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Die schönen Herbsttage schienen andauern zu wollen. Auch am anderen Morgen war es wieder hell und sonnig, und das gräfliche Paar nahm das Frühstück im Freien unter der Fronthalle. Julie von Dobschütz mit ihnen. Asta übte nebenan, Axel und der Hauslehrer waren in den Dünen auf Jagd, was die Michaelisferien gestatteten, von denen die Gräfin, wie von Ferien überhaupt, als Regel nicht viel wissen wollte; Ferien in der Stadt und auf Schulen, das habe Sinn, hier draußen aber, wo man in Gottes freier Natur lebe, seien sie mindestens überflüssig. Hieran hielt die Gräfin prinzipiell seit lange fest und lächelte überlegen, wenn der Graf seinen entgegengesetzten Standpunkt verteidigte; gegen die diesjährigen Michaelisferien aber hatte sie, trotz ihrer unveränderten Anschauungen, ausnahmsweise nichts einzuwenden, weil sie den Plan, beide Kinder mit Beginn des Winterkursus in Pension zu geben, noch immer nicht aufgegeben hatte. Da bedeuteten denn die paar Tage nicht viel. Der Graf seinerseits zeigte hinsichtlich der Schul- und Pensionsfrage nach wie vor die von der Gräfin immer wieder beklagte Laschheit; er war nicht eigentlich dagegen, aber er war auch nicht dafür. Jedenfalls bestritt er, daß es irgendwelche Eile damit habe, worauf dann die Gräfin mit einer gewissen Gereiztheit antwortete: das gerade könne sie nicht gelten lassen; es sei nicht bloß an der Zeit, es sei sogar höchste Zeit; Asta sei sechzehn, Axel werde fünfzehn, das seien die Jahre, wo der Charakter sich bilde, wo der Kreuzweg käme, wo sich's entscheide nach links oder rechts. »Und ob schwarze oder weiße Schafe«, warf Holk spöttisch ein und griff nach der Zeitung.
Aber gerade diese spöttische Behandlung, die der Gräfin zeigen sollte, daß sie das alles mal wieder viel zu wichtig nähme, steigerte nur ihren Ernst, und so sagte sie denn, ohne auf die Gegenwart der Dobschütz, die ohnehin eine Eingeweihte war, Rücksicht zu nehmen: »Ich bitte dich, Helmuth, verzichte doch endlich darauf, eine ernsthafte Sache ins Scherzhafte zu ziehen. Ich erheitere mich gern...«
»Pardon, Christine, das scheint seit gestern deine Parole.«
»Ich erheitere mich gern«, wiederholte sie, »aber alles zu seiner Zeit. Ich verlange keine Zustimmung von dir, ich verlange nur eine feste Meinung, sie braucht nicht einmal begründet zu sein. Sage, daß du Herrn Strehlke für ausreichend hältst und daß dir Elisabeth Petersen lieber ist als ein ganzes Pensionat junger Damen – ich werde beides nicht glauben, aber ich werde mich unterwerfen und schweigen. Nur freilich nenne das nicht Erziehung...«
»Ach, liebe Christine, das ist nun mal dein Steckenpferd oder eins aus der Reihe davon, und wenn du nicht als Baronesse Arne geboren wärest, so wärest du Basedow oder Pestalozzi geworden und könntest Schwarzkoppen als Seminardirektor ablösen. Oder wohl gar sein Inspizient werden. Erziehung und immer wieder Erziehung. Offen gestanden, ich für meine Person glaube nicht an die Wichtigkeit all dieser Geschichten. Erziehung! Auch da ist das Beste Vorherbestimmung, Gnade. In diesem Stück, so gut lutherisch ich sonst bin, stehe ich zu Calvin. Und falls Calvin dich verdrießt, beiläufig auch eine von deinen höheren Gesinnungskapricen, so laß mich dir einfach das alte Sprichwort sagen: ›Wie man in die Wiege gelegt wird, so wird man auch in den Sarg gelegt.‹ Erziehung tut nicht viel. Und wenn dann schon von Erziehung die Rede sein soll, so ist es die, die das Haus gibt.«
Die Gräfin zuckte leis mit den Achseln, Holk aber sah darüber hin und fuhr fort »Haus ist Vorbild, und Vorbild ist das einzige, dem ich so was wie erziehliche Kraft zuschreibe. Vorbild und natürlich Liebe. Und ich liebe die Kinder, darin werd ich doch hoffentlich deinen Beifall finden, und sie jeden Tag zu sehen ist mir Bedürfnis.«
»Es handelt sich, Helmuth, nicht um das, wessen du bedarfst, sondern es handelt sich um das, wessen die Kinder bedürfen. Du siehst die Kinder nur beim Frühstück, wenn du ›Dagbladet‹, und beim Tee, wenn du die ›Hamburger Nachrichten‹ liest, und bist verstimmt, wenn sie sprechen oder wohl gar eine Frage an dich richten. Es ist möglich, daß dir die Nähe der Kinder ein gewisses Wohlgefühl gibt, aber es ist damit nicht viel anders als mit der Zuckerdose da, die regelmäßig rechts von dir stehen muß, wenn es dir wohl sein soll. Du bedarfst der Kinder, sagst du. Glaubst du, daß ich ihrer nicht bedarf, hier in dieser Einsamkeit und Stille, darin ich nichts habe als meine gute Dobschütz? Aber das Glück meiner Kinder gilt mir mehr als mein Behagen, und das, was die Pflicht vorschreibt, frägt nicht nach Wohlbefinden.«
Holk strich mit der Linken über das Tischtuch, während er mit der Rechten die Zuckerdose drei-, viermal auf- und zuknipste, bis die Gräfin, die bei diesem Tone jedesmal nervös wurde, die Dose beiseite schob, was er ruhig geschehen ließ. Denn er begriff vollkommen, daß solche schlechte Angewohnheit schwer zu ertragen sei. Mehr noch, der ganz geringfügige Zwischenfall gab ihm seine gute Laune wieder. »Meinetwegen, Christine. Besprich es mit Schwarzkoppen und deinem Bruder und natürlich mit unserer guten Dobschütz. Und dann tut nach eurem Ermessen. Ist es doch überhaupt nutzlos, über all das eine Fehde zu führen, und ich ärgere mich nachträglich über jedes Wort, das ich dir geantwortet habe. Denn eigentlich«, und er nahm ihre Hand und küßte sie, »eigentlich ist es doch eine kleine Komödie, die du spielst, eine liebenswürdige kleine Komödie. Du willst mich, ich weiß freilich nicht recht warum, in dem Glauben erhalten, als ob ich hier auf Holkenäs etwas zu sagen hätte. Nun, Christine, du bist nicht bloß viel charaktervoller als ich, du bist auch viel klüger; aber so wenig klug bin ich doch nicht, daß ich nicht wissen sollte, wer hier Herr ist und nach wem es geht. Und wenn ich eines Morgens hier am Frühstückstisch erschiene und du sagtest mir: ›Ich habe über Nacht zwei Pakete gemacht, und das eine habe ich nach Schnepfental und das andere nach Gnadenfrei geschickt, und in dem einen Paket war Axel und in dem anderen war Asta‹, so weißt du mit jeder erdenklichen Gewißheit, daß ich vielleicht einen Augenblick stutzen, aber gewiß nicht widersprechen oder mich wohl gar bis zu Vorwürfen steigern würde.«
Die Gräfin lächelte halb befriedigt, halb wehmütig.
»Nun sieh«, fuhr Holk fort, »du gibst mir recht, und wenn du noch einen Augenblick damit zögern wolltest, so würde ich mich zur Entscheidung an unsere Freundin Julie wenden. Nicht wahr, liebe Dobschütz, es ist eine Torheit und eigentlich ein grausames Spiel, von den Widersprüchen oder Unentschlossenheiten eines Mannes zu sprechen, dessen Unentschlossenheiten nie ein Hindernis sind, weil sie durch die Bestimmtheiten seiner besseren Hälfte zu baren Gleichgültigkeiten herabsinken. Aber da biegt ja die ›Dronning Maria‹ grad um Farö-Klint herum. Noch fünf Minuten, so ist sie heran. Ich schlage vor, daß wir bis an die Landungsbrücke gehen und die Kopenhagener Briefschaften in Empfang nehmen.«
»Nein, ich«, rief Asta, die das Wort von dem Herankommen der ›Dronning Maria‹ nebenan gehört und den Flügel, auf dem sie übte, sofort zugeklappt hatte. »Nein, ich; ich bin flinker.« Und ehe noch mit einem Ja oder Nein geantwortet werden konnte, flog sie schon die Terrasse hinunter und auf den Pier zu, dessen Endpunkt sie fast in demselben Augenblicke erreichte, wo das Schiff anlegte. Der Kapitän, der die junge Komtesse sehr wohl kannte, grüßte militärisch und reichte dann persönlich von der Kommandobrücke her die Zeitungen und Briefschaften. Einen Augenblick später setzte sich das Schiff, auf Glücksburg zu, weiter in Bewegung. Asta aber eilte zurück, auf die Terrasse zu, und als sie halb herauf war, hielt sie schon einen Brief in die Höhe, an dessen Format und großem Siegel Graf und Gräfin unschwer erkannten, daß es ein dienstliches Schreiben sei. Gleich danach war die junge Komtesse wieder oben unter der Säulenhalle und legte die Zeitungen auf den Tisch, während sie den Brief dem Papa überreichte.
Dieser überflog die Adresse und las: »Sr. Hochgeboren dem Grafen Helmuth Holk auf Holkenäs, stellvertretendem Propst des adligen Konvents zu St. Johannes in Schleswig, Kammerherr I. K. H. der Prinzessin Maria Eleonore.«
»So korrekt und so vollständig«, sagte die Gräfin, »schreibt nur einer. Der Brief muß also von Pentz sein. Ich muß immer lachen, wenn ich an ihn denke, etwas Polonius und etwas Hofmarschall Kalb. Asta, du solltest aber weiterüben; die ›Dronning Maria‹, glaub ich, kam dir sehr zupaß.«
Und Asta ging an den Flügel zurück.
Holk hatte inzwischen den Brief geöffnet und begann ohne weiteres mit seiner Verlesung, weil er wußte, daß er keine Staatsgeheimnisse verraten würde.
»Kopenhagen, Prinzessinnen-Palais
28. September 1859
Lieber Holk. Unsren freiherrlichen Gruß zuvor! Und meinem Gruß auf der Ferse die ganz ergebenste Bitte, michs nicht entgelten lassen zu wollen, daß ich auf dem Punkt stehe, das Familienleben auf Schloß Holkenäs zu stören. Unser Freund Thureson Bille, der am 1. Oktober den Dienst bei der Prinzessin antreten und mit Erichsen alternieren sollte, liegt seit drei Wochen an den Masern danieder, eine Kinderkrankheit, von der man in diesem Falle sagen darf (ich zitiere hier unsre Prinzessin, Königliche Hoheit), sie habe sich an den rechten Mann gewandt. Nun hätten wir freilich noch Baron Steen, aber der ist gerade in Sizilien und wartet schon seit fünf Wochen auf einen Ätna-Ausbruch. Seitdem Steen allerpersönlichst sein eruptives Leben nicht mehr fortsetzen kann, hat er sich den Eruptionen der feuerspeienden Berge zugekehrt. Wie seine eigne Vergangenheit ihm daneben erscheinen mag! Ich kenne ihn nun seit dreißig Jahren. Er war, trotz aller Anstrengungen, ein Don Juan zu sein, im wesentlichen immer nur ein Junker Bleichwang, also, gemessen an seinen Ansprüchen, so ziemlich das Lächerlichste, was man sein kann. Aber lassen wir das und wenden wir uns der Hauptsache zu; Steen und Bille versagen, und so bleiben nur Sie. Die Prinzessin selbst läßt Ihnen und der liebenswürdigen Gräfin ihr Bedauern darüber aussprechen und beauftragt mich, hinzuzufügen, ›sie würde sich mühen, Ihnen die Tage so leicht und angenehm wie möglich zu machen‹. Und das wird ihr auch gelingen. Der König hat vor, den Spätherbst in Glücksburg zuzubringen, die Danner natürlich mit ihm, und so finden Sie denn unsere Serenissima, die, wie Sie wissen, mit der Danner nicht gern dieselbe Luft atmet, bei bester Laune. Die Stellung Halls, der in politicis nach wie vor der Liebling im Prinzessinnen-Palais ist, ist erschüttert, aber auch das trägt dazu bei, die Stimmung der Prinzessin selbst zu verbessern, denn dem ›Bauern-Ministerium‹, das nah bevorsteht, verspricht alle Welt nur eine Dauer von vier Wochen, und wenn Hall dann wieder eintritt (und man wird ihn beschwören, es zu tun), so steht er fester denn je zuvor. Im übrigen, lieber Holk, und ich freue mich, dies hinzusetzen zu dürfen, ist es nicht nötig, daß Sie sich hasten und eilen und gleich den ersten Dampfer benutzen; die Prinzessin läßt Ihnen dies eigens sagen, eine besondere Gunstbezeugung, da Pünktlichkeit im Dienst zu den Dingen gehört, auf die sie sonst hält und bei denen sie unter Umständen empfindlich werden kann. Ich breche hier ab und nehme nichts vorzeitig aus dem Sack voll Neuigkeiten heraus, den ich für Sie habe. Die Prinzessin nimmt es außerdem übel, wenn man vorweg ausplaudert, was sie selber gern erzählen möchte. Nur ein Kosthäppchen. Adda Nielsen quittiert die Bühne und wird Gräfin Brede, nachdem sie vierzehn Tage lang geschwankt, ob sie nicht lieber in ihrer freieren und finanziell vorteilhafteren Stellung bei Grossierer Hoptrup verbleiben solle. Das Legitime hat aber doch auch einen Reiz, und nun gar eine legitime Gräfin! Hoptrup, selbst wenn er ein Witwer werden sollte (woran vorläufig noch gar nicht zu denken), kann, trotz seiner Millionen, über den Etatsrat nie hinaus. Und das ist für die Ansprüche einer ersten Tragödin zuwenig. De Meza ist Flügeladjutant geworden, Thomsen und Worsaae haben sich mal wieder gezankt, natürlich über einen ausgehöhlten versteinerten Baumstamm, den Worsaae bloß bis auf Ragnar Lodbrock, Thomsen aber, dem das nicht genug ist, bis auf Noah zurückverlegen will. Ich bin für Noah; er weckt mir angenehmere Vorstellungen: Arche, Taube, Regenbogen und vor allem Weinstock. Lassen Sie mich in einer Zeile wissen oder am besten in einem Telegramm, wann wir Sie erwarten dürfen. Tout à vous.
Ihr Ebenezer Pentz.«
Holk, als er den Brief gelesen, verfiel in eine herzliche Heiterkeit, in die die Gräfin nicht einstimmen mochte.
»Nun, was sagst du, Christine? Pentz from top to toe. Voll guter Laune, voll Medisance, zum Glück auch voll Selbstironie. Das Hofleben bildet sich doch wunderbare Gestalten aus.«
»Gewiß. Und besonders drüben in unserem lieben Kopenhagen. Es kann auch in seinem Hofleben von seiner ursprünglichen Natur nicht lassen.«
»Und was ist diese Natur?«
»Tanzsaal, Musik, Feuerwerk. Es ist eine Stadt für Schiffskapitäne, die sechs Monate lang umhergeschwommen und nun beflissen sind, alles Ersparte zu vertun und alles Versäumte nachzuholen. Alles in Kopenhagen ist Taverne, Vergnügungslokal.«
Holk lachte. »Thorwaldsen-Museum, nordische Altertümer und Olafkreuz und dazu die Frauenkirche mit Christus und zwölf Aposteln... Auch das?«
»Ach, Holk, welche Frage! Da ließe sich noch viel andres aufzählen, und ich bin nicht blind für all das Schöne, was da drüben zu finden ist. Es ist eigentlich ein feines Volk, sehr klug und sehr begabt und ausgerüstet mit vielen Talenten. Aber so gewiß sie die Tugenden haben, die der Verkehr mit der Welt gibt, so gewiß auch die Schattenseiten davon. Es sind lauter Lebeleute; sie haben sich nie recht quälen und mühen müssen, und das Glück und der Reichtum sind ihnen in den Schoß gefallen. Die Zuchtrute hat gefehlt, und das gibt ihnen nun diesen Ton und diesen Hang zum Vergnügen, und der Hof schwimmt nicht nur bloß mit, er schwimmt voran, anstatt ein Einsehen zu haben und sich zu sagen, daß der, der herrschen will, mit der Beherrschung seiner selbst beginnen muß. Aber das kennt man in Kopenhagen nicht, und das hat auch deine Prinzessin nicht, und am wenigsten hat es dieser gute Baron Pentz, der, glaub ich, das Tivoli-Theater für einen Eckpfeiler der Gesellschaft hält. Und in dem Sinne schreibt er auch. Ich kann diesen Ton nicht recht leiden und muß dir sagen, es ist der Ton, der nach meinem Gefühl und fast auch nach meiner Erfahrung immer einer Katastrophe vorausgeht.«
Holk war andrer Meinung. »Glaube mir, Christine, soviel königliche und nicht königliche Gasterei drüben sein mag, das Gastmahl des seligen Belsazar ist noch nicht da, und der Untergang wird meinen lieben Kopenhagnern noch lange nicht an die Wand geschrieben... Aber was tue ich dieser Zitation meiner Prinzessin gegenüber?«
»Natürlich ihr gehorchen. Du bist im Dienst, und solange du's für richtig hältst, darin zu verbleiben, so lange hast du bestimmte Pflichten und mußt sie erfüllen. Und in dem vorliegenden Falle, je eher je lieber. Wenigstens nach meinem Dafürhalten. Das mit dem Urlaub oder mit der Versicherung, ›es habe keine Eile‹, das würd ich nicht glauben und jedenfalls nicht annehmen. Ich bin allem Höfischen aus dem Wege gegangen und habe einen Horror vor alten und jungen Prinzessinnen, aber soviel weiß ich, doch auch vom Hofleben und seinen Gesetzen, daß man an Huldigungen nicht leicht genug tun kann und daß die ruhige Hinnahme bewilligter Freiheiten immer etwas Mißliches ist. Und dann, Holk, wenn du auch noch bleiben wolltest, es wären doch unruhige Tage für dich und mich, für uns alle. Kann ich dir also raten, so reise morgen.«
»Du hast recht; es ist das beste so, nicht lange besinnen. Aber du solltest mich begleiten, Christine. Die Hansen drüben hat das ganze Haus, also Überfluß an Raum, und ist eine Wirtin, wie sie nicht besser gedacht werden kann. Und was die Bekanntschaften angeht, so findest du die Schimmelmann und die Schwägerin unserer guten Brockdorff und Helene Moltke. Ich nenne diese drei, weil ich weiß, daß du sie magst. Und dann gibt es doch auch Kirchen in Kopenhagen, und Melbye ist dein Lieblingsmaler, und vor dem alten Grundtvig hast du zeitlebens Respekt gehabt.«
Die Gräfin lächelte. Dann sagte sie: »Ja, Helmuth, da bist du nun wieder ganz du. Noch keine Stunde, daß wir von den Kindern und ihrer Unterbringung gesprochen haben, und schon hast du alles wieder vergessen. Einer muß doch hier sein und das, was zu tun ist, in die rechten Wege leiten. Ich möchte wissen, was dich eigentlich beschäftigt. Alle Körner fallen aus deinem Gedächtnis heraus, und nur die Spreu bleibt zurück. Verzeih, aber ich kann dir diese bittren Worte nicht ersparen. Ich glaube, wenn mein Bruder Alfred stirbt oder vielleicht auch wer, der dir noch nähersteht, und du hast gerad eine Hühnerjagd angesagt, so vergißt du, zum Begräbnis zu fahren.«
Holk biß sich auf die Lippen. »Es glückt mir nicht, dich freundlich zu stimmen und dich aus deinem ewigen Brüten und Ernstnehmen herauszureißen. Ich frage mich, ist es meine Schuld oder ist es deine?«
Diese Worte blieben doch nicht ohne Wirkung auf Christine. Sie nahm seine Hand und sagte: »Schuld ist überall, und vielleicht ist meine die größere. Du bist leichtlebig und schwankend und wandelbar, und ich habe den melancholischen Zug und nehme das Leben schwer. Auch da, wo Leichtnehmen das Bessere wäre. Du hast es nicht gut mit mir getroffen, und ich wünschte dir wohl eine Frau, die mehr zu lachen verstände. Dann und wann versuch ich's, berühme mich auch wohl, daß ich's versucht, aber es glückt nicht recht. Ernst bin ich gewiß und vielleicht auch sentimental. Vergiß, was ich dir vorhin gesagt habe; es war hart und unrecht, und ich habe mich hinreißen lassen. Gewiß, ich klage dich oft an und will es nicht leugnen, aber ich darf auch sagen, ich verklage mich vor mir selber.«
In diesem Augenblicke trat Asta vom Salon her wieder unter die Halle, einen Helgoländerhut über dem linken Arm.
»Wo willst du hin?«
»Zu Elisabeth. Ich will ihr die Notenmappe zurückbringen, die sie gestern hiergelassen.«
»Ah, das trifft sich gut«, sagte Holk, »da begleit ich dich ein Stück Wegs.« Und Asta, die wohl sah, daß ein ernsthaftes Gespräch stattgefunden hatte, grüßte zunächst die Dobschütz und küßte dann der Mutter die Stirn. Und gleich danach nahm sie des Vaters Hand und ging mit ihm die Halle hinunter, auf die Gartenfront des Hauses zu.
Als sie fort waren, sagte die Dobschütz: »Ich möchte beinah glauben, Christine, du hättest die Notenmappe noch gern ein paar Tage hierbehalten? Ich sah gestern abend, welchen Eindruck das Lied auf dich machte.«
»Nicht die Komposition, bloß der Text. Und den hab ich mir im ersten Eifer gleich gestern abgeschrieben. Bitte, liebe Julie, hol ihn mir von meinem Schreibtisch. Ich möchte wohl, du läsest mir das Ganze noch einmal vor oder doch wenigstens die erste Strophe.«
»Die gerade kann ich auswendig«, sagte die Dobschütz.
»Ich vielleicht auch. Aber trotzdem möcht ich sie hören; sage sie mir, und recht langsam.«
Und nun sprach die Dobschütz langsam und leise vor sich hin:
»Die Ruh ist wohl das Beste
Von allem Glück der Welt,
Was bleibt vom Erdenfeste,
Was bleibt uns unvergällt?
Die Rose welkt in Schauern,
Die uns der Frühling gibt,
Wer haßt, ist zu bedauern,
Und mehr noch fast, wer liebt.«
Die Gräfin ließ von ihrer Arbeit ab, und eine Träne fiel auf ihre Hand. Dann sagte sie: »Eine wunderbare Strophe. Und ich weiß nicht, was schöner ist, die zwei Zeilen, womit sie beginnt, oder die zwei Zeilen, womit sie schließt.«
»Ich glaube, sie gehören zusammen«, sagte die Freundin, »und jedes Zeilenpaar wird schöner durch das andre. ›Wer haßt, ist zu bedauern, und mehr noch fast, wer liebt.‹ Ja, Christine, es ist so. Aber gerade, weil es so wahr ist...«
»Ist das andre, womit die Strophe beginnt, noch wahrer: Die Ruh ist wohl das Beste.«