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Der Engländer gestern wie heute

Das Leben ein Sturm

Glückliches Land im Süden, dessen großer Dichter niederschreiben konnte: »Das Leben ein Traum«, und armes, gepriesenes Land du, das du die Seligkeit des Träumens nicht kennst und immer wach und wirklich dein Leben abhaspelst wie im Sturm. Als ich noch jünger war, da kniet ich bewundernd zu den Füßen der Tat, da galt mir das Schwert und der Arm, der es führte, da hing mein Auge an der Kaisergestalt Barbarossas, und mein Herz jubelte auf, wenn ich ihn einziehen sah in die Tore Mailands, den Welfentrotz unterm Hufschlag seines Pferdes. Die Knabentage sind dahin. Ich habe seitdem anderes lieben gelernt: den Geist erst, dann das Recht und zuletzt die Muße, die Beschauung, die Vorbereitung auf das, was da kommt. Es ist was in mir, das mich mit unwiderstehlicher Sehnsucht zu dem zerlumpten Lazzarone hinzieht, der an der Tempelschwelle, gebräunt und lächelnd, in den ewigblauen Himmel emporschaut; es ist was in mir, was mich den Diogenes mehr bewundern läßt als den Mann, der vor ihm in der Sonne stand, und was – wenn ich zwischen Extremen wählen soll – mir den Orden von La Trappe größer und beneidenswerter erscheinen läßt als die London-City mit ihrem Leben ein Sturm.

Wir haben ein schönes, vielgesungenes Lied, ein Lied von der »Hoffnung«, drin das Beste, was der Mensch hat – seine Sehnsucht nach einem Genüge, das jenseit liegt, den dichterischen Ausdruck fand:

Nach einem glücklichen, goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen.

Ach, unbewußt und nicht in seinem Sinne schrieb der Dichter in diesen Zeilen die Geschichte und den Fluch dieser Stadt, denn ihr Tagewerk ist »rennen und jagen« und ihr Ziel ist – Gold; nur eines täuscht sie – das Glück; es neckt sie wie die Spiegelung den Wüstenwanderer, und zu dem Verdurstenden spricht es in seiner letzten Minute: Dein Gold war Sand. Wer löste das große Rätsel von des Menschen Glück, und wer lehrte uns, »wie« und »wo« es sicher zu finden? Aber eines fühlt sich: das Menschenglück ruht wo anders als in der Bank von England. Glück! es ist nicht zu sagen, was du bist, aber es ist zu zeigen, wer dich hat. Der fromme Geistliche hat dich, der, selbst an den Trost glaubend, den er eben noch am Lager eines Sterbenden spendete, nun sinnend durch die Gänge seines Gartens schreitet und Samen in die Beete streut, hoffend auf die ewige Frühlingserfüllung. Glück! der Arzt hat dich, dessen geschickte Hand eine Mutter ihren Kindern wiedergab und der, heimgekehrt zu seinen Büchern, weiterforscht in dem Wald überlieferter Erfahrung. Glück! jene Waschfrau hatte dich, von der uns Chamisso erzählt, die Freude hatte an ihrem selbstgesponnenen Sterbehemd und es Sonntags anlegte, wenn sie zur Kirche und Erbauung ging. Glück! es haben dich alle, die eingedenk, daß wir mehr sind als ein galvanisierter Leib, ihrem unsterblichen Teile leben, jeder nach seiner Art.

Dem Menschen ist das Wissen von dem verloren gegangen, was ihm not tut. Eine Krankheit, wie sie die Welt nur einmal sah, als die Pizarros in Blut und Gold erstickten, schüttelt wieder das Menschengeschlecht, und England, London ist der Herd dieses Fiebers. Die Woche verrinnt in rastlosem Mammondienst, und der Tag des Herrn ist eitel Lüge und Schein. Mechanisch wandern die Füße in die Kirche, aber die Seele durchjagt schon wieder die Citystraßen und sucht in den Spalten des Börsenberichts nach Gewinn oder Verlust. Wie der König im Hamlet könnte dies Geschlecht ausrufen:

Mein Wort strebt auf, doch unten bleibt mein Herz:
Gebet ohn Andacht dringt nicht himmelwärts;

aber Selbsterkenntnis ist nicht ihr zugewogen Teil, und pharisäisch leben sie dem Glauben: sie ständen gut angeschrieben im Kontobuch des Himmels. Trostloses Dasein, das sich teilt zwischen atemlosem Erwerben und zitterndem Erhalten, das, reich oder arm, keine Ruhe, keine Muße kennt, das nachts von Kurszetteln träumt und die schwarze Sorge im Nacken hat bei Wein und Weib, bei Jubel und Gesang. Dies ameisenhafte Schaffen bemächtigt sich der Gemüter mit der Ausschließlichkeit einer fixen Idee, und die reiche Menschenseele mit ihren tausend Kräften und Empfindungen kommt in die Tretmühle des Geistes und stapft und stapft. Es fördert vielleicht, nur nicht sich selbst. Des Lebens Reiz verblaßt, und die ungeübten Kräfte versagen endlich ihren Dienst. Weihnachten kommt mit seinen roten Backen an Äpfeln und Kindern; verlegen lächelnd steht er vor dem Lichtermeer und denkt an das Meer da draußen, auf dem seine Schiffe tanzen. Ein Jugendfreund kommt; »o, ging er wieder!« ist alles, was er fühlt. Seine Schwester stirbt; er erbricht den schwarzgeränderten Brief und liest und kann nicht weinen. Spät nachts wirft er sich aufs Lager, die Erinnerung ärmerer Tage beschleicht ihn, er sieht sich wieder spielen in seines Vaters Garten und – die Träne kommt. Aber sie gilt nicht der toten Schwester, sie gilt ihm selbst.

Glückliches Volk im Süden, das lacht und träumt! Armes, reiches Volk mit deinem Leben ein Sturm.

Die Middlesex-Wahl

Die Wahlen in London waren vorüber und meine Erwartungen – getäuscht. Ich hatte nicht eben auf Krawall und Zusammenrottung oder gar ein Revolutiönchen nach der Mode gerechnet, aber doch auf eine allgemeine und sichtbare Beteiligung der Bevölkerung, auf eine veränderte Physiognomie der Stadt und ihres Treibens. Nichts von dem allen traf ein. Hier und dort ein Riesenplakat in bunten Lettern; auf den Märkten und Plätzen eine Votierbude; in den Bierhäusern vermehrte Konsumtion von Porter und Ale; an den Straßenecken ein Austernhändler, der seinen stummen Meerbewohnern ein »votiere für X oder Y« auf die Schale geklebt hatte; sonst nichts als schlaff herabhängende Fahnen, die darüber nachzudenken schienen, was langweiliger sei: diese Wahl oder ihre eigene Bestimmung. Keine Teilnahme, kein gesteigertes Leben, kein Abweichen von dem ausgefahrenen Gleise täglichen Verkehrs. Punkt neun Uhr wie immer fuhren die City-Kommis im dichtbesetzten Omnibus die Oxfordstraße entlang; Punkt ein Uhr wie immer zogen die Horse-Guards auf Wache; im Jamespark soviel Kindermädchen wie sonst, im Hydepark soviel Ladys zu Pferde wie immer; ja selbst am Büchertisch meines Nachbars, des Straßenantiquars, fehlte kein teures Haupt, und die »lieben alten Gesichter« blätterten so emsig in den vergilbten Scharteken von »Bothwell, der Königsmörder«, oder, »Die Kunst, von jeder Frau geliebt zu werden«, umher, als wäre ihnen der Sieg von Whig oder Tory so gleichgültig wie der Sturz oder die Ernennung eines chinesischen Mandarinen.

Das Schauspiel einer englischen Wahl wird nur noch in kleinen Provinzialstädten aufgeführt, wo es, wenigstens auf Tage, möglich ist, der ganzen Bevölkerung eine gemeinschaftliche Richtung zu geben, und wo das Wahlfeuer noch nicht auf jene eisige Apathie millionenfachen Unglücks oder doch unvereinbarer Interessen stößt, die die Flamme dämpft, statt sich von ihr entzünden zu lassen. Wer in London lebt, der wähle Brentford, wenn er das Bild einer englischen Wahl mit in die Heimat nehmen will; er findet da noch die gute alte Zeit mit ihrem Reiz und ihrem – Unsinn.

Brentford, kaum eine deutsche Meile von London entfernt, ist der alte Sammelplatz der Wähler von Middlesex und die Hauptstadt jener kleinen Grafschaft, die sich in schmalem Streifen um die Riesenstadt herumlegt wie ein wertloser Ring um einen Edelstein, den die Erde zu arm ist, mit ihrem Golde aufzuwiegen. Middlesex schickt zwei Vertreter ins Parlament, seit Jahren dieselben Namen: Lord Grosvenor und Mr. Osborne; jener ein Whig aus der alten Schule, energisch nur in seiner Feindschaft gegen alles, was Tory heißt, – dieser ein Freund und Geistesverwandter des alten Radikalen Hume, des »Vaters der Reformbill«. Lord Grosvenor und Mr. Osborne waren auch diesmal wieder gewählt, der letztere jedoch mit einer kaum nennenswerten Majorität. Vielfach während der Zählung hatte sich die Wage zugunsten seines Nebenbuhlers, des Marquis von Blanford, eines eifrigen Derbyten und früheren Vertreters von Woodstock geneigt, und nur die Anhänglichkeit des Städtchens Brentford selbst hatte schließlich die Wiederwahl des »Volksmannes« gesichert. Die Zählung war vorüber und das Resultat bekannt, aber die amtliche Verkündigung desselben durch den Grafschafts-Scheriff, in goldener Kette und Galanteriedegen, stand noch bevor. Heute war der Tag, zwölf Uhr die festgesetzte Stunde und – das Volk geladen. »Lord Grosvenor und Mr. Osborne werden die Ehre haben, der Bevölkerung von Middlesex aufzuwarten ( they will attend)« – so lautete die Schlußversicherung in vielen hundert Plakaten. Möglich, daß das Wort im Englischen eine mildere Bedeutung hat (»erwarten« vielleicht), nichtsdestoweniger ist es ein »Aufwarten« der Sache nach, ein entschiedenes »Aufwarten«, insofern der Gewählte durch Sitte oder Gesetz verpflichtet ist, auf die oft dümmsten Fragen eines bunt zusammengewürfelten Haufens Red und Antwort zu stehn. Das Ganze ist ein so prächtiges Stück von Volkssouveränität, wie es nur irgendwie und -wo gewünscht werden kann.

Es geht ein Omnibus nach Brentford. So lange wir London und seine Vorstädte noch zu beiden Seiten hatten, rang das politische Treiben vergeblich nach Geltendmachung; die Hochflut des Londoner Lebens, sein Handel und Wandel schlugen darüber zusammen und begruben es. Kaum aber, daß wir die »Stadt« im Rücken hatten, so trat ans Licht, was eben noch überwuchert war, und hundert Zeichen deuteten auf den Kampf, der sich in Brentford vorbereitete. Die Chaussee, auf der wir dahinrollten, glich wirklich einer Heerstraße. Anhänger beider Parteien, die einen mit blau-rot-weißen Bändern am Hut, die andern mit blau-gelb-grünen Schleifen im Knopfloch, galoppierten wie diensttuende Adjutanten an uns vorüber; neue Truppenmassen, mit Musik an der Spitze und bei jedem Bierhause zum Weitermarsch sich stärkend, wurden von rechts und links ins Feuer geführt; Marketenderinnen mit ihrem Karrenkram saßen unter Ahorn- und Ulmenbäumen, schlechtes Bier aber guten Schatten feilbietend, und Maueranschläge zu beiden Seiten des Weges (denn die Häuserreihe reißt nicht ab) starrten sich wie feindliche Herolde einander an und sagten sich Dinge, die den Schimpfern und Helden vor Troja alle Ehre gemacht haben würden.

Doch das alles war Vorspiel. Das eigentliche Stück begann erst, als wir in Brentford einfuhren, und wenn gewisse Dramatiker recht haben, die da meinen, »ein gutes Beispiel müsse mit einer guten Dekoration beginnen«, so ist kein Zweifel darüber, daß die Brentforder zu den bühnenpraktischen Leuten zählen. Das war nicht mehr die verräucherte Fabrikstadt, das war ein Laubhüttenfest. Wie bei uns um Pfingsten, wenn halbe Birkenwälder in unsre Dörfer wandern und selbst der Lehmhütte ein festlich grünes Kleid antun, so war das rußige Brentford jetzt ein märchenhaft geputztes Aschenbrödel geworden: es war auch zum Weidenbaum gegangen, aber der Baum brauchte sich nicht aufzutun, aller Schmuck hing frei an den Zweigen. Die Häuser – ein Wald, und die Fenster – ein Garten! Da blühten Fuchsia und Rose, Erika und Rhododendron; hinter den Blumen blühten die Mädchen, und wieder über die Köpfe der Töchter hinweg guckten die Mütter, freilich keine Blüten mehr, und ließen die blau-grün-gelben Haubenbänder im Winde flattern. Alles nickte und grüßte und lachte, selbst Gouvernanten entschlugen sich ihres vorschriftsmäßigen Ernstes und lächelten so bedeutungsvoll wie der Sklave, wenn er die Kette bricht.

Dazu zahllose Girlanden, die sich von Dach zu Dach quer über die Straße zogen. Der Inhalt ihrer Tafeln und Inschriften war es, was mehr als alles andere der Festdekoration meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ich gebe einige dieser Kernsprüche in wortgetreuer Übersetzung:

 

»Triumph bürgerlicher und religiöser Freiheit!«

 

So empfing uns eine Fahne am Eingang in die Stadt.

 

»Wer ist bigott? wer predigt religiöse Verfolgung? wer stimmt gegen unsere katholischen Brüder? Wer?

Der Marquis von Blanford!

Mag er's leugnen, wenn er kann, oder dastehen als ein Wolf in Schafskleidern.«

»Ein Derby-Hündchen (Marlborough-Rasse) hat sich verlaufen und ist von Woodstock nach Middlesex geraten. Leider hat man ihn hier dermaßen gebissen, daß er froh sein mag, in seine alte Hütte zurückzukehren. Glückliche Reise!«

 

Diese letztere Spötterei war das Grundthema unzähliger Variationen, die ich übergehe; endlich unter einer zweiten Riesenfahne, die ohne weiteres den »Sturz der Intoleranz!« verkündigte, fuhren wir auf den Marktplatz, wo die Vorstellung soeben begonnen hatte: Lord Grosvenor »wartete bereits auf«.

Doch weg jetzt mit dem historischen Stil und das lebendige Präsens an seine Stelle! Lord Grosvenor ist ein ältlicher Herr; seinen Zähnen nach zu schließen keiner von denen, die das Derby-Hündchen herausgebissen haben. Er spricht undeutlich und sehr lange; so haben wir denn Zeit, uns umzusehen. In der Mitte des Platzes steht die Rednertribüne; unmittelbar dahinter erheben sich amphitheatralisch ansteigend die Bänke der Wähler, im Vordergrunde befindet sich »Volk« und füllt den Platz, ein Konglomerat zerrissener Jacken und schmutziger Hemdsärmel. Mit seinen eigentlichen Wählern ist der Kandidat seit gestern fertig; nur noch mit dem »Volke« hat er sich auseinanderzusetzen. Drum kehrt er auch vorschriftsmäßig jenen den Rücken zu und wendet sich mit dem üblichen: »Gentlemen, ich habe die Ehre ...« an eine Musterkarte von Straßenkehrern und Schiffsknechten, die Oberst Bersdorf (ein Derbyt in Norwich) so unhöflich war, »das erbärmlichste Gesindel« zu nennen, »das ihm all sein Lebtag vorgekommen sei«.

Auch das »schöne Geschlecht« ist auf dem Marktplatz vertreten und steuert bei, je nach seiner Art, zur Verherrlichung und Charakteristik des Festes. Zunächst der Tribüne und mitten durch den Volkshaufen hindurch zieht sich auf gepolsterter Bank ein Streifen reichgeputzter Damen, wie eine Amethyst-Ader durch Rauchquarz. Sie haben ihre Schirme aufgespannt; ich wette, mehr um sich gegen die »Gentlemen«, als gegen die Sonne zu schützen. Das schöne Geschlecht von Brentford hat aber auch andere Vertreter abgesandt: Mannweiber, zwischen fünfzig und sechzig, mit Katzenschnurrbart und grauen Augen; sie haben am äußersten Rande des Volkshaufens in langer Reihe Posto gefaßt, und wie Trabanten mit langen Stangen bewaffnet, lassen sie deren Inschriften und Embleme über den Köpfen ihrer Männer und Söhne hin und her wehen. Diese Inschriften lauten: »Der Marquis von Blanford ist gegen das billige Brot,« und um es dem blödesten Sinne faßbar zu machen, um was es sich handelt, prangen auf andern Stangen die handgreiflichen Illustrationen dazu: hier ein Brötchen, kaum größer als eine Faust, mit der Aufschrift: »Blanford für Sixpence«, dort ein Riesenbrot mit dem Zuruf: »Osborne für drei Pence.«

Endlich! Lord Grosvenor ist fertig und macht dem »Volksmann« Platz. Er wird wie eine Tänzerin empfangen, die fünf Monate auf Urlaub war und zum ersten Male wieder die Wunder des großen Zehen vor ihren alten Freunden entfaltet; es ist nicht Huldigung mehr, es ist Raserei. Und in der Tat, Mr. Osborne hat Anspruch auf diesen Beifallsjubel: er tanzt die englischen Nationaltänze, daß es eine Freude ist, und seine Rede wimmelt von »großer Nation« und »ehrenwerten Gentlemen«, von »Freihandel« und »billigem Brot«, – da widerstehe, wer kann! Sicherlich, daß die stereotype Schlußposse des Kontinents, »das Volk als Pferd«, auch hier Platz gegriffen hätte, wenn nicht Mr. Osborne ein bescheidener Fußgänger gewesen wäre. Noch ist der Beifall in der Luft, da lösen ihn plötzlich andere Töne ab: Der Marquis von Blanford (auch der besiegte Kandidat hat sich nach alter Sitte dem Volk zu präsentieren) ist vorgetreten, um der Versammlung kaltblütig zu versichern, »daß er und seine Sache das nächstemal die Sieger sein würden«. Aber weiter bringt er's nicht; zwar spricht er noch und versucht seine Stimme in allen Tonlagen, jedoch umsonst. Ein Lärm hat sich erhoben, gegen den der Beifallssturm der vorigen Minute ein bloßes Gesäusel war. Was menschliche Organe je erfanden, um ihre Verachtung auszudrücken, vereinigt sich hier zu einem Monsterkonzert; unsere vaterländischen Katzenmusiken sinken zu bloßen, Stümpereien herab oder erheben sich vergleichsweise zum Wohlklang einer Symphonie. Die Pfeife ist natürlich das Grundinstrument, aber auch das englisch-nationale Grunzen findet seine Virtuosen, und die zahllosen Mäuler unzähliger alter Weiber blasen, wie Vansen im Egmont, dem unglücklichen Marquis ihr hämisches A, E, I, O, U ins Gesicht. Zu gleicher Zeit dringt jetzt die Amazonengarde vor, postiert sich mit dem Riesen- und Zwergbrot dicht vor die Augen des Redners, fächelt ihm mit den Papierfahnen: »Blanford ist gegen das billige Brot« unerquickliche Kühlung zu und schwingt die grünen Büschel mit den orangefarbenen Blumen (unsere sogenannte »Studentenblume«, die um ihrer Farbe willen an diesem Tage eine Hauptrolle spielt), nicht mehr im Triumph und mit den Zeichen der Freude, sondern drohend wie eine Rute. Umsonst erheben sich einige Stimmen: » give him fair play!« oder » let's hear him!« umsonst tritt der »Volksmann« vor und beschwört die Gentlemen, den Marquis zu hören, wenn sie seine (Osbornes) Freunde seien; umsonst dringt der Marquis noch einmal durch, um ihnen folgenden Satz in die Zähne zu werfen: »Ich verstehe die Schnurren und Witzeleien meiner Gegner und nehme sie lachend hin als das Unvermeidliche einer Wahl; aber es ist unwürdig, mir höhnisch das Jahrgeld vorzuhalten, das ein dankbares Vaterland meinem Ahn für seine Dienste und seine Siege bewilligte und das auf mich überging, weil ich das Glück habe, ein Enkel Herzog Marlboroughs zu sein.« Armer Marquis, wohin verirrst du dich? Du sprichst nicht im Unterhause und vor Leuten, die eine Ahnung von der Geschichte ihres Landes haben, du stehst vor »Gentlemen«, die von Höchstädt und Malplaquet so viel wissen wie von den Quellen des Nils. Wirf den Ruhm deines großen Ahnen nicht länger weg und gedenke der Perle im Sprichwort. Tu, was du jetzt tust: lächle und tritt ab.

Das Schauspiel war aus, das Volk verlief sich, ich selbst sprang auf den Omnibus, und während die heiße Mittagssonne mich unbarmherzig briet, hatt ich Zeit, über die Erlebnisse der letzten Stunden nachzudenken. Was soll diese Farce? Mag's immerhin recht sein, voll Mißtrauen auf die Superklugheit der Jungen zu blicken, dies Mißtrauen darf nicht zum Freibrief für all und jeden Nonsens vergangener Jahrhunderte werden. Der ganze Akt ist ein Widerspruch. In Ländern, wo alle Stimmen gleich schwer wiegen, mag dies »Aufwarten« vor versammeltem Volk einen Sinn haben, aber sinnlos ist es und für den besiegten Kandidaten ein Martyrium, um nichts und wieder nichts sich einer in den meisten Fällen bezahlten Rotte in solcher Weise preiszugeben, einer Genossenschaft, die, außerhalb des Wahlrechts stehend, wie auf Abschlag nur mit dem Schimpfrecht ausgestattet zu sein scheint und allerdings versteht, den weitesten Gebrauch davon zu machen. Weg mit solchem Plunder! »Das Jahr übt eine heiligende Kraft«, aber man möge aus demselben Dichter auch die Wahrheit lernen:

»Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.«

Die Manufaktur in der Kunst

England ist das Land der Manufaktur. Ich gedenke nicht, Bäume in den Wald zu tragen und das hundertmal Bewiesene noch einmal zu beweisen. Zweck dieser Zeilen ist es, auf eine ganz besondere Manufaktur, auf jene bis zu erstaunlicher Höhe getriebene Nachahmekunst hinzuweisen, die von einem oft ebenso genialen wie betrügerischen Substituieren lebt und Fach daraus macht, die Begriffe von Echt und Unecht, von Sein und Scheinen nach Kräften zu verwirren. Ich spreche dabei nicht von jener untergeordneten Nachahmekunst, die sich darauf beschränkt, Wein aus Wasser, Havannablätter aus Kohlabfällen und chinesische Tusche aus dem Rauchfang dessen zu bereiten, der sie nachher verbraucht. Nein, worauf ich heute die Aufmerksamkeit des Lesers hinlenken möchte, ist die Manufaktur, die Nachahmekunst in der Kunst selbst.

Byrons Don Juan ist unvollendet. Was liegt für einen Manufakturisten in der Kunst näher als bei passender Gelegenheit die Versicherung: er sei vollendet. Märchen werden ersonnen und durch Schrift und Rede geflissentlich verbreitet, warum der edle Lord mit der Veröffentlichung gerade dieser genialsten und formvollendetsten Gesänge gezögert habe, und endlich, wenn es geglückt ist, die Aufmerksamkeit des Publikums aufs höchste zu spannen, ja sogar eine liebenswürdige Minorität mit vollem Glauben an die Echtheit des Fabrikats vorweg zu erfüllen, so erscheint es endlich mit geschicktester Nachahmung alles dessen, was überhaupt nachzuahmen ist, und gleichviel, ob schließlich der Betrug entdeckt wird oder nicht, die Manufaktur hat ihren Zweck erreicht – Gewinn.

Shelly, der Beschimpfte, durch die öffentliche Meinung vom Vaterland Verbannte, war nichtsdestoweniger vor Jahr und Tag (wer verziehe nicht den Toten!) in der Mode; man las »Queen-Mab« und heimlich sogar die »Cenci«. Shelleys Freundschaft mit Byron war bekannt; es wäre unnatürlich gewesen, wenn sich kein Manufakturist für eine intime Shelley-Byron-Korrespondenz gefunden hätte. Eines Tages erscheint die Anzeige: »Briefwechsel (Originale) zwischen Percy Bysse Shelley und Lord Byron.« Es ist kein Zweifel. Handschrift, Siegel, Postzeichen, alles trägt den Stempel der Echtheit; die Personen befanden sich, wirklich und nachweislich, um die angegebene Zeit an den angegebenen Orten; Autographensammler, Schreibverständige und Buchhändler, alle sind zustimmender Meinung; und endlich der Inhalt selbst löst jedes letzte Bedenken: dieser Rückhaltlosigkeit, dieses Feuereifers gegen überkommene Sitte und Satzung waren nur zwei Köpfe fähig: Shelley und Byron. Zufällig gerät die Shelley-Korrespondenz in die Hände eines älteren Herrn, der die literarischen Fehden seiner Jugend und die leidenschaftliche Hingebung, mit der er einst zur Seite jener Vorkämpfer stand, in ländlicher Zurückgezogenheit und im stillen Glück des Familienlebens halb vergessen hat; er liest und – findet sich selbst; es sind seine Worte, äußerlich und innerlich; – alles Betrug, Manufaktur!

Das ergiebigste Feld indes bleibt doch immer die Malerei. Es gibt geradezu Fabriken, die sich mit der Anfertigung von Murillos, Rubens und Tizians beschäftigen. Was England beherrscht, und zwar mehr als sein Parlament, das ist die Mode. Die »Fashion« fordert jetzt alte Bilder, gleichviel ob gut oder schlecht, nur alt, nachweislich alt und, versteht sich, von einem Maler von Ruf. Da wachsen denn die Van Dyks, de Crayers, Snuyders und Rembrandts aus der Erde, und wundert sich der Käufer, in leiser Ahnung eines Betruges, über den verhältnismäßig niedrigen Preis (das böse Gewissen läßt die höchsten Forderungen denn doch nicht zu), so heißt es: »Ein glückliches Ohngefähr, die Unkenntnis des Vorbesitzers, setzen uns in den Stand« usw. Ich hörte noch gestern von einem Galerieinhaber sprechen, der seine wirklich schöne Sammlung zehnmal verkauft und schließlich doch noch die Originale besessen habe.

Mir liegt ein Buch Theophile Gautiers vor: »Ein Zickzack durch England«; das Buch ist nicht eben neu, aber seine Wahrheiten gelten heut wie damals. Die unglaubliche Anzahl von Murillos, Raffaels und Tizians, denen er auf englischen Galerien begegnete, machte ihn stutzig; er forschte nach und spricht als Resultat seine unumstößliche Überzeugung aus, daß drei Viertel jener englischen Sachen, die mit einem großen Namen prunken, nichts sind als Kunstprodukte in einem anderen Sinne: schlechte Bilder, mit einem halben Dutzend angeblakter Firnisschichten und einem – Goldrahmen, der nichts zu wünschen übrigläßt. Die Besitzer sind übrigens in ihrem Glauben nicht weniger glücklich und erfreuen sich an einer eingebildeten Schönheit, die sie mit Hilfe einer guten Phantasie bis zur Höhe der Sixtinischen Madonna steigern können, fast mehr noch als an einer Wirklichkeit, die eben nicht mehr bietet, als sie hat.

Aber neben dieser groben Art des Betruges existiert auch eine wirkliche Nachahmekunst. Betrug bleibt freilich Betrug; aber ebenso gewiß, wie das Genie eines Cartouche zu allen Zeiten zu interessieren wußte, ebenso unmöglich ist es, ein bestimmtes Maß von Bewunderung jener Geschicklichkeit zu versagen, mit der diese Manufaktur gehandhabt wird. Die englische Literatur weist zwei berühmte Namen auf, die große Poeten, aber noch größere Manufakturisten waren: Chatterton und Macpherson; und das imitative Talent einzelner moderner Maler will kaum minder bewundernswert erscheinen. Sie kennen und beherrschen ihren Gegenstand vollkommen: Stil, Farbe und Eigentümlichkeiten, charakteristische Fehler und Vorzüge der Meisterwerke, alles ist ihnen gegenwärtig, und es bleibt oftmals zu bedauern, daß ein Talent diese doppelt traurige Fährte traben muß, das imstande gewesen wäre, seinen eigenen Weg zu gehen.

Ihr beleidigten Künstlergeister aber zürnt nicht länger! Was läge jenseit der Schöpferkraft englischer Manufaktur? Indien, China und Ägypten werden von hier aus mit ihrem »Götterbedarf« versehen. Ein Reisender brachte von den Pyramiden einen ägyptischen Gott mit nach Hause und übersandte ihn als Merkwürdigkeit einem befreundeten Fayencefabrikanten. Der Freund dankte herzlich für so viel Aufmerksamkeit, fügte aber hinzu, daß ihm die »Ware« selbst nichts Neues sei, da gerade seine Fabrik die Götterlieferung für den ägyptischen Markt habe. – Nichts ist so hoch oder niedrig, daß es nicht zum Gegenstände englischer Spekulation werden könnte, und die Manufaktur in der Kunst ist noch nicht die schlimmste.

Tavistock-Square und der Straßen-Gudin

Vor einer Woche habe ich meine Wohnung gewechselt. Ich konnt es nicht mehr aushalten in Burton-Street und in dem ganzen Stadtteil, den ich vollauf bezeichnet habe, wenn ich dir sage, daß er Pimlico heißt. Klingt das nicht geziert und geckenhaft? Denkt man nicht an eine Mischung von Langeweile und Lächerlichkeit? Und so ist es auch.

Ich wohne nun Tavistock-Square, mitten in London, nah an Oxford-Street und nicht weit vom Trafalgar-Platz. Daß ich dir sagen könnte, wie reizend es hier ist und wie glücklich mich der Wechsel macht, zu dem ich mich, bei meiner unglücklichen Anhänglichkeit auch an die schlechtesten Wirtsleute, nur schwer entschlossen habe. Der Stadtteil, den ich jetzt bewohne, besteht überwiegend aus großen und kleinen Plätzen, so daß die Straßen, die sich vorfinden, weniger um ihrer selbst, als vielmehr um der Verbindung willen, die sie zwischen den zahllosen Squares unterhalten, da zu sein scheinen. Bedford- und Fitzroy-, Bloomsbury- und Torrington-Square halten gute Nachbarschaft mit uns, und Russel- und Euston-Square sind so nah, daß wir uns mit ihnen begrüßen können. Die ganze Gegend hat was Herrschaftliches; das macht, sie war das Westend Londons in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und dieselbe Aristokratie, die jetzt auf Belgrave- und Eaton-Sqare ihre town-residences hat und sich des Bekenntnisses schämen würde, östlich von Grosvenor-Place und Hydepark-Corner zu wohnen, lebte vor achtzig Jahren, nicht minder selbstbewußt, hier auf Tavistock-Square und baute jene fassadengeschmückten Häuser und jene hohen Zimmer, die jetzt nicht mehr passen wollen zu der meist bürgerlichen Schlichtheit ihrer Bewohner. Ich sage »meist«, denn wir haben auch Notabilitäten in nächster Nähe, keine Lords und Viscounts, aber Ritter von Gottes statt von Königs Gnaden und Namen, die schwerer wiegen als die Stammbäume von sechs irischen Lords. Sprich selbst, ob ich übertrieben habe, wenn ich dir sage, daß Boz-Dickens mein nächster Nachbar ist und zehn Schritt von mir einen reizenden, gartenartigen Einbau bewohnt, der zwischen der Pankraz-Kirche und unsrem Hause gelegen ist. Ich habe noch nicht den Mut gehabt, ihn aufzusuchen und werd es vermutlich auch in Zukunft nicht, um so weniger, als ich weiß, daß er von Deutschen überlaufen und mit den üblichen Bewunderungsphrasen gelangweilt wird. Nur den Park vor seinem Hause besuch ich öfters, und niemals, ohne den frommen Wunsch zu hegen, daß die frische Luft, die da weht, mir von dem Geiste leihen möge, der eben an dieser Stätte heimisch und tätig ist.

Die Villa meines Nachbars Dickens ist nun freilich reizender als das alte herrschaftliche Eckhaus, dessen oberste Spitze ich mit einem jungen Herrn aus Pembrokeshire gemeinschaftlich bewohne; nichtsdestoweniger aber schwör ich auf die Schönheit meiner Wohnung, und wenn ich dich abends nach dem Diner mal in die Drawingrooms dieses Hauses führen und dann durch die geöffneten Fenstertüren mit dir auf den Balkon hinaustreten könnte, so würdest du mit mir fühlen, daß der Moment etwas Zauberhaftes hat. Ein Ahornbaum bildet mit seinen Zweigen ein Laubdach über uns, auf den Balkonen der Nachbarhäuser stehen die schlanken Ladys und schauen mit vorgehaltener Hand in die untergehende Sonne, auf dem Rasenplatz des Squares spielen und lachen die Kinder, und fern, von der Nordgrenze Londons her, schauen dunkelblaue Hügel, wie Wolkenstreifen am Horizont, auf die Stadt und auch auf uns hernieder. Die ersten Gaslichter mischen ihr mattes Licht dem Halbdunkel, das über dem Platz liegt, der Lärm der weitab gelegenen großen Straßen schlägt wie ferne Brandung an unser Ohr, und ein Gefühl süßer Befriedigung beschleicht uns und lullt auf Augenblicke die schlaflosen Wünsche ein.

Doch ich wollte dir vom Straßen-Gudin und nicht von der Schönheit meiner Wohnung erzählen. Beides gehört insofern zusammen, als ich die Bekanntschaft meines seltsamen Seemalers ohne meinen Wohnungswechsel vielleicht niemals gemacht hätte; denn, wie ich vernehme, findet man ihn im St. Pankraz-Kirchspiel häufiger als an andren Orten, vielleicht weil die stillen Squares dieses Stadtteils und die verhältnismäßig wenig benutzten Trottoire ihm die beste Gelegenheit zur Ausübung seiner Kunst und zum Erwerbe bieten. Zuerst sah ich ihn an einer Ecke von Torrington-Square. Ich geriet in ein Staunen, das weit das übertraf, mit dem ich die genialsten Rubens und die fromm-innigsten Murillos irgendwelcher Galerie jemals betrachtet habe. Kniend auf dem Trottoir, neben sich ein Stück schmutziger Pappe, auf dem die Bröckel von Pastellstiften lagen, zeichnete ein blasser, zwanzigjähriger Mensch Seestücke auf den Sandstein, so rasch, so genial, so meisterhaft, daß mir's gleich durch den Kopf schoß: ein Straßen-Gudin! Die englische Südküste schien er vorzugsweise bereist zu haben. Da war der Hafen von Lyme; der Hastingsfelsen mit seinem zerfallenen Kastell und vor allem die Doverbucht bei Mondschein. Dunkelblau lag sie da, ein heller Lichtstreif lief drüber hin, von rechts und links aber sprangen die Schatten dunkler Klippen und diese selber dann weit ins Meer hinein. Ich war ganz Bewunderung, nur ein Gefühl rang mit meinem Staunen um den Vorrang – die Entrüstung. Als ich mich satt gesehn, steckt ich dem Maler und – Bettler zugleich eine halbe Krone in die Hand und ging, schimpfend über England und die Herzlosigkeit seiner Pfeffersäcke, in vollster Aufregung nach Haus.

Diesmal hatt ich unrecht gehabt. Andern Tags war ich bei P. in Brixton, deutsche Kaufleute waren geladen, und nach dem Supper, als die Datteln und Malagarosinen reihum gingen und jeder von uns, aus Brandy und siedendem Wasser, sich seinen Nachttrunk selber mischte, lieh ich wie öfters meinem Unmut über die Shopkeepers laute Worte und mit einem »seht her!« erzählt ich meine Geschichte vom Straßen-Gudin. Allgemeine Heiterkeit war die Antwort; jeder kannte das junge Genie mit der schmutzigen Pappe und dem fadenscheinigen Rock, jeder hatte schon mal seine Bilder bewundert und war einverstanden mit mir, daß solches Talent der liebevollsten Pflege wert sei. »Aber – so hieß es weiter – diese Pflege ist ihm zehnfach angeboten worden, er hat sie verschmäht, denn er ist ein Spekulant. Fünfzigtausend Fremde treten täglich das Londoner Pflaster, und, Ihre halbe Krone in Ehren, Sie sind nur einer der vielen, die, in Bewunderung und Entrüstung gleich Ihnen, auch ein Gleiches tun. Ihr Straßen-Gudin wird ein reicher Mann; ob er's würde, wenn er Bilder auf die Ausstellung schickte, ist mindestens fraglich. Wir sind ein money-making people.«

Das ist die Geschichte vom Straßen-Gudin. Ich frage dich, ob deutsches Leben ein Seitenstück dazu liefert!

Das goldne Kalb

Spekulationen, Rennen und die Jagd nach Geld, Hochmut, wenn es erjagt ist, und Verehrung vor dem, der es erjagt hat, der ganze Kultus des goldnen Kalbes ist die große Krankheit des englischen Volkes. Es gibt scharfe Augen, die das Übel wenigstens erkennen und unermüdet darauf hinweisen, wenn auch die Heilung freilich von anderer Seite kommen muß. Unter den Warnerstimmen ist wie immer die der »Times« voran; – eine Stimme, die – was immer auch über die Käuflichkeit des Blattes gefabelt werden mag – mindestens in allen außerpolitischen Fragen noch ungleich mächtiger ist, als wir im Auslande uns vorstellen. Mit welch treffender Entrüstung machte sie noch vor wenig Tagen wieder Front gegen die oberflächliche Art und Weise, mit der man den Prozeß eines Muttermörders behandelt und ohne alles ernste Eingehen ihn für wahnsinnig erklärt hatte. »Hätte es sich um Geld statt um Blut gehandelt, an dem ganzen Gerechtigkeitsapparat würde kein Rädchen gefehlt haben; aber was vorlag, war nur die Kleinigkeit eines Muttermordes, war eine Sache, durch deren Entscheidung, sie laute so oder so, niemand ärmer oder reicher gemacht wurde, und solche Sachen sind vor Richter und Jury ohne Belang.« Steh es mir frei, in folgendem eine ähnliche Stimme wiederzugeben.

»Lies dann und wann einen Roman, um die Phantasie abzukühlen,« sagte ein Schriftsteller und Menschenkenner zu einem seiner Freunde, als dieser im Begriff war, zu den Antipoden aufzubrechen. Die Weisheit dieses guten Rats wird jeder einsehen, der mehr als dreißig Jahre zählt. Romane mögen die Handlung konzentrieren, das Interesse reizen, das Herz bewegen; die Phantasie zu überwältigen sind sie außerstande. Es ist die Wirklichkeit, was uns staunen macht; die Dichtung darf nicht halb so kühn sein, selbst wenn sie könnte und wollte. Was würde der Leser sagen, wenn wir ihm von einem Manne erzählten, der vor etwa hundertfünfzig Jahren in England lebte, seine Jugend in Saus und Braus, in Spiel und Liederlichkeit verbrachte und endlich, zum Bettler herabgesunken. Streit mit einem Freunde suchte und im Duell ihn tötete; der, vor Gericht gezogen, des Mordes überführt und zum Tode verurteilt, seine Flucht zu ermöglichen wußte und, auf dem Kontinent glücklich angelangt, sein altes Lasterleben fortsetzte und bald eine wohlbekannte Erscheinung in den Spielhäusern Europas ward; der, ausgewiesen, erst aus Venedig, dann aus Genua, schließlich selbst aus dem duldsamen Paris, dennoch in die Hauptstadt Frankreichs zurückzukehren wagte, am Spieltisch einem Prinzen von königlichem Geblüt begegnete, seine Freundschaft gewann, sein Geld- und Geschäftsmann wurde und als solcher zu einem Glanz und Ansehen stieg, daß Fürstinnen vor seinem Weibe sich neigten, sein Sohn der Spielgenoß eines Königs, und er selbst der Abgott von Millionen ward? Was sagt der Leser, wenn wir ihm erzählen, daß eine Herzogin, um nur die Möglichkeit eines kurzen Zwiegesprächs mit diesem seltsamem Abenteurer zu haben, ihrem Kutscher befahl, vor dem Palastgitter des großen Mannes umzuwerfen, und daß eine Marquise an derselben Stelle und zu demselben Zweck »Feuer!« zu schreien begann. Wenige Monate hatten ausgereicht, den überführten Mörder, den bettelhaften Flüchtling, den verworfenen Spieler zu einem der größten Grundbesitzer Frankreichs zu machen, und hochherzig goß er über sein zweites Vaterland einen trügerischen Reichtum aus, dessen Summen alle Berechnung übersteigen. Aber das glänzende Bild hat eine Kehrseite: der Racheengel harrte schon, vor seinem Atemzuge brach der stolze Bau zusammen und verschwand wie eine Wasserblase. Der Baumeister selbst barg sich in Dunkelheit und rettete das elende Leben vor der Wut derer, die noch eine Stunde früher vor ihm gekniet hatten. Und nun der letzte Akt des Dramas, wie berührt er den Leser? Das Schauspiel schließt, wie es begonnen: wieder ein glückliches Entkommen aus den Händen der Gerechtigkeit, wieder ein wüstes Wandern durch die Welt, ein Warten auf die Brosamen, die vom Spieltisch fallen, und endlich das letzte, das Sterben. Venedig, das er durch seine Gegenwart einst geschändet hatte, ehrte er nun durch seinen Tod. Und nun fragen wir – wenn wir Zeit und Muße hätten, diese Skizze zur Erzählung zu erweitern und jene tausend Einzelheiten zu berichten, worin erst die Kraft und der Zauber jeder Darstellung liegt – wer würde Lust haben, den Einfällen, den »Träumen eines fieberischen Hirns« zu folgen? Traum meint ihr?! Leben und Tod John Laws und der Staatsbankrott Frankreichs als ein Resultat seiner kühnen und glänzenden Betrügereien sind so wirklich, wie das Leben George Hudsons und die Geschichte der Eisenbahnspekulation in England.

Und die Geschichte beider ist nicht nur wahr und wirklich, nein, sie bietet auch in merkwürdiger und belehrender Weise Punkte der Ähnlichkeit oder gar völliger Übereinstimmung dar. Beide waren aus Dunkel und Niedrigkeit hervorgegangen, und beide erhoben sich zu einem Glanz, der ein ganzes Land zu blenden und zu willfähriger Huldigung hinzureißen vermochte. Hudson wie Law füllten die Koffer der Leute mit eingebildetem Reichtum, und hoch und niedrig, arm und reich schmiegte sich zu den Füßen des einen wie des andern. Auch Hudson war Spieler, indem er Kredit und guten Namen an ein verzweifeltes Glücksspiel setzte; auch er wußte festen Fuß zu fassen unter den Inhabern des großen Grundbesitzes und zählte zu Freunden und Gefährten, was irgendwie Klang und Namen im ganzen Lande hatte. Auch er machte ein Haus; seine Salone waren der nie leere Altar, darauf die Goldanbeter Tag um Tag ihren Schmeichelweihrauch streuten und die Dankesopfer ihrer Schacherseelen darbrachten, bis plötzlich der Traum endete und der Tag der Rechenschaft anbrach, der nun Flüche brachte aus Kehlen, die noch heiser waren vom Lobgesang, und Mißhandlungen von Händen, die sich einst hochgeehrt gefühlt hatten, auflesen zu dürfen, was von des Herrn Tische fiel.

Hundertundfünfzig Jahre haben viel geändert, und es soll nicht geleugnet werden, sie haben dem Ziel und der Aufgabe aller Zivilisation uns näher gebracht. Welche Fortschritte in Wissenschaft und Kunst, welche Allgemeinheit der Bildung, welch erleichterter Gedankenaustausch innerhalb des einzelnen Volkes und zwischen den Völkerfamilien! Doch in manchen Stücken sind wir genau, wo wir waren. Zu den Zeiten John Laws suchte man eine Herzogin, die ein Mitglied der königlichen Familie nach Genua begleiten sollte. »O, wenn ihr einer Herzogin bedürft – rief der Hofkavalier – so schickt zur Madame Law; dort habt ihr die Auswahl, – sie versammeln sich dort.« Wäre an einem jener Tage, wo Mrs. Hudson »Freunde« empfing, plötzlich Nachfrage nach einer Dame von Rang und Stand gewesen, der diensttuende Kammerherr am Hofe von St. James hätte eine ähnliche Antwort geben dürfen wie vor hundertundfünfzig Jahren sein französischer Kollege. Die Köder und Anziehungskräfte waren 1720 und 1848 genau dieselben, und ob Generationen dahingegangen sind, der Zauber des Goldes, seine magnetische Kraft und seine entwürdigende Herrschaft sind geblieben. Zur Lawschen Zeit stand ein Buckliger in der Rue Quincampoir (wo sein Bankierhaus sich befand) und vermietete seinen Höcker auf Tag und Stunde als Schreibpult. Law ist hin und der Bucklige auch, aber der häßliche Höcker ist geblieben. Lords und Ladies, wohlgeformt wie wir, tragen ihn mit sich herum und schließen Geschäfte darauf ab, die besser ungeschlossen blieben.

Wir sind eine imitative Spezies, Nachahmen ist unser größter Hang, und was die Reichen und Vornehmen tun, das tun wir auch, ohne Kritik, ohne Frage, ob es uns paßt oder nicht. Als Mr. Laws Kutscher die Entdeckung machte, daß sein Herr durch Papierverkauf reich geworden sei, schickte er sich an, mit ins Geschäft zu gehen und tat's. Zwei Kommisstellen waren zu besetzen, und der Kutscherkompagnon präsentierte zwei Kandidaten. »Wählt« – rief er seinem Herrn zu – »Ihr habt die Entscheidung, der eine ist für Euch, aber der andere für mich.« Wie viele Tunichtgute zur Zeit des »Eisenbahnkönigs« und seiner Herrschaft nahmen sich ein Muster am Kutscher des Mr. Law! Angespornt durch das böse Beispiel ihrer Herren sank ehrliche Arbeit im Preise; »Spekulation« hieß ihr bequemes und einträglicheres Geschäft; feine Kleider traten an die Stelle des Arbeitsrockes, und statt des ehrlich erworbenen Brotes aß man das Brot lasterhafter Faulheit. So war es und so ist es noch. Kopfschüttelnd sehen wir die ungeheure Kluft zwischen arm und reich, zwischen niedrig- und hochgeboren; aber der Anblick wird trostlos, wenn der Reiche nichts ist als ein emporgekommener Rübenbauer, der mit etwas Goldstaub in der Tasche alles, selbst das Höchste, neben oder gar unter sich zu stellen trachtet und, dem Vogelsteller gleich, mit einer Handvoll Silberkrümel die lieblichsten Sänger des Waldes, selbst die Lerche, aus ihrem Himmel zu seinen Füßen zu locken weiß.

Unser gesellschaftliches Leben ist reich an Unglaublichkeiten, für die nichts spricht als – die Tatsache. Ihr tretet Sonntags in eine überfüllte Kirche; kein Platz mehr für euch, und stehend lauscht ihr einer Beredsamkeit, die allsonntäglich diese Räume bis unters Dach zu füllen pflegt. Der Redner ist im höchsten Maße populär und steht sich auf tausend Pfund. Sein Name ist makellos. Seine Gemeinde verehrt ihn, und um so mehr, je mehr er sie geißelt. Dekane und Bischöfe seines Sprengels sind durchdrungen von seinem Talent und begünstigen es. Seine Lehre und sein Leben stehen gleich hoch. Er sagt euch heut, daß Geiz die Wurzel alles Übels sei; er warnt euch vor dem heißen Verlangen nach Geld und Gut, vor Mißgunst und Unzufriedenheit und ruft euch zu, über die irdischen Güter das himmlische Erbe nicht einzubüßen. Er zitiert euch die Autorität der Bibel, er verweist euch auf Kapitel und Vers, und nachdem er sicher ist, eure Überzeugung für sich zu haben, öffnet er die Tore seiner Beredsamkeit und reißt euch vollends mit sich fort durch die Macht seines Worts. Ihr geht nach Hause, fest entschlossen, die neue Woche weiser und besser zu beginnen – da fällt euch die Montagszeitung in die Hand, ihr lest: die Stelle eines Nachmittagspredigers ist vakant, eine gute Stelle, vierhundert Pfund jährlich und allwöchentlich eine Predigt. Zwei arme Kandidaten haben sich gemeldet, aber es sind noch andere Bewerber da, und obenan lest ihr den Namen eures christlichen Lehrmeisters, trotz aller Glaubenstüchtigkeit, trotz tausend Pfund jährlich und trotz seiner Selbstverleugnungsrede, die euch beinahe vom Pfade des Irrtums abgelenkt hätte.

Ihr seid vielleicht ein Lord, oder der Sohn eines Lords. Parlament und Säson sind geschlossen, und ihr geht aufs Land. Euer Freund, Lord Birmingham, versammelt »einen auserwählten Zirkel« auf seinem Landsitz; ihr seid unter den Begünstigten. Es ist Frühstückszeit, ihr tretet ein, die Gäste sind bereits versammelt. Alles ist da, was ihr wollt: ein Herzog, ein Marquis, ein Graf, ein Vicomte und ein Baron. Ihr seid ein jüngerer Sohn und findet es in der Ordnung, daß der Baron den Herzog umschwänzelt. Wir haben hier zwei andere Gäste (wenn es gestattet ist, den stillen, blassen, trostlos dreinschauenden jungen Mann, der wie ein Verurteilter bei der Henkersmahlzeit dasitzt, einen »Gast« zu nennen), einen Jüngling und einen Mann von vierzig. Von dem ersteren hat jeder zu viel und wünscht ihn weg, an dem letzteren hat keiner genug. Der junge Mann ist eines Landpredigers Sohn und Erzieher von Lord Birminghams Sohn und Erben. Er hat in Cambridge seine Studien gemacht und hofft, sich mit der Zeit durchzuschlagen. Er ist aus guter Familie, hat aber keinen Sixpence in der Tasche; sein halbes Gehalt schickt er nach Hause zur Unterstützung seiner Familie, und soviel von der bitteren Arznei: »Wissenschaft und gute Lebensart« dem Sohn und Erben beizubringen ist, soviel gibt er ihm gewissenhaft. Der Kandidat vertritt »Elternstelle« seinem Pflegling gegenüber; aber seine Titel, sein Wissen, seine gute Erziehung reichen nicht aus, ihm bei Tisch einen höheren Rang als den eines ersten Bedienten anzuweisen. Ihr kennt diese Art von Stellung und seid nicht erstaunt, nach lautlos eingenommener Mahlzeit den blassen Erzieher schattenhaft und unbemerkt verschwinden zu sehen. – Aber hörtet ihr jetzt das Gewieher? Der Vierziger wird heiter und lacht. Ihr seht ihn heute zum erstenmal, aber ihr kennt die Gattung; man sieht sie zu Dutzenden auf dem Viehmarkt in Smithfield. Es ist der berühmte Snobson; vor zehn Jahren stand er noch hinterm Ladentisch (mancher Bessere hat's auch getan). Spekulation und allerlei sonst noch haben ihn zu einem Millionär gemacht, aber auch zu nichts weiter. Seine Seele ist gemein und seine Zunge fließt über davon. Der niedrigste Diener Mylords ist im Vergleich zu ihm ein König, ein Held. Wenn er sich bewegt, spricht, ißt oder trinkt, so überläuft es euch kalt, denn ihr erwartet jeden Augenblick, daß man ihn auffordern wird, seinen Platz in der Bedientenstube zu nehmen. Ihr fühlt, daß, wenn man das Gold von diesem geschmacklosen Prachtbau, der sich »Snobson« nennt, abkratzen könnte, nichts übrigbleiben würde als die schmutzigste Lehmhütte. Ihr fühlt es, und Lady Birmingham fühlt es auch; dennoch ist sie ganz Ohr und ganz Bewunderung, und alle Ladys ringsum, jung und alt, sind es mit ihr. Die Lords bleiben nicht zurück: der Herzog an der Spitze, alle sind sie stolz auf solche Bekanntschaft, man hat kein Auge für die Gemeinheit dieses Menschen, oder will es nicht haben, und seine Unverschämtheit wird pikant und unterhaltend gefunden. Wie heißt der Schlüssel zu diesem Rätsel? Geld! und ihr, die ihr von der »Aufgabe« sprecht, die ihr in der Gesellschaft zu lösen habt, und immer wieder Gewicht legt auf die Pflicht besonderer Rücksichtnahme auf euch selbst, ich frag euch, wo bleibt das erste Erfordernis – die Selbstachtung, wenn ihr überfließt von unwürdiger und entehrender Schmeichelei?!

Genug der Beispiele; jeder Tag gibt neue Belege. Wir schätzen nichts so sehr wie Geld, und begierig nach Ehre und Ansehen, setzen wir alles an die Erlangung dessen, was nach unserem Dafürhalten einzig und allein Ehre und Ansehen gibt, und entschlagen uns dabei jeder Tugend, die im Kalender steht. Mr. Guizot, der mit philosophischem Forschergeist den Charakter des englischen Volkes geprüft hat, äußert sich gelegentlich dahin, daß den Fremden nichts so mit Bewunderung vor den englischen Hilfsquellen erfülle, als die unzähligen, aus edlem Herzen und freiem Antrieb hervorgegangenen Stiftungen zur Linderung und Minderung eines vielgestalteten Elends. Der Historiker hätte vielleicht kühner sprechen und sagen dürfen, daß nichts die verschwenderische Freigebigkeit des Engländers überbiete als die Gier, mit der er die Mittel dazu erwirbt, und daß, wenn es seine Tugend ist, liberal mit der Börse zu sein, auch unerträglicher Geldstolz sein Fluch ist. Die Geschichte vom »goldenen Kalb« in England ist noch nicht geschrieben. Es geht über die Kraft einer Publizistenfeder, das volle Bild davon zu entwerfen. Ein Genius mag sich dieser Aufgabe bemächtigen und mit dichterischer Gestaltungsgabe ausführen, was wir ihm als flüchtige Skizze überlassen.

Very, le Pays, und die »tönernen Füße« Englands

»Der größte Segen alles Reisens ist der, daß man sein Vaterland wieder lieben lernt,« sagte mal ein Franzos in der guten alten Zeit, und ich glaube – er wußte, was er sprach. Über wie vieles wetterte ich nicht, als ich noch das schmale Trottoir unserer Straßen trat (z. B. über eben die Schmalheit dieses Trottoirs) und was hab ich seitdem nicht alles lieben gelernt: Hofjäger und Frühkonzerte, Zeltenbier und Vossische Zeitung, Murmelspiel und Drachensteigen; aber eines mehr als alles, dich warme Zufluchtsstätte erfrorener Chambregarnisten, dich freundlichen Mann, wenn alles scheel sieht, dich barmherzigen Samariter, der, wenn wir »weiß« befehlen, die warme Milch des Lebens in unsre Tassen gießt – dich Spargnapani! Ach, ein süßer Heimwehschauer überläuft mich, sooft ich deinen Namen spreche. Und wenn dir nicht die Ohren geklungen, so klingen sie keinem mehr. Verschwenderischer fast als König Richard bot ich manchmal in verzweifelten Momenten »ganz London für deine kleinste Tasse Kaffee«! Und wer das Übertreibung schilt, der komm und seh und seufze und schüttle mir dann in schweigendem Einverständnis die Hand.

Es gibt auch hier Konditoreien, aber sie verdienen kaum den Namen. Weder die »Kuchenläden«, in denen der Engländer stehenden Fußes seine Stachelbeertorte verzehrt, noch die »Kaffeehäuser«, in denen er hinter seiner Zeitung wie hinter einem Bettschirm sitzt, haben irgend etwas von dem Zauber unserer Konditoreien an sich, deren Reiz, nebst vielem anderen, gewiß in der gleichmäßigen Pflege besteht, deren sich Körper und Geist in ihnen erfreuen. Um der hunderttausend Fremden willen, die tagtäglich Londons Straßen durchfluten, haben sich natürlich, wie »um einem tiefgefühlten Bedürfnis abzuhelfen«, auch hier Lokale aufgetan, die abweichen von der langweilig-steifen Kaffeehaussitte Alt-Englands; aber dem Deutschen ist wenig damit geholfen. Die Cafetiers in Regent-Street und Pall-Mall, in gründlicher und echt-britischer Verachtung alles Deutschen, haben es verschmäht, sich auch jenseit des Rheines nach Vorbildern umzutun, und sind lediglich nach Paris gegangen, um mit einer vagen Vorstellung vom Palais Royal und einem usurpierten Namen zurückzukehren. Sie nennen sich sämtlich »Very« und haben auf diesen Ehrentitel ungefähr so viel Anspruch, wie jene Farinas, die sich zu Köln am Rhein so pfiffig, klug und weise um den alten echten Jean Maria herumgelagert haben.

Der absolute Wert dieser Prätendenten ist nur gering, ihr relativer desto größer. In London mögen sie immerhin als Rettungsinstitute betrachtet werden, ohne deren belebenden Sauerstoff der Fremde im Nebel der Langenweile ersticken müßte. Im Gegensatz zu der Stille und Einförmigkeit englischer Kaffeehäuser bieten sie wenigstens Leben, Auswahl und Mannigfaltigkeit, an Erfrischungen sowohl wie an Zeitungen und – Gesichtern. Zweimal des Tages wechseln diese Etablissements ihre Physiognomie total, und der Vormittags-Very sieht dem Very am Abend so unähnlich, wie eine Dame mit aufgewickelten Locken der blendenden Schönheit, die abends in den Ballsaal tritt. Wer mittags bei Very vorspricht, findet es dort leer. Am Büfett sitzt eine dicke Dame in schwarzem Kamelottkleid und schwitzt unter der Last beständigen Nichtstuns, an verschiedenen Marmortischen aber gewahrt man bärtige Fremde: Polen, Franzosen und Italiener. Sie spielen Domino und – gähnen. Das ist mittags. Abends aber um die zehnte Stunde blitzt Very wie ein Feentempel. Dreißig Gasflammen machen die Nacht zum Tag; im Schaufenster plätschern die kleinen Kaskaden, Goldfischchen glitzern im Bassin, und aus und ein, wie Göttinnen auf Wolken, schweben in ihren luftigen Baregekleidern die – vielgefeierten Schönheiten der Regentstraße. Ihre Tugend ist eine Klippe. Immer bang vor Verfolgung blicken sie um sich wie die gescheuchten Rehe und suchen Schutz unter deinem Arm. Ihre Anhänglichkeit ist rührend und ihre Macht ist groß. Sie sind Frau Venus, und ich hörte von manchem Tannhäuser.

Mag sein, daß ich aus Furcht vor ihnen den Morgen-Very zu meinem Freunde erkoren habe; jedenfalls kann man mich dort alltäglich um die zwölfte Stunde und so sicher, wie die Uhr schlägt, die Worte sprechen hören: » Garçon, la Gazette de Cologne!« Der Kellner, ein freundlicher Mensch, reicht sie mir vom nächsten Tisch. Heut aber fehlen der Kellner und die Kölnische Zeitung: und mich umschauend nach ausnahmsweiser Lektüre erblick ich das Pays, das neue kaiserliche Journal, und zieh es mit einem »Pardon!« unter dem Ellenbogen eines knebelbärtigen, sein rechtes Bein in der linken Hand haltenden Dominospielers hervor.

Ich habe Glück; ein seltsamer Artikel fällt mir sofort ins Auge, dessen Inhalt ein Kratzfuß gegen Rußland, ein Achselzucken über Österreich und Preußen und schließlich ein vornehmes Lächeln über England ist. »England sei ein Koloß auf tönernen Füßen.« Der Leser darf mich nicht verantwortlich machen für die Gemeinplätzigkeit dieser Wendung, – sie ist eben Zitat. Auch wird die Form zur Nebensache bei der Wichtigkeit der Anklage selbst.

Steht England wirklich auf tönernen Füßen? Ich glaube »ja!« aber es sind nicht die, von denen der Verfasser jenes Artikels spricht. Es ist weder der Katholizismus (der in der protestantischen Kraft eben dieses und vielleicht nur dieses Landes sein Gegengewicht findet), noch auch der Radikalismus (dessen Unbedeutendheit 1848 in geradezu lächerlicher Weise zutage trat), von woher dem Riesen England irgendwelche Gefahr droht, sondern – ums kurz zu machen – es ist das gelbe Fieber des Goldes, es ist das Verkauftsein aller Seelen an den Mammonsteufel, was nach meinem innigsten Dafürhalten die Axt an diesen stolzen Baum gelegt hat. Die Krankheit ist da und wühlt zerstörend wie ein Gift im Körper, aber unberechenbar ist es, wann die Verfaultheit sichtbar an die Oberfläche treten wird. England in äußere, selbst unglückliche Kriege verwickelt, mag die roten Backen der Gesundheit noch ein Jahrhundert und darüber zur Schau tragen, aber das Lager von Boulogne in einer Nebelnacht zehn Meilen nördlich verpflanzt, und – der Goliath liegt am Boden. England gleicht den alten Teutonen mit ihren langen weitreichenden Lanzen: sie beschrieben einen Kreis damit, und wer an den Kreis kam, der war des Todes. Aber einmal keck in den Kreis hineingesprungen, so war die Lanze kein Schrecken mehr, sondern eine Last, und das kurze römische Schwert fuhr tödlich zwischen die Rippen des Riesen. England ist ein Simson, aber erfaßt am eigenen Herde sind ihm die Locken seiner Kraft genommen, und einmal gedemütigt, würd es sich schwer zu neuem Mut erheben, jener starken Dogge ähnlich, die den Kampf selbst gegen den Schwächeren nicht wieder wagt, der sie einmal besiegt. Der Engländer flieht schwer; wenn er flieht, flieht er gründlich, und der Schrecken würde panisch sein wie zu den Zeiten der Jeanne d'Arc. Auf eignem Boden angegriffen, war diese Insel immer schwach. Die Römer, die Sachsen, die Dänen, die Normannen, alle kostete es nur eine Schlacht, um sich zu Herren und Meistern des Landes zu machen, und, um ein Beispiel auch aus neuerer Zeit zu geben: der letzte Stuart drang mit wenig mehr als zweitausend Hochländern bis in die Nähe des bereits zitternden und total verwirrten Londons vor. Hiesige Spießbürger (die immer noch die Waterloo-Schlacht allein gewonnen haben und von den Preußen nichts weiter wissen als deren Niederlage bei Ligny) schwatzen natürlich, als würden sie vorkommendenfalls jeder ein Palafox sein und die Tage von Saragossa vergleichsweise zu einem bloßen Puppenspiele machen, aber wir wissen's besser und wissen recht gut, auf welchem Boden das Urbild zum Falstaff gewachsen ist. Ich habe in einem früheren Briefe von der Macht des englischen Nationalgefühls gesprochen, und diese Macht ist da, aber die Klinge, die eine Eisenstange durchhaut, zerbricht umgekehrt wie Glas, und unter dem Schweiß dieses gelderjagenden Volkes rostet jene Klinge von Tag zu Tag und verliert ihren Zauber und ihre Kraft, unbemerkt aber sicher Seit ich das Obige niederschrieb, sind anderthalb Jahr vergangen. Die Ereignisse dieser letzten Wochen sind mir kein Beweis, daß ich damals nur Gespenster gesehn und die Dinge trostloser geschildert hätte, als sie seien. Und wenn die nächsten Tage die Nachricht brächten, daß Kronstadt oder Sebastopol ein Schutthaufen sei, wenn innerhalb der nächsten zehn Jahre Hinterindien und China zu britischen Provinzen würden, dennoch ist es wahr, daß die rätselhafte Geisterhand, die dem Belsazar erschien, auch diesem übermütigen England schon das Mene Tekel Upharsin an seine goldenen Wände geschrieben hat und daß, wie ein Engländer selbst ahnungsvoll ausrief, »der Anfang vom Ende da ist«. Weder Volk noch Parlament, weder Adel noch Geistlichkeit beherrschen England, sondern die Herren in Liverpool und in der City von London. Der Handel hat zu allen Zeiten groß gemacht, aber auch klein: groß nach außen hin, aber klein im Herzen. Er kauft den Mut; er hat ihn nicht selbst – und hier liegt die Gefahr. Lübeck konnte Kriege führen mit Königreichen, aber selbst zu den Zeiten seiner höchsten Macht würden ein paar hundert dänische Söldner – mit Hilfe einer Überrumpelung mitten in die Stadt geführt – völlig ausgereicht haben, den ganzen stolzen Bau zu Fall zu bringen. Wenn keines Journalisten Blut jemals das Pflaster färbte, so sicherlich auch keines Kaufherrn. Der Handel hat nie größere Zwecke als sich selbst, und seine erste Bedingnis ist – die Ruhe. Ein Gewinn in Aussicht gestellt, und die City von London geht mit jeder Dynastie.

Wende man mir nicht ein, daß ich mich um Dinge erhitzte, die jenseit aller Möglichkeit lägen, und daß es sei, als wollt ich die Welt mit Timur oder Dschingiskan ängstigen, die längst alles Zeitliche gesegnet haben. Die Welt hat die Tragödie gestürzter Hoheit zu allen Zeiten gesehen. Wer, als der königliche Weise von Sanssouci der bewunderte Stern Europas war und ganz Preußen dastand stolz und aufrecht in dem Gefühl erfochtener Siege, wer hätte es damals möglich geglaubt, daß kaum ein Menschenalter später sieben lange Jahre hindurch die Eisenfaust eines fremden Eroberers auf eben diesem Lande ruhen werde? Die Rettungsstunde schlug, auf raffte sich die alte Kraft des Landes; und Bewunderung vor jenen Taten, die damals geschahen! Aber verhehlen wir uns nicht, daß auch andere Elemente vorhanden waren: Berliner Vollblut drängte sich danach, unter der Leibgarde Marschall Victors zu sein, und viele der Guten und Besten selbst träumten von einer Weltmonarchie. Die Rettungsstunde schlug, aber, Hand aufs Herz: der sie schlagen ließ, war Gott selbst, und das Gegenteil lag nicht außer der Natur der Dinge. Was uns geschehen mochte, kann überall geschehen; denn ich bin weit ab davon, unser Volk niedriger zu stellen als irgendeins, das englische nicht ausgenommen.


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