lustig und gern tanzen. Dienstag begegnet er mir auf der Wallpromenade. Wir nicken uns zu, stehen bleiben wir nicht, weil wir's eilig hatten. Sind schon vorbei, da wendet er den Kopf über die Schulter zurück – der liebe Kerl findet mich nun mal hübsch –.«

»Ganz erstaunlich,« fiel Rudolf mit mattem Lächeln ein. Er fand die Lisa entzückend, überwältigend in ihrem Lebensdrang.

»Und da raunt er mir zu: ›Lisa, gib mir 'n Kuß!‹«

»Und da küßtest du ihn?« – Dem gestrengen Wesemihl lief ein belustigtes Lächeln vom heitern Munde in seinen grauen Bart.

»Bewahre,« rief Lisa triumphierend, »ich rief nur, auch so über die Schulter weg, zu so was Verrücktem ist mir's noch zu hell. Da ist die Goldschneider hinter mir, lacht und nennt mich Goldkind. Dann nachher läuft sie rum und macht davon einen Riesensums.«

»Laß mal die Goldschneider und sage, wie du mit dem jungen Otzen stehst.«

»Gott, Onkel Franz – stehen! Muß jede vergnügte Minute festgenagelt werden? Wenn der erst auf seinen Gütern sitzt, nimmt er ein schönes Landfräulein, was da gut hinpaßt.«

»Was Bestimmtes lernen willst du nicht?«

»Nein,« sagte Lisa tief atmend, »ich will mir nicht voreilig den Horizont verbauen!«

»Und zu denken,« rief Olli zitternd, »daß ein Mann inständig um sie wirbt!«

Ludwig Grundmann trat hinter Lisas Stuhl: »Ich gehe sicher nach Berlin. Dann hat sie ja, was ihr Schutz nennt.«

»Willst du in Berlin Examen machen?« Wesemihls Augen lagen unbequem schwer auf dem jungen Manne.

»Ich werde mir zunächst das Examen schenken,« sagte Ludwig und steckte beide Hände in die Hosentaschen. Seit Knabenjahren hatte ihm diese Stellung einen gewissen Halt gegeben, wenn er nicht ganz und gar einig mit sich gewesen war. Damals hatte sein Vater schon über den kleinen Burschen gelacht, wenn der sich bei heikeln Auseinandersetzungen in diese nonchalante Pose gerettet hatte.

»Ich habe kein formales Recht,« sagte Wesemihl, »aber vielleicht darf ich dennoch deine Gründe kennen?«

Ludwig warf sich auf den leeren Stuhl neben Lisa. »Du wirst sie nicht gut heißen. Wir Jungen sind heut aus zwei Lagern. Da ist die ungeheure Masse der Braven und der Streber,« Wesemihl zuckte ungeduldig die Achseln, »ja, das wußte ich doch, Onkel Franz, daß dir das nicht paßt. Familienruhm ohnegleichen, wenn sich der Sohn schon mit siebzehn, achtzehn durchs Abitur gequängelt hat und dann so weiterschindet.«

»Weiter,« sagte Wesemihl und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Also lassen wir diese geringfügige Majorität beiseite. Nun aber die andern?«

Ludwig beeilte sich. »Also diese kleine – sehr kleine Minorität von Elitemenschen hat keine Neigung für Examina, Anhalfterung an die Staatskrippe und solche subalterne Chosen. Was einer weiß und in sich verdaut hat, das ist sein Lebensgewinn, ob ihm das nun ein paar alte Perücken bescheinigen oder nicht.«

»Höre mal, mein Junge,« rief Kamilla Wesemihl empört, »wenn das alles nicht so grasgrün wäre, dann wär's ja Größenwahn in Folio!«

Der Professor lächelte vergnügt. Ihm schien gar nicht mal so uneben, was der da vorbrachte – für ein Genie nämlich und einen Charakter. Aber seinen Ludwig Grundmann kannte er ja nun doch. So sagte er ganz freundlich: »Ich nehme an, daß diese Jünglinge in Verhältnissen leben, wo sie auf Examen und Staatskrippe pfeifen können.«

»Das ist der einzige faule Punkt,« gab Ludwig zögernd zu. Sein Gesicht war verdüstert, wie es nur die leidige Geldfrage verdüstern konnte. Aber er half sich mit der Grundmannschen Leichtherzigkeit: »Für Intelligenzen übrigens liegt das Geld auf der Straße – und ganz besonders für schöne Mädchen!«

»Ludwig,« riefen sie alle empört, und er sah sich verwundert um. »Ich meine doch nichts Illegales. Aber so ein Prachtgeschöpf wie die Lisa stellt man ins Varieté, hoch oben auf ein Postament gehört die. Beleuchtungseffekte. Unten am Sockel gezähmte Panther. Dazu verschleierte Musik. Schubert: Du bist die Ruh' – noch besser Berliozsche Feenmusik, das geht heftiger auf die Nerven. Schnickschnack, eure Vorurteile; binnen drei Jahren hat sie ein Vermögen.«

Olli rang die Hände, und Rudolf, blaß vor Erregung, rief: »Wie kannst du solchen frivolen Scherz ausdenken, wo es sich um das Kind, die Lisa handelt!«

»Traurige Vorurteile,« rief Ludwig mit flammenden Augen, denn Opposition reizte ihn wie schwerer Wein, »wer was kann oder ist, schuldet sich der Öffentlichkeit! Rückständiges Philisterium – Einkapselung –«

Wesemihl schlug mit der Faust auf den Tisch. Er stand und biß die Kinnladen zusammen. »Ich kann unmöglich mit einem unreifen Knaben rechten,« sagte er nach einer ganzen Weile. Er wollte weiter sprechen, an Lisa sich wenden, aber er schüttelte nur den Kopf und riß seinen Schlapphut vom Ständer. »Lebt wohl, meine lieben Kinder allesamt,« und verließ eilends das Zimmer. Draußen lief er auf und nieder, bis seine Kamilla, vor Hast ungeschickt und haspelig, mit Umhang und Glockenhut ihm folgte und sich in seinen Arm hängte.

»Komm, meine Kleine, Kamillchen Mettmann, Pastorentochter und Altjungferlein,« sagte Franz Wesemihl und drückte wie verliebt den Arm der Gattin. »O nein, mein Herzing,« sagte er zärtlich, als ob er sie trösten müsse, »die machen keine neue Zeit, der Most gibt keinen guten Wein. Niederreißen – haha – das ist ihre ganze Kunst, denn dazu gehört nur rohe Faust und verfluchtige Pietätlosigkeit. Aber aufbauen, mein Kamillchen, aufbauen – das steht auf einem andern Blatte.«

.

Wesemihls Aufbruch ließ eine gewisse Verstörung zurück. Olli saß versunken: so gehen Menschen zugrunde, so verlieren ganze Familien das Steuer. Lisa sah starr auf Rudolf, der ihre Hand hielt.

»So habe ich das ja gar nicht gemeint,« sagte sie und zog langsam ihre Hand zurück. »Abenteuerliches habe ich nicht vor – und nun verdirbst du mir alles, Ludwig.«

»Ich will nicht stören,« sagte Ludwig steif. Er stieg die kleine Wendeltreppe zu seiner Dachstube hinauf.

Sie saßen nun zu vieren beisammen. Rudolf berichtete von seinem Einfall in das leere Haus, wie so verwunschen er sich zwischen all dem vertrauten Gerät gefühlt hatte. Er fragte dann nach Ollis Arbeiten.

»Ach, Rudolf – es wird mir gewaltig schwer. Ich will ans Mädchengymnasium, bescheidenes Ziel, nicht wahr? Aber wie viele Lesarten, welcher Philologenwust – und doch nur fürs Examen. Das meiste darf ich dann ruhig wieder vergessen.«

»Ich will dir helfen, Olli,« sagte Rudolf langsam in seiner bedächtigen Art. »Ein andres Fach – aber Methode haben wir doch, und Wege und Quellen kann ich dir aufsuchen helfen.«

Wie hoffnungsvoll beglückt die dunkeln Augen an ihm hingen! Sabine sprang auf, es war spät geworden. Rudolfs Begleitung lehnte sie ab. Sie war sehr froh, ihn bei Olli zu wissen. Sie lief davon; kräftig ausschreiten war immer köstlich. Sie dachte weiter an Olli – ach nein, vom zähen Lerneifer dieser modernen Mädchen steckte gar nichts in Sabine. Sie wollte nur Frau sein, so eine, wie sie bis vor kurzem gegolten hatten – und die nun im zweiten Range stehen sollten. Ihr würde das genügen. Ihre eigene Ehe war einstweilen – – sie beeilte sich, diesen Gedankenfaden glatt abzuschneiden, aber es gelang nicht; sie mußte noch zu Ende denken: in die Ehe gehört ein Kind. Und da fiel ihr die ärmste aller Mütter ein, fiel ihr die ganze Tragödie Hunold ein. Gestorben, verdorben – und das Mutterherz in seinem Elend allein. Es fing an zu dunkeln, aber Remshagen lag ganz nahe. Drüben schimmerten schon die weißen Kreuze und Steine des Friedhofs.

Man hatte ihr einmal das niedere Häuschen der Witwe gezeigt. Sie stand plötzlich davor. Ein schmales Fenster war erhellt. Drin glitt der Schatten der alten Frau rastlos auf und nieder. Sie sprach mit sich selber, das klang beängstigend, sank zum erstickten Flüstern und hob sich wieder zu Anklage und Verwünschung.

Sabine trat in den winzigen Hausflur und pochte an die Tür. Drin erklang ein wilder Aufschrei – so mochte der Finger des Toten an seiner Mutter Kammer gepocht haben.

Sabine trat ein und die alte Frau stand dicht vor ihr. Die dunkeln Leidensaugen lagen schwer auf dem jungen Gesicht. »Sie sind aus jener harten Welt, die meinen Sohn ausgestoßen hat – was suchen Sie bei mir?«

»Es läßt mir keine Ruhe, ich habe Ihren Erich gekannt. Nun steh' ich hier mit leeren Händen, und weiß nicht, wie ich trösten soll!«

Es blieb still. Die Pastorin Hunold sah in dieses Gesicht, das kannte sie, das hatte sie öfter gesehen. »Wer war der Mann, der am Grabe gesprochen hat?« fragte sie endlich.

»Das war der Rektor der Universität,« sagte Sabine leise, »Geheimrat Köppen.«

»Sie gehen oft an seiner Seite, sind Sie die Tochter?«

Sabine errötete heiß. »Ich bin seine Frau.«

Die Pastorin lachte hart auf. »So so, es läßt sich alles kaufen in dieser Welt,« sagte sie schneidend. »Der war es, der meinen Sohn verderbt hat – und dem geht's gut. Schickt er Sie? Plagt es ihn schon?«

Sabine verneinte lautlos.

Die Frau nickte vor sich hin. »Wollen Sie ihn sehen? Das da habe ich noch von ihm.«

Auf einem Tische lag ein großes Album. Ein schwarzes Tuch war über die Platte gebreitet, Kerzen brannten, Laub und Blumen schmückten das Altärchen.

»Er hat alles immer hübsch haben wollen –.« Die Frau fing herzbrechend an zu weinen in kläglich dünnen Tönen. Sie zog Sabine auf einen Schemel am Tische nieder. »Sein Pate ist Photograph, da unten in Grimmen. Davon hab' ich die vielen Bilder – wollen Sie nicht sehen?«

Sabine zog sich das Buch näher. Gleich auf dem ersten Blatt war der kleine Bub auf seines Vaters Arm, die Haare standen wie eine Glorie um das Köpfchen. Hier spielte er tiefsinnig versunken mit seinen Bauklötzen, stand vermummt auf strammen Beinchen im Winterschnee – saß hoch zu Roß auf seinem Schaukelpferde – und immer leuchteten ihm die Augen wie allen den Begnadeten eines hellen und freudigen Temperamentes.

Sabine sah auf und fürchtete sich. Es lag wilde Lust in den krankgeweinten Augen der Alten, als ob sie über dem Leben der Bilder den Tod vergessen hätte. Lauerndes, Listiges lag ihr im Blick – aufgeregte Begeisterung. Die Luft in der Stube war heiß und verbraucht. Sabine wollte fort, aber die Pastorin hielt sie gewaltsam fest. Sie schlug ein paar Blätter um: »Sehen Sie doch nur hier –«

Da war ein großes Kabinettbild: Erich Hunold in aller seiner Jugendpracht, beredte Lippen, die sich Glück forderten, in Übermut und Selbstvertrauen – eine Stirn von jünglinghafter Reine. An den Erzengel Michael mahnte dieser Kopf, an den Gewappneten, der das Schwert trägt gegen die Sünde und die Wage, darauf er die Seelen der Gestorbenen wägt. Nun sah Sabine ihn, wie sie ihn oft in Konzerten der Philharmoniker gesehen hatte, wie er schwärmerisch vertieft an einer der Säulen lehnte, die den Plafond trugen. Uralte Bücher fielen ihr ein, Dichtungen der Leidenschaft. Der war nun ausgelöscht, hingemäht durch das ruchlose Stückchen Blei. Tränen stürzten ihr nieder und sie erhob sich zitternd: »Ich komme wieder,« und hastete aus der Tür.

Draußen blieb Sabine tief atmend stehen. Herrgott, solche Einsamen, in sich Eingesponnenen – sie schüttelte sich, fürchtete sich und lief auf der Landstraße hin. Sie freute sich auf zu Hause, auf ihren klugen, gütigen Mann. Nein – für Tragödien war sie nicht gemacht, und nicht für Leidenschaften oder Lasten. Es war sicher gut, daß sie Adalbert Köppens Frau geworden war. Den hellen Vorstadtfenstern nickte sie zu wie guten Freunden – was hatte sie mit Erich Hunold zu tun!

Die Berta half Sabinen in ihr weißes flockiges Hauskleid. Herr und Frau Professor Goldschneider seien im Salon. Mamsell hat vier Gedecke aufgelegt und vom Forster auf Eis gelegt. Gnä' Frau sehen ganz heiß aus, ob sie Limonade mischen solle.

Sabine nickte zu allem. Sie ließ sich die leichten Hausschuhe anziehen. Es saß sich so traulich im hellen geschlossenen Raum. Sie reckte sich in Taille und Schultern. Leben allein ist schon Glück – ach, und Leben hatte wohl noch viel für sie in Bereitschaft.

Adalbert Köppen konnte mit Blick und Händedruck zufrieden sein. Auch die Goldschneiders waren freundschaftlich zu dieser jungen Frau Magnifika, die noch vor wenigen Wochen ein unbedeutendes junges Mädchen gewesen war. »Gräfin« Goldschneider galt bei manchen für beleidigend hochmütig, aber die spießbürgerlich engen Leutchen irrten. Wer eine Persönlichkeit war, wurde schon von ihr beachtet; daß diese Sabine von Köppen gewählt worden war, verlieh ihr für Irene ein Adelsprädikat.

Sam Goldschneider – er sprach sich englisch Säm – legte großes Gewicht auf die Herkunft seiner Frau. Er lachte selber darüber und sagte sich innerlich: haltet mich nicht für borniert. Weil ich klug bin, darf ich mir meine kleinen Schwächen gestatten.

Sie gingen gleich an den Abendtisch. Wie entzückend – dachte Irene – für diesen pompösen Menschen, mit diesem schönen scheuen Neuling in die sonnige Ferienwelt zu fahren. Goldschneider hatte dagegen ein leises Triumphgefühl, eine so junge Frau hätte er nicht haben mögen. Ihm war nichts Menschliches fremd geblieben. Er hatte früher so eine wohlwollend dreiste Routine im Verkehr mit gewisser Weiblichkeit gehabt, polternde Draufgängerschaft bei scharfem Witz. Erfolge hatten ihm durchaus nicht gefehlt. Aber heiraten heißt denn doch, sich endgültig etablieren. Da müssen beide Kompagnons über ihre Forderungen und Rechte klar sehen. Irene sah vornehm aus, lang und schmal, mit dem leidenden Gesicht. Sie wirkte stets apart und konnte sich neben der jungen Schönheit behaupten. Und war so bequem mit ihrem eingeborenen und gut entwickelten Verständnis für die Dinge dieser Welt.

Köppen schickte die beiden Mädchen hinaus, man würde sich selbst bedienen. Die leichten Speisen standen einladend auf der kleinen Tafel, zwischen Blumen und Weinkühlern. Das Gespräch der Männer glitt in geschäftliche Dinge über. Ihre Fachinteressen berührten sich nirgends; aber von ihrem Einfluß im Senate hing viel ab. Sie waren zwei Mächte, die sich gegenseitig respektierten.

Goldschneider hatte unter den jüngsten Privatdozenten einen Neffen, Siegbert Springer. Dieser Neffe war ein kleiner, vergnügter Herr – Literarhistoriker schätzte er sich ein – der die gesamte Rang- und Quartierliste deutscher Hochschulen im Kopfe trug. Ihn interessierten natürlich am meisten die Vertreter des eigenen Fachs. Da saß in Marburg ein bedauerlich alter Herr, der schon ein paar Steinoperationen durchgemacht hatte. Das wichtige runde Gesicht Springers legte sich in trübe Kummerfalten. Kollege Niedermeier in Königsberg lebte in mißlichen Familienverhältnissen und war davon nervös überreizt. Quebeck, den Außerordentlichen in Halle, lockte ein Ruf nach Berlin. Die Aspekten, Springer rieb sich die Hände, für den jüngeren Nachwuchs waren gar nicht so übel.

»Ich würde Ihnen dankbar sein, Verehrtester,« sagte Goldschneider, »wenn Sie etwas täten, daß dieser mir höchst ärgerliche Neveu den Professor bekäme, natürlich nur den Titel. Die Familie trakassiert mich. Alle die Geldmenschen meinen, man schüttle die Gnadengaben aus der Hosentasche. Ich bin eitel, möchte nicht gern enttäuschen. Sie aber sitzen viel näher an der Quelle.«

»Bißchen ridiküler Herr,« sagte Köppen nachdenklich. »Sie vergeben schon, bißchen ein Wichtigtuer. Und nochmals Pardon – Israelit?«

»Bewahre,« beeilte sich Goldschneider, »oder doch nur von Mutterseite. Fordert keinen Gehalt und bleibt in seinen Grenzen, schon weil sie ihm die Natur eng gesteckt hat. Einstündiges Kolleg, im Sommer ganz nett besuchtes Publikum.«

»Ich würde Ihnen gern gefällig sein,« Köppen blickte scharf und freundlich in die dunkeln Augen unter den schweren Lidern, »aber Junghans im Ministerium fragt mich dann einfach: ›Brüderchen, gehört er zu den Leuchten oder zu den Funzeln.‹ Sie kennen ja seine Art. Was soll ich dann antworten?«

Goldschneider lachte ärgerlich. »Zu den Statisten, teuerster Köppen, zu den Statisten. Welche Hochschule hätte nicht ihre Statisten! Das füllt und serviert allerlei ornamentalen Schnickschnack. Machen Sie mir das Pläsier, ich bin mal wieder gefällig.«

Diesmal hatte Goldschneider die freundliche Schärfe im Blick, das: Sie werden mich schon auch noch mal brauchen.

Köppen sah nachdenklich vor sich hin. Sein Schwager Rudolf vielleicht Ordinarius? Angenehm, den nächsten Angehörigen im Senat zu haben. Und für Rudolf konnte man dreist fordern. Der Name Rabener hatte guten Klang, noch vom Vater her. Das durfte dem Sohn zugute kommen. Nur Zeit mußte man sich lassen. Solche Strategieen fordern Vorsicht.

»Ich bin Ihrem kleinen Statisten ganz freundlich gesinnt,« sagte er lachend, »hat er denn irgend was Präsentables gemacht?«

»Hat er was gemacht, Irene?« wandte sich Goldschneider an seine Frau.

Irene warf sich lachend zurück. »Ja, einziger Säm, woraufhin empfiehlst du ihn denn?« Sie wurde ernst. »Er hat sogar ganz hübsche Sachen gemacht, alles so verblüffend modern eingebunden. Ein ganz dickes Buch brachte er mir neulich, gelesen habe ich es nicht, Grabbe – er bringt sogar ganz neue Briefe.«

Köppen lachte. »Also eins dieser Bücher, die eine klaffende Lücke füllen wollen. Man wird eine gnädig und expansiv aufgelegte Stunde bei Junghans abwarten müssen.«

»Und dann wird also dieser komische Herr Professor?« – Sabine fragte mit zitternder Stimme, und ihr Mann blickte fest und fragend in ihre Augen: »Warum meinst du, mein Herz?«

»Weil wir heut den armen Hunold zu Grabe geleitet haben – und der soll doch Bedeutung gehabt –« Sabine wurde verwirrt, die drei Menschen sahen sie so ernsthaft an. Die erste Nacht im Grabe brach eben für Erich Hunold an – – und der kleine feiste Herr durfte in eine Ehrenstelle rücken. Das verstand sie nicht. Das verwirrte und empörte sie.

Du wirst ihr den Meister zeigen müssen, sonst wird dir diese Naive unbequem werden – dachte Goldschneider befriedigt. Und Köppen fiel die Arbeit ein, die er unter der Feder hatte, und er wurde des Besuches müde. Solchen Umschlägen der Stimmung unterlag er leicht. Es war auch spät geworden, sie brachten die Goldschneiders noch bis zur Straße.

»Komm mit zu mir.« Köppen legte den Arm um seine Frau. In seinem Arbeitszimmer war ihnen immer festlich. Köppen saß an seinem mächtigen Schreibtische und Sabine seitlich von ihm, so daß er leicht ihr Bild umfangen konnte. Sie hielt ein Buch in der Hand, aber sie träumte darüber fort. Auch ihr Mann konnte sich nicht gleich vertiefen. Eine feine Herzensunruhe bewegte ihn. Er schrieb, strich aus und schrieb von neuem, und Sabine sah zu ihm hinüber. Dieser Mann war von unsäglicher Güte, von unbeirrbarer Freude an ihr. Sie hielt die Hand vor die Augen und sann vor sich hin, sah auf den emsigen Schreiber, der ihre Gegenwart vergessen hatte. Unter dem weißen Lichte sah er älter aus, als seine Jahre forderten. Das bekümmerte sie: ich nehme alles von ihm und bleibe ihm so viel schuldig.

Wider ihren Willen entrang sich ihr die Frage, überrumpelte sie: »Weißt du, daß ich schon vor dir einen Menschen lieb gehabt habe?«

Köppen schrieb weiter mit seiner Gänsefeder, die über das Papier hin knirschte und seufzte. »Er hat mich gar nicht gehört,« dachte Sabine erleichtert; aber ihr Mann legte die Feder nieder und wendete sich auf seinem Drehstuhl völlig zu ihr: »Ja, Liebste,« sagte er mit seiner heitern Ruhe, »ich weiß es. Ich habe gewartet, sonst hätt' ich dich viel eher gefragt. Dein Herz hat sein Recht an Genuß und auch an Schmerz. Herzensstürme sind das Gewaltigste im Leben – hätte ich dir's stören sollen?«

»Das hast du so still mit angesehen?« – Sabine erhob sich und näherte sich ihrem Gatten.

Köppen sah ungewiß auf, das Blut schoß ihm zu Häupten. Er zog die Frau fest an sich. Er wußte nicht, wie hart er sie preßte; es tat wohl und weh, aber Sabine rührte sich nicht. »Hast du damals gelitten?« fragte sie leise.

»– – nein – gelitten nicht. Ich kannte den jungen Gröben und sah, du reiftest mir entgegen. Sabine, bin ich dir nichts als Mann – verstehst du – als Mann?«

Sabine sah weit über ihn fort. Es schwang etwas fern und ungewiß in ihr – ein idealer Jünglingskopf tauchte auf, Beethovenklänge umbrausten sie, Akkorde aus dem Finale der Neunten – ein süßes Fluten und Sehnen schmolz in ihrer Seele, und sie glitt vor dem Manne nieder: »Nimm mich, schütze mich vor mir selber, Adalbert, ich will dein sein.«

»Übereile dich nicht, Sabine,« flüsterte er heiser. Aber er zog sie empor auf seine Kniee: »Ich kann dir viel sein, Sabine. Lebensschätze kann ich dir erschließen, die mehr wert sind als ein junger Fant. Leidenschaft empfinde ich, und ich will sie dir einflößen – daß unser Umfangen nur der Ausdruck sei, nicht das Wesen unsrer Liebe.«

Sie hielt die Augen geschlossen und lehnte still an seiner Brust. Schranken – ich will Schranken aufrichten – dachte sie – gegen die Sünden meiner Phantasie. Unsre Ehe ist Unnatur – ich will mich ihm geben, damit er meine Welt wird, meine ganze eineinzige Welt! Eine fieberhaft überspannte Lust packte sie, sich zum Opfer zu bringen für schwere Schuld. Ein fader Duft von welkenden Blumen wehte von einer mit Rosen gefüllten Schale herüber.

»Komm –,« Köppen sprang von seinem Stuhl auf und zog sie mit empor, »komm, daß ich zum erstenmal deinen Schlummer bewache, du Junge, du Süße –«

Er zögerte noch einen Augenblick, denn sie lag schwer in seinem Arme, mit schmerzlich gerunzelten Brauen und geschlossenen Augen.

In dieser Nacht wurde Sabine Köppen ihres Mannes Weib.

.

Am Sonntag betrat Rudolf zum erstenmal freiwillig seines Schwagers Haus. Es war lästig heiß. In Sabines Zimmer waren die Läden geschlossen, blühende Pflanzen in Kübeln füllten die Ecken. Die Schwester reichte ihm beide Hände, und er setzte sich dicht neben sie. Er bewunderte ihre Hausführung: »Wo hast du das gelernt? Mutter hat dir doch sicher nicht freie Hand gelassen.«

»Wenig habe ich bisher gelernt,« sagte Sabine, »ich sitze hier am Tischleindeckdich, selber wie ein Gast. Adalbert hat alle die guten Dienstboten aus seinem Elternhaus behalten.«

»Das Haus hat unsrer guten Stadt einmal sehr imponiert.«

»Nicht wahr?« rief Sabine lebhaft, »die Köppens beherrschten die ganze Gesellschaft. Weißt du noch, wenn sie ihre großen Feten gaben, noch in einem etwas vornehm altfränkischen Stil? Ein Zeltgang führte dann vom Fahrdamm zur Haustür; Teppiche waren gelegt und die Tanzmusik klang wie Seide – so sagten die kleinen Mädchen. Liefen wir Kinder zufällig über den Markt, dann warst du fuchsteufelswild, du blutroter Demokrat von vierzehn oder sechzehn Jahren.«

»Ja,« sagte Rudolf versonnen, »ich sehe auch noch die hagere Frau vor mir, mit ihrem früh ergrauten Blondhaar und ihren kalten Herrscheraugen. Solche Frauen ahnen gar nicht, wie eng ihr Horizont ist.«

»Ich glaube, du bist ungerecht,« sagte Sabine unzufrieden.

»Vielleicht sehe ich da noch zu sehr mit meiner knabenhaften Abneigung gegen alles geschwollene Selbstgefühl. Und diese stolze Dame begleitete oft ein junger Herr, auch groß und blond. Die beiden Menschen fühlten sich in der Machtfülle. Der Sohn war klug. Der wußte, woran Macht wächst. Dieser kluge Mensch ist nun dein Gatte, Sabine.«

Sabine fuhr auf: »Was hast du gegen meinen Mann?«

»Wir sind zu verschieden, er und ich, auch die Familienanlage, die Häuser, aus denen wir stammen. Ohne dich hätten wir uns nie gesucht.«

»So müßt ihr euch nun finden. Er kommt mit offenen Händen.« Sabine saß steif aufrecht, und Rudolf sagte: »Das wird ihm leicht, weil er sich immer als den Gebenden fühlt. Nun bin ich aber der letzte, der gerne nähme – kann ich's ändern?«

»Wie kamst du nach Ägypten, Rudolf?« fragte Sabine leise.

»Wir haben ja doch Gröben lieb gehabt, du, nicht?«

Sabine fragte erst nach einer Weile: »Leidet er schwer?«

»Er wird von allen Frauen verhätschelt, da ist er ganz in seinem Element. Über seine Nächte schweigt er. Er sucht Gesundheit vorzutäuschen, sich selber auch.«

»Ich habe ihn einmal sehr lieb gehabt, Rudolf; wir sind auch gute Freunde geblieben, als er sich für Lisa entflammte.«

»Ach, meine Einzige, bei Gröben war wohl vieles Strohfeuer. Er liebt Ekstasen, noch heut. Es ist nur noch ein Gaukeln seiner Phantasie.«

Sie schwiegen bewegt. »Der Weg ist nicht so unbegreiflich,« sagte Sabine, »der mich zu dem reifen, festen Manne geführt hat. An ihm ist mein Selbstgefühl gesundet.«

Sie saßen zu dreien bei Tisch. Rudolf geriet in Bewunderung vor der beweglichen Anmut, mit der Köppen das Tischgespräch vor Seichtigkeit so gut wie vor schwerflüssiger Gelehrsamkeit bewahrte. Nun mußte Rudolf von sich berichten, seiner Reise, seiner Arbeit, und er ging frei aus sich heraus. Er vergaß seine Vorurteile und fühlte sich wohl. Der kleine, intime Raum trug dazu bei, die Düfte von Wein und Rosen, das starke Arom aus den Mokkatäßchen. Er vergaß einmal den Spartaner. So sprach er Schwager und Schwester mit Wärme seine Reisewünsche aus.

Augustglut brütete. Die Sonne tat ihre glorreiche Arbeit. Es gab ein überschwengliches Blühen und Reifen, ein Duften nach reifem Korn und herber Fruchtsüße, ein Zirpen und Gurren in Feld und Busch. Olli hatte gute Zeit. Auch für Mama Valeska waren Ferien, und die wohnte draußen und übernahm den kleinen Hausstand. Die Tage glitten im Waldhause gemächlich hin, und Olli war ganz prachtvoll im Zuge bei ihren Studien.

Olli liebte, liebte Rudolf aus tiefstem Seelenbedürfnis. Endlich einmal nahm sich ihr Herz sein Mädchenrecht. Ihren matt gewordenen Körper durchpulste Liebesverlangen. Das trug und stählte; das verjüngte und verschönte. Immer hatte sie Rudolf geliebt, damals schon, als sie nach der Mutter Verlangen andern Männern zu Gefallen ging, die Brot und Stellung zu bieten hatten. Wie im Märchen die beiden Nachbarskinder Hand in Hand wandern und den Stern des Glücks suchen – so kam sie sich vor in ihrem Zusammenklange mit dem stillen Manne, als der er heimgekehrt war. Sie tat nun einmal nicht ihre bangen Fragen nach der Zukunft, Zukunft – wenn man doch Gegenwart hatte! Sie steckte sich Ranken und wilde Blumen ins Haar und riß sie wieder heraus. Was sollte sie viel an sich herumkünsteln! Lisa war nach wie vor die Reizende, nicht sie – und Rudolf sollte sich nicht etwa erlauben, ihre Lisa über die Achseln anzusehen, weil die dem lieben Herrgott die Tage abstahl. Die beiden sahen sich nur scheu an und gingen sich am liebsten weit aus dem Wege.

Lisa lebte in zitternder Ungeduld. Sie betrachtete dieses letzte Sommersemester als gänzlich unfruchtbar. Es drängte alles in ihr fort, Leben forderte sie, so viel Leben als nur möglich. Mit der Mutter sprach sie sich gern aus, viel lieber als mit der strengen Olli. Sie saß mit einem Buche neben Frau Valeska, draußen unter den Buchen. Oder sie nähte. Sie hatte es eilig, ihr bißchen Garderobe aufzufrischen.

»Kind,« sagte die Mutter und fing sich Lisas Hand ein, »wenn du den Lender nähmst, du brauchtest dir deinen Zeigefinger nicht zu zersticheln.«

Lisa betrachtete sich den Finger, dann sagte sie: »Ne – ach ne, ne.«

»Ne – das heißt doch nun gar nichts.«

Lisa lachte und reckte sich. »Viele heiraten, weil sich das Leben so einerlei vor einem hindehnt. Nachher tun sie sich furchtbar leid – und Er tut einem auch leid. Ach nein, Mutter, lieber nicht.«

Frau Valeska grübelte vor sich hin. »Soviel weiß ich – das Schlimmste für ein Mädchen ist Ehelosigkeit. Alle Erfolge und Ehren sind nur Lückenbüßer.«

»Ach ja, ja – so dachtet ihr früher. Für manche mag es heute noch stimmen.«

»Jawohl, noch heut, lieb Kind – und wenn du dich zu dem Lender nicht zwingen kannst – dann hast du vielleicht den Rudolf Rabener gern, meine Kleine?«

Lisa starrte ihre Mutter entsetzt an. »Den Rudolf?«

Die Mutter lachte. »Ja siehst du denn nicht, daß er dir folgt, wo du stehst und gehst? So was merkt doch ein Mädchen –«

Lisa rang die Hände. »Wie soll ich so was denken – wo ihn unsre Olli – – ich will das nicht. Sie sollen mich in Ruhe lassen, alle, alle!« – Sie sprang von ihrem Bänkchen auf. ›Bist du wieder mal blind!‹ – hätte sie rufen mögen. Aber wie durfte sie Ollis tiefsten Schmerz und ihre tiefste Seligkeit so mit dürren Worten preisgeben. »Ich irre mich vielleicht über Olli,« sagte sie unsicher.

»Gewiß,« meinte die Mama gleichmütig, »wenn zwei Leutchen so miteinander arbeiten, das sieht sich sehr intim an. Aber die sind wie Bruder und Schwester. Du warst noch ein halbes Kind, und nun findet dich Rudolf so wieder, so wie du heute bist.«

Sie wollte Lisa an sich ziehen, aber die lief davon. Der Tor – dachte sie – nach mir zu sehen, wenn meine Olli auf ihn wartet. Sie saß lange am Wasser. Der Wasserspiegel lag unbewegt wie ein stählerner Schild, von versprenkeltem Sonnengold überglitzert. Von den Netzen und Fischkörben und aus den Seetangblättern am Ufersaum, stiegen faulige Düfte. Zum Einschläfern still war es ringsum. Fort muß ich – sagte sich Lisa – aber heimsehnen werde ich mich oft zum Herzbrechen. Sie sah sorgenvoll auf ihre beiden Hände, die wollten nun arbeiten lernen.

Sie wurde unstet in der nächsten Zeit. Wenn der Abend kam, packte es sie wie ein Fieber – nur nicht dem Rudolf begegnen.

Ihre liebste Zuflucht war dann die Insel. Lisa sprang zum alten Fleet ins Boot und setzte sich ans Steuer. Der Alte lachte sie an und wandte den Blick nicht von ihr. Für ihn blieb sie die lütte Dirn mit dat gele Haar. »Wat wullt ji man ünner dor up de Insel? Hebt ji dor en Schatz?«

»Freilich, den Korl Winzer.«

Nun lachte Fleet in sich hinein, denn der Winzer drüben auf seiner Reeperbahn war ein kleiner, knorriger Kerl, der auf zehn Schritte nach Hanf und Leinöl roch. »Ick hätt' jo nu up unsen Professer Rabener spekeliert – un nu sal dat oll Winzer sin, de ne Fru het, un wat for een.«

»Für Professor Rabener bin ich zu dumm, der denkt doch gar nicht an mich.«

Der Kahn schurrte in den Ufersand, und Lisa sprang leichtfüßig hinaus. Sie lief mitten in die Wiese, wo Mutterschafe und Lämmer zwischen Klee und harten Raygrasbüscheln rupften. Die Tiere prallten zurück, es gab ein Zusammendrängeln. Die kleinen, auf ihren lächerlich dünnen Beinen, stolperten, unwirsche Töne grellten in Diskant und Baß. Dann wurde es wieder ruhig und das harte Gnurschen begann von neuem.

Rings um die Insel wollte Lisa laufen. Es war so schön einsam, und der Wind blies erfrischend. Sie kannte hier alle die einfachen Leute, und alle kannten sie. Barfüßige Kinder starrten sie an und riefen ihr »Tag, Fröln«; klein Görenvolk, an das nicht mehr Erziehung gewendet wurde als an die Gänse und Gössel, die drüben im grünen Wiesenfelde eine flügelschlagende, silberschimmernde Insel bildeten. Tierheit und Menschheit gehörte hier noch so eng zusammen wie in Urzeiten.

Abseits hinter einem ganzen Wäldchen von Apfelbäumen, Römern und Krummstengeln, lagen die Seilerstätten. Die allerletzte gehörte dem alten Winzer. Verhutzelt und erdfarbig sah das Männchen aus und unförmig, weil er den Lindenbast in dicken Lagen um den Leib gewickelt trug.

Am Kopfende der Reeperbahn stand das große, sparrige Holzrad, das die Frau mit Treten und Anstoßen in Bewegung halten mußte. Sie machten nur Packschnüre und Sackbänder, immer das gleiche. Darin aber war Karl Winzer groß, das machte keiner besser, da hatte er die richtigen Griffe, wenn er mit seinen krummen Beinen so langsam rückwärts schritt und sich die Schnur so quasi aus dem Leibe zu ziehen schien. I ja, er konnte doch was, er war doch einer.

Und da stand nun das kleine alte Weib am Rade, keinen Zahn mehr im Mund, mit bösen Augen im verärgerten Gesicht, und keifte den halben Tag – aus schierer Eifersucht. Nachts ging es oft rein auf Mord und Totschlag in dem winzigen Häuschen her, das nur durch ein einziges rot verhangenes Fenster ins Dunkle blinzelte. Dann kriegten es die Leute von der Insel mit der Angst und machten, daß sie vorbeikamen.

Aber es war nicht so schlimm; es lebten in den vertrockneten Alten zwei Feuerseelen, die der dramatischen Erregungen bedurften. Die Frau stand auch gleich wieder in Feuer, als die junge Lisa zur Reeperbahn trat, und der alte Winzer ihr verliebt zulächelte.

»Wat will denn nu wol dat Fröln?« rief sie scharf herüber.

»För mi 'ne Augenweid sin, dat will se,« gab er lustig zurück.

Die Alte ließ die Kurbel an ihrem Holzrade fahren und schlumpte heran. »Wist du di taum Uhlenspeigel maken in dinen Öller?«

Karl Winzer hüstelte. »So'n ollen Kirl is jewoll jedwed Vergnäugen bi Dodesstraf verbaden, un wär't man blot ein jung Dirning en beten nahbi to bekucken. Fröln nimmt mi dat gor nich för äwel.«

»So bin ick ok mal west, so smuck un so rank – dat geiht nahsten vörbi,« die Stimme der Alten klang grollend, »un nu sünd wi olt, un nu mak di nich taum Narren, Mann.«

Sofort geriet auch der Alte in seinen überschwenglichen Zorn, der ihm wie eine harte Kugel im Halse saß und sich nicht runterwürgen ließ: »Min Fru het all nen Mann hat, Fröln,« sagte er, und durch die Kreuz- und Querschrunden seines bartlosen Gesichts lief die Erregung bis in den welken Faltenhals mit dem auf und ab kletternden Adamsapfel. »Un die beiden hatten disse Reeperbahn. Un ick hab den Mann neid't um dat Wif un üm dat Arbetsflag un um dat lütte beten Hus. Nich slapen künn ick, dat is nu vele Johren her. Un wenn man nahsten dat het, wat man so neid't hat, de Witfru un all dat, wat so dran bammelt, dann is 't ok noch so. Un alle Dag so fine Bindfadens in de Hand – un doch nich uphängt in so 'n kritschen Ogenblick – o, dorup bün ick stolz, Fröln.«

»So ein schöner Sommertag, Herr Winzer,« sagte Lisa, »sehen Sie mal alle die Lämmerwölkchen, wie sie über den blauen Himmel strömen, und ich setze mich auf eins und fahre davon, schon bald. In eine große Stadt, wo keiner den andern kennt, und wo alle Leute herumlaufen wie die leibhaftigen Rätsel.«

»Minschen kennen lihren is nich swer, wenn ein sik sülben kennt,« sagte der alte Philosoph, »woll hen nach Barlin? Dor heb ick ok mal hen maken wüllt, dat is mi nich frömd. Barlin ward sik freuen.«

Und weil der Alte mit so verzückten Wunderaugen auf das Mädchen starrte, schrie die Frau erbost: »Dor kümmt jo den Fröln sin Schatz an; is doch woll afkart't, dat se sik hier up unser Flag drapen wullen.«

Der Glanz in Karl Winzers Augen blaßte ab, und Lisa drehte sich um. Am Ende des übersonnten Weges erkannte sie den, dem sie bei ihrem Umherstreifen entgehen wollte, den Rudolf Rabener. Also gut – sagte sie sich trotzig und schritt resolut dem Professor entgegen.

Sie standen sich knapp gegenüber. Rudolfs Augen strahlten sie an, zärtlich, bittend.

Wie sie da stand gegen die freie Luft, das Goldhaar verweht, kühnen Blicks, mit ihren köstlichen zwanzig Jahren, – so ganz sein Jünglingstraum!

»Wär' ich zimperlich, mein Lieber, ich würde sagen: Du kompromittierst mich.« – Sie lachte ärgerlich.

»Du bist aber nicht zimperlich.« Sein Blick war Liebkosung.

Sie schritt weiter, wie sie beabsichtigt hatte, auf dem schmalen Sandweg, der die Insel umsäumte. Sie hatte die Aussprache nicht gesucht. Warum merken Männer nicht, wenn ein Mädchen nichts mit ihnen anzufangen weiß. Nun lief er neben ihr her, und sie schwiegen beide in der Spannung, die in ihren Nerven lag.

»Magst du einen Augenblick –?«

Sie standen vor einem Boot, das kieloben auf dem Trocknen lag. Sie saßen mit dem Rücken zur Sonne, Lisa, vornübergebückt, spielte mit der Schuhspitze im Sande.

»Deine Mutter sagt, daß du schon bald fort willst?«

»Das will ich.«

»Was suchst du draußen, was du hier nicht fändest, Lisa? Die Scholle ist ja so gleichgültig, auf der man steht.«

Lisa schwieg. Er hatte kein Recht, sie zur Rede zu stellen. Keiner hatte ein Recht, und keinem wollte sie eins einräumen. Sie sprang schon wieder auf und ging noch schneller als vorher. Der Wind kam ihnen entgegen und preßte ihr den Rock fest an den Leib. Das tat gut, das war wie Kampf mit einem Gegner, der forsch angriff.

»Kampf will ich,« sagte sie, »mich rumschlagen mit funkelnagelneuen Verhältnissen.«

»Du kennst ja das Leben nicht, Lisa.«

»Eben drum,« sagte sie trotzig.

»Und wir hier sind dir gar nichts?«

»Wer – wir?«

»Ich zum Beispiel,« sagte er schwermütig-zärtlich.

Davon wurde ihre junge Kraft aufgereizt. Sie stand still und sah fest ins Abendrot, fühlte seinen Blick auf sich geheftet. Das war ihr unerträglich. Dafür hielt sie ihn zu hoch, sich an ein Mädchen zu heften, das nichts für ihn fühlte als den Rest einer guten Kinderfreundschaft.

»Ich habe,« sagte sie zögernd, »viel zu lange zwischen Menschen gesteckt, die alle mit den Werten ferner Vergangenheit beschäftigt waren. Das geht mir gegen die Natur. Alle, Vater, auch der deine – Onkel Wesemihl – und schließlich auch der prachtvolle Köppen – der freilich steht fester in seiner Zeit als ihr alle.«

»Kindskopf,« rief Rudolf. Er hätte leichtherzig lachen mögen. Damit würde man ja wohl fertig werden.

»Gar nicht, gar nicht,« rief Lisa und hatte wieder die schwarzen Leidenschaftsaugen. Sie wollte ein für allemal Schluß machen und überstürzte sich: »Als du neulich die Steine mitbrachtest, Rudolf, die glatten runden und die länglich abgeplatteten – Eolithen nanntest du sie, hieltest uns Vortrag, ob das Werkzeuge gewesen sein möchten von Menschenhand, oder ob menschenähnliche Affen sie benutzt haben möchten –«

»Ja, weiter,« bat Rudolf.

»– und verglichst nun die tasmanischen Eolithe mit denen aus unsrer westeuropäischen Steinzeit –«

»Du hast gut aufgepaßt,« sagte Rudolf, aber ohne Freude.

»Da habe ich dich scharf angesehen und dachte so bei mir – ja – soll ich es aussprechen?«

»Sage nur alles, was du denkst.«

»– – ich dachte mir: Schade um ein Leben, wenn es nur,« sie zögerte, »wenn es nur in den Kehrichthaufen der Vergangenheit wühlt.«

»Du hast seltsame Ansichten über wissenschaftliche Arbeit –.« Er ging etwas steif, den Kopf im Nacken. O ja, ihm selber war öfter der Gedanke gekommen von der einseitigen Richtung so vieler Kräfte auf rein theoretische Ziele; die drängende Frage, ob da nicht starke und feine Kräfte ungenützt verkümmern mochten. Aber dieses kleine Mädchen war zu solchen Fragen nicht berechtigt. – »Du hättest vielleicht mehr Sinn für Athleten und Löwenjäger,« sagte er ungeschickt. Es tat ihm gut, sie mit seiner Frage zu beleidigen. Aber sie war nicht beleidigt.

»Möglich, ich habe das noch nicht erprobt,« meinte sie gleichmütig, »jedenfalls will ich hinaus, in Lebenskreise, wo sie die Welt nicht durch die blaue Brille der Wissenschaftlichkeit betrachten. Was schiert mich die Vergangenheit!« Sie lachte und reckte ihre beiden Arme. Lisa stand still und sah mit einem einzigen Blick, daß sie ihn mit all ihrer Herbigkeit nicht von sich gescheucht hatte. Ich muß also fort – dachte sie – ohne Aufschub, heut oder morgen.

»Ich fahr' dich hinüber, Rudolf,« sagte sie, am Boote angelangt. Sie sprang hinein und griff nach den Rudern.

»Soll ich nicht –?« fragte er überstürzt, aber sie waren schon eine Strecke vom Lande, und sie hielt nun mal die Ruder in festen Händen. Und Rudolf fühlte, daß sie sich von ihm entfernte, mit jeder Minute mehr, und daß er ein Träumer sei; exakt und sprungbereit nur in seiner Arbeit. Und das genügte ihr nicht.

Zwischen dem Buchenlaub ragte die Ruine. Er dachte an das Dänenmädchen der Sage. So würde Lisa aus seinem Leben hinwegrinnen, denn – er lächelte bitter – er würde ja wohl immer um ein paar Herzschläge zu spät an die Ruder denken, die das Lebensschiff vorwärtstreiben.

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Lisa Grundmann wohnte in Berlin vier Treppen hoch bei Frau Lüdicke. Das altmodische Haus sah entsetzlich nüchtern aus. Es lag in einer stillen Seitenstraße und doch nicht weitab vom Kaufhause zur Weltkugel. Schon für September hatte Lisa hier eine Stelle erhalten, bis dahin hatte sie gerade noch eine Woche Zeit. Sie hatte diesen Glücksfall sofort Onkel Franz nach Rügen berichtet, wo Wesemihls sich alljährlich in einem Fischerdorf vor Anker legten. Mama hätte ihr Geld vorgestreckt, was sie bei ihrer demnächstigen Mündigkeit zurückzahlen werde.

Onkel Franz' Antwortschreiben war ein einziges Achselzucken, aber das feste Engagement ließ sich immerhin hören, was sollte man auch tun gegen solchen Dickkopf wie sein Mündel.

Lisa hatte zuerst vor einem der vier Chefs, vor Herrn Priem gestanden, der hatte die Augen zusammengekniffen, als ob die Brille noch nicht scharf genug sei. Zeugnisse? – Keine, Neuling. Nun schob Herr Priem die Unterlippe vor. Vater? – Universitätsprofessor gewesen, klassischer Philologe.

»Ja, was wollen Sie denn dann bei uns?« Nun lachte Lisa. Herr Priem räusperte sich, kniff ein Auge zu und sah dem jungen Fräulein stumm ins Gesicht. Lisa hielt den Blick unerschrocken aus. Nein; was er eben gedacht hatte, stimmte wohl nicht. Diese war ein dummes Kind, oder eine erstaunlich zielbewußte junge Person ohne gesellschaftliche Vorurteile. Herr Priem kaute unentschlossen an einem Zipfel seines Bartes: »Die Kommis werden Ihnen nachlaufen.«

»Mir – – die Kommis?«

In diesem Augenblick war Herr Hertel in die Tür geschossen gekommen, der schwarze Herr Hertel mit der Glatze und dem ausrasierten Kinn: »Na, da setzen Sie sich mal, Fräulein, noch sind Sie keine Angestellte.« So so, das Fräulein traute sich zu, für Blätter zu schreiben, und da wollte sie diese Sphäre kennen lernen. Na schön, aber Vorrechte gab es hier für keinen – und jede Druckzeile erst im Manuskript vorlegen? – Aber gern.

»Das Fräulein ist zu hübsch,« sagte Herr Priem grämlich.

»I wo – gibt's gar nicht,« lachte Herr Hertel. Alte Schachteln hatte man genug rumstehen. Sie kommt zu den Rohrmöbeln in den Palmenlichthof.

Lisa saß danach im nächsten Aschingerlokal und feierte ihren ersten Sieg bei Lachsbrötchen und Portwein. Jesus – sagte sie sich – los und ledig; frei, auf eigenen Füßen – ins Leben hineingeschossen wie aus der Pistole. – Sie lief in dieser freien Woche die Kreuz und Quere in der Stadt herum. Der blaue Himmel spannte sich über die breiten Straßen. Aus den Schaufenstern brach die Fülle von Licht und Glanz, da feierte die neue Bauweise Triumphe; ganze Häuserfronten aus Glas und Eisen, und die Sonne ließ die mächtigen Scheiben wie mit Brillanten inkrustiert ersprühen. Die Leute sahen schick aus, reich, belebt und anspruchsvoll, als ob sie die Herren dieser ausgebreiteten Pracht wären.

Lisa ging nicht in die Museen. Sie hatte jetzt keinen Sinn für Ruhe und Feierlichkeit. Sie stellte sich lieber oben auf die Treppe vom Alten Museum und sah auf Lustgarten, Dom und Schloß, mit den frischen Baumanlagen, gerade vor sich die braunviolette Porphyrschale und die Sprühsäule des Springbrunnens. Militär zog mit Musik vorüber, die wechselte mit den prasselnden Rhythmen der Trommeln ab, drüberweg gellten die frechen Pikkoloflöten. Am liebsten wäre Lisa mitgelaufen, mit dem ganzen Schweif vergnügter Jugend.

Fast täglich ging sie in ein großes Kaufhaus im Westen der Stadt. Stundenlang wanderte sie durch das Labyrinth; alles blinkte und blitzte, und die immer neuen Scharen der Käufer bewegten sich gehalten, als ob sie an Drähten gezogen würden. Die Verkäuferinnen mit den kunstvollen Friseurfrisuren und den geschonten Händen bewegten sich still gelassen; Würde gehörte hier mit zum Kostüm.

Sobald aber der Verkehr stockte, bekamen sie ihr rasches Eigenleben, plauderten verstohlen mit glänzenden Augen, tuschelten Geheimes und machten sich über diese Käuferinnen lustig, die sie mit nimmermüder Geduld zu bedienen hatten. Eine gewaltige Geringschätzung hatten sie für die Habsucht, das rasende Luxusverlangen von Leuten, die wollten und nicht konnten: Besitzgier durch Geldmangel geknebelt.

Lisa mußte sich auch zu Anschaffungen entschließen und Mama mußte noch mehr Geld schicken. »Lieb Kind,« schrieb Mama Valeska, »ich schicke dir ja so rasend gern, aber nimm dich ein bissel in acht. Bei uns ist es leider Gottes immer so gegangen, daß neue Einnahmen alte Schulden decken mußten; immer war da ein greuliches Loch, in das das schöne Geld hineinfloß. Es geht ja vielen von uns so, nur merken darf es keiner. Vater machte den Unterschied zwischen kaufen und ›entnehmen‹. Entnehmen – das hieß anschreiben lassen. Aber nicht etwa leichtfertig Schulden machen – unser Papa – – i gottbewahre, Deckung mußte in Aussicht stehen. Nur – weiß der Kuckuck, es wurde immer mehr entnommen als gekauft. Olli braucht von dem Gelde nichts zu wissen, die ist rabiat auf dich. Also bedenke dich, ehe du dich hinstellst, deine Rohrmöbel zu verkaufen, falls dir das jetzt schon leid wäre. Der Lender nimmt dich noch gleich vom Fleck weg. Ob nachher? Nachher sieht die Geschichte verzweifelt anders aus.«

Olli schrieb gar nicht. Lisa seufzte. Wenn Olli draußen wäre, sich mit dem Leben rumzuschlagen, und wenn selbst in der Irre – alle Stunden würde sie zu ihr hindenken und mit der Feder zu ihr sprechen.

Mitten auf der Schreibtischplatte lag ein Bändchen der Morgensternschen Gedichte, die ihr der junge Friedrich von Otzen gebracht hatte. Es hatte nur ein Ulk sein sollen, weil in dem Büchlein so viel Wunderliches stand. Aber der blonde Hüne, mit seinem luftgebräunten Junkergesicht über dem hohen Leinenkragen, hatte sich mächtig gewundert, als sie, zusammen blätternd, Schönes und Frappantes in dem schmächtigen Bändchen gefunden hatten.

Nun öffnete Lisa das Büchlein aufs Geratewohl. So, in spieliger Kurzweil, suchte sie sich öfter ein Orakel. Sie hatte es nicht gut getroffen:

Alles Leben steht auf Messers Schneide,
Gleite aus – und du ertrinkst im Leide.

Sie hatte es wieder nicht gut getroffen, und starrte nun trüb durchs Fenster. Einsam war es in der alltäglichen Stube, in der sich schon viele arme Seelen mochten gesorgt und gekümmert haben.

Mutters Brief und das dumme Orakel! Dann lachte sie und lief vor den Spiegel. Kein Wunder, wenn die Leute sie gern hatten; konnte ihr doch wahrhaftig jeder ansehen, wie unbändig lieb ihr das Leben war.

Und fällt das Gänsemädchen in den tiefen Brunnen, dann ist immer schon der Prinz da, der es wieder herausfischt. Also doch ein Prinz? Sie warf das Buch in die Schublade. Der Prinz hatte verzweifelte Ähnlichkeit mit dem Spender dieser sehr modernen Verse.

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Die Buchen am Bodden trugen ihr leuchtendes Herbstkleid. Selten nur brach das Sonnengold durch die Wolkenschwaden und versank wieder in melancholischen Nebeldüften – Novemberstimmung. Aber die Hochschule trat in ihr neues Semester und raffte sich zu neuer Arbeit auf. Alles rüstete sich für die Winterkampagne. Alles würde wie immer sein in dieser Welt der Semestereinteilung; vorläufig aber war es frisch und anregend für jung und alt.

Die Grundmanns hatten ihr altes winkliges Stadthaus verkauft. Nur so konnten die Kinder ein bißchen Geld in die Hand bekommen, um ihre verschiedenen Berufsausbildungen durchzuführen.

Das sprengt uns vollends auseinander – hatte Olli geklagt. Aber gegen Ludwigs Drängen war nicht aufzukommen; ob er ewig am heimischen Nest kleben solle? Er blieb nur noch, weil er verliebt war. Der Blindeste mußte das dreiste Liebesspiel zwischen ihm und der blonden Julie Schmidt bemerkt haben. Man sah die beiden zu allen Tageszeiten beisammen.

»Arbeitest du gar nicht –?« fragte Olli nervös; dies müßige Herumschlendern störte sie selbst in jeder Sammlung.

»Wieso interessiert dich das, Gnädigste?«

»Ich bin nichts weniger als gnädig. Was bezweckst du mit der Schmidt?«

»Mich zu unterhalten – und natürlich auch sie.«

»Sie braucht nur noch zwei Semester, du verdirbst sie.«

» Je t'assure que non,« sagte er lachend, und wiegte sich auf seinem Stuhl, die Zigarette in der Hand, eins seiner langen Beine über das andre geschlagen. Er sah schläfrig und zugleich genußsüchtig aus und widerte sie an.

»Denkt ihr denn an Heirat?« fragte sie heftig.

Er bog sich vor Lachen. »Zwei Habenichtse?«

»Sie auch nicht? Aber in keinem Winkel ist man sicher davor, euch beide Arm in Arm auftauchen zu sehen!«

»Meine liebe Olli,« sagte er bedächtig, »solche Kraftnaturen wie die Schmidt brauchen Emotionen. Ihr Examen wird sie machen.«

»Und du – – du?« Ollis kleines Gesicht sah streng, wie versteinert aus. Die letzte Zeit hatte sie bös angegriffen, und Ludwig dachte, es sei wirklich tragisch, wie schnell manche Mädchen altern und wie spät sie ihre Arbeitsziele oft erreichen. »Die Schmidt wird gerne an mich zurückdenken, so außerhalb der Regel auch unser Sommer war. Und ich? Ich mache sicher meinen Weg. Man muß sich vorteilhaft unterbringen – ich traue mir dergleichen zu. Denke an dich selber, Olli, dir hat die Freude gefehlt, mein Kind. Schwerer Mangel, gar nicht wieder einzubringen. Du warst immer zu kritisch.«

»Das ist die Schmidt wohl nicht,« sagte Olli bitter.

»Ne, die ist mollig und albern – und dabei doch ein ganz tüchtiger Kerl. Protz dich nicht, Olli, in deinem Schneckenhaus. Ich bin ihr nicht nachgelaufen. Ich laufe keiner nach – wenn sie sich doch an einen hängen!« Er zuckte die Achseln und ging davon.

Olli ging gegen Abend zur Stadt. Sie hatte Verlangen nach einem guten Wort. In Fittings Heimstatt für Genesende waren Valeskas Töchter gern gesehen. Die Lisa hatte immer frischen Wind mitgebracht, Lebenslust, damit die Angebröckelten Lust bekommen möchten, auch wieder zu blühen. Viele aber zogen Olli vor; alle die Stillen, die litten, ohne zu klagen, die fühlten sich wie erdrückt von Lisas starker Jugendkraft. Die Mutter war heiter und zärtlich zu Olli, und nahm sie mit in ihr Schlafzimmer. Sie hatte einen langen Brief von Lisa und fing gleich an vorzulesen, mitten heraus: »Mir war es das reine Theater, als ich zum erstenmal auf dem Schauplatz meiner Taten stand. Acht Uhr. Spärliche Käufer, nur kleine Leute. Ordnung, Ruhe, wohin man blickte, das imponiert. Ein Bienenkorb, in dem es keine Drohnen gibt. Staubwedel und Wischtuch durfte ich gebrauchen, mir Bezeichnungen und Preise einprägen. Mit dem Publikum kam ich in den ersten Tagen gar nicht in Berührung. Und ich soll die Leute nicht so frei ansehen. ›Sie nehmen die Käufer aufs Korn,‹ sagt Fräulein Maxen, die mich anlernt, ›als ob Sie sie photographieren wollten.‹ Ich mußte lachen: zeichnen will ich sie, aber mit gedruckten Worten. In dieser Rotunde mit Oberlicht, neben den Palmenhöfen stehen die leichten kapriziösen Rohrmöbel auf orientalischen Teppichen und kurdischen Matten. Wände von rötlichem Marmorstuck, Säulen mit goldbronzenen Kapitälen. Ich komme mir vor, als ob ich in einem feinen Lustspielhause auf der Bühne stände. Ich muß meine Augen wirklich zu wenig in der Gewalt haben. Man sieht mich viel an, Damen – als ob sie mich auf mein Privatleben prüfen wollten, und gar die Herren – – aber so was gehört auch in unser Kaleidoskop.«

»Sie ist eine Gans,« sagte Olli hart.

»– die Maxen spart Nickel zu Nickel und spricht von später und von unserm Lebensabend – ich aber, ich will meinen Morgen leben. Ich will aufs Ganze gehen und mich von starken Gefühlen tragen lassen. Dann kann ich mich sogar noch in meinem Sarge fröhlich ausstrecken. Ich lebe aber sehr vernünftig und – esse vegetarisch, denn das ist billiger. Dann überkommt mich ein Heißhunger. Ich stehe plötzlich bei Hefter, habe heiße Würstchen in der Hand, beiße wütig hinein – trotz der braven Hausfrauen in Cape und Kapotthut und trotz der niedlichen Dienstmädelchen, die mich anstarren.«

»Heh –?« fragte die Mutter, »soll man da mahnen und schelten, wenn so ein goldjunger Kraftmensch –«

»Ich weiß selber nicht,« fiel Olli zögernd ein, »an Lisa können alle festen Urteile wankend werden.«

»Aha –« sagte die Mutter vergnügt. Olli stand vor dem Spiegel und rückte sich Hut und Jäckchen zurecht. Die Mama sprach von Wesemihls. Olli sollte zum Winter die zwei Giebelstübchen bei ihnen beziehen. Olli wußte, daß diese Einladung ein Großmutsakt von Franz und Kamilla war. Frau Valeska machte sich die Annahme leicht: »Da haben die zwei Alten mal was liebes Junges um sich.«

»Wenn's die Lisa wäre, dann hätten sie was davon,« meinte Olli und knüpfte sich mit gehobenen Armen den getupften Schleier über ihren kleinen Filzhut.

Die Mutter legte beide Arme um ihre Olli. »Warum kannst du nicht auch solche Freudenspenderin sein, mein Mädchen?«

Sie sprach ganz leise, und das tat Olli so wohl, daß sie sich an Mamas Schulter lehnte. »Weil ich nicht so viel Freude in mir habe, Muttchen.«

»Warum denn nun aber nicht?«

»Weil ich zu viel Verkehrtes sehe,« und als die Mutter in ihrer lebhaften Art auffahren wollte: »Als ob man selbst dazu könnte – als ob man nicht seine Augen fix und fertig mit ins Leben brächte, so daß da gar nichts mehr zu wollen ist. Als ob es nicht schon vorbestimmt wäre, ob man ein Vollleber oder ein Halbleber sein wird.«

»Dann könnt' man ja die Hände in den Schoß legen und alles weitere abwarten.«

»Nein – denn auch das ist vorbestimmt, wie weit die Kräfte sich in jedem rühren werden und ob man unten oder oben an der Tafel sitzen wird.«

»Ich möcht' doch wahrlich nicht in deiner Haut stecken,« rief die impulsive Mutter, und Olli sagte Lebewohl.

Nahebei stieß sie auf Tante Kamilla, die in ihrem besten Staat ganz nach Kaffeevisite aussah. »Und wann kommst du endlich zu uns, Herzing?«

»Ich bin so bange, euch Flitterwöchner zu stören!«

Kamilla strahlte: »Wie niedlich du das gesagt hast, fast so wie eure Lisa. Gestern hat mein Franz mit Schrobsdorff über dich gesprochen. Du solltest dich nicht zersplittern, sagt der. Neben den Schwänken und Schnurren der Canterbury tales sollst du dich an die Chewy Chace machen, die tragischen Balladen, Percey und Douglas. Na – hab' ich gut aufgepaßt?«

Kamilla Wesemihl sprach eilig und stand auf dem Sprunge. Als sie aber sah, wie Ollis Augen feucht wurden, sagte sie dringlich: »Alles kann man ja nicht haben. Weißt ja, daß mein Franz erst meine Schwester hat haben wollen – und ich mußte zusehen. Das ist hart. Nachher schickt man sich, ist froh im stillen Hafen; begreift den Sturm nicht, der einen mal geschüttelt hat – alles geht vorüber, Ollichen,« sie nickte liebevoll und lief mit leichten Schritten davon.

Olli wandelte langsam unter den Bäumen der Wallpromenade. Verstreutes Licht grüßte von fernen Fenstern herüber. Im drehenden Tanze wirbelten feuchtgelbe Blätter nieder. Herbst – früher Herbst. Eine Dame kam ihr langsam entgegen, Olli kannte sie nicht. An jedem Arm hing ihr ein halbwüchsiges Mädelchen. Die Kinder sprachen lebhaft auf die Mutter ein, erzählten lustige Torheit und wichtig Geheimes, lachten, kuschelten sich fest ein an der Mutter Arm. Und die lachte leise mit, in tieferer Stimme, die froh und satt zufrieden klang.

Percy und Douglas!

O wunderschön – ihr Studium in hohen Ehren! Ganz fest hatte sie sich über Sommer eingelebt in die aufgesteigerte Gefühlswelt ihrer Hochlandshelden, das kernfeste Volkstum von merry old England. Das bedeutete für sie Ruhe, festen guten Schlaf. Und – – war doch im tiefsten Grunde nichts! Unbegehrt – welcher Gram, welche Schmach!

Ich übertreibe – grübelte sie. Wo steckt da Schmach? Ist es nicht vielmehr Aufstieg in reiche, voll schwingende Gefühlswelt?

Lisa! Solange die dagewesen war, hatte die selige Täuschung angehalten. Weil Rudolf sich so aus dem Vollen gegeben hatte, so heiter-brüderlich und hilfreich. Alles hatte sie auf sich bezogen – so war auch Segen in ihre Arbeit geströmt. Sie blieb hart atmend stehen; fühlte, daß sie in Glut stand, und schämte sich. Als Lisa fort war, war Rudolf nach wie vor gekommen, aber ohne den Glanz in seinen Augen, ohne die Schalkheit in seinem Lachen. Ein guter Freund war geblieben, der nicht immer verbergen konnte, daß die Anspannung ihn ermüdete. Lisa! – auch hier Lisa, der die Herzen zuflogen.

Percy und Douglas und die Canterbury tales.

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Wenn ich dieser Rabener wäre – seufzte Professor Siegbert Springer, der Betriebsame – von so einer Weltreise kommen und dann so wenig davon machen – wenn ich das wäre! Er hatte in seinem Grabbekolleg nur vier Inskribierte. In seinem Auditorium – es war das kleinste – flog sein Blick ängstlich über seine Leute. Es würde furchtbar peinlich sein, gerade jetzt, wenn ihm sein Kolleg flöten ginge. Er war es dem Onkel Goldschneider, dem großen Köppen und jenem Dalai Lama im Kultusministerium schuldig, sich zu behaupten. Universitätsprofessor! Ja, in seiner Familie! Aber hier blieb er das fünfte Rad, einer, den man nirgends hinberief, der sich langsam hinaufgedienert hatte. Und dieser Rabener war gekleidet – doch fast schon wie ein Gymnasiallehrer! Und wenn man ihm Elogen machte, hatte er so einen zerstreuten Ausdruck, als ob er's nicht für voll nähme. Und einem, der sich in aufsteigender Linie bewegt, macht man doch Elogen – oder etwa nicht? Und den Menschen bekam man nur ganz selten zu Gesicht, und wenn, dann war er immer gleich von vielen Leuten herzlichst begrüßt, die ihn, Siegbert Springer, wie einen Lohndiener behandelten. Eigentlich – sagte sich der kleine Herr – hat es der Cousin Leonor in seinem Bankbureau besser. Auch der Felix Gnadauer, der Rechtsanwalt in Leutomischl; ja selbst der Raphael Pfanderstein mit seiner kleinen Theateragentur. Alle waren sie aus dem Osten gekommen und hatten alle kein Geld gehabt. Aber nun waren sie die Ersten in ihrer kleinen Umwelt. Ach, wie schwer sich so im Kielwasser des stolzen Hochschulschiffes zu halten, damit man nicht Anschluß und Zusammenhang verlor! Man mußte unausgesetzt spatteln – und das war ihnen auch wieder nicht recht.

Rudolf wurde es gar nicht gewahr, daß sich da einer so stark mit seiner Persönlichkeit beschäftigte. Er hatte genug mit sich selber zu tun. Er gedachte den ganzen Winter im Fährhause zu bleiben. Einen großen Füllofen hatte er sich gekauft, eine bequeme Chaiselongue, einen gewaltigen Haufen von Büchern. Da war es auch eine Erleichterung gewesen, als er seine gute Freundin Olli zum Wagen gebracht und ihr kräftig die Hand geschüttelt hatte, da sie endgültig den Schlüssel zum Waldhause abgezogen hatte.

Das Haus stand nun recht kümmerlich da; die Fenster mit Läden geblendet, und nun die Buchen ihr Laub abgeworfen hatten, sah man erst die Armseligkeit der dünnen Fachwerkmauern. Die Nebel brüteten über Wasser und Wald, es perlte und tropfte überall.

Seltsam war es ihm mit seinem Herzenserlebnis ergangen. Es beunruhigte, es quälte ihn nicht; es ruhte in ihm wie ein geheimer Schatz, wie ein liebvertrautes Dichtwerk. Es gehörte in diese ihm teure Landschaft hinein, ganz wie das Dänenmädchen der Sage. Lisa und Swanholde – die beiden flossen in seiner Phantasie untrennbar ineinander.

Manches hatte sich ihm glücklich gefügt. Eine erhebliche Gehaltsaufbesserung flog ihm ins Haus. Ein berühmtes Verlagshaus hatte Vertrag mit ihm über sein Reisewerk abgeschlossen. Das sollte in vornehmster Ausstattung, mit Hunderten von Abbildungen erscheinen. Sein Kolleg wurde mit größtem Anteil besucht. Es herrschte während der Vorlesungen jenes beispiellos hebende und tragende Sympathiefluidum, das dem einen Dozenten zufliegt, und das andre durchaus nicht erobern können. Das alles hob die Stimmung; so wurde ihm wieder leichter, in der Gesellschaft zu verkehren, die Einsilbigkeit abzustreifen, die sich in der Einsamkeit seiner zurückhaltenden Natur bemächtigt hatte. Reizende Mädchen waren ihm hold, noch mehr fast die Mütter.

»Mein einziger Junge,« sagte Frau Helene Rabener, »ich bitte dich nur, laß dich nicht kapern. Du siehst, sie geben sich Mühe um dich, diese jungen Gänse so gut wie die Alten auf dem Drachenfelsen.«

»Mütterliche Selbsttäuschung, Mamachen,« suchte Rudolf abzulenken. Ihm war ganz wohl zwischen dieser leichtbeschwingten Jugend.

Die Professorin hatte ihr trockenes Lachen des Besserwissens. »Vor der Olli Grundmann brauch' ich dich wohl nicht besonders zu warnen; die ist so verblüht und verbittert, daß es ein Blinder mit dem Stocke fühlen kann.«

Rudolf sprang auf und schritt wortlos davon. Zwanzig Jahre und mehr waren die beiden Familien befreundet gewesen, fast wie eng verschwägert – und kein gutes, kein mütterliches Gefühl war in ihrem Herzen emporgekeimt.

Alles haben wir vom Vater, Gott sei Dank, alles – dachte er, fast mit Widerwillen gegen seine Mutter.

Er sah sich nach Olli um, die er nun erst im schwebenden Reigen vermißte. Sie saß im Nebenzimmer zwischen älteren Damen. Diese Flucht aus der Jugend war jetzt die Taktik des selbstquälerischen Mädchens.

Rudolf fand sie anziehend in dem blaßblauen Kleide mit den hellvioletten Seidenbändern. Die zwei sanften Farben stimmten künstlerisch ineinander. Und sie war Lisas Schwester.

Er beeilte sich, sie zum Tanze zu holen. Es beleidigte ihn fast, daß sie da zwischen braven Familienmüttern saß, deren Geisteslahmheit in jeder Umgebung lähmend wirken mußte – da gehörte die Olli doch wahrhaftig nicht hin! Warum hatte sie nur bisher keiner geholt? Diese Tänzer waren Studenten und blutjunge Referendare. Jeder Winter wehte neue Scharen so Jugendlicher auf das Tanzparkett. Nirgends gelten Mädchen so schnell für abgetan als in der akademischen Gesellschaft. Nur der Nimbus des Vaters hält gelegentlich die Tochter im ersten Range fest. Von manchem, der ein Mädchen freit, sagt die böse Welt, er habe sich in die Reize des Vaters verliebt – wer kann für sein Herz!

Rudolf stand am Fenster, sah in den Nebel, auf die überperlten Scheiben, auf denen die Spritzer sich zu Tropfen sammelten und wie Tränen am Glase herabliefen. Er sah die Olli in ihrem sanften Kleide vor sich, wie sie ihre rehbraunen Augen hob, wie ein feiner Hauch ihre Wangen überblüht hatte. Fest und still hatte sie in seinem Arm gelegen und war doch federleicht über den Boden geflogen. Später hatte er sie noch einmal holen wollen, aber da hatte er sie nirgends mehr gefunden.

Rudolf starrte in die Trübe hinaus. Unbegreiflich die Männer. Ein Born von Güte und Seelenreinheit, die Olli – und keiner hatte sich zu ihr gefunden, da gingen sie achtlos vorüber. Und von solchem Mädchen forderte der Männerberuf die schärfste Konzentration, Einseitigkeit, robuste Kraft – Entsagung!

Einen einzigen Augenblick dachte Rudolf sich selbst an Ollis Seite. Mehr Empfinden als Denken war es. Nur wie ein Blitz, scharf und kurz durchzuckte ihn diese Vorstellung.

Gleich darauf lächelte er nachsichtig und träumte ins Ungewisse.

Und dann versank das Bild der Älteren, und Rudolf verbarg das Gesicht in den Händen. Wie Wettersturm überbrauste sie wieder einmal sein Herz, brannte sie in seinem Blute – Lisa! Es ließ ihn dann bald los. Leidenschaften hatten nur halbe Gewalt über ihn. So war auch sein Vater gewesen, der nach den elenden häuslichen Kämpfen, noch zitternd in seinem Lehnstuhl, sich in ein altes Buch gerettet hatte.

Eines Tages pochte es an Rudolfs Tür und Siegbert Springer in seinem feudalen Marderpelz schob sich herein. Er hätte sich schon längst die Ehre – Rudolf meinte lächelnd, es wäre doch an ihm gewesen – – Da hätt' ich lange warten können, dachte Springer und sagte verbindlich, er als der jüngere – – Wir sind ja komplette Chinesen an Höflichkeit – lachte Rudolf – Sie sind nun einmal da.

»Ich komme nicht mit leeren Händen,« erklärte Springer wichtig und holte aus der Brusttasche ein steifes Kuvert. »Wenn wir Toten erwachen,« sagte er mit Grabesstimme; »ein Brief des Geheimrat Köppen an Ihren seligen Herrn Vater.«

»Wie kommen Sie daran,« fragte Rudolf mit gefurchten Brauen.

»Ich fand es auf der Bibliothek in Immermanns Memorabilien über Grabbe. Herr Vater muß das Buch im Hause gehabt haben. Wollen Sie nicht gleich mal nachsehen?«

Aber Rudolf legte den Brief beiseite und besann sich, womit er seinen Besuch wohl unterhalten könne. Der schickte in gleichen Nöten seine Augen im Zimmer spazieren, das so merkwürdig einer Studentenbude glich, und bemerkte: »Wenn Sie erst Ordinarius sind, Kollege, werden Sie den Spartaner ausziehen müssen.«

»Warum sollte ich, ich fühle mich so ganz leidlich.«

»Wir wollen doch alle auf den Gipfel,« Springer wurde vertraulich, »prekäre Geschichte, wenn man nur sein bißchen Verdienst hat.«

»Allerdings,« sagte Rudolf, »zum Gipfelklimmer gehören schon starke Muskeln.«

»Sie Glücklicher haben Köppen –.«

»Ich verstehe nicht,« sagte Rudolf eiskalt und stand auf. Er setzte sich dann wieder und sprach vom Wetter; und was Siegbert Springer auch anregen mochte, dieser ›bornierte Ethnologe‹ kam immer wieder auf das Wetter zurück.

Rudolf ging nachher ruhelos im Zimmer auf und nieder, den Brief in der Hand, von dem er Fatales erwartete. Die Kerze stand auf dem Tische, die Hölzchen daneben. Verbrennen – ungelesen verbrennen? Nein – lesen.

Köppens Brief war nur kurz. Ein großer Brief des Vaters steckte im gleichen Umschlag: »Ihr Brief, verehrter Freund, ist in einer bösen Stunde geschrieben. Sie werden ihn schon bald ungeschrieben wünschen. Ich lege ihn daher – übrigens ohne Groll – in Ihre Hand zurück. Mit Hochachtung Ihr Köppen.«

Vaters Brief lesen? Gott, was konnte Vater andres geschrieben haben als Vorwürfe oder Bitten – – unter Mutters Fuchtel. Zwei Bogen groß Folio in Vaters kleiner, fester Schrift. Ganz kurz vor seinem Tode! Das will ich nicht lesen, das ist nicht für mich bestimmt. Rudolf zitterten die Hände – Köppen hat Vater niedergehalten, der war sein harter Gegner – – und dabei glaubt Mutter, daß Sabine in der Hoffnung sei! Er wußte auch ohne zu lesen, daß dieser Brief eine furchtbare Demütigung für seinen Vater bedeutete. Bis in das Innerste der Familien zerfraßen die ungeheuerlichen Ungerechtigkeiten den Frieden. Für viele ein tollkühnes Hazardspiel, diese Laufbahn. Rudolf setzte seine weißen Zähne so fest aufeinander, daß sie knirschten: »Dir will ich nichts verdanken – Schwager!«

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Die Hochschule hatte ihre Aula ausgewachsen, die Einweihung des neuen Prachtbaus rückte heran. Die reichen Stiftungskapitalien gestatteten, sich für die Ausmalung der mächtigen Wandflächen an erste Namen zu wenden. Diese Fresken, dieser ganze Bau sollte für die Größe der führenden Männer zeugen, für das geistige Leben der ganzen Provinz, für den Einfluß der Universität auf die weitesten Kreise. Sonst pflegte man hier Feste im Sommer zu begehen. Wasser und Wald ergaben dann solchen schönen Hintergrund. Aber diesmal kam noch eine andre Feierlichkeit dazu, Inggart des Philosophen und Pädagogen hundertster Geburtstag. Der Alte mit dem prachtvollen Prälatenkopf war über neunzig Jahre alt geworden. Die meisten hier erinnerten sich des gebeugten Greises mit den hellen, zuletzt so leer blickenden Augen, dem ehrwürdigen weißen Flatterhaar, wie er am Arm einer Großnichte über die Wallpromenade schlich, eine zart gebrechliche menschliche Ruine. Aber nicht den Greis wollten sie feiern, den imponierenden Menschen auf seiner einstigen Höhe. Auch Exzellenz Junghans würde kommen und bei seinem Freunde Köppen wohnen. Da wollte der Geheimrat gleich sein Predigerseminar einweihen, das er als Alumnat gedacht und dementsprechend dotiert hatte.

Kalt war es geworden, kurz vor Weihnachten; Schnee fiel bei grauem Himmel und goldenem Sonnenschein. Wesemihl hatte im Gustav-Adolf-Nähverein über Inggart gesprochen. Die fleißigen Weiberchen sollten doch wissen, was sie sich bei dem großen Namen zu denken hatten. Wesemihl lächelte verschmitzt, weil er sie ja nur mit ein paar Grundgedanken bedienen konnte, nur mit dem Abc seiner Disziplin. Denn wo er sich in der Welt der Ideen umsah, war schlechterdings alles Manneswerk – Wahrheiten wie Irrtümer. Nun wollten sie plötzlich kommen und ebenbürtig sein. Er besaß eine schöne alte Ausgabe des Gulliver, wie der im Zwergenlande auf die spannenlangen Miniaturmenschlein herabsah, die alle Seelenkräfte der Vollmenschen besitzen wollten: Heroismen, Eifersüchte, Bosheiten, Güten und Würden. So erschienen ihm diese Neuen, die in das Königreich des Mannes brechen wollten, aus ihrem oft scharfen, aber unschöpferischen Intelligenzzentrum heraus. Frau sollte ganz Frau sein: Werkzeug der ewig neu gebärenden Natur; Verlockung in der Fülle des Weib-, des Mutterempfindens. Warf man ihm ein, daß so viele nicht zur Mutter würden, dann sagte der Unnachgiebige: soll ich die Menschengestalt schelten, weil es Krüppel gibt?

Nach dem Vortrag blieben die Damen noch ein Stündchen zusammen und tranken ihren Tee mit Zwiebäckchen und kleinen Bretzeln. Man saß im langen Eßzimmer der alten Frau Professor Thilenius. Die kleine Dame sollte einmal mit furiosem Haß auf die glänzend prosperierenden Spezialisten verschiedener Fächer geblickt haben. Seitdem aber Trude und Kläre Thilenius sich verheiratet hatten, spät und bescheiden – aber doch verheiratet – ließ die Frau fünfe gerade und den lieben Gott einen guten Mann sein.

Inggarts wissenschaftliche Bedeutung ging sie nichts an, aber sie gab munter allerlei Anekdotisches zum besten. Wie der Alte noch im November draußen im Bodden herumgeschwommen sei, nahe dem achtzigsten Jahr, und in jedem Wetter. Danach sei er nach Hause richtig getrabt, um wieder warm zu werden, und wer ihm begegnet sei, Bauer, Bürger oder Student, sei ängstlich zur Seite gesprungen, denn der Alte hätte dann geschnauft und gekeucht wie eine Lokomotive. Das Fleisch auf seinem Tische mußte pappweich sein, denn er war im Essen sehr peinlich. Den Hasen legten sie in Essig und schmorten ihn drei Stunden, sonst rührte ihn Inggart nicht an und benahm sich dann überhaupt nicht wie ein Philosoph.

Mehr als ein Kastemännchen Trinkgeld gab er niemals nach Gesellschaften, obschon sie zu dreien kamen, er und seine zwei alten Schwestern.

»Ich bin ein Systemprofessor,« sagte er bei solchen kleinen Geizereien, »ich bin kein Auflagenprofessor wie die guten Leute, die den adeligen Stoff für die Volksküche der Popularität herrichten. Ich tue da nicht mit, ich – der Inggart!« Nachher war er unduldsam und wortkarg geworden, bis er eines Morgens nicht mehr aufwachte. Da sagte seine alte Schwester, die Röschen, ganz ruhig: »Mein guter Immanuel, das ist doch das Gescheiteste, was du hättest tun können.« Denn daß der alte Inggart anders als aus ganz persönlicher Initiative hätte sterben können, hätte wohl keiner von ihm gedacht. Irene Goldschneider sprach lebhaft über Wesemihls Vortrag: über die Ichvorstellung als das komplizierteste Bewußtseinsphänomen und über die Berichtigung der metaphysischen Grundbegriffe. Irene sprach nicht allzu leise, sie fühlte sich als geistreiche Frau im Genuß des Angestauntwerdens.

Nun lachte sie übermütig vor sich hin, als sie die Frau Professor Müller zur Frau Professor Schulz in eine kleine Stille hinein sagen hörte: »Immer im Verschlußtopf, und nehmen Sie Wirsing. Weißkraut behält immer was Süßliches, wenn Sie's noch so oft brühen.«

Franz Wesemihl war noch kein Halbstündchen fort, da verflatterte das Gespräch in lauter Einzeldiskurse. Bis ein Name fiel, der sie wieder einte: Lisa Grundmann. Helene Rabener hatte im Strickbeutel ein paar Nummern der Berliner Eilpost. Unterm Strich standen Feuilletons von L. Grundmann. »Impressionen« hieß das eine, »Nocturne« das andre. »Impressionen?« fragte Frau Professor Müller; sie war jungen Mädchen spinnefeind, denn ihre Amalie gehörte zu den übersehenen Hoffnungslosen. – »Nocturne ist geradezu bedenklich für ein Mädchen von zwanzig Jahren.«

Nein, bedenklich war da nichts, Irene las vor. In den Impressionen gab Lisa das Bild der sonnefunkelnden Großstadt, aus dem Gesichtswinkel des Neulings, vor dem Berlin frisch und frappierend dalag, wie die Welt am sechsten Schöpfungstage. Man war gespannt auf das Nocturne. Frau Müller stieß Frau Schulz mit dem Ellbogen an, die kicherte leise und trocken vor sich hin. Das Nocturne schilderte die Geschäftigkeit in einem großen Warenhause zur Weihnachtszeit. Da gab es auch einen famosen Rayonchef, der seine schöpferischen Anweisungen gab und sich dabei zu seinem Frauchen heimsehnte. Da gab es einen Alten, dessen ganze Seele im Geschäft aufging, weil sein Leben ihm alle Sensationen schuldig geblieben war. Aber diese Menschen waren nur Staffage in diesem ungeheuern Mechanismus, der unausgesetzt arbeitet wie mit hunderttausend Drähten, Riemen und Rädern, der den Blutstrom des Geldes in unausgesetztem Flusse hält. Das Publikum schläft und träumt sich was und die Bahnzüge rollen durch die Winternacht und schleppen unablässig herbei, was das Bedürfnis stillt, das Auge blendet und die Besitzgier stachelt.

Die Damen konnten solche kleinen Chosen nicht leiden. Sie zogen Romane vor: da lebt man sich gründlich ein und findet alles um sich, was einen so schon immer umgibt, lauter gute Bekannte. Ist unter sich und meist in vorzüglicher Gesellschaft. – Eine der Damen warf den Namen von Otzen ein. Lief der junge Mensch nicht mit Trauerflor herum? Ja, sein Großvater war gestorben, da bekam er nun schon das Majorat. Der alte Herr sei ein ganz gehöriger Draufgänger gewesen, kein hübsches Mädel auf dem Hofe sicher vor seinen sehr handgreiflichen Flattusen. Scharf auf den Besitz, Musterwirt, Agrarier vom modernsten Pfiff.

Ob der junge Otzen noch an die Lisa dachte?

O, kein Schein – vorbei! Hübscher Mensch mit seiner imposanten Höhe und dem kurzgeschorenen Blondkopf. Sportfex und prinzipieller Abstinenzler. Gehörte zur freien Studentenschaft. So was war bisher unmöglich gewesen. Ein adeliger Junge gehörte ins Korps. Heute hatten ja viele solchen Unabhängigkeitsdusel, hielten alles eigentlich Studentische für Kinderei. Die Damen sahen diese Nichtinkorporierten beinahe als halbwertig an.

Und nun kamen da Leute in bester Assiette, was die Moneten anlangt, sportgestählte Abstinenzler, sahen brillant aus, setzten sich in Respekt, und waren doch eigentlich nur Finken! Wo blieb da die Poesie des studentischen Lebens?

Und die Heiraten nahmen immer mehr ab. Ja, wieso der neue Zug etwas Ehefeindliches bedeute? – Frau Professor Rabener nahm das Wort: »Es liegt an der Sportfexerei. Da sind sie so harmlos und intim mit den jungen Mädchen; und die jungen Mädchen springen in ihren derben Schuhen und praktischen Röckchen herum, selber wie die Buben. Das taugt nichts! Da amüsieren sie sich, aber die Illusion von früher ist nicht mehr da, die ein so recht streng behütetes Mädchen um sich verbreitete. Na und ohne Illusion –«

Irene Goldschneider lachte vor sich hin. Vor dem Zuge des modernen Lebens hatten diese Veteraninnen gewaltige Scheu. Sie setzten nur zaghaft die Fußspitze auf das Eis, ob die Decke schon tragen werde. Lieber nichts riskieren – sagen sie und gruseln sich, wie die Jugend da ihnen so tollkühn davonschwirrt.

»Illusionen brauchen sie wirklich nicht mehr,« sagte Irene, »vielmehr Frische, Kraft, Kameradschaftlichkeit.«

Irene kam übel an. Kameradschaftlichkeit? Eben daran gingen die zarten Triebe zugrunde. Man amüsiert sich zusammen ein Semester oder zwei, dann schüttelt man sich zum Abschied ›kameradschaftlich‹ die Hände. Neue Tennisplätze, neue Flirtschätze!

»Vor unsrer Verlobung hat mich mein Mann nie anders gesehen als in weißem Tüll oder rosa Tarlatan,« sagte Frau Helene Rabener; und die Thilenius mit den ernsthaften Eulenaugen im Runzelgesicht zog die Brauen hoch. Es flog ein Engel durchs Zimmer. Sie wußten alle, wie still und einsam für sich der alte Rabener an der Seite der Frau geworden war, die er vor seiner Ehe nur in der rosenroten Ballstimmung gesehen hatte.

Die Laternen brannten schon, als Irene auf die Straße trat. Flaggenmasten trugen wehende Fahnen in den Landes- und Verbindungsfarben. Papierlaternen schaukelten im Luftzug und Glühflämmchen glimmerten in Tannengirlanden. Markt und Straßen wimmelten von studentischer Jugend. Die filia hospitalis kam heut zu Ehren. Die Musensöhne gingen vergnügt mit den Töchtern ihrer Quartiergeber am Arm. Frische Stimmen sangen die altvertrauten Lieder: Was kommt dort von der Höh' – und So pünktlich zur Sekunde trifft keine Uhr wohl ein, als ich zur Abendstunde beim edlen Gerstenwein. – Dann kamen beliebte Professoren vorbei; die fröhliche Bande stoppte, salutierte, die älteren Herren schwenkten die Schlapphüte und Pelzkappen. Irene stand plötzlich vor Rudolf und Sabine. »Erholen Sie sich denn so allmählich?« fragte sie besorgt. Die junge Magnifika sah schmal und elend aus. Man sprach schon überall davon und beklagte mehr noch den Geheimrat als die leidende Frau. – »Das kleine Mädchen hat rebellische Nerven,« sagte Rudolf und drückte der Schwester Arm fest an sich. Irene tröstete und fragte dann nach Junghans. Die Exzellenz war eingetroffen, die Herren wollten gerade die Feier im Predigerseminar abhalten. Irene fragte nach den Insassen der neuen Anstalt. O, Köppen hätte Freude an ihnen. Alle hervorragend begabt und alle aus besten Familien, voll Takt, sogar schon von einer gewissen Würde. Denn darin glichen sich Köppen und Junghans. Nicht die Bescheidenen wollten sie fördern, die würden schon irgendwie unterkommen. Elitemenschen, starke Hoffnungen galt es herauszuheben. Irene bettelte, sie wollte zur Einweihung mitgenommen werden. Rudolf empfahl sich kurz. Ihm lag nichts daran, der Exzellenz präsentiert zu werden. Mama mußte eben das Leid dulden, ihn morgen bei der Aulafeier ohne den Talar der Ordinarien im Zuge zu sehen. Er zuckte gleichmütig die Achseln.

Das Erdgeschoß des alten Köppenhauses hatte man in einen großen Saal umgebaut. Reihen schmuckloser Eichenbänke für eine mäßige Hörerschar standen vor einem kleinen Altar. Hier sollten sich eben zwei junge Theologen die Sporen verdienen, bevor sie in die Strenge des Amtes traten. Heut standen sie auf den Kanzeln Kirchenbesuchern gegenüber, die von den Gesetzen der Weltenbildung, von der Unterjochung der Naturkräfte durch die Wissenschaft unterrichtet waren. Gott, der den blinden Glauben fordert, dessen Himmelreich den Armen und Einfältigen gehört – und gegenüber das kritische Denken, das Verstehen, das nicht mehr blind glauben will. Kein Wunder, daß man Köppen so hoch und fest hielt. Den alten Glauben festigen, ohne ein Jota dieser neuen Errungenschaften zu leugnen, das war ein Programm.

Köppen und Junghans saßen in der vordersten Reihe, den Blick aufmerksam auf den jungen Mann gerichtet, der vor dem Altare stand, die noch unfertige Gestalt im schmalschulterigen Frack, die mageren Hände auf der Brust ineinander gekrampft. Er sprach über Glauben und Bekennen. Den Glauben als Gnadengabe, der nicht im freien Willen verstandeskühlen Begreifens liege; den nur unablässiges Versenken in die christreligiösen Probleme festigt. Der kritische Geist, die gedankenschöpferische Vernunft sei auch ein Samenkorn des Höchsten; Gnadengabe, höchstmöglicher Entwicklung würdig. Das Bekennen aber müsse sich halten an die Liebesfülle des Neuen Bundes, die ethische Kraft, die höchste aller Weltanschauungen. Lebenspendend muß es die Seele durchströmen. Die Heilswahrheiten an einzelnen Punkten anzweifeln, heißt das Fundament untergraben. Mit dem Maße der Bekenntnistreue steht oder fällt die seelsorgerische Kraft des Geistlichen. Nicht ein Atom darf abbröckeln vom Felsen der Kirche, die auf Jesu Christum steht.

Es war ein großer rhetorischer Aufbau, den der junge Fanatiker entwickelte. Die Hände hatten sich gelöst mit dem freieren Strömen der Worte. Junghans reckte seine vierschrötige Gestalt und strich mit der kurzen Hand über seinen krausen Schifferbart, immer vom Halse her zum Kinn. »Brüderchen,« sagte er nun leise, »den knetest du noch eine Weile zurecht, daß er einen Schuß Diplomatie ins Geblüt bekommt. Dann schickt man ihn ein paar Jahre auf die Dorfkanzel, daß er sich zur Ruhe tagewerkt. Im Auge behalten wollen wir ihn.«

Köppen lächelte zerstreut mit schmalen Lippen. Dieser junge Mensch hatte Gedanken von ihm teils vergröbert, teils verwässert. Es war ihm ärgerlich, daß Sabine zuhörte; er vermied durchaus, von theologischen Dingen mit ihr zu reden. Er dachte mehr an Sabine als an Junghans.

Es sprach noch der behaglich anzuschauende Dircksen über die Strafen Gottes, die sich nur mittelbar mit dem Sünder befassen. Sie wollen vielmehr die Fundamente des Rechtsgefühls stärken, die sittliche Logik stabilieren, die Ordnung aufrecht halten, da doch nichts eine so überzeugende Leuchtkraft besitzt, als die unerschütterlich feste Ordnung der geistigen Grundbegriffe. Dircksens Weisheit quoll mehr aus philosophischem Denken; ein reifer, heiterer Zug lag auf dem vollen Gesicht des Blonden, der klug und beweglich durch seine scharfe Brille schaute. Köppensche Lebensauffassung, die sich zutraute, mit allem fertig zu werden, was des Eingriffs verlohnte, ein universales Lebensgefühl.

Junghans zog die Uhr und schob die Unterlippe vor. Zu einer Disputation blieb also keine Zeit. »Gratulier',« sagte er und schüttelte Köppen die Hand, »famoser junger Dachs. Etwas zu fix und fertig. Gehört auf die Strafanstaltskanzel. Muß sich mal in moralische Krüppelhaftigkeiten einfühlen, sich in seiner geistlichen Gelassenheit ein paar Schlappen holen. Wie? – Was?« – Aus dem Hintergrund scholl Harmoniumspiel: Ach, bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ. – Das Instrument war zu stark für den Raum, es wirkte scharf und atemüberfüllt. Köppen kniff die Lippen. Ihn ärgerte die Überhastung der Feier; nun entbehrte alles der Geschlossenheit. Beim Ausgang bemerkten die beiden Herren auf der hintersten Bank Sabine und Irene Goldschneider. Junghans begrüßte sie jovial lärmhaft mit seinen kurzen, abgehackten Verbeugungen. Eine Besichtigung des Hauses folgte. Man stieg in den Oberstock; da war die geräumige Diele in eine Bibliothek umgewandelt. Zwischen den Regalen standen die Büsten berühmter Theologen, Renan und Strauß so gut wie Tholuk und Rietschel. Man sah in die Wohn- und Arbeitsräume des fast klösterlich strengen Hauses. Ganz zu Ende des langen Ganges lag der Speisesaal, dessen Fenster auf den alten patrizischen Köppen-Garten gingen. Am Büfett stand eine steife alte Frau in tiefer Trauerkleidung. Frau Pfarrer Hunold – stellte Köppen lässig vor. Sabine hatte ihm diese Wohltat für Erich Hunolds Mutter abgerungen, die sollte hier den Haushalt leiten. Aber die finstere Stummheit der Frau war ihm antipathisch. Und nun sprach Junghans zu den jungen Leuten, die dicht geschart im Kreise standen. Er verherrlichte Köppen, den Gelehrten, warf auch einen Blick auf die Gefahren der Zeit: ob die neue Geisteskultur die Menschheit glücklicher oder sittlicher gemacht hätte? Er pries den Gedanken, die künftigen Gottesstreiter unter gemeinsamem Dache zu sammeln, damit später, über alle Grenzpfähle fort, ein einheitliches Band sie verknüpfen möge. – Er blickte scharf nach der Tür, an der die beiden Damen stehen geblieben waren. Die blitzenden Augen der Exzellenz lagen auf Sabine – als erriete er meine Seelennot, dachte sie erblassend. Ihr Blick glitt ab, zu der finstern Frau: du willst deinen Sohn rächen, und ich bin dein Werkzeug – aber ich zerbreche unter deiner Hand. Sabine sank auf den nächsten Stuhl und hörte kaum, was Junghans sprach: vom bedeutsamen Amte, Gehilfin zu sein am Lebenswerke eines Führenden. Von der Mutterstellung zu diesen jungen Männern, da es doch nichts Lieblicheres gäbe, als ein jugendlich mütterliches Weib.

Aufrütteln will er mich, der Menschenkenner – dachte Sabine – aber helfen kann mir keiner. Sie fuhr empor, als die beiden Herren mit ihrem Gefolge das Sälchen verließen.

»Liebste Sabine,« sagte Irene leise, »ich kann gut Freundin sein, ich habe auch manches in mir durchkämpfen müssen. Wenn Sie sich doch aussprechen wollten, da Sie ja doch etwas quält.« – Sabine stand etwas zu plötzlich auf. »Sie sind sehr gut,« sagte sie leichthin, »aber es gibt Leiden, die beichtet man nicht mal dem eignen Manne.« – Sie hastete der Tür zu, und Irene fühlte sich verletzt. Beide Rabenergeschwister steckten doch wirklich in undurchdringlichen Schalen.

Sie tauchte in das Gewühl der Straße, das mit Vorschreiten der Stunden noch ungebundener geworden war. Die Flocken tanzten in taumelnder Fülle, und auf dem Marktplatz, um ein lohendes Feuer, sangen sie das Gaudeamus. Sie freute sich auf ihren einsamen Abend mit dem Teetischchen neben die Chaiselongue gerückt. Säm würde bis tief in die Nacht mit den Kollegen bei der Exzellenz im Hotel sitzen. Junghans war beim Bier ein echter Teutscher und vertrug noch heut sein studentisches Quantum. Dazu machte er dann kleine Augen, drückte sich in die Sofaecke, und so – nur Einfältige nahmen ihn dann für harmlos – ließ er sich Pläne und Hoffnungen aussprechen, studierte Mienen und Dialektik seiner Leute. Und mein Säm wird auch pokulieren und wird morgen auch kleine Augen machen, aber vor Haarweh und Weltelend. Irene lachte vor sich hin und hörte in nächster Nähe bierfreundliche Stimmen; dazu lamentierte eine ungeschickt behandelte Gitarre und quinkelierte ein dünnes Flötchen. Sie standen vor Wesemihls Haus, dessen Front in die innere Stadt ging. Alle fünf Fenster waren erleuchtet; ein Flügel stand offen, und Valeska Grundmann ließ am Bindfaden Butterbrötchen herab, die unten mit Hallo empfangen wurden. »Dürfen wir wirklich nicht raufkommen?« rief einer über das Gelärm hinweg, »wir haben so ungeheuern Respekt vor Fräulein Sarrassin.« Oben wurde Frau Valeska sanft beiseite geschoben, Wesemihl schwenkte ein Glas und vermittelte den Gruß des Fräuleins Doktor. Aber es sei ein durchaus femininer Doktorschmaus, er ermangele auch nicht einiger Rührungszähren. Unten entfernten sich die Studenten mit urkräftigem ›hoch soll sie leben‹. Irene grüßte fröhlich hinauf und der Professor bat, gut gelaunt, um die Ehre. Irene lief die Treppe hinauf; das Altväterische der beiden Vortrefflichen hatte den starken Reiz des Originellen für sie.

Der Doktorschmaus der kleinen Sarrassin war von äußerster Prunklosigkeit, aber es war ihnen allen feierlich zumute. Das junge Mädchen war die Tochter eines Predigers. Sie war noch etwas unfertig in Gestalt und Haltung; schüchtern für sich, aber wichtig, wo sie sich als Pionier der großen Sache des befreiten Frauentums fühlte. Nun erzählte sie, wie sie der Vater schon vom achten Lebensjahre an auf das Studium erzogen hätte, drum war sie so früh am Ziele. Olli nickte schwermütig; sie hatte recht spät begonnen. –

»Mit acht Jahren?« rief Irene erschrocken.

Gewiß, mit Latein hatte es angefangen und dann immer so weiter durch die Kinder- und Backfischjahre.

Sie saßen beim Abendbrot, der Professor so recht paschamäßig als einziger Herr. Kamilla hatte wieder alles so hübsch festlich hergerichtet, daß der empfänglichen Irene das Herz im Leibe lachte, als ob sie ein feines Spitzwegbildchen in der Hand hielte. Wer konnte noch die Servietten so niedlich kniffeln, als ob sie ein plastisches Blattmüsterchen trügen, die Lampen mit Tannenkränzchen umlegen, so glasblank die rotbäckigen Apfel polieren? Wo gab es noch dies altjüngferliche Gedüfte nach Räucherkerzen auf glühendem Schäufelchen; und wo schenkte eine so vortreffliche Hand einen so schonungsvoll leichten Punsch in die dicken goldgeränderten Kelche? Dies Schenkenamt ließ sich Wesemihl nicht nehmen. Die kräuselnden Duftschwaden hatten für ihn etwas mystisch Weihevolles. Sie schmeichelten den Penaten seiner alten Gelehrtenbude. Gewißlich glaubte er nicht an Spirits und Revenants, aber daß in seinen alten Stuben etwas hängen geblieben war von allen den lustigen, den ergriffenen und wieder begeisterten Stunden, die man hier gelebt hatte, ja – das würde ihm doch wohl im Ernst keiner abstreiten wollen.

Irene umarmte und liebkoste das kleine Fräulein Doktor: »Und nun wird getanzt, aber feste; was, mein Kindchen?«

»O je,« rief Käthe Sarrassin, »das ist nun mal verpaßt. Ich muß endlich ins Brot. Vater hat noch drei Jungen, die ihn alle brauchen.«

Irene saß zwischen Wesemihl und Mama Valeska; das Punschglas dampfte schon auf dem Glastellerchen. »Und wohin geht es nun zunächst?«

Die Kleine hatte phänomenales Glück, gleich in Amt und Brot! Stockholm, deutsches Hospital, Assistentin an der chirurgischen Klinik. Auch Lehrtätigkeit: Verbandlehre in der Pflegerinnenschule. Freie Station wie die Oberschwestern. Gehalt nicht ganz so hoch wie die Assistenzärzte.

Die Augen der kleinen Gefeierten strahlten. Sie saß bolzgerade in ihrem braunen Tuchkleidchen und trug den dicken Zopf schön glatt aufgesteckt. Mädchenhafte Eitelkeit paßte ja nun wohl nicht mehr für sie, die der Vater schon von ihrem achten Jahre an für das Studium vorbereitet hatte, mit Latein und Mathematik; die Kinder-, die Backfischjahre, und dann immer so weiter. Davon erzählte sie, der gute Vater, nun war man am Ziel.

Frau Valeska intonierte: Bemooster Bursche zieh' ich aus – behüt dich Gott, Philisterhaus – alle fielen ein; die kleine Philisterin sang mit heller Stimme mit, aber es blinkte verdächtig in ihren Augen. Die wurden immer blanker, bis sich zwei kugelrunde Tränen lösten, Fräulein Doktor das Gesicht in den Händen versteckte und herzhaft zu weinen anfing.

»Schöner Doktorschmaus,« rief Wesemihl unwirsch, denn er fühlte seine Stimme nicht ganz sicher. Gleich darauf kommandierte er einen Salamander. Die Gläser rackelten noch auf der Tischplatte, als die Tür aufsprang. Fitting und Rudolf kamen, hinter ihnen noch einer, der sie um Haupteslänge überragte, der junge Otzen, der zu Kamillas Verehrern gehörte. So ein kleines, schwaches Weibchen und verharrte so ganz naiv unbeirrbar in ihrer ursprünglichen Art. Denn wahrhaftig – dachte Otzen – nur der Snob wirft sich selber auf jeden Pfiff der Tagesmode über Bord.

Nun überboten sich die Herren in Glückwünschen. Fitting hatte sogar einen schönen Nelkenstrauß für Fräulein Doktor mitgebracht: »Vergessen Sie nie, Fräulein Käthe, daß Sie eine hübsche, kluge junge Dame sind, der jeder anständige Kerl zu dienen hat.«

Das Fräulein lachte: das eben mußte ja die neue Frau vergessen lernen, alle die freundlichen Privilegien, mit denen man sie eingelullt hatte, daß sie sich nun erst auf ihre Rechte besann.

Die jungen Männer hatten sich Sitze zwischen die behaglichen Leutchen geklemmt; es war heiß geworden, und Fitting dachte mit einem Seitenblick auf das hübsche Profil mit dem geraden Näschen, daß ein gut situierter Mann in seinen schönsten Jahren ein egoistischer Esel sei, wenn er solch liebes Ding schutzlos in die Fremde laufen ließ. Schutzlos – ein Doktor med.? Der vom achten Jahre an auf den Beruf gedrillt worden war? Unsinn – warum nicht dennoch? Vielleicht hätte er sich flink entschlossen, wenn er so viele Zwanzig gewesen wäre, wie er Dreißig zählte. Möglich – sehr möglich sogar. Aber nun so schnell Entscheidung treffen, sich binden, lahmlegen – seine Pflichten verdoppeln, seine Rechte halbieren? Fitting verkroch sich in sich selber, trank einen nachdenklichen Schluck – – und hatte sich wieder. Und Käthe Sarrassin hatte keine Ahnung, daß da eben eine der wenigen Chancen ihres Lebens in Staub und Asche gesunken war.

Rudolf, neben Frau Valeska, fragte mit halber Stimme nach Lisas Ergehen. – »Prachtvoll geht es ihr,« die Mama strahlte. Ob sie nicht zufällig einen Brief in der Tasche hätte, fragte Irene lächelnd. Aber gewiß, da sei etwas Merkwürdiges passiert, das müsse sie unbedingt vorlesen; sie suchte schon zwischen den flott beschriebenen Blättern und fing resolut an zu lesen: »Wann ich dir wieder Gedrucktes schicken werde? Meine neuen Arbeiten sind abgelehnt. ›Wenn die Leser Ihr Gesicht sehen könnten‹ – hat der Herr ›unter dem Strich‹ gesagt, ›wenn das so zwischen den Druckzeilen steckte, dann wollten wir Sie alle Woche mal bringen. Aber – Sie wiederholen sich.‹ Das war eine bittere Pille. Ich soll mir Muße lassen. Talent wäre schon da, aber Talent sei zunächst nur eine Verpflichtung. Dann fragte er, ob ich eigentlich noch nie verliebt gewesen wäre –«

»Frechdachs, elendiger,« entrüstete sich Otzen. Seine Augen blitzten, und er zerknetete seine zusammengeknäuelten Handschuhe, als ob er den Wicht, den Tropf zwischen den Fäusten hätte.

»Zum Verlieben,« ging das Lesen weiter, »habe ich zu Hause vor lauter Erwartung künftiger Ereignisse keine Zeit gehabt. Frauenzimmerschreiberei ohne diesen Untergrund, sagt der Feuilletonmann – –«

»Recht hat der Mann,« warf Wesemihl ein, »wovon will denn so ein Flederwisch singen und sagen! Da muß sie sich doch wirklich den Wind ein bißchen länger um die Nase wehen lassen.«

»Aber Herzing,« rief Kamilla bestürzt, »haben doch so viele Dichter ganz jung im Sturm und Drang –«

»Eben, mein Kamillchen, ganz recht hast du: Dichter! Aber so, unterm Strich, bloß weil man zwei helle Augen hat und eine sapperlotisch flinke Feder –«

»Ja – soll ich denn nun lesen?« rief Frau Valeska ärgerlich, »das Gute kommt ja erst …

»Nun war ich schwer bedrückt. Zum Vertiefen hat ein Fräulein im Warenhause nicht Zeit. Und da verkaufe ich nun vorgestern schöne weiße Rohrsessel an ein junges Ehepaar, da höre ich eine bekannte Stimme hinter mir, bißchen scharf und näselnd. Dein Lender war es. Der wird natürlich solche Verkaufsmamsell nicht kennen – dacht' ich. Ich konnte ihn mir in Ruhe betrachten, da der Verkauf inzwischen perfekt geworden war. Und ich dachte noch: na also – weil er mit einer reizend eleganten kleinen Dame vor einem Tische mit japanischem Krimskrams stand; die hielt ich für seine Braut. Es war aber seine Schwester, die an einen großen Börsenmatador verheiratet ist. Wie lange sie schon drauf brennt, mich kennen zu lernen, sagt sie. Nennt ein paar Namen von berühmten Männern, die in Gefängnissen, auf der Walze oder im Nachtasyl ›das Volk‹ studiert hätten. Bewundert, daß ich ähnliche Studien mache in den verschiedenen sozialen Schichten! Riesig originell fand sie das, hochmodern.«

»Eine Gans, eine Gans, die kleine Dame,« brummte Franz Wesemihl.

Mama Valeska stellte sich taub. Sie legte den Brief flink zusammen und steckte ihn in ihr Arbeitstäschchen. »Und nun haben sie meine Lisa vom Warenhaus fortgeholt, und sie lebt als Gast bei den Generaldirektors Geringshofen. Pflichten hat sie gar nicht; nur das Leben studieren soll sie, wie sie es für ihre Zwecke braucht.«

»Ich dachte,« fiel Wesemihl schneidend ein, »Leben studierte sich nur in der Betätigung.«

»Und Ludwig – schreibt sie gar nichts von Ludwig –?« rief Olli.

»Doch,« sagte die Mama mit eitlem Lächeln, »Ludwig hat Anschluß an Literatenkreise gefunden. Er trete fabelhaft elegant auf und kommt auch zu den Geringshofens. Er führe in Gesellschaft das große Wort. Die Leute scheinen phänomenale Feste zu feiern.«

»Und wie hat man Lisas Stellung dort im Hause gestaltet, nachdem man sie ihren Broterwerb hat aufgeben lassen?« fragte Fitting scharf.

»Denn wer sich so ein Spielzeug zulegt, der kann dessen am Ende auch schnell überdrüssig werden,« pflichtete Wesemihl bei.

Frau Valeska begriff diese Frage gar nicht. Sahen denn diese guten Leute nicht, daß die ganze Geschichte nun doch noch auf eine Verlobung mit Albert Lender hinauslaufen werde? Sie wollte lebhaft antworten, aber da fiel ihr Blick auf Rudolf. Der saß, den rechten Arm auf den Tisch gestützt, mit gefurchter Stirn, und sann und grübelte vor sich hin. Zwei tiefe Furchen gruben sich quer über seine Stirn.

Der junge Otzen knetete wieder an seinen Handschuhen. Er steckte sie endlich resolut in die Brusttasche. »Ich muß nach Berlin, morgen schon – gnädige Frau und Herr Professor Wesemihl – ich habe nötig auf der königlichen Bibliothek zu tun. Darf ich das gnädige Fräulein Lisa aufsuchen und mal das Terrain rekognoszieren?«

»In welcher Eigenschaft, wenn ich fragen darf?« fragte Wesemihl kampfbereit.

Friedrich von Otzen konnte noch prachtvoll erröten. Er sah den so sehr von ihm verehrten Professor an, als ob er ihn auf die Mensur fordern wolle: »In meiner Eigenschaft als ein ganz ergebener Freund.«

»Ich leugne die Möglichkeit einer solchen Freundschaft, die sich – ohne Schaden für das Mädchen – zwischen so jungen Leuten öffentlich zeigen dürfte,« sagte Wesemihl kalt.

»Dann leugnen Sie etwas sehr Gesundes, Herr Professor, etwas Schönes und Edles,« brauste der junge Mann auf.

Wesemihl lächelte liebenswürdig. »Können Sie schwören, lieber Otzen, daß Ihre – Freundschaft ohne alles Mitschwingen von – – Verliebtheit ist?«

Der junge Otzen sah verdutzt aus. Dann lächelte auch er behaglich. »Herr Professor, haben Sie nicht selbst starkes Wohlgefallen an Fräulein Lisa Grundmann?«

»Ich schon, o ja; aber das ist ungefährlich. Oder, Kamillchen, gibst du mich am Ende frei?«

»Nun also,« rief Otzen stürmisch, »solches Wohlgefallen ist bei uns Jungen von – ein häßliches Wort – von Verliebtheit nicht ganz frei. Drum kann ich doch als ein sehr guter Freund – ein sehr ergebener, Frau Professor Grundmann – zu dem Fräulein stehen. Ich kann doch wirklich nicht ruhig zusehen, wenn –«

Nun fiel die Mutter ein, ihre Gedanken überstürzten sich. Dieser Otzen konnte doch höchstens die günstige Lage stören, wo der Lender dichter an der Lisa herangerückt war als je, in einer Umgebung, die erst den richtigen Rahmen für ihn abgab! Da sollten sie doch gefälligst alle die Hände davon lassen. Sie würde selbst nach Berlin fahren, erklärte sie. Herrn von Otzen dankte sie etwas von oben herab für seinen freundlichen Anteil. Aber es seien ja ältere Freunde in ihrer Tochter Umgebung. Sie war nun doch einmal ärgerlich auf sich selbst, auf ihren prahlerischen Mitteilungsdrang. Da mischten sich nun Leute ein, die gar nicht ahnten, was eigentlich unter der Oberfläche spielte. Der Bruder einer Geringshofen! – Dem hier die Professur nicht einmal gut genug war, denn zu Ostern hatte er seinen Abschied erbeten. Das tun sie ja öfter, die viel Geld haben, holen sich an einer kleineren Universität den Professor und sitzen danach in Berlin mit einer unerhörten Praxis. Tiergartenviertel – Lisa – hätte Mama Valeska ein Rad schlagen können, wie der glücklicher veranlagte Pfau – dies wäre der stolze Augenblick dafür gewesen.

Wesemihl zuckte die Achseln, er empfand die Situation als schief. Aber vielleicht war er zu altmodisch. Vielleicht hatte die eitle Frau recht – laufen lassen, eingreifen? Lisa zurückholen? Es gab ja nicht einmal ein Dach, unter das das Mädchen hingehörte!

Er sah auf des jungen Friedrich von Otzen Gesicht, das ernst gesammelt und undurchdringlich war. Famoser Junge – dachte Wesemihl.

Die alte Urgroßmutteruhr zwischen ihren vier Alabastersäulchen schlug eilfertig ihre zwölf klinghellen Schläge.

»Polizeistunde,« meinte Fitting, und die Damen erhoben sich. Noch einmal trat Fräulein Doktor in den Mittelpunkt der Beachtung, noch einmal stießen die Gläser aneinander. Aber der Spiritus unter dem kupfernen Schwungkessel war ausgebrannt, der Trunk hatte keine Glut und Fülle mehr; die Leutchen waren zerstreut und abgespannt.

Wesemihl schloß nicht ohne Befriedigung die Haustür hinter seinen Gästen ab. Wundervoll unangefochten schien ihm sein altes Haus. Herzensunruhe trugen sie ihm doch wirklich nur von draußen herein, die hatte drinnen keine bleibende Stätte.

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Glauben und Bekennen zweierlei! Sabine saß auf ihrem Bette. Abstrakten Vorstellungen nachzugrübeln lag ihr sonst fern; seit einiger Zeit starb sie im Gegenteil der wirklichen, der Sinnenwelt ab. Das, was ihr Mann von ihr fordern durfte, Anteil, Liebe, Vertrauen – das war wie eingefroren in ihr. Sie hatte nicht den blinden Glauben in ihn und sie haderte schwer mit sich. Sie sah, daß ihr Mann darunter litt, daß sein Blick oft schwer und fragend auf ihr ruhte.

Sie dachte an die Reise zurück. Wie viel Gutes hatte sie durch ihren Gatten genossen – erdrückend viel. Wie oft breitete sich noch in ihren Gedanken schimmernd das Meer im Sonnenglanz vor ihr aus. Nach ihrem Bade lagen sie beide im Dünensand ausgestreckt. Adalbert hatte dann den bastseidenen Schirm über sich aufgepflanzt und sich Jugendfülle erschlafen, wie er es nannte. Er hatte ganz sichere Herrschaft über seinen Schlaf. Alle Dinge und alle Gedanken kamen nur so weit an ihn heran, wie er ihnen gestattete.

Ihren Schlummer fraß das Fluten von Vorstellungen und Empfindungen auf, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Er hat sich zur Ruhe gelebt – dachte sie fast grollend – er wird mit allem fertig, und ich zerreibe mich.

Einmal, er schlief im silberweißen Flimmersande hingestreckt, lag sie neben ihm, seitlings auf den Arm gestützt, hatte ihr Buch sinken lassen und träumte in alle die lichte Weite hinein.

Da war eine kleine Familie vorbeigekommen, die sie schon öfter beobachtet hatte.

Es waren ganz einfache Leute; er ein Schullehrer oder kleiner Beamter mit seiner Frau und zwei halbwüchsigen Kindern. Sie gingen recht geschmacklos gekleidet und sahen wie Menschen aus, die scharf rechnen müssen. Weit draußen wohnten sie bei Fischersleuten. Aber lustig und zärtlich waren sie miteinander. Um Mittag blieb die Frau zu Hause, sie bereitete dann wohl das Mittagbrot in der Küche ihrer Wirtsleute. Dann hängten sich Junge und Mädel beim Vater ein; der Vater war kein pedantischer Schulfuchs – Gott, waren sie lustig.

An jenem Tage, dessen Sabine gedachte, es war noch zur Flutzeit, stellten sich alle drei dicht ans Wasser, und wenn die spieligen Wellchen so listig und verschlagen heranschülpten, dann sprangen sie jubelnd zurück. Liefen ihnen aber die zischelnden Wasser über die derben Lederschuhe, dann gab es kleine Aufschreie und eilige Flucht. Das Spiel hatte großen Reiz für sie, denn sie wiederholten es unaufhörlich, bis Adalbert die Augen aufriß, mit einem ungeduldigen, halblauten: Sapristi!

Da hakte der Mann wieder seine Kinder unter und sie zogen eine Strecke weiter fort und trieben dort unten ihr Spiel weiter.

Der Geheimrat entschlummerte von neuem, und Sabine sah ihnen lange nach. Diese Eheleute hatten sich sicher in grüner Jugend zusammengeschlossen, sobald es nur für Tisch und Bett gelangt hatte. Diese Kinder waren junger verliebter Leute Kinder, die nicht nach Renten und Ruhegehalt und Altersversorgung gefragt hatten. Nachher – Sabine hatte sich das alles so ausgemalt – nachher war es ihnen leidlich geglückt. Die paar Wochen in der Norderneyer Fischerhütte, wo die kleine Mama selbst die Fische briet und die großen braunvioletten Kartoffeln sott, waren sicher ein großer Aufschwung. Die Frau war in der Ehe ein bißchen vierschrötig geworden und trug so ein garstiges, zipfliges Lodenkleid, und er steckte in graugrüner Normalkleidung. Aber bis in alle Ewigkeit würden die zwei einander so sehen, wie sie sich einmal in ihres Lebens Mai begegnet waren.

An jenem Tage hatte Sabine ihnen noch lange nachgeschaut – dann hatte sie sich zu Adalbert gewendet, nicht zum Vergleiche – wie hätte sie darauf kommen sollen – nur um zu sehen, ob er gut schliefe, weil er danach so froh und rüstig war.

Ja, er schlief – und er war alt. Wenn sie je ein Kind haben würde – es würde eines alten Vaters Kind sein.

Sie studierte ihren Mann. Er war etwas zu beleibt, wie er da auf seinem Plaid ausgestreckt lag. Seine rotblonden Haare waren weiß durchsprenkelt. Von den lachbereiten Augen zog sich ein feines Gekrabbel von Fältchen in die Schläfen hinein. Der bartlose Mund, der so geistreich wirken konnte, wenn Köppen frei und lebhaft plauderte, war schmallippig und von den tiefen Falten begrenzt, die sich erst den Mißmutigen oder Alternden eingraben. Noch verschwanden diese Falten, wenn Adalbert Köppen mit seinem starken Selbstgefühl sich straff in der Hand hatte.

Sabine hatte sich abgewendet. Wie häßlich, solches Bespähen des Schläfers, mit dem sie doch eins sein sollte an Leib und Seele.

An jenem Tage hatte ihr die Post das erste der kleinen Briefpäckchen gebracht, die von einer steifen ungeübten Hand adressiert und mit dem Poststempel ›Remshagen‹ versehen waren. Eine Mutter sandte ihr Bilder zu, Gedichte und Tagebuchblätter von ihrem toten Sohne. Die waren oft eingetroffen. Immer wenn sie anfing, den starken Eindruck zu überwinden – denn Gott, was gab sie sich für Mühe – wenn die Flammen eines freventlichen Phantasiespiels zusammensanken, dann kam von dorther, aus dem Dörfchen am Bodden, neuer Brennstoff.

Sie konnte es nicht zähmen und nicht meistern. Sie sah ihren Gatten gesättigt am reichen Mahle des Lebens – und den andern, dem sie den Becher vom Munde gerissen hatten, eben da er sich seines Durstes nach Freude bewußt geworden war. War sie krank? Sie trug Leidenschaft für einen Toten.

Sabine starrte in die Glut hinter dem stählernen Gitter des Ofens, ein karges Häufchen nur noch, das eben in Asche zerfiel. Ihre Lippen schürzten sich geringschätzig: Glauben und Bekennen. Bekennen, wo der Glaube mit sich rechtet, wo er nicht strotzt in der Fülle seiner eigenen Überzeugtheit? Und Erich Hunold hatten sie gerichtet.

Unten auf der Straße schallten Schritte. Das mußte Köppen mit seinem Gastfreund sein. Sabine warf einen aufgestörten Blick auf die Uhr. Fast zwölf. Sie würde noch in Stunden nicht schlafen, erregt und vergrübelt wie sie war.

Neulich bei ihrer Mutter war sie bewußtlos geworden; es war an ihr emporgeschwollen wie eine purpurne Nacht. Nachher hatte Mama gelächelt und hatte sie küssen wollen, aber sie hatte sich fortgebäumt.

Das sollte ihr auferlegt sein – das!

Und Mama hatte viel geredet, so wie eben ihre Mutter reden mußte. Von dem Stolz für das alte, vornehme Haus der Köppen. Von der unbedingten Herrschaft, die eine jugendliche Mutter über den älteren Gatten ausüben könne. Von ihrem eigenen Stolz und Glück über den Enkel, der in Besitz und Ansehen hineingeboren werden würde.

»Wo bleibt deine Freude, Sabine?« hatte die Mutter erregt gefragt. Da war sie mit ihren Gedanken aber schon wieder bei den Leuten; was die wohl sagen würden, wenn da ein kleiner Köppen an seines Vaters fester Hand unter den breiten Wipfeln der Wallpromenade wandeln werde. Ein Sohn mußte ihr erster Enkel werden, eine Miniaturausgabe dieses prachtvollen Mannes, der ihr imponiert hatte, soweit sie nur zurückdenken konnte – – und an dem sie nun Besitzrecht hatte.

Und Sabine kümmere nun so hin; ja, so waren nun einmal ihre Kinder, allem Leben gegenüber mit Einschränkungen und Reservatgefühlen.

Sabine drehte das Licht ab, wand die Hände ineinander und starrte in die Nacht. Fuhr zurück wie geblendet, denn immer aus der Dunkelheit blühte ein schönes Jünglingsantlitz vor ihr auf, das sie vergebens rang aus allen ihren Sinnen fortzuscheuchen.

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Die beiden Herren gingen auf den Fußspitzen durch das schlafende Haus.

Köppen, durchaus kein Wirtshaussitzer, war froh, als er aus der unlieblichen Atmosphäre und dem Stimmengewirr ins Freie gekommen war. Dazu hatte er schweren Ärger bei der Exzellenz Frage gehabt, welcher der jungen Herren denn nun sein Schwager Rabener sei. Köppen hatte noch einen Boten zu Fitting geschickt, ob Rudolf bei ihm sei. Aber beide Herren waren nicht aufzufinden gewesen. Auch gut – wenn nicht, dann nicht; wahrhaftig, Refüs war er nicht gewöhnt.

Nun kamen Köppen und Junghans am Ende des langen Korridors in die zwei Zimmer, die für den Gast eingerichtet waren. Sie traten gleich in das Schlafzimmer.

»Du vergibst schon, mich verlangt sehr danach, mich auszustrecken,« und Junghans warf die Oberkleider ab, »sitz noch ein bißchen nieder.«

Köppen setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl und streckte die Beine weit von sich. Es war ein schwer ermüdender Tag gewesen.

Junghans bemerkte es. Er zog gerade mit Ächzen die Stiefel von den Füßen. »Ja, mein Guter, so wie damals ist es nun nicht mehr. Was für'n Stehauf ist man da gewesen.«

Er erinnerte sich gleich darauf, daß dieser Köppen ein junger Ehemann sei, und da schloß er seinen Satz: »Aber du bist ja einen ziemlichen Zacken jünger als ich.«

»Ist nicht weit her,« meinte Köppen, »und du hast heute erwachsene Kinder; vielleicht, mein lieber Alter, warst du weiser.«

Junghans rief ein halbersticktes »pöh« herüber. Er stand, kernig und gewichtig, über den Waschtisch gebückt, und schnaufte, weil er sein Gesicht im großen Porzellanbecken badete. Er trat dann hinter den Japanschirm und gleich darauf turnte er in sein breites Bett, schlug die Decke über sich und stützte sich, Köppen zugedreht, auf den Ellbogen.

»Weise – es ist doch immer Fügung, sagen wir ruhig höhere Fügung, welche unsrer Kräfte in entscheidenden Augenblicken die Oberhand haben.«

Junghans zögerte. Aber er merkte, daß der Freund eifrig zu ihm hinhorchte, so fuhr er fort: »Ich habe dir vielleicht nie davon gesprochen, Amicus – auch sonst zu keiner Seele, denn heute mag es einigermaßen abgeschmackt klingen – daß ich einmal heftig verliebt gewesen bin. Und mein Gegenstand,« Junghans lachte in herber Selbstironie, »ist ein blonder Wuschelkopf gewesen, kindisch, ein pures Nichts. Du wirst ja wohl wissen, wie in solchem Korpus wie dem meinigen in der Jugend das Blut brennt und das Hirn umnebelt. Da habe ich – denn ich fühlte schon einigermaßen meine Kraft und meine Zukunft – einen Riegel vor alle Entgleisungen geschoben und habe meine Cousine Emma geheiratet. Die war fast so alt wie ich, du kennst ja meine Frau. Hübsch ist sie nie gewesen, immer so ohne eigentliche Jugendblüte. Aber gesund, taktvoll, verständig. Mir hat es genügt. Ich hatte meinen Ehrgeiz und meine Ziele. Zur Silberhochzeit saß sie mir fester im Herzen als zur grünen. So eine, weißt du, bei der man geborgen ist.

»Die Kinder? Mittelgut. Glänzen nicht, beschämen auch nicht. Scheint ja Naturgesetz: braucht einer sein Hirn intensiv für große Aufgaben – kargt's nachher bei der Deszendenz. Ich hab' meine Kinder gern, soll es ihnen gut gehen. Ich tu' an ihnen, was ich kann. Aber in Ruhe, mit Maßen. Weise? – pöh! Das Leben läuft seinen Weg.«

»Du hättest in meinem Alter kein junges Weib genommen, Junghans.«

»Ne – ich nicht. Was beweist das? Bei mir hat der Freudenbecher keine große Rolle gespielt. Ich bin aus Bauernblut. Du, lieber Köppen, bist ein Ästhet, bist's immer gewesen, voll feiner Schätzung für alles Schöne, für künstlerischen Lebensstil. Ich hätte in solche Jacke nicht gepaßt. Und du bist noch nicht alt. Nun wirst du auf der Höhe deines fertig ausgebauten. Lebens noch Vater – und du wirst deine Vaterschaft anders genießen als ich. Was heißt weise bei uns Sterblichen? Du leuchtest in deiner Wissenschaft, und ich bin der kühne Organisator geworden. Ich drücke meiner Zeit und meiner Sphäre den Stempel meines Willens auf, denn mein Wille ist allemal verläßlich in seinen Motiven. Das schafft man nicht – das wird!«

Köppen saß aufrecht. Er hielt den Kopf gehoben, als ob er fernen Stimmen lausche.

Sabine sollte Mutter werden; das war's – und lag so nahe – daß er an dieses Nächstliegende gar nicht gedacht hatte! Junghans' letzte Betrachtungen hatte er gar nicht mehr gehört. Das starke Familiengefühl, der Familienstolz, eine der Urquellen seiner Kraft, erhob sich in ihm. Er sagte eilig Gutenacht.

Er stand bei Junghans am Bette. »Wollen schlafen, mein Alter, morgen müssen wir den Inggart feiern und die Aula weihen, mit allem dem schweinsledernen Pomp, der den alten Institutionen gebührt.«

Köppen stand entschlußlos, die kurze, breite Hand des Freundes in der seinen. Er hätte gern noch gefragt, ob Junghans das für ganz sicher hielte, das mit Sabine – dies Beglückende, alle Sorgen Lösende.

Aber die Frage kam ihm ganz seltsam naiv vor. Er errötete und ging mit starkem Händedruck hinaus.

Der lange Korridor hatte ein breites Fenster. Der Vorhang war nicht zugezogen. Mondlicht fiel in breitem Milchstrom herein; eine Kirchenuhr schlug die erste Tagesstunde. Köppen fiel in einer ihm selbst nicht klaren Ideenassoziation Sabines Vater ein.

Er konnte sich nicht leugnen, daß er, er den Aufstieg dieses Mannes verhindert hatte, daß er die Stimmen der Senatskollegen bei öfteren Gelegenheiten auf entschiedenere und männlichere Persönlichkeiten gelenkt hatte, denn ihm galten nur selbstsichere Charaktere.

Der alte Rabener – ein feiner Kopf – war weich wie Wachs in der Hand seiner Frau gewesen, schlapp nach außen. Schlecht angezogen, kümmerlich in der Erscheinung.

Wie hatte Junghans gesagt: in dir stak immer der Ästhet – – hatte der ihn damals zu stark beeinflußt – überhaupt sehr oft in seiner Einflußsphäre? Vielleicht – Köppen erbleichte – auch bei Erich Hunold? – In wie hohem Grade stehen unsre ethischen Begriffe unter dem Einfluß unsrer ästhetischen Feinfühligkeit!

Und nun würde ihm die Tochter dieses übergangenen Mannes seinen Sohn gebären. Er schüttelte den Kopf. Wie einfach lag das Leben für die – Oberflächlichen.

Er starrte in die einsame Winternacht und dachte an das Kind. Er selbst wollte ihn taufen, ihn leiten Schritt für Schritt – den Sohn. Denn er forderte nun den Sohn von dem da oben.

Sein ganzes Wesen war von starker Freude durchglüht, als er endlich in seinen Kissen ruhte. Wie immer bei hochgesteigerten Gefühlen sprach Goethe zu ihm, und er empfand sich als den Wanderer im Sturm: »Allgegenwärtige Liebe durchglühst mich – beutst dem Wetter die Stirn, Gefahren die Brust. Hast mir gegossen ins früh welkende Herz doppeltes Leben – doppeltes Leben,« wiederholte Köppen in Ekstase – »Freude zu leben und Mut.«

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Lisa saß am Frühstückstisch im Geringshofenschen Hause. Sie bereitete den Tee und strich das Brötchen für den Hausherrn. Sie war schon leidlich gut Freund mit ihm, wenn man die wortkarge, abwartende Beziehung so bezeichnen wollte.

Der kleine, stark jüdisch aussehende Generaldirektor George Geringshofen imponierte ihr gewaltig, da wurde sie ganz bescheiden. Das wäre nun einmal ein Studienobjekt – sagte sie sich nachdenklich – und an den ist gar nicht heranzukommen. Schon daß er zu einer ganz andern Kategorie von Männern gehörte – dieser ›Geldmensch‹ – wie ihn alle zu Hause nennen würden – interessierte sie lebhaft. Er sollte Millionen besitzen, hatte man ihr gesagt, und seine Hand gehörte zu den mächtigsten unter den Börsenfürsten.

Was das so recht sei, die Börse, war ihr nicht ganz klar. Ein gewaltiges Spinnennetz, in dessen verschmitzt unentwirrbaren Fäden sich waghalsige kleine Fliegen, ganze Legionen kleiner habsuchtbesessener Fliegen mit ihrem schäbigen bißchen Kapital fingen? Die gewaltige Giftspinne im Zentrum schwoll und schwoll zu unerhörten Dimensionen?

Ganz richtig schien ihr dieses Bild aber doch nicht zu sein. Die Börse war wohl vielmehr ein ungeheurer Tempelbau, ein imaginärer natürlich, in dem man dem Mammon und dem Baal opferte – das Gold um des Goldes willen anbetete. Mitten in dieser hellen christlichen Welt, mitten im übersichtlich paragraphierten Polizeistaat ein Überbleibsel aus semitischen, oder gar aus heidnischen Zeiten.

Aber das stimmte auch nicht. Das Gold war nur Mittel zum Zweck. Es gab den Führenden gewaltigen Einfluß, es regelte den Blutstrom im Völkerleben. Diese unheimliche Schmiede, die Börse, konnte Werte schmieden und Werte zerhämmern; Unternehmungen bis zu den Wolken heben – und andre in unergründliche Tiefen stürzen.

Ich bin doch wohl schon ein bißchen klüger geworden – dachte Lisa vergnügt. Der Luxus des Hauses blendete sie weiter nicht, das war nur ganz selbstverständliches Beiwerk.

Um acht Uhr am Morgen saß sie dem Hausherrn allein gegenüber, da Frau Carri – ihr wirklicher Name Klara paßte nicht zu ihr – erst nach zehn Uhr erschien. Sie machte wunderschöne Musik und sah Künstler und junge Literaten um sich. Das gehörte zum Zuschnitt dieser Häuser. Es war ein Sport für diese Damen, auftauchende Talente leise und geschickt zu fördern. Man ließ sie später fallen, wenn sie sich trotz aller Hilfen nicht behaupten konnten.

George Geringshofen nahm von solchen Scherzen keine Notiz. Er bewegte sich ausschließlich in seiner eigenen Einflußzone, die alle seine starken Verstandeskräfte in Atem hielt. Daß Carri da ein junges Mädchen, eine Professorentochter ins Haus genommen hatte, das im Warenhaus soziale Studien betrieb – denn daß die achtzig Mark Monatsgehalt den Ausschlag gegeben haben könnten, suchte Albert Lenders Schwester zu vergessen, – hatte Geringshofen mit höflich-nachsichtiger Ironie mitangesehen. Ein neues Spielzeug für Carris viele müßige Stunden. Schade um das hübsche Kind, Carri würde es bald fallen lassen. Dann würde er hilfreich einspringen wie schon öfter, natürlich ganz diskret.

Und diese kleine Grundmann war ja wohl aus der Universitätsstadt, in der sein Schwager Lender – –?

Bei diesem Gedanken hatte er die junge Lisa zum erstenmal ganz eingehend angesehen, mit einem seiner schweren, prüfenden Blicke, die tief unter breiten Lidern hervorkamen, mit denen er auf wenig Menschen und Dingen verweilte, weil ihm so leicht nichts der Beachtung wert schien.

Sie will sich bei mir beliebt machen, dachte er, als er sie am Frühstückstische antraf.

»Warum stören Sie sich so früh, Fräulein?« hatte er nicht eben ganz höflich gefragt.

Und Lisa hatte gelacht. »Ich sehe mir dieses Museum an. Aber das macht schrecklich hungrig, da hat mich der Frühstückstisch gelockt. Wenn ich störe –«

Er winkte abwehrend mit der Hand. »Ja, solches Haus ist wie ein Museum. Aber Sie möchten wohl auch später mal in solchem Museum wohnen?«

Sie hatte ihn versorgt und sich auch; nun rückte sie sich mit begehrlichem Blick das silberne Kuchenkörbchen näher.

Sie hat eine schöne, schlanke Hand, dachte er, die sicher gern zugreift. Alle griffen heißhungrig zu, die in seine Nähe kamen.

»In solchem Museum wohnen?« Lisas Blick flog über die olivfarbene Seidentapete mit den Bildern in schweren Rahmen; über Schränke und Kredenzen aus alten Klosterrefektorien. Die Fenster gingen über den Vorgarten auf die Bäume des Tiergartens. Der Schnee sank leise und begrub alle Flächen unter seinem Flimmerpolster. Das Haus war feierlich still, und da saß ihr nun der kleine ältliche Herr gegenüber, der sich doch nur in herablassender Laune mit ihr abgab.

»Ich weiß doch nicht, ob ich möchte,« sagte sie endlich, »Wald und Wasser ist meine Heimat, so ganz anders; und mitten in einer Gelehrtenrepublik habe ich gelebt.«

»War es denn eine ehrliche Republik?«

Lisa stutzte, dann lachte sie. »Es gibt da allerdings große Hechte, ganz mächtig große – und dicke träge Karpfen – und kleine Gründlinge, die vor den Großen zittern.«

Sie errötete tief. Hieß das nicht ihre heimische Welt herabsetzen vor einem, der vielleicht gar keinen Einblick in die starken geistigen Ströme hatte, in die Schatzkammern solcher Hochschule, die unablässig bohrt, entwickelt, Licht spendet?

»O,« sagte sie eifrig, »wir haben aber prachtvolle Menschen.«

Sie gefiel dem ernsten Manne. Er begriff nur nicht, warum sie sich so zwecklos herumtrieb. Sein Argwohn erwachte wieder. »Gehört mein Schwager Lender auch zu den prachtvollen Menschen?« fragte er mit einem Lauerblick.

»Nein, für mich nicht,« sagte Lisa, »er hat wohl nicht das Schwergewicht in seiner Natur.«

Lisa schwieg nachdenklich, und Geringshofen stand etwas zu schroff auf. Sie wird sich schon zu ihm eine Gasse bauen, diese Kleine – dachte der Mann, der allzuoft die Leute betteln und feilschen sah.

Lisa fiel in Grübeln, als sie allein war. Der Mama schrieb man doch nur Gutes; Sorge und Enttäuschung behielt man für sich. Keine ihrer unklaren Erwartungen hatte sich erfüllen wollen. Sie hatte Fühlung mit den Gefährtinnen gesucht, auch wo sie Abneigung fühlte. Sie war mit flanieren gegangen, hatte sie auf ihre Stube zum Tee gebeten, sich inständigst bemüht, in diese neue Lebenssphäre einzudringen. Bei fast allen war es das gleiche gewesen: sie haßten ihre Tätigkeit, ihre Chefs, das Publikum, dem sie dienen mußten. Die meisten hatten ihr Verhältnis, darin gingen sie auf; für sie begann das eigentliche Leben erst mit dem freien Abend. Dann fanden sich die Pärchen in der dunkeln Straße und verloren sich im Menschenstrom. Die alle konnten Lisa nicht gebrauchen.

Einige von den älteren unscheinbaren Mädchen nahmen an kaufmännischen Abendkursen teil und trugen Mark für Mark auf die Sparkasse. Noch andre, nur eine kleine Gruppe, liefen zu den Vorträgen der Frauenkämpferinnen. Denen hatte sich Lisa angeschlossen. Es war schon schön gewesen, da zu sitzen. In dieser Ruhe erholten sich die angespannten Nerven. Da hielten kluge Frauen ihre Reden. Danach schien es, als ob das Frauenlos licht und freundlich werden müsse, sobald man nur die richtigen Organisationen geschaffen hätte. Bildung und Aufklärung sollte verbreitet werden – und alle die klugen leitenden Damen, die da sprachen, standen in einflußreicher Öffentlichkeit.

Lisa aber fuhr durch den Sinn, daß Onkel Wesemihl sagte: Kranke Zeit, miserablige Zeit, die solcher gewaltigen Apothekerei bedarf!

Und dann eines Tages hatte da oben auf dem Rednerpult eine junge Person gestanden, die der Vorstand wahrhaftig nicht zugelassen hätte, wenn er ihre Absicht gekannt hätte. Die predigte einfach den Genuß der Stunden, denn das Heer der Arbeitswilligen schwölle an von Tag zu Tage. Unsre Töchter schon, gar die Enkelinnen – sie werden den Arbeitsmarkt umlagert finden, ersaufend im Angebot von Millionen geschulter Hände. Der ganze Arbeitsidealismus der heutigen Frauen, der immerzu neue Kräfte zur Ausbildung wirbt – alles das ein Raubbau an der Zukunft. Für jeden vakanten Posten bietet das kommende Geschlecht ein Bataillon gut ausgebildeter Bettlerinnen.

Die Diskussion war zur Schlacht geworden. Lisa war dem Ausgang zugestrebt. Sie wandte sich an der Tür noch einmal dem Rednerpulte zu. Da stand die junge Fanatikerin mit dem harten, eckigen Nihilistenkopfe und schrie, die gelblichen Hände fest auf die flache Brust gepreßt: »Darum, die ihr in den heutigen Tag hineingeboren seid, genießet die Stunde« – und von der Gegenseite schrieen sie: »Herunter mit der Närrin von der Tribüne – herunter!«

Lisa war die kahle graue Hintertreppe hinabgeflogen. Das Lokal lag weit jenseits des Hallischen Tores. Sie war die ganze Friedrichstraße entlang gelaufen, aufgeregt, mit brennenden Augen. Nie noch hatte sie solche Leidenschaften aufeinanderprallend erlebt. Sie verstand: was die kleine heisere Nihilistin da in den Saal hineingeschrieen hatte, das war nicht Frivolität gewesen, sondern Verzweiflung an der ganzen Zeit mit ihren unlösbaren Konflikten. Allmählich, im glänzenderen Teil dieser strotzend lebendigen Verkehrsstraße, hatten Licht und Lärm noch zugenommen. Man hatte sie angesprochen. Ein großer Mensch in kostbarem Pelz war ihr unverdrossen gefolgt, sich mehrfach mit leise gemurmelten Worten an ihre linke Seite schiebend. Sie hatte ihn mit großen, zerstreuten Augen angeblickt; die freche Zudringlichkeit war ihr erst zum Bewußtsein gekommen, als sie schon sicher in ihrer warmen, hellen Stube gesessen hatte.

Von da an war sie entmutigt gewesen. Solange man ihr von nützlichen und wohltätigen Organisationen gesprochen hatte, von Hebung und Segen der Arbeit, hatte sie kindlich gedacht: an alle dem will ich teilhaben; ich will helfen, euch zu fördern, ihr Schwestern – heute noch nicht – aber ich werde schon wachsen. Sie hatte bitterlich geweint, ganz hoffnungslos über die ungeheuern, nie zu überbrückenden sozialen Gegensätze; die Weltstadt hatte ihre kindlichen Augen geöffnet. Sie war sich auf einmal hilflos und kindisch und verlassen vorgekommen. Es gab keine Handhabe für sie, etwas zu leisten; sie lief nur so mit und keiner brauchte sie.

Am Tage nach diesem Erlebnis hatte Albert Lender mit seiner Schwester vor Lisa gestanden, und es war ihnen leicht geworden, das Mädchen in die Tiergartenvilla zu entführen.

Ludwig hatte sie mehrfach besucht, in elegantester Aufmachung. Wir beide müssen reich heiraten – hatte er gesagt.

»Wer sich so glücklich verlieben kann!« hatte sie mit gerümpfter Lippe gesagt.

Er hatte gelacht. »Ich nehme dem Teufel seine Großmutter, wenn ich dadurch eine Zeitungsredaktion bekomme, so ein göttlich rücksichtsloses Blatt der Jungen. Ich werde auch ins Examen steigen, es gehört hier mit zur Toilette.«

Und ich weiß nicht, grübelte Lisa, was ich mit der nächsten Stunde anfangen soll. Heimkehren? Es gab kein Heim für sie. Dennoch schriftstellern? Sie war schwer entmutigt: ich habe von allem nur das Äußerliche erfaßt – als säße ich in einer Glaskugel und der Herzschlag des Lebens könne nicht zu mir dringen.

Oder – es kroch langsam an sie heran – doch den Lender nehmen? Den ›kleinen‹ Lender mit seinem fatalen Lächeln, als ob er Gefühl und Leidenschaft und alle großen Ideen, an denen in dieser Epoche die Menschheit zehrt, mit einer Beimischung – ja, wie nur? – nicht von Spott, so hoch schwang er sich und so kühn gab er sich nicht – nein, mit einer Beimischung von hochmütig spielerischer Spöttelei betrachte. Ein Pessimist, wie er sich selber nannte. Er hatte Lisa einmal die Parerga von Schopenhauer gebracht, und sie hatte oberflächlich darin geblättert und sich flink ein paar Schlagworte angeeignet. Er hatte zu ihr – zwischen Fisch und Braten – vom buddhistischen Nirwana geschwärmt, dem endgültigen Auslöschen nach dem Tode.

Lisa lachte vor sich hin: so hatte er auch mal in einer Tanzpause kokettiert, während er ein Gläschen geeister Bowle in kleinen Schlückchen zu sich nahm, denn Lender war hinter den Süßigkeiten her.

Und dieser Nirwanaschwärmer sollte seinen Vorteil verstehen wie so leicht kein andrer. Eine Spürnase wie ein Pointer – hatte Fitting von ihm gesagt. Jesus, der Lender nun doch noch? – Frau Carri fragte nach Lisas »Studien«. Ihr Gesicht war gespannte Aufmerksamkeit. Dabei lag in ihren Augen: wir müssen nun schon unsre Komödie weiterspielen. »Sozial,« das ist nun mal heute die Losung, das interessiert; drum bist du mit deiner naiven Abenteuerlust darauf verfallen. Als Frau Albert Lender kannst du dir alles Soziale aus der Vogelschau betrachten.

Lisa lernte viele Menschen kennen, lauter schwer reiche Leute und ganz erfüllt von den Weltstadtinteressen und der gerade geltenden Modekunst. Sie betrieben diese Dinge wie eine Arbeit und rechneten sich das als Verdienst an, was im Grunde nur krampfhaftes Zeittöten war. Ludwig kam oft ins Haus. Er hatte das wunderliche Amt eines Privatsekretärs bei Geringshofens Schwester, der verwitweten Sarolta Beheim angenommen.

Solches Menschenkind war der urgesunden Lisa noch niemals begegnet. Sie besuchte die Dame auf Ludwigs Wunsch. Frau Beheim küßte Lisa auf beide Wangen, wenn man den müden Hauch kühler Lippen einen Kuß nennen kann.

Die kleine Dame mit den eingesunkenen Augen und den dunkeln Cleoscheiteln steckte in schleierartig losen Gewändern aus dunklem Karmeliterbraun, gegürtet mit einem Strick. Aber dieser Strick war ein Seidengeflecht, mit Diamanten inkrustiert, eine bloße Modespielerei.

»Sie dürfen Ihrem Bruder Glück wünschen,« hatte eine Stimme gesagt, die aus weiter Entfernung zu kommen schien, »ich freue mich, er hat gestern promoviert.«

Ludwig hatte am Schreibbureau gesessen, und Lisa flog auf ihn zu: »Weiß es die Mutter, weiß es Onkel Wesemihl? Gehst du nun zunächst ans Gymnasium?«

Ludwig ärgerte sich; subalterne Fragerei – eine von zu Hause! Denken gleich an das Stück Brot, dessen der Mensch für seinen irdischen Tag bedarf. – Ho! sie würden sich wundern, alle die Guten da am Bodden.

Komisch, dachte Lisa, daß Ludwig es in dieser überhitzten, parfümierten Luft, neben diesem Schattenwesen aushalten konnte. An dieser Beheim war alles künstlich, und Ludwig huldigte ihr doch ganz sichtbar.

Währenddessen sprach die schleppende Stimme immer weiter: eine Kraft wie Doktor Grundmann gehöre an die Spitze eines großen Blattes. Sie habe für ihn das ›Forum‹ angekauft. In Frankreich gingen alle großen Staatsmänner vom Barreau oder von der Journalistik aus.

Lisa fand das wunderschön von der Dame. Von späten Leidenschaften ahnte sie nichts, solcher müßig alternden Frauen, die mit zu spät erwachten Sinnen alle starken Lebensreize nachholen wollen. Ludwig brachte seine Schwester nach Hause; er antwortete nur zerstreut auf ihre vielen Fragen. Wenige Wochen noch, dann saß er fest im Sattel.

Und die kleine Dame Sarolta? – nun – sie bekam, was sie wollte, wonach ihre späte Leidenschaft schrie. O, er würde gut zu ihr sein, sehr nett, ein bißchen söhnlich von Anfang an. Sie würden sich Beheim-Grundmann nennen und ein großes Haus machen. Die Beheim-Grundmanns – das klang nach Solvenz und Lebensstil. Die blonde Liebste seines letzten Sommers tauchte in seinen Gedanken auf. Er lächelte flüchtig über seine Schwester Olli und zuckte die Achseln. Die ganze Vergangenheit warf er von sich wie einen alten ausgedienten Wettermantel.

Frau Geringshofen saß am Flügel und beobachtete die Lisa, die ihr Bruder liebte. Bisher hatte er schöne Mädchen immer nur ›gern‹ gehabt. Sie fragte, während sie nur einzelne verlorene Akkorde anschlug: »Was verlangen Sie sich eigentlich für Ihr Leben, Fräulein Lisa?« – Und Lisa ließ ihr Buch sinken und antwortete ohne Zögern: »Mann und Kind.« Denn in die dunkeln klugen Augen dieser feinen, aparten Frau hinein Redensarten zu machen, wäre ihr nicht eingefallen.

Carri war von dieser prompten Antwort berührt wie von einem unbändigen Windstoß. So hatte sie nicht gedacht, als George Geringshofen um sie geworben hatte, gerade um sie, weil auch er, fein und zart, kein Vollblut neben sich hätte brauchen können. Und Lisa, die über ihr Buch fort an ihren Bruder gedacht hatte, fragte unvermittelt: »Lieben Sie Ihre Schwägerin Sarolta Beheim?«

Da lachte Carri ihr leises, gescheites Lachen: »Sie verlangen etwas viel von mir. Es ist schon alles Mögliche, daß man sich erträgt.«

»Was will sie von Ludwig?« fragte Lisa dringend.

»Nun, einstweilen protegiert sie ihn,« sagte Carri und setzte zu einer Brahmsrhapsodie ein, die mit Glanz und Feuer daherrauschte.

»Ich weiß nicht, wovor ich mich ängstige,« sagte Lisa mitten in die Musik hinein. Carri schien nicht gehört zu haben. Lieber Gott, sie hatte schon so viel Merkwürdiges mitangesehen. Es gab hier viele Naturen, auf die Zaum und Zügel als Sporn wirkten. Wirklich, man überließ am besten jeden sich selbst.

Carri schloß ihr Allegro molto und dann fing sie an, ein winziges Stellchen zu üben, eigensinnig immer wieder die paar Töne. Darüber sagte sie, als ob ihr die Worte nun erst zum Bewußtsein kämen: »Mann und Kind, klipp und klar – das setzt aber eine Leidenschaft voraus?«

Ich liebe meinen Bruder Albert – stand deutlich auf ihrem Gesicht – vielleicht gerade weil er mit den Dingen spielt – aber Leidenschaft einflößen? Der Albert – –? Sie sah Lisa durchdringend an, und die sagte verwirrt: »Oder es bleibt nur ein Traum; damit müssen sich viele begnügen.«

Sie ist reizend, dachte Frau Geringshofen – und kennt ihre Macht nicht. Sie sagte aufstehend und das Klavier schließend: »Wie ihr wollt und wie es euch gefällt.« – In der Tür zum Nebenzimmer sagte sie noch über die Schulter fort: »Es gibt Nachtwandler, mein liebes Kind, die gar nicht merken, wenn sie alle Trümpfe in der Hand haben.«

Lisa starrte in den Flockentanz. Wozu bin ich nun in die Welt gelaufen? – Weil ich Rudolf Rabener entfliehen wollte, um Ollis willen. Onkel Wesemihl hatte mal gesagt: es steht immer schlecht um ein Unternehmen, wenn man mehrerlei Motive dafür braucht. Ein Motiv muß so stark sein, daß alle andern dagegen zurücktreten. Olli war ihr Hauptmotiv gewesen, und Olli war ihr noch die erste Zeile schuldig, nach mehr als vier Monaten. Mutter schrieb, die Olli ginge zum Frühling nach London zu Bibliotheksstudien. Du mußt heiraten, mein Hühnchen – schrieb sie – aber Olli mit ihrer herben Schwere bleibt besser für sich. – Gott, Mutter! Hatte die ihre wirklich keine Ahnung von den Unterströmungen im Seelenleben ihrer Kinder? Auch solche gute leichtlebige Mama wie die ihre nicht? Nein. Mama Valeska konnte mit ihren Kindern lachen oder weinen, ganz nach der Gelegenheit. Aber sich einfühlen in Nerven und Seele einer andern Natur – nein, dafür war sie zu froh und zu robust.

Und ihr selbst blieb Albert Lender! Mein Antipode, mein Antipode – stöhnte Lisa und starrte am Fenster in den Flockentanz – als ob die Tragödien des Alltags nicht die schlimmsten wären – eine verzweifelte Verbindung, die eine Kette schmiedet für ein ganzes langes Gemeinschaftsleben! Lisa biß die Zähne zusammen. Das eine sprach ja doch für den kleinen Lender, daß er sich auf ein ganz armes Mädchen verbiß. Ich kapituliere ja wohl schon – sie krampfte die Hände zusammen.

Mama hatte Geld geschickt, Lisa konnte doch nicht in ihren Fähnchen – Lümpchen schrieb Mama – in dieser Umgebung bleiben. Frau Geringshofen fuhr mit ihr zur Stadt. Sie antichambrierten bei der großen Schneiderkünstlerin vor der großen brokatbehangenen Tafel, auf der indische Seidenstoffe und italienische Spitzen lagen, englische Tuche von seidiger Feinheit und uralte chinesische Stickereien. Frau Carri hielt sich für sie in ganz vernünftigen Grenzen; und dennoch dachte Lisa: ich muß den Lender nehmen – und kann ich's nicht zwingen, dann muß ich mich ja totschießen. Solche Ausgaben kann ich nie und nimmer zu Hause beichten; das ist dort eine andre Welt, der Natürlichkeit um hunderttausend Meilen näher. Da wurzele ich mit beiden Füßen darin.

Lisa hätte sich nicht träumen lassen, daß auch Herr Geringshofen sich Sorgen über ihre Kleiderpracht machte. Er sah sie öfter zögernd an, setzte zum Sprechen an und schwieg dann doch verlegen. Er hatte einfach überlegt, ob er der jungen Dame Geld anbieten dürfe, und daran hatte sein Zartgefühl gestockt. Die junge hübsche Person ging jetzt anders angezogen als sonst wohl so ein Provinzmädchen. Das war Carris Werk und mußte wohl auch so sein. Aber das ging vermutlich weit über die mütterliche Kasse hinaus. Geringshofen hatte die phantastischen Rechnungen der Damen, die den kleinen schmalen Körper seiner Frau bekleiden durften, oft mit verwundertem Lächeln zur Zahlung an die Kasse gewiesen. Wenn die Mama, diese Professorenwitwe, die Gewänder der blonden Lisa bezahlen sollte – Geringshofen runzelte die Stirn – o nein, das ging ja gar nicht. Aber der freie, helle Blick des Mädchens scheuchte ihm sein gut gemeintes Anerbieten zurück. Und Carri nahm diese Verlobung für sicher an, wenn sie denn doch Frau Professor Lender wurde –! Dann vergaß er diese Sache, denn es waren doch immer nur Sekunden, in denen seine Gedanken sich mit so nebensächlichen Dingen beschäftigten.

Das mußte man Lender lassen, er wußte seine schöne Provinzlerin in diesem Leben der Millionenstadt herumzuwirbeln. Sie sah jetzt Bilder kilometerweise – wie sie nach Hause berichtete – sie hörte Musik, besuchte Premièren und führte den gehaltlosen Müßiggang, den sie rings um sich her sah. Sie fing bei einer Abendtafel an zu lachen, als ein junger Offizier sie auf Ibsen anredete; das war ihr an drei Abenden der Woche begegnet, immer dasselbe Thema – Gott, die jungen Herren gaben sich ja solche Mühe. Sie wurde gleich wieder ernst; fragte sich, ob ihr guter Freund Otzen auch so schweres literarisches Geschütz aufgefahren hätte; der Friedrich von Otzen mit dem hochmütigen Junkerprofil und den vollen scherzgeschürzten Lippen. Nein, der war auch in Feld und Wald, da am Wasser groß geworden, und der Gesprächsstoff war ihnen zugeströmt wie das liebe Leben. Oder man schlenderte zusammen und sprach gar nicht, wußte nur, daß man nebeneinander schritt und daß Leben Genuß, und Heimat Paradies sei. Gleich darauf gab sie ihrem eifrigen Tischherrn ernsthaft und höflich Bescheid. Was ging sie der Friedrich von Otzen an. Mit keinem mehr würde sich je so schreiten lassen – mit Lender würde sie ihr Auto haben, mehr: da würde sie ihrer Familie aufhelfen können, würde der Onkel Franz nicht ihr Gewissen zerreiben, der lange Onkel Wesemihl mit seiner unbequemen famosen Rechtschaffenheit, der für sie als kleine Dirn' gleich nach dem lieben Gott gekommen war.

Am meisten Glück hatte Lender, wenn er der Lisa Berlin zeigte, wie es arbeitete; den Massenverkehr auf den Untergrundbahnen, wie sie dann wieder ins Freie, in das Sonnenlicht glitten, still und glatt die ungeheure Menschenfracht ihren Zielen zutragend. Zu Volksfesten, in Asyle, Ausstellungen ließ sie sich bringen. »Was wollen Sie denn da, Lisa?« fragte ihr unermüdlicher Begleiter, und ihr fiel seit Wochen schon die vertrauliche Anrede gar nicht mehr auf.

»Mich für dies ungeheure graue Steinmeer begeistern, für alles, was hier ist und wird,« sagte sie leise, »damit ich begreifen lerne, daß Menschen hier leben können.«

Einmal standen sie oben auf der Galerie in der Börse. Sie konnten sich nur durch Zeichen verständigen, so rasend lärmvoll brandete da unten in den beiden gewaltigen Hallen der Fonds- und der Produktenbörse das Geschäftsleben. Ein Meer war es von durcheinanderschreienden, wild bewegten Männern, viele mit dem Hut auf dem Kopfe, mit schon heisern Stimmen sich überbietend, überdonnernd.

Dazwischen lagen für Lisas naive Augen die Inseln des Friedens, die ruhenden Pole gleichsam, wo die großen Makler ihre festen Plätze behaupten: die Lotsen, die Piloten durch die gepeitschten Wogen der Kurse, die sich bald aufbäumten, bald kraftlos zusammenfielen; endlich die ganz Gewaltigen: Herrscher, Diktatoren.

Professor Lender wußte gut Bescheid und zeigte der überwältigten Lisa auch seinen Schwager Geringshofen. Der stand da wie ein kleiner Napoleon, die Arme über der Brust gekreuzt, mit eiskaltem Gesicht schweigend, unbewegt von dem Treiben um ihn her.

»Wo ist alles das Geld, und wo lagern alle die Massen Getreide, um die sie handeln?« fragte Lisa.

Albert Lender drehte sein Bärtchen und hatte sein gewisses Lächeln: »Das ist genau wie bei uns in den abstrakten Wissenschaften, Fräulein Lisa, – es handelt sich überwiegend um imaginäre Werte.«

Lisa wollte lachen, aber dann seufzte sie ganz insgeheim. Auf die Dauer würde Lenders Witzelmanier hart zu ertragen sein. Sie fuhren dann in der Autodroschke zur Rousseauinsel; sie liebten beide das flotte rhythmische Fliegen über die klingend blanke Eisfläche. Da stand sie plötzlich knapp vor Friedrich von Otzen. Sie hatte ihn nicht bemerkt, weil Lender so lebhaft in sie hineinsprach.

Nun hielt der Otzen vor ihr, und beider helle Augen lagen fest in einander.

»Ich freue mich, Sie in so angenehmer Gesellschaft anzutreffen, gnädiges Fräulein,« sagte Otzen eiskalt, »ich habe hier in Berlin recht dringend zu tun; Sie wohl auch?«

»Gewiß – sonst wäre ich nicht hier.« Lisa machte ihre Augen schmal, wie sonst nur kurzsichtige Leute tun. So ein guter Freund hätte doch wirklich nach der langen Zeit freundlicher sein können. Nun stand er fremd und hochmütig vor ihr, dieser Freiherr! Und sah von solcher Höhe auf den kleinen Lender herab, ganz entsetzlich arrogant. Und Albert Lender war blaß geworden. Er fröstelte leicht und schien auch ärgerlich. Der Otzen war ja nun gar nicht mehr Student, Agronom. Der war Großgrundbesitzer und ganz geschwollen von Reichtum und Selbstgefühl. Das sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich – aber es war doch nun mal so.

»Ich wünsche Ihnen guten Erfolg für Ihren Aufenthalt hier, Herr von Otzen,« dann grüßte sie höflich und fremd, Friedrich von Otzen war entlassen. Er sah sich betroffen nach der schönen jungen Dame um, die im goldbraunen Tailormade, den großen Federhut auf dem wehenden Blondhaar, neben ihrem kleinen Partner davonflog.

»Wenn ich dich jemals in meine Hände kriege, du Racker,« dachte Otzen grimmig und verliebt – aber das war nun wohl vorbei.

Kurz vor der Börsenstunde heute hatte der junge Otzen im Bankgebäude vor Herrn Geringshofen in dessen Empfangszimmer gestanden. Fast wäre er unten am Portal wieder umgekehrt. Er wollte doch wahrhaftig keine Frau, die er dem kleinen Lender abspannen mußte. Nun stand er doch vor diesem Herrn mit dem forschenden Blick.

»Ich glaube, mein Name ist Ihnen nicht ganz fremd, Herr Generaldirektor,« sagte der blonde Friedrich, »mein Großvater, um den ich Trauer trage, hatte sich öfter Ihres Rates zu erfreuen.«

»Ich bin dem Herrn Baron in Gesellschaft begegnet, wenn er zu den Herrenhaussitzungen hier war. Wir haben dann geplaudert. Geschäftlich verkehre ich persönlich nicht mit dem Publikum.«

»Ich komme auch nicht in geschäftlichen Angelegenheiten.«

»Ich bitte Platz zu nehmen.« – Geringshofen war gespannt, was dieser prachtvolle weizenblonde Obotrit von ihm wünschen möge.

»Sie haben eine junge Dame als Gast in Ihrem Hause,« sagte Otzen. Er saß wieder in seiner Lieblingsstellung, vorgebeugt, die Hände zwischen den Knieen herabhängend. Er zögerte weiter zu sprechen. Es kam ihm auf einmal wunderlich vor, daß er diesem Geldfürsten mit dem antiken scharfen Hebräerkopf mit einer Mädelgeschichte kommen wollte. Aber er reckte sich gleich straff aufrecht; es ist keine Mädelgeschichte, wenn Friedrich Otzen sich seine Frau sucht.

»Allerdings,« sagte Geringshofen langsam. Nichts rührte sich in seinem Gesicht, aber innerlich war er amüsiert. Die Angelegenheiten der schönen Lisa verwickelten sich.

Dieser junge Obotrit errötete. »Ich liebe das Mädchen,« sagte er sehr leise, und Geringshofen warf unwillkürlich einen Blick über dieses Gemach von magistraler Strenge, in dem man sonst nur über – dieser junge von Otzen würde sich vielleicht ausdrücken: über mammonistische Transaktionen verhandelte.

»Würden Sie das nicht besser der jungen Dame selbst sagen?« fragte er sehr sanft.

»Es ist da ein Hindernis,« sagte der junge Mensch finster und knetete aufgeregt seine Handschuhe, die er in der Erregung abgestreift hatte, »es steht mir ein andrer Bewerber im Lichte.«

»Warum nicht dennoch – Aussprache klärt jede Situation –,« schlug Geringshofen lächelnd vor. Er fühlte sich völlig als Neuling in der Rolle, die dieser junge Mann ihn spielen ließ.

»Wenn sie den andern nimmt, dann hätte meine Erklärung keinen Sinn. Dann paßt das Mädchen nicht zu mir, nicht auf den Platz, für den ich eine Herrin brauche.«

In Anbetracht, daß es sich um seinen Schwager Lender handeln mußte, war dieser junge Herr etwas dreist. Man kann es nicht gut anders ausdrücken, dachte Geringshofen. »Ich weiß nicht recht, was ich in dieser Sache –«

»Gestatten Sie mir den Zutritt zu Ihrem Hause,« war Otzen stürmisch ausgebrochen, »nicht mit einem Wort will ich die Bewerbung des andern Herrn stören. Aber so ganz abseits stehen –«

Geringshofen überlegte. Eigentlich war wohl etwas Perfidie dabei, wenn er die Hand dazu bot, Schwager Albert ein Steinchen in den Weg zu werfen. Das war ja fast schon ein Intrigenspiel. Shakespeare fiel ihm ein; er dachte an Carri – er und Carri: Oberon und Titania – der ernsthafte Herr mußte lachen.

»Wenn Sie meine Frau aufsuchen wollen, Herr von Otzen? Man tanzt morgen abend bei uns. Wenn Sie sich als von mir geladen vorstellten?«

»Sie sind mehr als gütig,« rief der blonde Friedrich stürmisch, und Herr Geringshofen, indem er seine feine Hand dem gewaltigen Drucke entzog, sagte: »O ja, ich bin sogar schon beinahe ein bißchen perfide.« Otzen war schon an der Tür, da rief ihm der gut gelaunte Herr noch nach: »Die junge Dame fliegt um Mittag meist auf dem Eise der Rousseauinsel herum. Sie ist wohl überhaupt eine Fliegernatur.«

»Ich würde ihr die Schwingen schon beschneiden,« sagte Otzen grimmig.

»Aber bitte, sanft – nicht grausam,« plädierte der Generaldirektor und Börsenfürst für die Lisa Grundmann.

Und also prallten die zwei jungen Kraftmenschen aufeinander, während die Wintersonne die bunte Menschheit auf dem Eise überglitzerte. So blitzten sich die scharfhellen Augenpaare feindselig an. Aber Lisa wurde danach des Laufens schnell satt. »Immer wenn ich mit Ihnen bummle, versäume ich meine wichtigsten Briefe,« sagte sie unmutig zu ihrem Begleiter, »bleiben Sie nur hier, hier sind schöne Mädchen genug,« rief sie heftig, als Lender ihr die Schlittschuhe lösen wollte, und hielt einem der livrierten Grooms den Fuß hin.

Zu Hause lief sie auf ihr Zimmer, warf ihr kostbares Kostüm ab und zog eines der alten Kleidchen an. Sie reckte sich darin zurecht: mein Mutter-Valeska-Kleidchen – mein Ollikleidchen – mein liebes Heimatkleidchen! Sie streichelte den leichten hellen Stoff.

Auf dem Schreibtisch lag ein Brief von Mama. Sie warf sich in die Sofaecke und legte Mamas Briefbögelchen einzeln vor sich hin. Diese zärtlichen Briefe waren unschätzbar für sie. Die schlangen feine und feste Fäden um sie. Gott sei Dank, man war nicht ausgeschlossen, man gehörte immer noch dazu.

Mama erzählte wieder das Blaue vom Himmel – »Und nun, lieb Kind, der Rudolf Rabener – so erzählt seine Mutter – wird zum Ordinarius aufrücken, sobald sein Reisewerk heraus ist. Das geht wie gehext, wie auf Räderchen – freilich, wenn man Köppen zum Schwager hat. Fitting erzählt von der Aussicht für eine Berufung nach Tübingen. Aber der geht doch hier nicht fort vom Bodden und von uns Flachlandleuten. Und Olli nach England.« Lisa las das zweimal, dreimal. Rudolf und Olli wollten auseinanderlaufen wie zwei ganz Fremde, die sich nichts angehen. Lisa rang die Hände. –

Auch von Sabine Köppen schrieb Mama. Aus der konnte keiner klug werden. Die war doch rein gemütskrank. Sie erwartete doch ein Kindchen; junge Frauen in der Hoffnung haben ja oft unberechenbare Stimmungen. Sie schwindet hin, und Köppen sieht vergrämt aus, es packt ihn hart an. »Alles das drückt mir aufs Herz,« schrieb Mama, »und so war es mir ein doppeltes Glück, als das Telegramm ankam, die Nachricht von Ludwigs Promotion. Aber der Brief danach ist ausgeblieben; ich weiß nun gar nicht, was er zunächst vorhat.«

Lisa starrte vor sich hin. Konnte man sich von Ludwig Gesundes und Natürliches erwarten? Er würde doch nicht etwa? – o Gott, nein; das war denn doch ausgeschlossen. Sie seufzte und las weiter. Mama nahm ihr Verlöbnis mit Professor Lender nunmehr als sicher bevorstehend an: der einzige ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Kind, spiele nicht mit dem Leben.

Lisa lächelte über Mamas Zitat, sprang auf, stand vor dem Spiegel, seufzte und sah sich forschend in die Augen; dachte gar nicht an den kleinen Lender, sondern an den großen Menschen, der einmal ihr Freund gewesen war. Da war doch alles gesund, verläßlich und männlich, wo der Kleine seine Witzchen hatte, seine künstlichen Praktiken und sein verkniffeltes Lächeln.

Sie ging in die Bibliothek, wo sie für Frau Carri unternommen hatte, aufgesammelte Bücherschätze in die Regale einzuordnen. Am Billard stand Lender. Dies Spiel pflegte er, es stand ihm gut. »Nicht eine kleine Karambolage gefällig?« fragte er, vergnügt über ihre Anwesenheit.

Sie schüttelte den Kopf und setzte sich an den Schreibtisch.

Er machte noch ein paar Stöße, und gerade als das eintönige Geklapper, der Anprall der Bälle an die Bande Lisa lästig werden wollte, setzte er sich auf einen Stuhl dicht neben ihrem Arbeitstisch.

»Sie wissen wohl schon, gnädiges Fräulein,« sagte er förmlich, »daß ich Ostern wieder nach Berlin übersiedeln werde?«

Lisa sah von ihrer Liste auf. Er saß so recht im scharfen Licht. Er ist nicht sehr gesund, dachte sie; irgend etwas ist matt in ihm, Blut oder Nerven.

Er lächelte ein bißchen bitter. »Berlin ist ein schöner Boden für Ihre Empfänglichkeit, Fräulein Lisa; möchten Sie nicht hier leben und mich mit in Kauf nehmen? Sie würden es schon gut haben bei mir.«

Er hielt die Augen gesenkt, und Lisa überflog eine warme Regung. Albert Lender hatte ja so viel zu bieten, und nun war er so bescheiden. Ob sie ihn lieb hätte, fragte er zum Glück gar nicht. Ach Gott ja – zum Glück.

»Zum Romeo bin ich nicht gerade geschaffen,« fügte er hinzu, weil sie schwieg, »aber vielleicht gewöhnen Sie sich an mich.«

»Würde Ihnen denn das genügen?« fragte sie leise.

»Viele müssen sich damit begnügen – und ich hasse die großen Phrasen. Wenn Sie sagten, Sie liebten mich – tel que je suis – ich würde wieder so lächeln, wie Sie es an mir nicht leiden können.«

»Ja, Professor Lender, was bedeutet dieses Lächeln, das Sie selber lieber unterdrücken würden?«

Er seufzte.

»Meine absolute Skepsis, Fräulein Lisa. Kann ich aus meiner Haut, können Sie es? Sehen Sie, da stürzt Messina zusammen, in Brüssel brennen alte Schätze der feinsten Kunstkultur zuschanden – die Leute machen Gesichter – figures de circonstances nennt das Daudet – als bräche ihnen das Herz. Von mir erwarten sie die gleiche figure de circonstance. Aber Messina, Brüssel, die Pogrome in Rußland, alles was Sie wollen – es liegt mir zu fern, ich bleibe eiskalt, ich kann's nicht ändern. Dann überkommt mich das Lächeln, das mich selbst geniert.«

»Aber können Sie denn keine tiefe Trauer empfinden und keine freudige Begeisterung und gar kein armes bißchen Menschenliebe?« rief Lisa ganz verzweifelt.

Lenders Hand fuhr an sein weiches Bärtchen.

»Ich bin vielleicht doch etwas zu skeptisch dazu,« sagte er zögernd, »vielleicht lehren Sie mich an allerlei glauben. Sie würden viel über mich können –«

»Aber wir taugen ja nicht zusammen,« rief Lisa, »wir sind ja wie Feuer und Eis.«

Lender fuhr schon wieder an seinen Mund, ließ aber gleich die Hand wieder sinken: »Wie kann ein so kluges Fräulein so ein falsches Bild gebrauchen. Keiner ist wie Feuer, und keiner wie Eis. Nur die Mischungen sind verschieden. Und ich bin ganz entschlossen, was Eis in mir wäre, von Ihrem Feuer schmelzen zu lassen. Lisa, wollen Sie mich?«

»Ach – lassen Sie mir noch einen einzigen Tag Zeit, einen einzigen,« flehte Lisa.

Er mißfiel ihr im Augenblick gar nicht, und doch war ihr so furchtbar bange. Das wäre nun also die größte, die bedeutungsvollste Stunde, ihres ganzen Lebens Richtung und Ziel – und dabei flatterte ihr das Herz angstvoll in der Brust. Vielleicht gehörte das aber dazu. Kühlen Herzens gab sich wohl so leicht kein Mädchen in des Gatten Hand.

Lender war aufgestanden. »Ich warte schon lange,« sagte er stockend, »länger, als meiner Art entspricht. Wenn sich mir sonst ein Wunsch versagt, dann erstirbt er immer bald in mir. Die Dinge laufen so oder so, man hat sie selten in der Hand. Leben heißt schließlich sich akkommodieren lernen – es ist nicht anders. Nur Sie, Fräulein Lisa, Sie – –,« er brach ab, sah sie erwartungsvoll an, »es ist doch wohl die letzte Frist, die Sie mir auferlegen?«

Und da sie wortlos nickte, verließ er mit einer förmlichen Verbeugung das Zimmer.

Am folgenden Abend tanzte man bei den Geringshofens.

Der Tag war unbehaglich gewesen; in den meisten Räumen trieben Gärtner, Dekorateure und Tafeldecker ihr Wesen.

Das Wetter war abscheulich. Regen fiel in den Schnee, der sich in grauen Brei auflöste. Die Sonne blieb eigensinnig versteckt. Die Leute auf der Straße sahen alle kümmerlich aus, wie sie in ihren Galoschen durch den Matsch schlurften. Von den Dächern rutschten ganze Packen vereisten Schnees und platschten mit dumpfigem Aufprall zu Boden.

Frau Carri hatte sich an den Flügel gerettet. Tonleitern und Etüden. Zu andrer Musik ließen sie alle die profanen Geräusche ringsum nicht kommen.

Lisa saß nahe dabei und stichelte. Sie kam sich recht überflüssig vor.

Aber nun sollte alles anders werden. Ein eigenes Dach über dem Haupte, eins, von dem man sagen durfte: da gehör' ich hin, da und sonst nirgends.

Carri hatte eben zu ihr gesprochen. Sie fuhr aus ihrem Sinnen auf.

»Sie werden heut abend einen Bekannten unter unsern Gästen treffen, einen Herrn von Otzen,« sagte Carri nachlässig, und schaute doch scharf auf das Mädchen.

Sie spielte eine Es-moll-Tonleiter, mit großem Pathos die harmonische Form, und gleich darauf die melodische, die ihre Finger mit leichter Behendigkeit über die Tasten perlten.

Lisa schwieg und stichelte weiter.

»Sie kennen den jungen Herrn wohl nicht näher?«

»Näher – nein,« sagte Lisa phlegmatisch. Wenn schon überhaupt, dann würde sie sich heute abend unter Otzens Augen verloben, und er würde ihr Glück wünschen. Wie er doch wohl in dieses Haus kam? Sonderbar liefen oft die Dinge. Ein ekelhafter Tag – sie blickte trübsinnig durch die angelaufenen Scheiben.

Eigenes Dach. Tür, die man abschließen konnte hinter sich. Direktiven, die man sich selber gab. Denn ihr kleiner Professor würde sie ganz selbständig lassen. Eigentlich wollte sie das gar nicht. Sie – sie hätte den Herrn nötig. Lieber doch Petrucchio als – Lender.

Oder Lettehaus? Tippfräulein, Telephonistin? Man konnte es doch rein an den Fingern abzählen. Abscheulicher Tag!

Auch dieser Tag ging endlich zur Rüste. Und die kleine Tanzerei, für die sich doch Dutzende von Händen gerührt hatten, nahm ihren Verlauf. Fluten von Licht und von Düften ergossen sich durch die Festräume. Lisa hatte diesen Flügel des Hauses noch gar nicht gesehen, weil man ihn für den Alltag verschlossen hielt. Es gab ganz wunderschöne Frauen und Mädchen. Die andern, allzu üppige Matronen, all zu prunkvoll aufgeschmückt, sah Lisa gar nicht, darin hatte sie wunderbar glückliche Augen.

Auch die Herren gefielen ihr. Der Sport spielte eine große Rolle für diese ganze junge Welt. Gott ja, man tanzte auch noch. Aber Oberhof, Schierke, Davos – das waren doch die glänzendsten Freudenspender des Winters.

Famos – sagte sich Lisa – da würde ich gut hinpassen. Ihre Tanzkarte war schnell gefüllt, obschon sie mit ihrem weißen Kleidchen und ihrer Skarabäenkette nicht auf der Höhe des hier Üblichen stand.

Alle Welt redete sie auf ihre sozialen Studien an. Frau Geringshofen hatte die Parole ausgegeben.

Man hatte ihr gewissermaßen ein Etikett aufgeklebt; es war ein bißchen lästig und lächerlich.

»Heut tanz' ich,« sagte sie lachend und abwehrend.

Oben auf der Galerie, hinter Blattpflanzen verborgen, saß ein kleines Streichorchester; es klang vornehm gedämpft und prickelnd zugleich, und Lisa flog von Arm zu Arm. Immer wieder kam Albert Lender. Er tanzte gut, aber er ermüdete schnell, dann führte er sie in den Wintergarten, wo man sich ruhen und plaudern konnte. Oder schweigen. Aber das Schweigen brach sie schnell, denn es machte ihr Herzklopfen.

Heut abend bin ich Braut – sagte sie sich.

Dann stand Otzen vor ihr. Er war spät gekommen und hatte sich lange mit Frau Carri unterhalten; hatte sich vielen Leuten vorstellen lassen und mit sicherem Blick die schönsten Mädchen zum Tanze geholt. Sie tanzten gern mit ihm, schien es.

Was geht's mich an, dachte Lisa – heut abend bin ich Braut.

Nun stand Otzen vor ihr, machte seine Verbeugung, in die sie sich mit dem kleinen Lender teilen konnte. Der saß abgespannt und fächelte sich mit seinem Claque.

»Meine Karte ist gefüllt,« sagte Lisa und reichte ihr Elfenbeintäfelchen.

»Ich wollte auch nur um eine Extratour –?«

Er verbeugte sich fragend vor Lender.

Und dann flogen sie davon, und sie blickte in seine Augen, die er nicht einen Augenblick von ihr ließ. Die beiden Augenpaare sprühten Kälte, und Lisa sagte leise und fest: »Herr von Otzen, heute abend bin ich Braut, sobald die Gäste das Haus verlassen.«

Wenn sie ihm doch damit eine Wunde schlagen könnte.

Er antwortete nicht. Sein Arm lag stählern fest um ihre Taille, und sie biß die Zähne aufeinander und dachte: recht so, zerdrücke mich, dann bin ich alles los.

Aber er zerdrückte sie nicht. Er führte sie zu ihrem Sessel zurück, verneigte sich dankend vor Lender und gleich darauf sah ihn Lisa mit einem wunderschönen Mädchen davonwirbeln.

Das Paar glitt im Walzer vorüber, lächelte sich an. Die Schultern der Schönen stiegen aus kostbarem Spitzengeriesel auf. Grünblasse Orchideen und matte Perlen schmückten das schmachtend geneigte dunkle Köpfchen. Sie tanzten hingegeben, versunken, wie man sich das Schweben seliger Geister vorstellt.

Was geht das mich an – dachte Lisa und preßte ihre Hand auf das Herz. Sie hätte in die Winternacht hinausrennen mögen. Nur noch eine Stunde Frist. Dann ist die Jugend, dann ist die selige Zeit aller phantastischen Spannungen vorbei. Dann werde ich eine ganz brave kleine Frau Lender werden. –

»Was haben Sie denn, Fräulein Lisa?« fragte Lender besorgt.

Aber die Lisa lachte und wischte mit ihrem Spitzentüchlein über ihr Gesicht. »O gar nichts, es war mir nur ein Stäubchen ins Auge geflogen.«

Das Souper nahmen sie an kleinen Tischen im Palmengarten. Die Musik mit ihren sinnlich-sentimentalen Walzerklängen drang nur ganz von fern herzu.

»Wo ist nur mein Bruder Ludwig,« fragte Lisa ihren Tischherrn Lender, »ich habe doch selber die Karte für ihn geschrieben. Aber ich habe ihn nirgends entdeckt.«

Lender spielte mit Lisas kleinem Fächer: er hatte noch nie ein so unscheinbares Dingelchen in der Hand gehabt. Er schwieg.

»Warum zwirbeln Sie nun wieder Ihren Schnurrbart,« fragte Lisa ungeduldig, »wissen Sie irgend etwas von Ludwig?«

Lender sah tiefsinnig in seinem Sektglase dem Spiel der Perlchen zu, wie sie aufstiegen und an der Luft zergingen.

Also hatte George ihr noch nichts gesagt. Dumm; er hatte sich so fest darauf verlassen.

Mitten in seinen Verdruß hinein mußte er lachen. »Dann wissen Sie also noch gar nicht, daß Ihr Bruder Georges und Carris Schwager wird? Und daß wir zwei, Sie Lisa und ich, also auch um einige Ecken herum verwandt sein werden? Wir haben es selbst erst vor ein paar Stunden erfahren, aber in der Luft hing es schon seit geraumer Zeit.«

»Mein Bruder Ludwig heiratet diese fürchterliche Sarolta Beheim?« rief Lisa entgeistert.

»O – o, Fräulein Lisa,« sagte Lender mit seinem fatalsten Lächeln, »höflich sind Sie nicht. So ein weltkluger Mensch heiratet in solchem Fall nicht nur eine Frau; er heiratet eine ganze Situation mit sehr, sehr vielem Drum und Dran. Sarolta Beheim ist heut nachmittag nach Nizza abgereist, und Ludwig folgt ihr, wenn er Papiere, Aufgebot und noch allerlei erledigt hat. Es gilt da wohl auch noch ein Abschiednehmen.«

»Ich schäme mich,« sagte Lisa tonlos.

»Sie – – –?«

»Ich schäme mich in den Boden hinein. Mein Gott – wie grenzenlos ich mich schäme.«

Tränen erstickten fast ihre Stimme.

»Um Gottes willen, nehmen Sie sich zusammen, Fräulein Lisa.«

Sie trank ihr volles Glas leer. Und dann wandte sie sich zu ihrem Herrn zur Rechten, einem jungen Literaten, den sie schon oft getroffen hatte; er galt als ein Schützling der Hausfrau. Ein hübscher junger Mensch, der alle Stoffe für seine gepfefferten kleinen Skizzen aus diesen Kreisen hier schöpfte, den die jungen Frauen wegen seiner verblüffend ungezogenen Feder verzogen. Einer der vielen, die zu faul für ein ernsthaftes Studium und die zu eng und flach zum Künstler sind.

Der junge Herr fing sehr flott an, diesen interessanten Gast der Geringshofens zu unterhalten. Man hatte doch allerlei gehört; das Lendersche Haus würde künftig, wohl schon sehr bald, ein Zuwachs zu den Stätten sein, an denen man sein Licht leuchten lassen konnte.

Er sprach von Björnson, von »Über unsre Kraft«, von der stillen Größe, der monumentalen Einfalt. Vom tief innerlich religiösen Glauben aller dieser Skandinaven »je höher im Norden, je einsamer zwischen ihren Schären und Fjorden – –«

Er fand plötzlich, daß die Augen der jungen Dame merkwürdig leer und abwesend auf ihm lagen.

»Nun soll denn also Onkel Wesemihl entscheiden!« sagte Lisa, ohne selbst zu wissen, daß sie etwas gesagt hatte. Und der junge Literat zu ihrer Rechten, dem nur der Name Wesemihl ins Ohr gedrungen war, fragte sich, ob es wohl denkbar sei, daß ihm ein Neuer, Dramatiker, Skandinave, unbekannt geblieben sein könne. Er zuckte die Achseln; wen man zu kennen und zu ästimieren hatte, das wußte er denn doch. Björnson und – – Wesemihl? lächerlich.

Die Diener reichten den üppigen Nachtisch. Man machte es in diesen Kreisen bei Tische dem Hofe nach und beschleunigte das Tempo.

Der junge Regierungsreferendar, der dritte Herr an Lisas Tisch – jeder Zoll an ihm sowohl Korpsstudent als Reserveoffizier – erkundigte sich nach dem Bodden und der Insel und nach Professoren, bei denen er dort ein kurzes Sommersemester lang Kolleg gehört hatte. Lisa gab knappe Antworten, ihre Gedanken waren schon nicht mehr hier. Und als auch dieser junge Herr sie nach dem Warenhaus zur Weltkugel und nach ihren sozialethischen Studien fragte, sagte sie mit heller Stimme: »Ich war dort um des Gehaltes willen, Herr von Giesebrecht. Diese achtzig Mark Anfangsgehalt für den Monat waren für mich ausschlaggebend.«

Lender fuhr erschrocken zusammen; lieber Gott – das hätte sie doch um alles nicht sagen dürfen!

Herr von Giesebrecht sah diskret auf seinen geblümten Meißener Teller: ungeschickte kleine Person; und so was traf man bei diesen Geringshofens! Der sehr hübschen Kleinen könnte man aber vielleicht mal ganz wo anders begegnen, wo man nicht so unter der Gêne stand.

Und Lisa sagte leise und warm: »Seien Sie mir nicht böse, lieber Professor Lender; das hätte ich nicht sagen brauchen. Und überhaupt, es tut mir alles so schrecklich leid!«

Lender sah sie bestürzt von der Seite an.

»Fast einen ganzen Tag lang, heute, habe ich Sie wirklich ganz gut leiden können. Aber zur Ehe langt das nicht. Morgen früh fahre ich heim.«

»Aber ich begreife gar nicht,« sagte Lender fassungslos, »das hat doch gar nichts mit Nizza und mit den zuwidern Menschen zu schaffen!«

»Doch! Das werden Sie schon begreifen. Der Ludwig hat mir einen Spiegel vorgehalten – und fast sah ich darin mein eigenes Bild. Sie überwinden's schon – und Schopenhauer hilft Ihnen, der hielt ja nicht viel von uns, vom häßlichen Geschlecht. Sie sind ein guter Mensch. Sie finden gewiß noch eine, die mit allen Fasern an Ihnen hängen wird.«

Albert Lender hatte die Brauen hochgezogen und sah spitzfindig bedenklich die Nase entlang vor sich nieder. Er war tief betrübt. Er gab überhaupt so sehr ungern eine Absicht auf, wenn schon alle Welt davon wußte. Aber wenn sie nun durchaus nicht wollte – dann am Ende, wie sagen doch schon die Franzosen? – tout passe, tout lasse, tout casse. Und eine Frau, die sich zu ihm hätte zwingen müssen! Der ›Rechte‹ bleibt nachher ja niemals aus.

Er nahm die schönsten Rosen vom Tafelaufsatz und legte sie vor Lisa hin.

Und dann zwirbelte er sein Bärtchen, um ein Lächeln zu unterdrücken. Man mochte noch so heiß lieben – ein bißchen Theater war doch immer dabei. Eine ganz verflixte Geschichte.

.

… Queensland. Erloschene Krater, Aschenkegel. Uralter Granit neben jung-eruptivem Basalt. Strotzende Goldadern im Quarz. Im Schieferton die zartesten Abdrücke von Pflanzen- und Tierresten.

Rudolf warf die Feder beiseite. Ein zärtlicher Blick flog zu der gelben fichtenen Kommode, wo er solcher kostbaren Schieferplättchen eine ganze Zahl verwahrte. Am Stony Creek, unter trockenen, höllenheißen Winden hatte er die gefunden, während der beißende Staub die Mundhöhle dörrte und die Augen entzündete.

Abgemattet, ausgepumpt hatte er danach in Brisbane auf der weit geschwungenen Brücke gestanden, von oben auf die beiden flußgetrennten Hälften der Hauptstadt Queenslands hinabgeblickt, auf das wimmelnde Leben, den Mastenwald im Hafen, das Welttreiben dieser britischen Handelsmetropole.

Da hatte er sich ein paar Tage lang gütlich getan in einem kleinen Hotel von säuberlich englischem Komfort; hatte sogar im Opernhause von einer deutschen Truppe die ›Fledermaus‹ gesehen und hätte beinahe – Rudolf lächelte vor sich hin – mit einer exotischen Schönheit soupiert, einem Produkte wilder Rassenmischung, wie sie an solchen Auslandsplätzen massenhaft gedeihen, wo die Männer zumeist Emporkömmlinge mit brutalem Erwerbsfieber sind. Up und down geht die Schaukel, da werden auch die sogenannten Lebensgenüsse skrupellos ausgekostet. Erst in der dritten, vierten Generation stabilieren sich die ästhetischen – und damit die Moralbegriffe.

Der schlanke deutsche Gelehrte hatte offenbar Herz oder Phantasie der dunkeln Schönen entflammt, die neben ihm in der Loge, etwas überladen farbenprächtig, gesessen hatte.

Das Gespräch, englisch geführt, hatte die recht reife Dame angesponnen; ihm wäre das nicht eingefallen.

Rudolf lachte; er hatte an die etwas schwüle Situation nie mehr zurückgedacht.

»O je, o je, wie rührt mich das,« summte er vor sich hin. Er war damals aus der Wildnis gekommen, hungrig nach Zivilisation. Aber für seine Ansprüche an Zivilisation war die üppige Schöne zu exotisch gewesen.

Überhaupt, wenn Rudolf zurückdachte, mit Entscheidungen – und für ihn wäre ein leichtsinniges Abenteuer schon eine große Entscheidung gewesen – hatte es bei ihm immer gehapert. Er war ihnen gern aus dem Wege gegangen. Damals war er während der Schlußtakte der genialen Operette den nachtschwarzen Augen entschlüpft, die schon Besitz von ihm ergriffen zu haben meinten.

Nachher auf der Hotelterrasse, den Blick weit über den Hafen, unter sich jenseits der Balustrade auf schiefergraues strudelndes Gewässer, bei Langusten, Sandwichs und Icedrinks, im weichen Dunkel der Tropennacht hatte er sich selbst weidlich ausgelacht: Joseph in Ägypten. Ein ganz klein bißchen mußte der gute Junge doch wohl geschwankt haben, sonst hätte die reife Potiphar schwerlich einen Zipfel von seinem Mantel zu fassen gekriegt.

Rudolf schüttelte den Kopf. Wie kommt man auf solche Gedanken, wie zur Rückschau auf so lächerliche Aventiuren!

Nun wußte er es. Damals in Brisbane hatte ihn plötzlich das Heimweh gepackt, hatte scharfe Krallen in sein Herz geschlagen. Zu Gröben nach Kairo zu reisen, war kaum ein Umweg gewesen, hatte mehr einen Ruhepunkt bedeuten sollen. Da war er dann für einige Wochen zusammengebrochen.

Nun hatte ihn die engste Heimat wieder und hatte ihm wohlgetan bis in die tiefste Seele – und nun stand er wieder vor einer Entscheidung.

Sie riefen ihn an die Eberhard-Karls-Universität nach Tübingen, das ›da unten‹ am Schwarzwald liegt. Er war einmal mit Fitting zu Fuß über den Bergrücken dort, zwischen Neckar und Ammer gepilgert. In Tübingen hatten sie Rast gemacht. Ganz lebhaft stand die frohe Wanderfahrt noch vor ihm. Im Wandern hatten sie Silchersche Lieder gesungen, hatten ergriffen am Grabe des unglücklichen Hölderlin gestanden, und ihr schmaler Geldbeutel hatte eine feine Flasche hergeben müssen zu Ehren des herzstarken Uhland.

Dann hatten sich die jungen Idealisten baß verwundert, daß man da drüben im Städtle und ringsum in der fruchtbaren, dichtbesiedelten Ebene auch Fabrikschlote sah, sogar in heller Menge; daß sie da chemische Farben kochten und Essig brauten, Handschuhe steppten und scharfe Instrumente für Chirurgen schliffen.

Alles das schwamm für Rudolfs Erinnern im Sonnenschimmer zwischen Obst- und Hopfengärten und Weinbergen.

Und über alles hinaus wiesen die vielen Kirchtürme gen Himmel, ragten das alte Schloß empor und das Stift im Augustinerkloster und die Universität.

O ja, Tübingen lag ihm fest und fein im Rückerinnern, wie ein ganz scharfes Bildchen, das eine kunstgeübte Hand mit dem Silberstift oder mit der Rabenfeder auf ein sauberes Blättchen gezeichnet hätte.

Und wie hatte Fitting neulich gesagt? »Mein lieber Junge, ich gebe dich schwer her, mir wird's hart sein. Aber die Hauptsache nimmst du mit, dich selbst, deine Arbeit, dein Ziel und – will's Gott, später deine Familie. Mach es anders als ich. Hagestolzenfreiheit ist nur ein schwächlicher Ersatz für Frau und Kind.«

»Und die Zukunftssaat? Die akademische Jugend, die Studenten – die herrlichen Jungen? Auch die, auch die sind die gleichen in jeder Alma mater.«

Das hatte Rudolf gesagt, der stille Enthusiast; nicht Fitting, der Praktiker und herzensgute, zu jeder Stunde hilfsbereite – Skeptiker, der er sich selbst dünkte.

»Na ja, die auch,« hatte er etwas trocken zugegeben.

Furchtbar schwer würde ihm die Entscheidung werden.

Wenn man in der Ebene zu Hause ist, am Salzwasser, wo das Volk sein kraftvolles Platt spricht, so kernfest und stark wie der Wintersturm, der an Tür und Fenster rüttelt, in langen Nächten pfeift und heult.

Da drunten hemmen die Bergzüge den wilden Ritt der Windsbraut. Da fließen die Wasser wohleingedämmt, idyllisch schön, gehorsam dem Menschenwillen. Der Salzhauch der Luft würde ihm fehlen, das Ungestüm der Meereswellen.

Dort auch singen die Leute, wenn sie reden; lassen Schlußsilben fallen, runden Knorren und Ecken der Sprache ab und nehmen den ganzen Mund voll mit Zischlauten, weil sie zu sprachfaul sind, die Zähne fest aufeinanderzusetzen.

Bist ungerecht, bist eben vom platten Lande – schalt sich Rudolf – wo hat je ein Volksstamm den andern verstanden! Da müßte man schon in alle Tiefen steigen und alle Gründe kennen, aus denen ein Dialekt sich so und nur so hat entwickeln müssen.

Lieber Gott, wenn's nur der Dialekt wäre! So ein Professorenkollegium kam ja aus allen Landesteilen zusammen – und den Frauen zudem stand das Schwäbeln gewiß ganz reizend.

Nein. Für sein Ohr nicht. Ja – wer eine Familie mitnähme, ein Weib, daß er die Heimatklänge immer um sich hätte, Klänge und Heimerinnern; mit der man in allen Ferien aufpackte, sich am Bodden niederließ zu froher Arbeitsrast, den Wind rauschen hörte in den Buchenkronen und den fauligen Tanggeruch in die Nase bekäme. Denn in dem allen zusammen steckte Jugend!

Der Tanggeruch der Meeresalgen, wenn die breiten fauligen Blätter handtief unter der Wasserfläche spielen – – Lisa – die Lisa Grundmann.

Heute würden sie ein Fest geben bei dem großen Geldmenschen in Berlin, hatte ihm gestern Mama Valeska im Vorbeilaufen in der Stadt gesagt, weil sie ja nie etwas für sich behalten konnte. Und bei der Gelegenheit würde sich ihre Lisa mit dem Lender verloben.

Wie so ein Duft, ja schon das bloße Denken daran, ganze Reihen von Bildern, ganze Skalen von Vorstellungen wecken kann.

Er dachte jetzt ganz ruhig an die junge Lisa, nur mit einer stillen Verwunderung, daß sie sich zutraute, mit einem so künstlich-kniffligen Menschenkinde ein ganzes langes Eheleben verbringen zu können. Daß sie das Mädchen davon nicht zurückhielten! Aber sie wußte schon selber, was sie wollte. Ihn, seine Welt, seine ganze kostbare geistige Welt, hatte sie rundweg verschmäht. Was blieb denn vom Manne übrig, wenn ein Mädchen das Imperium seiner geistigen Arbeit nicht versteht? So war sie ihm sachte aus dem Herzen geglitten, aus der Wunschsphäre seines Herzbluts. Nur ihr Bild, wie sie in lauer Sommernacht unter den Sternen von Wasserwogen sich hatte tragen lassen, wie er sie später, immer reizumflossen, erlebt hatte – das hatte sich ihm mit allem Poetischen und Sagenhaften seines Heimatbodens verwoben und verklärt. Da würde sie für immer haften.

Gehen – bleiben?

Es pochte an der Tür und der alte Fleet klemmte sich herein. Jetzt, wo für ihn wenig zu tun war, machte er sich gern hier oben zu schaffen, und das paßte Rudolf gut, dem die lautlose Stille seines Winterquartiers zuweilen etwas bänglich wurde. »Wünschen Sie etwas Besonderes?« fragte Rudolf freundlich.

Der alte Fleet, den die Gicht plagte, steckte in dickem blauem Wollwams und großmächtigen Filzpatschen. »Dor unnen is wen,« sagte er.

»Besuch?«

»Is woll sowat.«

»Wer ist es denn, Krüger Fleet?«

»Weet ick nich,« sagte der Alte verschlagen.

»Warum kommt er denn nicht herauf?«

»Is keen Er.«

»Meine Mutter?«

»I wo, de schaniert sik doch nich. De säß' doch lang un breit up Herr Professer sin Sofa!«

»Dann muß ich wohl mal selbst nachsehen.«

Rudolf war an Heine Fleet schon vorüber, da kehrte er sich nochmal zu dem Alten und packte ihn vorn an seinem Flausch. »Sagen Sie mal, Fleet, aber ganz so, wie Sie es meinen –«

»Anners red' ick nie nich.«

»Schön. Also: wenn man nicht weiß, ob man was tun oder lassen soll, wenn die Gründe für und wider gleich gewichtig sind – was dann?«

»Denn man ümmer bliewen laten,« sagte der Alte ohne Besinnen, »wenn de Minsch sin Hänn in'n Schoot leggt, denn so kann he keen Dummheten mit anstiften. Dat he sin Arwet verricht so gaud wie dat he atent, dat versteiht sik von sülben – awer doräver herut kann keen Minsch wat von 'em verlangen. – Wat het denn Herr Professer vör, wotau dat he minen Rat bruken dheit?«

»Ach, Krüger Fleet, sie wollen mich an eine andre Universität holen.«

»Ok wedder an 't Water?«

»Nein – eben nicht. Der Neckar fließt da zwischen den Bergen. Schön ist's auch in Schwaben, aber ganz, ganz anders.«

»Mich kregen keen tein Pierd furt von min Bodden un von min Hus. Herr Professer wär' jo schön dumm. De ollen Schwaben können sik wat malen laten.«

Heine Fleet war entrüstet über die Arroganz simpler Binnenländler; und Rudolf dachte, wie gut es einfältige Leute hätten, mit so unverrückbaren Leitsätzen für ihr Handeln; mit solchem fatalistischem Gleichmut, wenn wirklich die Dinge nachher schief gehen sollten.

Er warf sich seinen Wettermantel über und lief über die Straße in Frau Hannas Restaurant. Dort waren jetzt die grünen Fensterläden geschlossen, Tische und Stühle waren in einer Ecke aufeinandergebaut, denn für den wenigen Verkehr jetzt genügte die Honoratiorenstube, die wohlgeheizt und von niederdeutscher Gemütlichkeit war.

Als Rudolf eintrat, erhob sich Olga vom braunen Ripssofa hinter dem ovalen Tische.

»Welche Freude, Olli,« rief Rudolf herzlich, »wenn du wüßtest, wie sehr ich gerade heut guten Freundesrat gebrauche.«

Er warf seinen Mantel auf den nächsten Stuhl, und nun gewahrte er, daß Olli bitter elend aussah und daß sie vor Kälte zitterte.

»Ein Unfall – ein Unglück?« rief er erschrocken, »meine Mutter, oder gar Sabine – –?«

»Nein – nein, erschrick nicht so –,« Olli fiel auf den Sitz zurück. Sie war zu schnell gelaufen, wie sie immer in der Erregung tat, und konnte nicht weitersprechen.

»Also du selbst, etwas mit dir,« er nahm ihre kalten Hände in seine warmen, ließ sie aber gleich los, lief an das Tapetentürchen und rief nach Wein und heißem Tee.

Er nahm Olli behutsam den Hut ab und drückte sie in die Sofaecke; und da ihr die Zähne zusammenschlugen, lief er nach seinem Mantel und breitete den über ihre Kniee.

Es tat ihm absonderlich wohl, für das Mädchen zu sorgen. Er konnte keinen leiden sehen, nun gar die kleine Olli mit ihrem zarten Körper und ihrem erstaunlich zähen Fleiß. Alle seine aufgespeicherte Herzenswärme entlud sich im Mitgefühl für die Jugendfreundin, die er gleich sich selber als einsam auf sich selbst gestellt empfand. »Nun sprich,« sagte er weich und griff sich wieder ihre Hand.

»Es tut mir so bitter weh, Rudolf, daß dir von uns her Leid kommt.«

Er sah betroffen auf. »Von euch – ich verstehe nicht.«

»Ich bin gelaufen,« sagte sie leise und sah von ihm fort, »damit es dir keiner schonungslos zutragen möchte. Alle sind sie gedankenlos bei fremdem Leid. Ich fürchtete, deine Mutter werde –« Tränen stürzten ihr aus den Augen, »Rudolf, heut wird unsre Lisa Braut – Lenders Braut. Onkel Franz sagte mir's eben, der hat es von Mama. Und du hast sie lieb! Ich selbst habe ihr zu Lender zugeredet, damals als sie noch hier war und nichts mit sich anzufangen wußte – und du hast sie lieb –«

»Olli,« rief Rudolf, »ich weiß es schon seit gestern – und sieh nur, ich bin ganz ruhig. Das war ein kurzer schöner Frühlingstraum, einer von denen, die sich nie vergessen, die in der Seele fortklingen und nur selten im Bewußtsein wieder auftauchen. Denn so etwas braucht doch eine Seele! Wir hätten nie zusammengetaugt. Einer von uns hätte sich selbst aufgeben müssen, völlig sich selbst. Das hat die Kluge, Starke gespürt – ich habe es erst lernen müssen. Weil ich ein Träumer bin. Und du hast dich um mich gequält. So tiefe Sorge, Olli, hat wohl noch keine um mich getragen.«

Er schenkte ihr geschäftig von dem Tee ein, den die kleine Magd mit allem Zubehör auf die bunte Tischdecke gestellt hatte.

Da hatte sich die Olli wieder und wurde ruhig. Und neben der Ruhe fühlte sie eine Leere in ihrem Herzen – nicht mal ein bißchen Trost brauchte er von ihr. Aber guten Rat hatte er von ihr haben wollen – kam ihr nun erst zum Bewußtsein. Er sei kein Selbstherrlicher, wie er lachend sagte, der die Entscheidungen aus dem Handgelenk schüttle. Da hatte sie gleich wieder ihr gesammeltes Olligesichtchen, das sich so ausgebildet hatte, weil sie in ihrer Familie von lauter allzu Leichtherzigen die einzige Schwerblütige und Tieffühlende gewesen war.

Rudolf erzählte von Tübingen und sprach seine schweren Bedenken aus. »Tausend andre würden rasch zugreifen; ich aber bin hier wurzelfest,« und es erstaunte ihn, wie Olli gleich den Kernpunkt sah.

»Du mußt ja gehen, Rudolf,« sagte sie ohne alles Besinnen, »du kannst ja gar nicht anders.«

»Warum meinst du?« fragte er gespannt.

»Weil du hier völlig unter deines Schwagers Köppen Einfluß stehen würdest. In allem, was man dir hier entgegenträgt, hat Köppen seine Hand. Auch bei dem Ordinariat, das sie dir hier vorbereiten und womit sie ein andres Amt schädigen. Frage nur Onkel Wesemihl, aber du weißt es ja selbst, wenn sie es auch noch so zurückhaltend betreiben. Das ist das feine Gift, das von solchen dominierenden Naturen ausgeht. Deinen Vater, Rudolf, ich habe es ja oft genug von dem meinen gehört – hat Köppen unten gehalten, und dich zu heben, das heischt nun sein neuestes Interesse. Sabine fühlt so etwas heraus – aber da sehe ich nicht klar. Mache du dich frei von allen Fesseln, Rudolf.«

»Olli,« rief Rudolf in heller Freude, »du fühlst ja mit meinem Herzen und denkst mit meinen Gedanken! Das war der Kernpunkt für meine Erwägungen. Soll ich das Schreiben gleich holen, meine Berufung, sollen wir es gleich unterzeichnen?«

Rudolf war aufgesprungen. Nun war er entschlossen, nun strömte auch die Liebe in ihn ein für das neue Leben, das vor ihm ausgebreitet lag.

Sie besprachen das einzelne, und immer wieder griff er sich ihre Hand, ohne es selbst zu merken.

»Und du, Olli, gehst wirklich Ostern nach London? Gehst gern?«

Doch. Es brächte sie ja ihrem Ziele näher, und was kannte sie denn von der Welt? Es war also wohl ein Glück, daß sich ihr dies bot.

»Und füllt und befriedigt es dich, Olli?« Rudolf sah seine Freundin nachdenklich an. »Weißt du, Olli, worüber ich oft schon gerätselt habe? Daß es Männer gibt, die an solchen Mädchen, wie du bist, wunschlos vorübergehen.«

Rudolf schüttelte ernsthaft den Kopf, und Olli sagte mit einem Lächeln, das nun einmal gar nicht herbe, das mild und nachsichtig war: »Es gibt wohl viele Mädchen, die nur zu guter Freundschaft geschaffen sind, denen Natur keine werbenden Reize gegeben hat.«

»Gewiß, gewiß,« sagte er zerstreut. Es war ihm wunderlich zumute, wie einem, der sich auf innere Stimmen besinnt, die einmal lebhaft zu ihm gesprochen haben mußten. »Aber du gehörst doch nicht zu denen. Es ist noch gar nicht lange her, da hattest du mal so ein weiches, sanftes Kleid an, lila oder so ähnlich war es. Du wirst es wohl vergessen haben, daß wir zusammen tanzten. Ich glaube, wir tanzten lange und ganz versunken. Hatten das holde Schweben beide lange nicht genossen und sind doch beide noch jung. Nachher suchte ich dich überall – aber du warst schon fort. Das tat mir leid, du hattest wohl keine Freude daran gehabt. Damals hatte ich doch schon gedacht, wie dumm sind Männer, daß sie – und nun willst du ans Britische Museum. Früher hat es euch doch genügt, einen Mann zu beglücken.«

Olli saß ganz still mit gefalteten Händen in ihrer Sofaecke. Es lag ihr wie eine schwere, süße Last auf dem Nacken und lief wie ein schwer süßer Strom durch ihre Adern.

»Schwer wird es mir werden,« fuhr Rudolf nach einer Stille fort, »von Sabine fortzugehen. Ich sehe ihr zu und verstehe ihr Wesen nicht. Meinst du, daß Gröbens Tod – das ist doch schon mehr als zwei Monate her – glaubst du, daß sie nun doch davon so schwer getroffen ist?«

Die süße Schwere sank von Olli nieder. Sie richtete sich gleich gesammelt auf. Ja, sie fürchtete es. Sabine lebte in einem Totenkultus. Ein Altärchen hatte sie sich errichtet, darauf stehe ein verschlossener Schrein, ein schöner alter Elfenbeinkasten. Immer blühende Blumen ringsum. Sie ginge viel auf Kirchhöfe, sie, die ein neues Leben in sich trug, trotz harten Winterwetters. Zu ihrem Manne demütig wie eine Tochter – so wie früher wohl Töchter waren, als sie sich noch in viel größerer Abhängigkeit fühlten. Es läge etwas Ungesundes in dieser still versteckten Art, aber fragen könne man sie nicht. Sie sähe einen dann so abwesend an, mit überirdisch klarem Blick und ganz heiter dabei.

»Ich habe es ebenso empfunden,« sagte Rudolf schwer bedrückt. »Wenn das Kind da ist, wird das alles wohl wieder gesund und natürlich, glaubst du nicht?«

Olli war aufgestanden, und er half ihr in ihr Wintermäntelchen. »Soll ich dich bis zur Elektrischen bringen?«

Sie schüttelte nur stumm den Kopf. Da brachte er sie vor die Tür und drückte ihr die Hand.

Als sie aber nun von ihm fortging, mit ihren kleinen Füßen über den harten knirschenden Schnee, und als sie in der Entfernung begann, für seine Augen kleiner und unbestimmter zu werden da packte ihn eine scharfe Angst, sie ganz zu verlieren.

»Olli – Olli!«

Sie stand still und wandte sich zurück; und er lief ihr entgegen, und was er in ihren Augen sah, war ein weher Trotz unter Tränen.

»Olli,« sagte er schüchtern und warf ihren kleinen Muff in den Schnee, damit er ihre beiden Hände zu fassen bekäme – »Olli, den ganzen Tag hab' ich gekümmert, weil ich mir von allem hier, daran ich hänge, nichts mitnehmen kann. Kind,« rief er mehr schluchzend als lachend in seiner tiefen Bewegung, »laß du das Britische Museum fahren; ich biete dir dafür ein ganzes Mannesleben, denn mein Herz ist übervoll von dir.«

»Rudolf, du erkältest dich auf den Tod.«

Sie lief vor ihm her zurück zum Hause, sie flog, und er rief glückselig, »du läufst ja so zierlich wie ein Rebhühnchen!«

O, er würde nun tausend Schönheiten an ihr entdecken, nun sie ihm gehörte. Denn er fühlte an seinem satten, vollen Herzschlag, daß sie sein war.

.

Die beiden Alten hielten nach dem Essen ihr Schlummerstündchen. Die Frau saß in ihres Mannes verqualmten Tuskulum im eingesessenen Lehnstuhl neben dem Sofa, auf dem der lange Gatte ruhte, die Füße sorgfältig in eine alte Reisedecke gewickelt. Sie druselten da täglich ihr halbes Stündchen.

Kamilla zwar riß heute die Augen aller Minuten auf, denn vor ihr lag die niedliche Nähtischdecke aus knifflichen Teneriffasternen, die die alte Thilenius übermorgen zum Geburtstage bekommen sollte.

Kamilla dachte noch ein bißchen an ihr Tischgespräch, denn der gewissenhafte Vermittler aristotelischer Philosophie verschmähte es durchaus nicht, mit seiner Frau die kleinen und großen Klatschgeschichten durchzusprechen, die in einer richtigen Hochschulgesellschaft unablässig die nur harmlos erscheinende Oberfläche kräuseln und in Bewegung halten, und jetzt waren nun einmal die Grundmannskinder in der Leute Munde, bis in die Kaffeeschlachten und sogar bis in die ernsthaftesten Fachgespräche der Männer hinein. Nur daß die einen ganz naiv klatschten und die andern sich mehr ›psychologisch-analytisch‹ gaben.

Als Kamilla nun wieder einen Blick zu ihrem Gestrengen hinüberwarf, so recht innig vergnügt, weil er so gut zu schlafen schien, fing es bei ihm an, unter dem graugesprenkelten Barte zu zucken. Die Augen blieben noch geschlossen, aber er deklamierte plötzlich mit übertriebenem Pathos: »Könnt ich Löwenmähnen schütteln mit dem Zorn und Mut der Jugend – Wie gewaltig wollt' ich rütteln an des Tages blasser Tugend – An dem Trug der Feigen, Matten+…«

Franz Wesemihl setzte sich auf, was seine Schwierigkeiten hatte, weil ihn die Frau immer so fest wie ein Wickelkindchen einstopfte.

»Weißt du noch, Herzing, wer das so begeistert gesungen und dann weiter in dem Stil radomontiert hat, daß man dachte, der Junge müßte ein Körner und ein Herwegh in einer Person werden? Unser lieber Ludwig Grundmann. Dolle Zeiten – ganz dolle Zeiten!«

»Manchmal sagst du: kranke Zeiten!«

»Äh – ich weiß nicht mal –; Zeit, die einem die Begriffe verwirren kann. Nämlich die Frage ist, ob wir Alten nun wirklich idealistische und unpraktische Esel gewesen sind. Weißt du, Kamillchen, mein guter Vater ist mal, noch ganz jung, in Berlin gewesen; auf Schusters Rappen gereist natürlich. Eisenbahn gab's noch nicht, und solche Ekelnamen wie ›Stahlroß‹ waren auch noch nicht erfunden. Da hat ihm doch nichts so gut gefallen als wie das Glockenspiel auf der Parochialkirche: Üb immer Treu und Redlichkeit –; wie das so den Bürgern ins Gewissen drang, wenn sie alle Tage um die gleiche Minute da vorbei in den Kramladen liefen, oder in ihre Klasse, oder zum Amte. Heut darfst du keinem Quartaner mehr mit kommen.«

»Weil's das Selbstverständliche ist,« sagte Kamilla begütigend, »nicht weil sie drüber raus sind.«

»Ja, ja,« brummte der Mann, »aber es gibt zu viele Lumpen, und die ihre Lumperei ganz offen betreiben können. Wenn ein armer Deubel ein Brot maust, fliegt er ins Kittchen.«

Franz Wesemihl konfiszierte das dünne rechte Händchen seiner Eheliebsten, das schon wieder an der Thilenius ihrem Teneriffasternchen bastelte.

»Jekersch,« sagte er mit verdrießlichem Humor, »daß ihr immer sticheln und prickeln müßt. Es gibt so 'ne verdrehte Sorte von Käfern, die müssen all ihrer Lebtage Dreckkugeln rollen. Naturgesetz. Da stecken ihre Eier drin, und die brauchen Wärme zur Entwicklung, da hat's 'nen Sinn. Aber wenn man so denkt: immer Dreckkugeln drehen –«

Kamilla lachte. »Nach Dreckkugeln sieht das hier nicht aus –.« Sie betrachtete ihr kleines Kunstwerk, zupfte an den Kanten und legte es plötzlich beiseite. »Valeska weint den halben Tag, seitdem die Lisa geschrieben hat. Gestern las sie mir die Beschreibung des lieben Schwiegertöchterchens vor. Daß sich der Ludwig nicht schämt! Und daß die Lisa nichts Sicheres über ihre Verlobung schreibt – Valeska hat es doch durch die halbe Stadt erzählt, was da bevorsteht. Nun ist's doch ein Glück mit der Olli; so oft ich dran denke, kommen mir wieder die Freudentränen. Die Olli wird aufblühen wie ein Bäumchen im Frühlingsregen. Franz, ist es nicht just, wie es mit uns zweien gegangen ist?«

Wesemihl sah einen Augenblick verdutzt und nachdenklich aus. Dann sagte er entschieden: »Nö, gar nicht. Die sind noch jung, die kriegen da unten am Neckar noch Buben und kleine Schwabenmädle, Bagage und Plackerei.«

»Und dabei hast du es selbst feucht in den Augen.«

»Was du nicht alles siehst,« meinte er barsch, »wetten, daß unsre gute Valeska in einem halben Jahr mit ihren Beheim-Grundmanns prahlen wird? Und bei der Frau, die nicht dicht halten kann, hast du natürlich von Otzens Besuch gesprochen?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Kamilla?!«

»Kannst dich doch wohl auf mich verlassen, wenn ich weiß, wie du drauf brennst, dich mit der Lisa auseinanderzusetzen!«

Er fing an, ihren Arm zu streicheln. »Sag mal, Kamillchen, wie viel wiegst du doch schon?«

Die Frau lachte. »Vierundneunzig ohne die Kleider.«

»Na, da sind mir doch deine lumpigen siebenundvierzig Kilo lieber als dem Großtürken sein ganzer Harem mit allen seinen hundert faulen, fettgemästeten Weibsen.«

Draußen schrillte die Schelle; zur elektrischen Leitung hatten es Wesemihls noch nicht gebracht. Jemand mußte mit Temperament den Griff gezogen haben, denn die Klingel ratterte und schüttelte sich vor Empörung.

»Das muß doch die Lisa sein,« rief Kamilla aufspringend. Und die war's auch, tappte draußen auf der Matte den Schnee ab, der sich unter ihren Sohlen geballt hatte, und fuhr herein: »So, da bin ich wieder, recte vom Bahnhof zu euch, daß ich noch eine Tasse Kaffee erwische.«

»Von deiner Ankunft geschrieben hast du nicht,« sagte Wesemihl, sitzen bleibend, »und wenn du etwa Braut sein solltest –«

»Ich? Braut? – keine Spur. Dann hätte ich doch wenigstens gedrahtet. Denn Draht bekäme ich dann eine große Masse.«

»Ach, bitte, mach hier keine faulen Witze. Also der Lender hat dich nicht gewollt?«

»Nein,« sagte Lisa tief atmend und warf Hut und Mantel ab, die Kamilla leise hinaustrug, »nein, der Lender hat mich offenbar nicht gewollt.«

Dann setzte sie sich ihrem Vormund gegenüber, stützte beide Ellbogen auf den Tisch und legte das Gesicht in beide Hände.

Was das Kind für zärtliche Augen hat – dachte Wesemihl – und die Farbe wie dunkle Veilchen, die noch keine Sonnenglut abgemattet hat. Und da kam dem Kinderlosen das sichere Gefühl, daß man junge Seelen behutsam anfassen müsse.

»Sonntag abend,« sagte er mit einem Anflug von Lächeln, das die Lisa erleichterte, »hat es sich herausgestellt, daß – er suchte nach der Form für seine Frage, »daß er dich nicht mag?«

Auch Lisa lächelte flüchtig. »Sonntag abend, ja.«

»Und heut ist Mittwoch. Hättest du nicht eher abreisen sollen, Kind?«

»Das wollte ich ja, Onkel, gleich am andern Morgen, nachdem es sich entschieden hatte. Aber Herr Geringshofen fand das nicht richtig. Zu dem bin ich gleich gelaufen, Abschied zu nehmen und zu danken, als ich den Lender – na ja – also. Sie haben mich noch in Theater und Zirkus geführt, zur Promenade, und Tischgäste sind dagewesen, sonst wäre wohl die Sache zu durchsichtig gewesen. Und ich immer gehorsam, und hatte doch ein Heimwehfieber ohnegleichen.«

»Und wie war die Frau?«

»Kalt, Onkel – fremd und eiskalt. Ich bin froh, daß ich hier sitze.«

Aber daß sie Onkel Wesemihl kein Bild von George Geringshofen geben konnte, das tat ihr in der Seele leid. Wie der sie heute früh noch selbst auf die Bahn gebracht hatte, väterlich gütig, soweit das nur eben seiner Zurückhaltung gelang. Wie sie dann am Schalter ihre Fahrkarte gelöst, und wie er dann an ihrem Abteil dritter Klasse gestanden hatte, wo schon ein paar Bürgerfrauen mit Körben saßen, die nur bis Bernau wollten. Zuletzt, nach verlegenem Schweigen, hatte er ihr nochmal die Hand im roten Hundslederhandschuh hingestreckt: »Fräulein Grundmann, ich habe Achtung vor Ihnen.«

Danach, als die lange Wagenreihe anruckte und gleich darauf unter dem blassen Winterlicht aus der Halle glitt, hatte er immer noch gestanden und ihr nachgewinkt. Und so würde sie den großen Geldfürsten und gütigen, verständnisvollen Menschen immerdar vor sich sehen.

»Ja, nun sitzest du wieder hier, Lisa, was war nun der Gewinn –?« fragte Wesemihl streng.

Tante Kamilla war wieder im Zimmer und wollte hilfreich einspringen. Aber es traf sie ein imperatorischer Blick.

Lisa senkte den Kopf. »Ich habe gelernt, Rohrmöbel zu verkaufen, Onkel Franz, weiter nichts.«

»Wirklich weiter nichts?«

Der Ton ermutigte Lisa, und wenn sie ermutigt wurde, kriegte sie immer gleich Oberwasser.

»Ich habe auch gelernt, daß ich nichts weiß, und daß ich mich in deine Hände geben will.«

»Hm. – Und dazu die ganze Ausreißerei?«

Da rang Lisa die Hände. »Onkel Franz, wenn doch der Rudolf wie blind und taub war und nicht merken wollte, daß einzig meine Olli für ihn geschaffen ist – da mußte ich doch aus dem Wege.«

»So – also so ist das! Hast du wenigstens Ersparnisse gemacht, Lisa Grundmann?«

Lisa warf einen hilfeflehenden Blick zu Tante Kamilla hinüber. »Schulden, fürchterliche Kleiderschulden.«

»Nun, für den Spaß will ich denn nur aufkommen,« sagte Wesemihl.

»Wenn du nur bloß die Summe ahntest!«

»Kamilla, dann hilft es nicht, dann müssen wir eine Hypothek auf unser Haus aufnehmen.«

Als aber die Lisa erschrocken auffuhr, da merkte sie, daß ihr Onkel Franz sein grimmiges Gesicht machte, unter dem sich immer der goldene Humor seines großmütigen Herzens versteckte.

Und Kamilla war wieder mal so entzückt von ihrem Franz, daß sie ohne Besinnen rief: »Lisa, und der Friedrich von Otzen will dich zur Frau; heut früh war er da, wir haben ihm einstweilen dein Jawort gegeben. Den schickst du schon nicht fort!«

»Der – der will mich? – und wir haben uns gegenübergestanden wie bittere Feinde – und ich habe gedacht: der zerbräche mich am liebsten, wenn er nur könnte.«

»Das hätte er vielleicht gern getan in seiner Eifersucht,« sagte Wesemihl und vergaß, daß die kleine Frau ihm nun doch zuvorgekommen war; was hielt er sich so lange mit den Präliminarien auf!

»Eifersucht bei Otzen? Und bei mir – herzbrechend geradezu. Das kann eine schöne Ehe geben!«

Sie wurde aber gleich ernst, denn die Erschütterung aller ihrer Seelennöte wirkte in ihr nach: »Alles Leben steht auf Messers Schneide,« sagte sie sehr leise, »und Glück läßt sich nur in Demut tragen.«

.

Der Winter wich nur widerwillig. Immer wieder jagten Stürme von den nördlichen Eiswüsten und den russischen Steppen herab nach Westen, schütteten Schneemassen über das Land; spähten Menschen wintermüde nach seelenbefreienden Frühlingsboten.

Endlich wehten nun doch die milderen Lüfte, sangen die schwarzen Amselmännchen ihre brünstigen Werbelieder, kaum daß die ersten Schneeglöckchen auf winzigen grünen Inselchen ihre Kelche auftaten.

Und es war ganz wie immer im Lenze, wenn die Jugend taumelig wird vor Lust und vor Liebesseligkeit, und die Alten wehmütig, weil sie's endlich, endlich wissen, daß alle Lust und alle Seligkeit doch immer nur für kurze Frist geborgt ist.

Manche freilich lernen das nie. Starke Phantasiemenschen nicht, und fromme Seelen auch nicht, deren Leben weit außerhalb von Zeit und Raum ihre träumerischen Bahnen zieht.

In Sabines stillen Stuben blühten Märzveilchen und tiefblaue Zillaglöckchen. In ihrem Hause rannen die Tage gleichförmig hin wie Tropfen, die in ein Becken fallen und sich da zu einer stillen Einheit sammeln.

Sie trug das Kind in ihrem Schoße, fühlte die Last schwerer werden, fühlte, wie es sich in ihr regte, das Wunder der Menschwerdung, das wunderbar bleibt, so viele Seelen sich auch stündlich auf weitem Erdenrund gemartertem Mutterleibe entwinden.

Sie horchte in die Stille hinaus und in all das wogende Empfinden in sich hinein. Und immer war es ihr, als ob sie nicht allein sei, als ob sich Träume und Sehnsüchte leibhaftig um sie her bewegten, Bilder und Gefühle, deren sie gar nicht mehr Herr werden wollte.

Der Geheimrat sah unruhig forschend auf seine Frau. Er beobachtete verstohlen andre Frauen, die gleiche Liebeslasten trugen.

Die sind anders, sagte er sich. Manche gingen in Glück und Stolz; schüchtern Engere wie in leiser Scham, als wollten sie sich am liebsten verstecken.

In ihren lichten losen Gewändern ging Sabine wie von Schwingen getragen. So unbeirrbar tief in sich versunken, daß sich der Seelenforscher ihren Zustand nur als mystisch deuten konnte. Nur – Sabine war ja auch wieder keine innerlichst bewegt religiöse Natur. Das konnte es nicht sein, was sie der Gemeinsamkeit und dem natürlichen Tagesleben entfremdet hatte.

Köppen hatte gemeint, der Tod des armen Gröben ließe alte Wunden bluten. Doch Sabine nannte diesen Tod eine endliche Befreiung ihres einstigen Freundes.

Den ratlosen Mann befremdete die Ruhe, mit der diese Junge den Tod betrachtete, das starre, feierliche Ziel alles Lebens.

Sie sang in jenen Tagen Schuberts Lied ›Der Tod und das Mädchen‹. Vor Fremden sang sie nie, denn ihre Altstimme war nicht stark und entbehrte aller Schulung. Sie hatte auch nicht gewußt, daß ihr Mann im Nebenzimmer saß, dessen Türe offen stand.

Ihm ging zu Herzen, daß sie viel mehr nur sprach als sang. So hatte nicht Musik auf sie gewirkt, sondern Gedanke und Vorstellung. Woher hatte diese sanfte Seele das starke Pathos des Leides und des vom Leide Erlöstseins? Das mußte aus tief verborgenen Quellen strömen.

Ihn packte ein gewaltiger Zorn gegen die Mutter seiner Frau. Der Einfluß des Elternhauses mochte nachwirken. Was war doch diese enge, herrschsüchtige Frau ihrem ganzen Hause schuldig geblieben. Und dabei alles das Getreibe und Gewusel ihres bürgerlich wirtschaftlichen Pflichtgefühls, daran sich ihr beschränkter Tugendstolz sättigte. Auch diese Fährte seines ratlosen Grübelns ließ Köppen fallen.

Sie leidet körperlich – beruhigte er sich endlich. Sie fröstelt, ist lichtscheu, klagt über Ohrensausen. Abends ist oft ein leichtes Fieber nachgemessen worden. Es ist rein körperlich – und also wird es nachher wieder gut sein.

Er überschüttete sie mit sinnvoll gewählten Gaben. Wie man seiner Frau einen Blumenstrauß bringt oder sonst ein Spielwerk, so hatte er ihr eines Tages die »Exzellenz« angeboten.

»Willst du? Macht's dir Spaß? – Junghans schreibt eben. Es soll wohl ein Dank sein für meine Stiftung. Wenn sie nur ahnten, wie überflüssig da ein Lohn ist, wie freudig und stolz mich das Werk macht.«

»Ja?« – fragte sie leise, »es kann dir Ersatz sein, wenn dich Verluste träfen?«

Er lachte – Verluste?

»Schade,« sagte er, »daß die Frau sich doch nie ganz in den Mann einfühlen kann. Wenn er sich selber hat, seine Kraft, sein stolzes Arbeitsgebiet, ein Stück Macht in seiner Umwelt? Wo sollten da Verluste an ihn heran!«

Sabine saß dicht neben ihm. Dann fühlte er sich immer sicher und froh; und er fragte nochmals, ob er die ›Gunst und Ehr‹ annehmen solle.

Da sie gelassen blieb, seufzte er im stillen. Einer andern noch so jungen Frau hätten die Augen vor Vergnügen gefunkelt. So nahm er die Entscheidung in die eigene Hand. Nein – dieses Prädikat wirkte zu geräuschvoll für seinen Geschmack. Solcher Pose bedurfte er nicht; es war vornehmer, abzulehnen.

Um seine Frau gänzlich zu entlasten, ließ der Geheimrat eine Verwandte von auswärts kommen, mit der ihn eine verständige und verläßliche Jugendfreundschaft verband. Eine Frau, mit der das Leben, und die mit sich selbst nie viel Aufhebens gemacht hatte, die mit stiller Selbstverständlichkeit ihr Amt übernahm.

Frau Doktor Merian war Sabinen angenehm. Aber in der nun völligen Muße versank sie noch tiefer in ihre grüblerischen Träume. Sie sprach es keinem aus, aber sie bereitete sich auf ihren Tod. Sie hatte tiefe Sehnsucht nach Sphären, in denen sie sich die Seele ihres Traumidols frei schwebend dachte. Der sollte sich ihre von Erdenschwere entbundene Schwesterseele zugesellen. Sie wollte nichts mehr zu tun haben mit den Starken, Erfolgreichen, Satten.

Sie wollte auch ihre Freundin Lisa nicht sehen. Zu leicht und äußerlich, zu robust an Glanz und Freude schien sie ihr; denn kranke Augen scheuen das Licht.

Die Vorstellung kam ihr nicht, daß sie ihren Mann beraube. Dem gab sie das Kind, das sein Herz und sein Stolz sich ersehnte.

Rudolf und Olli wollten schon zu Ostern in Tübingen sein. Olli setzte ihre Studien fort. Sie wollte nicht alles Errungene zwecklos auseinanderfallen lassen. Es würde schön sein, im kleinen neuen Hause über Tag seine Arbeit zu tun, und wenn der Abend sank, zusammen auf die Höhen zu steigen oder den Neckar entlang zu pilgern.

Nur Sabine lag Rudolf schwer auf der Seele. Er saß am Morgen seines Hochzeitstages bei ihr. Sie hatten schon Abschied genommen, denn Festen mußte sie jetzt fern bleiben, aber er konnte sich noch nicht losreißen.

Nun schwiegen sie. Da nahm er ihre beiden Hände: »Sabine, ist es um Gröben, daß du leidest?«

Sie schüttelte den Kopf. Dann bat sie ihn, den elfenbeinernen Schrein zu holen, und nestelte sich ein goldenes Schlüsselchen vom Halse.

»Du sollst dich nicht erregen, Kind,« flehte er.

»Wenn ich sterbe, Rudolf,« sagte sie, »dann übergib diesen Kasten der alten Frau Hunold. Ich habe aufgeschrieben, wer meine kleinen Besitztümer haben soll. Dieser Kasten wird in deine Hände gelegt werden.«

Sie ließ den Deckel aufspringen. Obenauf, über Schriften und Drucksachen, lag das herrliche Jünglingsbild Erich Hunolds, den keine Bruderhand vom Abgrund zurückgerissen hatte.

»Einer muß doch gerecht zu ihm sein; eine muß ihn doch lieben und Trauer um ihn tragen.«

»Sabine,« rief Rudolf erschüttert, »zerrisse mir das nicht das Herz, ich würde sagen, deine Gedanken treiben Ehebruch.«

Sie nickte ernsthaft. »So habe ich es empfunden – als schwere Schuld. Aber Ehebruch mit einem bloßen Schemen –«

»Doch Sabine,« er zog sie fest an sich, »du hast dir ein Idol geschaffen und dich damit deinem Manne entfremdet. Wie kann ein Lebender an gegen Phantasiegebilde deiner schwärmenden Seele!«

Sabine schwieg. Sie fühlte, daß ein unermeßlicher Raum ihre Einfachheit von der geistigen, der theologischen Welt ihres Gatten schied. Sie hätte nicht verfechten können, was in ihrer tiefsten Seele brannte, dieses: er lehrt ja anders, als er glaubt. Nein, sie glaubte nicht an ihn. Der Gott, den er den schlichten Herzen predigt – er, der nicht nur der Gelehrte, der auch der Seelsorger ist – der große Allmächtige ist nicht der Regulator seiner Handlungen. Er ist ein feiner Diplomat zwischen dem Gottbegriff und den Menschen.

»Du weißt nun Bescheid, Rudolf,« sagte Sabine, zärtlich in seinen Arm geschmiegt. »Will Gott, daß ich lebe, dann soll das Kind mit seinen schwachen Händchen mich schlicht gesunde Wege führen, das gelobe ich dir.«

Dieses Wort stärkte Rudolf, er riß sich endlich los; nun faßte er erst voll das Glück, daß dieser Tag sein Hochzeitstag sei.

.

Das Frühjahr schritt voran. Es kamen heiße Tage. Betäubend süß dufteten Goldlack und Narzissen, später die Fliederdolden und der spanische Jasmin. Heißglühende Päonien brachen auf, und das Vogelkonzert erklang mit berauschender Lebensenergie. Pfingsten – das Jahr schritt seiner Höhe zu.

In linder Nachtstille, bei weit geöffneten Fenstern, gebar Sabine ihrem Gatten den ersehnten Sohn. Es war ein Kampf auf Tod und Leben gewesen, und Köppen hatte weit entfernt gesessen, den Kopf in beide Hände gewühlt, in seinen Nerven zerrissen und gemartert, weil er dem jungen Weibe nicht helfen konnte.

Der Morgen graute schon, als die weise Frau ihm das Kind brachte. Es sei ein schönes und ein starkes Kind. Das Kind sei zu stark gewesen für die schwache Mutter. Das sagte die Frau leise und sah den Mann nicht dabei an.

Langsam in seine Durchschütterung hinein begriff er.

Der Arzt stützte ihn, als er wankend an Sabines Lager trat. Man hatte sie auf hohe Kissen gebettet und ihr das dunkle Haar gelöst. In die Hände hatte man ihr einen Strauß von weißen Blumen gelegt, wie man ja immer aus den Toten ein lebendes Bild zurechtmacht, damit sie in Schönheit weiter leben mögen im Gedanken ihrer Hinterbliebenen.

Der Arzt sprach leise zu Köppen von der zarten Konstitution der jungen Mutter; von dem unheilvollen Zerstörungswerk, das die abendlichen zerebralen Fieberzustände der letzten Monate vollbracht hätten.

Köppen hörte kaum, was der Mann ihm auseinandersetzte. Er sagte sich innerlich: sie hat nicht leben wollen. Sie hat sich sinken lassen und nicht ans Leben angeklammert. Warum nur hat mein Weib nicht leben wollen!

Sie verließen ihn endlich, und er zerquälte sich an diesem Rätsel, dem er keine Lösung wußte.

Die Sonne stieg langsam empor, rückte aus dem rosigen Bette ihrer Auferstehung in den Goldglanz ihrer Erfüllung hinein. Von weither drangen die unbestimmten Geräusche des Taglebens herzu. Alles würde weitergehen, alle starken Ströme des Genießens und des Duldens und der Betätigung weiter rauschen. Nur seine blasse Kerze war verlöscht, die er vor jedem Luftzug hätte hüten mögen. Da erhob sich Köppen endlich schwerfällig aus dem niedern Sessel am Totenbette seiner Frau.

Das Nebenzimmer war für das Kind eingerichtet worden und hatte schon seit Wochen bereit gestanden. Von dort hatte der Vater mehrmals das kräftige Schreien seines Sohnes gehört. Nun schritt er zögernd über die Schwelle.

Neben dem Korbbettchen saß Helene Rabener mit gramzerwühltem Gesichte. Köppen gab ihr stumm die Hand. Die Frau verstand er. Die trauerte auch nicht nur um die Geschiedene. Die trauerte auch um den Riß, den hier eine stärkere Gewalt in das Dasein getan hatte. Warum? Zu welchem Zweck? Aus schnöder Willkür?

Er zuckte die Achseln. Auch der starke, im geistlichen Sinn Gewappnete ist nur ein schwankend fehlbarer Mensch, und die gewaltigen Fragen der Menschheit an das Schicksal demütigen ihn.

Im Hintergrunde des Zimmers saß bekümmert seine Anverwandte, die Frau Merian. Köppen nickte leise vor sich hin. Die würde ihm seinen Sohn aufziehen, nicht die Großmutter – und er, er würde den Kleinen führen und leiten zu allem Schönen und Bedeutenden in diesem reichen Leben, für das die arme kleine Frau da drinnen wohl keine offenen Augen gehabt hatte.

Wenn die Sonne sich neigen würde, gleich heut am Sarge der Mutter wollte er den Kleinen taufen, den kleinen Adalbert Sebaldus Köppen, der einstweilen die Spitze des alten Geschlechtes bildete, auf das er, der Vater, stolz war – bis auch der da ein Vater sein würde, in langen fernen Jahren, die er selbst schwerlich noch erleben würde.

 

Ende

 


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