Anatole France
Das Hemd eines Glücklichen
Anatole France

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Wenn das Glück darin liegt, nicht mehr zu fühlen . . .

Auf die Straße gelangt, die, von alten Ulmen beschattet, den königlichen Park begrenzte, erblickte er einen Jüngling von wundersamer Schönheit, der an einem Baume lehnte und mit heiterer Miene die Sterne anschaute, die am klaren Himmel ihre geheimnisvollen Feuerzeichen zogen. Der Nachtwind spielte in seinem Lockenhaar; ein Widerschein der Himmelslichter glänzte in seinen Blicken.

Ich hab's! dachte der König.

Er näherte sich dem lächelnden, schönen Jüngling, der bei seinem Anblick leicht erbebte.

»Ich bedaure, mein Herr«, sagte der Fürst, »Ihre Träumerei zu stören. Doch die Frage, die ich Ihnen zu stellen habe, ist für mich lebenswichtig. Weigern Sie sich nicht, einem Manne zu antworten, der Sie vielleicht zu Dank verpflichten kann und der nicht undankbar sein wird. Sind Sie glücklich, mein Herr?«

»Ich bin es.«

»Fehlt Ihnen nichts zu Ihrem Glücke?«

»Nichts. Allerdings war es nicht immer so. Ich habe wie alle Menschen das Leid des Lebens verspürt, und vielleicht schmerzlicher als die meisten von ihnen. Das kam nicht von meiner besondern Lebenslage, noch von zufälligen Umständen, sondern aus dem allen Menschen und allem, was atmet, gemeinsamen Grunde. Ich habe ein großes Leid erfahren; es ist gänzlich verschwunden. Ich genieße eine vollkommene Ruhe, eine sanfte Heiterkeit; alles in mir ist Zufriedenheit, Frohsinn, tiefe Befriedigung; eine innige Freude durchdringt mich ganz. Sie sehen mich, mein Herr, im schönsten Moment meines Lebens; und da der Zufall uns zusammenführt, so nehme ich Sie zum Zeugen meines Glückes. Endlich bin ich frei, erlöst von den Ängsten und Schrecknissen, die die Menschen befallen, von dem Ehrgeiz, der sie verzehrt, von den tollen Hoffnungen, die sie betrügen. Ich stehe über dem Schicksal; ich entrinne den beiden unbezwinglichen Feinden des Menschen: dem Raum und der Zeit. Ich kann dem Geschick trotzen. Ich besitze ein unbeschränktes Glück und verschmelze mit der Gottheit. Und dieser glückliche Zustand ist mein Werk; ich verdanke ihn einem Entschluß, den ich gefaßt habe und der so klug, so schön, so tugendhaft und so wirksam ist, daß man zum Gotte wird, wenn man ihn ausführt.

Ich schwimme in Freude, ich bin göttlich berauscht. Ich spreche bei klarem Bewußtsein und im vollsten Umfange seiner Bedeutung das Wort, in dem alle Trunkenheit, alle Begeisterung, alle Verzückung liegt: Ich kenne mich nicht mehr!«

Damit zog er seine Uhr.

»Es ist Zeit. Leben Sie wohl!«

»Noch ein Wort, mein Herr. Sie können mich retten. Ich . . .«

»Man wird nur dann gerettet, wenn man meinem Beispiel folgt. Sie müssen mich jetzt verlassen. Leben Sie wohl!«

Und mit heldenhaftem Schritt, mit jugendlicher Haltung stürzte der Unbekannte in das Wäldchen, das die Straße säumte. Christoph wollte nichts davon hören und folgte ihm. In dem Augenblick, als er in das Gebüsch eindrang, vernahm er einen Schuß. Er trat näher, bog die Zweige auseinander und sah den glücklichen Jüngling im Grase liegen, die Schläfe von einer Kugel durchbohrt, während seine Rechte noch den Revolver umfaßt hielt.

Bei diesem Anblick fiel der König in Ohnmacht. Vierblatt und Waldteufel eilten herbei, brachten ihn wieder zu sich und trugen ihn ins Schloß. Christoph ließ nach dem Jüngling forschen, der vor seinen Augen das Glück der Verzweifelten gefunden, und erfuhr, daß er der Erbe einer vornehmen und reichen Familie war, ebenso geistvoll wie schön und beständig vom Schicksal begünstigt.

 


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