Walter Flex
Der Wanderer zwischen beiden Welten (1)
Walter Flex

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Auch der folgende Tag brachte noch keinen Angriffsbefehl. Wie es hieß, wurde in aller Eile Artillerieverstärkung herangezogen, um die feindliche Stellung sturmreif zu machen.

Am 21. August wurde nach zweistündigem Artilleriefeuer auf der ganzen Linie angegriffen. Das Gefecht von Krasna und Warthi lebt als einer der blutigsten Tage in der Geschichte der Brigade.

Hinter den kahlen Hängen vor Warthi entfaltete sich das Bataillon. Die Kompanien zogen an den feuernden Batterien vorüber und entwickelten sich aus den flachen Mulden gegen die Höhe, von wo der Angriff vorgetragen wurde. Über diese Anhöhe lief zwischen den verbrannten Höfen eine Straße, die beim Angriff überquert werden mußte und vom Feinde rasend mit Maschinengewehren bestrichen wurde. Zugweise und gruppenweise sprangen die Kompanien über den Todesweg. Ich sah Leutnant Wurche mit seinem Zuge springen, Gewehr in der Hand, den Kopf im Nacken. Links und rechts von ihm rissen die Russenkugeln Lücken. Verwundete krochen zurück und taumelten hangabwärts zum Verbandplatz. Neue Feuersbrünste flammten um Warthi auf und warfen schwelende Rauchschwaden über das Schlachtfeld. Die Maschinengewehre hämmerten und schütteten. Das Infanteriefeuer brodelte. Die Artillerien zerrissen Luft und Erde. Die Schwarmlinien des Bataillons verschwanden im Gelände, verschmolzen mit Feld und Acker. Hier und dort eine springende Gruppe, die alsbald, wie von der Erde verschluckt, wieder verschwand. Die starke Stellung des Gegners hatte durch unser Artilleriefeuer nur wenig gelitten. Die Maschinengewehre waren nicht niedergekämpft. Der tiefe Angriffsraum, der zudem von verschanzten Höhen aus mit vernichtendem Flankenfeuer bestrichen wurde, kostete harte Verluste. Teile des Bataillons drangen nahe an die russischen Hindernisse vor, der Angriff gewann ein paar hundert Meter Raum, aber es war nicht möglich, sturmkräftige Schützenlinien vor den feindlichen Verhauen aufzufüllen. Die letzten Reserven wurden nicht mehr eingesetzt. Die vorgedrungenen Schützenlinien hatten sich auf dem Gefechtsfeld eingegraben. In der Dämmerung kam Befehl an die Kompanien, sich in einer Höhe in durchlaufenden Gräben einzuschanzen. Es wurde dunkel. Leuchtkugeln stiegen. Spaten und Beilpicken klirrten. Von den überstürmten Äckern kam ein Stöhnen und Rufen. Die Krankenträger gingen vor und zerstreuten sich mit Bahren übers Feld. In den rasch aufgeworfenen Gräben saßen die Gruppen beisammen, schnitzten Kreuze und machten Kränze aus Wacholder und Fichtenzweigen. Aus der dunklen Erde wuchsen Gräber und schlossen sich über den Toten von Warthi. Brände verschwelten. Ab und zu ein prasselndes Zusammenstürzen ausgebrannter Häuser und Scheunen. Und immer wieder irgendwo ein Wimmern, ein messerscharfes Schreien. Ablösende Posten gingen zu zweien und dreien ins Dunkel vor. Patrouillen streiften durch die Postenkette zu den Russengräben hinüber. Die ganze Nacht hindurch ging das Suchen und Fragen und stille Finden . . . .

Ernst Wurche lag mit seinen Leuten in der vordersten Linie. Da sein Kompanieführer gleich zu Beginn des Gefechtes ausfiel, hatte er mitten im Sturm die Führung der zehnten Kompanie übernommen. Seine Fernsprecher hatten Verbindung nach rückwärts gelegt. Mitten in der Nacht rief mich der Freund durchs Feldtelephon an. Nach jedem einzelnen Mann seines alten dritten Zuges fragte er. Ich hatte die Verluste der Kompanie zusammengestellt. Auch in den dritten Zug hatte der Tag seine Lücken gerissen. Nach jedem der Verwundeten fragte er mehr, als ich antworten konnte. Von seinem eignen Erleben sprach er nicht. »Alles Gute für morgen!« »Gute Nacht!« Ich hing den Hörer ab. Dann ging ich zum dritten Zuge und brachte den Leuten die Grüße des Freundes. Der Morgen ging blaß über Gräben und Gräbern auf . . .

Der neue Tag verging unter Wachen und Schanzen. Es hieß, daß schwere Artillerie im Anmarsch sei. Aber in der nächsten Nacht wichen die Russen weiter ostwärts auf Olita zurück. In der Frühe des 23. August drängten wir nach. Mein Zug hatte während des Marsches die Spitze. An unsern Kolonnen vorüber zogen auf dem ganzen Wege zwischen Nowewloki, Warthi und Solceniki die endlosen Flüchtlingszüge der von den Russen mitgeschleppten lettischen Bauern, die mit einem Troß armseliger Karren voller Betten und Hausrat, mit dem Rest ihrer Herden und Pferde ihren verlassenen Höfen hinter den deutschen Linien wieder zustrebten. Nur selten flog ein Zuruf, ein Gelächter hin und her zwischen den grauen Kolonnen der marschierenden Soldaten und der armen Herde bündelschleppender Frauen, schreiender Kinder und hastig die Kappen und Pelzmützen rückender Männer. Die Dörfer und Höfe, zu denen die Vertriebenen zurückwanderten, lagen in Asche unter verkohlten Fruchtbäumen und niedergetretenen Zäunen. Der ferne Widerschein ihrer brennenden Dörfer hatte durch Tage und Nächte den Heimatlosen in die Augen gebrannt und ihren Glanz stumpf gemacht. Abseits der Straße irrte blökendes Vieh über die zertretenen Felder, barfüßige, schreiende Jungen mit Stöcken und kläffende Hunde sprangen dazwischen herum. Vorüber an der Völkerwanderung der Abgehausten ging unser Marsch, ging durch menschenöde Dörfer aus altersschwarzen Holzhütten mit tiefhängenden, moosverfilzten Strohdächern und geplünderten Obstgärten, vorbei an frischen Gräbern und vorbei an den gespenstisch-verwahrlosten lettischen Kirchhöfen, die mit ihren schwarz und riesenhaft über einen Wall von rohen Felsblöcken emporstakenden Holzkreuzen geheimnisvollen Schädelstätten glichen, öden, verlassenen, von allem Lebendigen gemiedenen Richtplätzen. Pferdekadaver und verlassene Wagen, zerfetzte Uniformstücke und zerstreute Patronen überall auf Weg und Feld, zerfahrene und zertretene Ernten zur Seite . . . .

Am Wegkreuz vor Zajle erhielt ich durch Zuruf der Verbindungsrotten Befehl, zu halten. Der Bataillonsstab kam zur Spitze vorgeritten, saß ab und studierte im Straßengraben die Karte. Meldereiter brachten Befehle. Der Vormarsch fand an der Seensperre vor dem Gilujicie- und Simno-See für heute sein Ende. Die Kompanieführer wurden nach vorn gerufen und empfingen die Befehle für die Nacht. Der Stab bezog mit zwei Kompanien Quartier im Gutshof von Ludawka, die neunte und zehnte Kompanie sicherte mit Feldwachen und Vorposten zwischen den Buchciánski-Sümpfen und dem Simno-See. Über Karte und Meldeblock gebückt, standen die Offiziere um den am Grabenrand sitzenden Major. Auf der Straße von Zajle her kam eine Sicherungspatrouille mit einer Rotte heftig redender und gestikulierender Bauernburschen; es waren großgewachsene, strohblonde Kerle, die ohne Kleider in den Betten gelegen hatten, nur die Soldatenhemden hatten sie verraten.

Unter dem hochragenden Wegkreuz von Zajle sah ich den Freund noch einmal. Er hatte den Weg nach Posiminicze erkundet, wo er mit einem Zuge Feldwache beziehen sollte. Wir sprachen über die Toten von Warthi. Ich redete von diesem und jenem, den ich in seinem ersten Gefechte fallen sah, nachdem ein frischer und herzlicher Führerwille durch lange Monate unermüdlich an ihm gearbeitet hatte. Ein Sprung und Sturz – tot! Und für diesen einen Schritt so viele Mühe und Liebe – »Nicht für diesen einen Sprung,« unterbrach mich der Freund, »sondern dafür, daß er ihn mit hellen und beherzten Augen, mit Menschenaugen tat! Und sollte das nicht genug sein?« Ich sah ihn an und schwieg. Schwieg aus Freude und nicht aus Widerspruch. Aber er schien's dafür zu nehmen und schob seinen Arm unter meinen. »Haben Sie denn vergessen, was Sie Ihren alten Klaus von Brankow in der einen Bismarcknovelle sagen lassen?« Und er holte die Worte aus seinem frischen, jungen Gedächtnis: »Umsonst –? Es mag enden, wie es will – Ihr werdet Euer Brandenburg, Brandenburg! nicht umsonst gejubelt haben. Hat nicht der tote Begriff Vaterland lebendige Schönheit und Taten gezeitigt? Haben nicht tausend junge Menschen durch tausend Stunden menschlichen Lebens nicht an Leichtes und Leeres und Arges gedacht, sondern sind mit warmen und festen Herzen durch Tage und Nächte gegangen? Kann eine Zeit umsonst sein, die aus dem sprödesten der Stoffe, aus dem menschlichen, Kunstwerke gemacht und sie auch denen offenbart hat, die sie wie Barbaren zertrümmern mußten?«

In diesem Augenblick wurde ich zum Kompanieführer gerufen und erhielt Befehl, zur Sicherung der Postenaufstellung mit meinem Zuge bis Dembowy Roq vorzugehen und dort Stellung zu nehmen. Ich sprang noch einmal, während meine Leute unter Gewehr traten, über den Graben und drückte dem Freunde die Hand. »Ich habe für die Nacht Feldwache in Posiminicze,« sagte er, »kommen Sie doch auf eine Stunde herüber!« »Das geht nun nicht, ich liege selbst auf Vorposten.« »Ja dann – aber es ist schade!« Ich ließ seine Hand und sprang über den Graben zurück. »Gewehre in die Hand!« Ich marschierte mit der Spitzengruppe ab, der Rest des Zuges folgte auf kurzen Abstand. Unter dem hohen, schwarzen Kreuze von Zajle stand die schlanke, aufrechte Gestalt des Freundes. »Auf Wiedersehen!« rief ich ihm zu. Er stand still unter dem Kreuze und hob die Hand zum Helmrande . . . . Die Feldwachen und Posten waren aufgestellt, und ich war mit meinem Zuge nach Zajle zur Vorpostenkompanie zurückmarschiert. Ich saß am Tisch einer Bauernstube und schrieb Briefe nach Haus. Der Kompanieführer schlief auf einer Strohschütte. Die Bauernfamilie lag in einem riesigen Holzbett unter grellbunten Kissenbergen. In einer Stubenecke zwischen Tornistern und Gewehren hockten die Fernsprecher um ein Lichtstümpfchen am Apparat. Ab und zu klöhnte der Summer, eine ferne quäkende Stimme gab Meldungen durch, die der Telephonist halblaut wiederholte und niederschrieb. Das menschenüberfüllte Zimmer war voll verbrauchter Luft. Ich stand auf und öffnete ein Fenster. Zögernd und blaß traten die Sterne aus dem Himmel. Vor dem Hause klang der Schritt des Postens. Hinter mir tönte ab und zu das verschlafene Wimmern eines kleinen Kindes, das in der lettischen Wiege, einem an rußschwarzen Stricken von der Decke herabschwebenden Holzkasten, lag. Leise und kühl wehte die Nachtluft mich an.

Wieder klöhnte der Summer des Telephons aus der Stubenecke. »Herr Leutnant –!« »Ja, was ist?« Ich wandte mich ahnungslos um. Der Fernsprecher hielt mir den Hörer entgegen. Der Summer hatte dreimal lang angerufen. Das ging mich nichts an. Irgend jemand sprach mit dem Bataillon. Aber ich nahm doch den Hörer, den der Fernsprecher mir mit kurzem Ruck aufdrängte. Warum sah mich der Mann so an? Ich hörte das Gespräch ab. »Meldung von Feldwache in Posiminicze: Leutnant Wurche auf Patrouille am Simno-See schwerverwundet. Bitte um Wagen zum Transport.« . . .

Es war ganz still im Zimmer. Der Mann am Fernsprecher sah mich an. Ich wandte mich ab. Die Gedanken flogen mir durcheinander. Ich wollte aus dem Zimmer stürzen und nach Posiminicze laufen . . . . Aber ich lag ja auf Vorposten. Und draußen verblutete vielleicht der Freund. Ich durfte nicht fort. »Ja dann – aber es ist schade.« Das Abschiedswort unter dem Kreuz von Zajle ging plötzlich durch die Stille. Ich biß die Zähne aufeinander. Immer wieder hörte ich das Wort, das halb gleichgültige, sinnlose Wort, das mich höhnte. »Es ist schade . . . . Es ist schade . . . .« Und draußen verblutete der Freund.

Da nahm ich den Hörer wieder und rief die zehnte Kompanie an. Der Summer schrillte. Die Kompanie meldete sich. Aber es war keine neue Meldung von der Feldwache eingelaufen. Der Verwundete lag noch draußen. Ein Wagen war nach Posiminicze unterwegs. Das war alles. »Sobald neue Meldung kommt, rufen Sie mich an!« »Jawohl, Herr Leutnant.« Alles dienstlich, ruhig, gleichgültig, müde wie immer. Ich saß und wartete. Ich stand auf und ging auf und nieder. Der Mann in der Ecke folgte mir mit den Augen. Ich ging aus dem Zimmer und war allein. Von Stunde zu Stunde rief ich durchs Feldtelephon an. »Keine weitere Meldung, die Leute sind noch draußen.« Immer dasselbe. Und ich saß kaum eine Wegestunde fern und durfte nicht zu dem Freunde eilen. Ich stand auf der dunklen Straße von Zajle, starrte in die Finsternis nach Südosten hinüber und kämpfte mit mir und war meiner nicht mehr Herr.

Das Fenster klang. »Herr Leutnant!« Ich stürzte ins Zimmer und faßte den Hörer. »Hier Leutnant Flex!« »Hier zehnte Kompanie! Leutnant Wurche ist tot.«

Ich gab den Hörer aus der Hand, ohne Antwort. »Schluß!« rief der Fernsprecher in den Schalltrichter. Sinnlos, sinnlos war das alles . . . .

Wieder stand ich unter dem blassen Himmel. Die Häuser um mich her als drohende, schwarze Klumpen. Und die Stunden schlichen weiter, eine nach der andern.

Ich wartete nur auf das Frührot. Dann jagte ich nach Posiminicze hinüber. Zwei Stunden gab mir die Kompanie Urlaub. Dann mußte ich zum Abmarsch zurück sein. Ohne Pferde war es unmöglich. Ich brachte einen Leiterkarren auf, meine Leute holten ein paar Gäule von der Weide. Der Bauer mußte anspannen. Aber er machte Schwierigkeiten. Er hatte kein Lederzeug. Ich riß die Pistole heraus und drohte, die Gäule zusammenzuschießen. Der Bauer und die Weiber warfen sich auf die Erde, rangen die Hände und heulten. Ich riß ihn hoch. »Stricke!« Es waren keine Stricke da. Erst als ich auf die Pferde anschlug. brachte ein halbwüchsiger Bursche Stricke aus einem Schuppen. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich mußte den Freund noch einmal sehen. Er sollte durch eine Hand zur Ruhe gebettet werden, die ihn brüderlich liebte. Die Gäule waren angesträngt. Ich sprang auf. Einen jungen Kriegsfreiwilligen, der das Grab für die Eltern zeichnen sollte, nahm ich mit. Vorwärts! Ich hieb auf die Pferde und jagte querfeld nach Posiminicze hinüber.

Dann stand ich vor dem Toten und wußte nun erst: Ernst Wurche war tot. In einer kahlen Stube auf seinem grauen Mantel lag der Freund, lag mit reinem, stolzem Gesicht vor mir, nachdem er das letzte und größte Opfer gebracht hatte, und auf seinen jungen Zügen lag der feiertäglich große Ausdruck geläuterter Seelenbereitschaft und Ergebenheit in Gottes Willen. Aber ich selbst war zerrissen und ohne einen klaren Gedanken. Vor dem Hause, zur Linken der Tür, unter zwei breiten Linden hatte ich die offene Grube gesehen, die die Leute der Feldwache ausgehoben hatten.

Dann sprach ich die Mannschaften, die am Abend mit ihm auf Patrouille gegangen waren. Ernst hatte feststellen sollen, ob die Gräben der Seensperre vor Simno noch von Russen besetzt wären. Im Vorgehen war die Patrouille vom Feind mit Schrapnells unter Feuer genommen worden. Es war unmöglich, unbemerkt an die zu erkundende Stellung mit der Patrouille heranzukommen. Aber der junge Führer kehrte nicht um, ohne seinen Auftrag restlos zu erfüllen. Nur seine Leute ließ er zurück. Während sie in Deckung warteten, machte er einen letzten Versuch, sich die Einsicht in den russischen Graben zu erzwingen. Gewohnt, immer zuerst sich als der Führer einzusetzen, kroch er allein Meterbreite um Meterbreite vor und arbeitete sich so noch weitere hundertfünfzig Meter heran. Der Graben war nur noch von Kosakenposten besetzt, aber im Vorkriechen wurde der deutsche Offizier von einem Russen bemerkt, der alsbald auf ihn feuerte. Eine Kugel drang ihm in den Leib, die großen Blutgefäße zerreißend und den Tod in kurzer Zeit herbeiführend. Seine Leute bargen ihn aus dem Feuer der flüchtenden Kosaken. Einer fragte, wie sie ihn trugen: »Geht es so, Herr Leutnant?« Er antwortete noch ruhig wie immer: »Gut, ganz gut.« Dann verließen ihn die Sinne, und er starb still, ohne zu klagen.

Vor dem lettischen Gehöft, wo er als Feldwachhabender gelegen, auf den Seehöhen vor Simno schmückte ich ihm das Heldengrab. Zwei Linden über ihm als geruhige Grabwächter, das nahe Rauschen der Wälder und das ferne Gleißen des Sees sollten ihn behüten. In den Bauerngärten umher war eine blühende, schwellende Fülle von Sonne und Sommerblumen. Ein Grab voll Sonne und Blumen sollte der sonnenfrohe Junge haben. Mit Grün und Blumen kleidete ich die kühle Erde aus. Dann brach ich eine große, schöne Sonnenblume mit drei golden blühenden Sonnen, trug sie ihm ins Haus und gab sie ihm in die gefalteten Hände, die, fast Knabenhände noch, so gerne mit Blumen gespielt hatten. Und ich kniete vor ihm, sah wieder und wieder in den feiertäglich stillen Frieden seines stolzen jungen Gesichts und schämte mich meiner Zerrissenheit. Aber ich rang mich nicht los von dem armseligen Menschenschmerze um das einsame Sterben des Freundes, in dessen Hand in der letzten Stunde keine andere gelegen hatte, die ihn liebte.

Doch je länger ich kniete und in das reine, stolze Gesicht sah, desto tiefer wuchs in mir eine angstvolle und unerklärliche Scheu. Etwas Fremdes wehte mich an, das mir den Freund entrückte. Dann schlug mir das Herz in aufwallender Scham. Er, der seinem Gotte so gerne nahe war, wäre allein gestorben? Ein Bibelwort fiel mir ein aus Jeremias: »Ich bin bei dir, spricht der Herr, daß ich dir helfe.« Das letzte große Zwiegespräch auf Erden, die Zweieinsamkeit zwischen Gott und Mensch hat kein Unberufener gestört . . . . Und ich klagte um ein freundloses Sterben – – –

Nicht daß ich's in jener Stunde klar empfunden hätte, aber als Keim senkte es sich damals in meine Seele, der in später Erinnerung heller und heller aufblühte. Großen Seelen ist der Tod das größte Erleben. Wenn der Erdentag zur Rüste geht und sich die Fenster der Seele, die farbenfrohen Menschenaugen, verdunkeln wie Kirchenfenster am Abend, blüht in dem verdämmernden Gottestempel des sterbenden Leibes die Seele wie das Allerheiligste am Altar unter der ewigen Lampe in dunkler Glut auf und füllt sich mit dem tiefen Glanze der Ewigkeit. Dann haben Menschenstimmen zu schweigen. Auch Freundesstimmen . . . . Darum forscht und sehnt euch nicht nach letzten Worten! Wer mit Gott spricht, redet nicht mehr zu Menschen.

Hätte ich's doch klarer empfunden in jener Abschiedsstunde! Ich ließ den Freund hinaustragen und half ihn in das grünausgekleidete Grab unter den Linden senken. In seiner vollen Offiziersausrüstung bettete ich ihn zum Heldenschlafe mit Helm und Seitengewehr. In der Hand trug er die Sonnenblume wie eine schimmernde Lanze. Dann deckte ich ihn mit der Zeltbahn. Über dem offenen Grabe sprach ich ein Vaterunser, zu dem mir nun freilich wieder die Worte in Tränen versagten, und warf die ersten drei Hände Erde auf ihn, danach sein Bursche, dann die andern. Dann schloß sich das Grab, und der Hügel wuchs. Eine Sonnenblume steht darauf und ein Kreuz. Darauf ist geschrieben: »Leutnant Wurche. IR. 138. Gefallen für das Vaterland. 23. 8. 1915.« Der Stahl, den der Waffenfrohe blank durch sein junges Leben getragen, liegt ihm nahe am Herzen, als ein Gruß von Erde, Luft und Wasser der Heimat, aus dem Marke deutscher Erde geschmiedet, in deutschem Feuer gehärtet und mit deutschem Wasser gekühlt.

Der Stahl, den Mutters Mund geküßt,
Liegt still und blank zur Seite.
Stromüber gleißt, waldüber grüßt,
Feldüber lockt die Weite . . . .

Die Verse, die er im Leben geliebt, lebt er im Tode.

Über das Kreuz hing ich zum Abschied einen aus hundert flammenden farbigen Bauernblumen gewundenen Kranz, für den seine Leute alle Gartenbeete der lettischen Bauern geplündert hatten. Weichsamtene Levkojen und rotgoldene Studentenblumen, Nachtschatten und Sonnenblumen, der ganze reife Sommer blühte über dem Grabe des Jünglings, als ich schied.

Durchs Feldtelephon kam der Marschbefehl. Ich mußte im Galopp zu meiner Kompanie zurück. Das Bild des Grabes, das der Kriegsfreiwillige gezeichnet, in der Brieftasche, brach ich zur weiteren Verfolgung des Feindes auf. Wir marschierten den Weg, den er so treu mit seiner Patrouille unter Hingabe seines Lebens aufgeklärt hatte.

Am Abend lagen wir wieder vor dem Feinde. Die Schrapnells und Granaten russischer Feldgeschütze fuhren gurgelnd und krachend, wirbelnde Luftschleppen hinter sich herreißend, gegen die Gehöfte, hinter denen wir Deckung suchten. Ich saß auf einem Tornister und schrieb auf ein paar Meldekarten an die Eltern des Freundes. »Glauben Sie mir: Sie tun ihm die letzte Liebe, wenn Sie seinen Tod so tragen, wie es seiner würdig ist und wie er es wünschen würde! Gott lasse seine Geschwister, an denen er so brüderlich hing, aufwachsen, ihm gleich an Treue, Tapferkeit und Weite und Tiefe der Seele!« Aber ach, wie fern war ich selbst, während ich dies schrieb, von solcher Ergebung und Herzenstapferkeit, die ich andere lehrte! –

 

Und weiter Märsche und Gefechte, Gefechte und Märsche . . . . Olita fiel. Bei Preny gingen wir über den Njemen. Vor Zwirdany zerbrachen wir in nächtlichem Sturm die Russensperre am Daugi-See, nachdem wir am Tage die Höhenstellungen bei Tobolanka erstürmt hatten. Am Ufer der Mereczanka, vor dem brennenden Orany, lagen wir im Feuer. Und zogen der Wilia entgegen in neue Schlachten. Allabendlich flammten und schwelten Dörfer und Scheunen am Horizonte als Brandfackeln, die dem rückflutenden Russenheere meldeten, wie weit die deutschen Heeressäulen vorgedrungen waren. Verstörte Einwohner huschten mit Kindern, Bündeln und Packen schattenhaft auf unsern Wegen um zerschossene Wohnstätten und zertretene Gärten. Hunde jaulten um verlassene und zerstörte Höfe. Vieh und Pferde tauchten auf und verschwanden. Gleichgültig und mit müden Augen sahen wir all die schattenhaften Bilder, die wie Sonnenaufgang und Untergang sich täglich und stündlich wiederholten, stumpf und schlafhungrig hörten wir den Wirrwarr lauter Befehle und Zurufe, das »Germanski, Germanski!«-Jammern der verwundeten Russen in Wald und Feld – – Schlafen! nur schlafen!

Das Zwielicht eines baufälligen Stalles von Winknobrosz schied mich von der scharfen, grauen Helle eines Septembermorgens voll Sturm und Regen. Die Strohschütten, auf denen ich unter meinem grauen Mantel lag, strömten faden, süßlichen Fäulnisgeruch aus und erfüllten die regen- und schlammschweren Kleider mit dunstfeuchter Wärme. Von den braunen Leibern der zwei müden Kompaniepferde. mit denen ich den dumpfen, zugigen Raum teilte, stieg farbloser Schweißdunst auf und stand als grauer Nebel in den durch die Löcher der Holzwand und die Risse des Strohdachs hereinbrechenden grellen Lichthaufen. Durch die klaffenden Sprünge und Spalten der rohen Holztür, die das armselige Wohngelaß des polnischen Dorfschmieds von uns schied, quoll der unruhige Lärm der Telephonisten und Offiziersburschen, untermischt mit weinerlichem Polnisch und dem stoßweisen Wimmern eines Kindes, das in der Schwebewiege durch den Armeleutebrodem des überfüllten Raumes schaukelte. Der Summer des Telephons klöhnte und klöhnte . . . . Alles wie an jenem Abend in Zajle. Warum traten Menschen und Dinge immer wieder zu dem quälenden Bild der Erinnerung zusammen und taten Gespensterdienst und schafften alle Nächte zu Todesnächten um? Heute und morgen – wie oft noch?

Aus den klammen Falten des Mantels über meinen Knien schimmerten im Halbdunkel zwei wandernde, leuchtende Punkte, die Radiumzeiger einer flachen, kleinen Stahluhr, auf der die Stunden des Ruhetages nach wochenlangen Kämpfen und Märschen trübe und müde abliefen, eine um die andere.

Ich sah auf das bißchen Glanz, das inmitten von so viel Armseligkeit schimmerte, und mühte mich, das Ticken der kleinen Uhr zu hören. Ich hob sie auf und glaubte wieder das unermüdliche Gangwerk zu spüren wie den Pulsschlag von etwas Lebendigem. Ich redete mir so gerne ein, daß es ein Stücklein Leben wäre, das mir gut und treu nahe sei. Denn dieses leise pulsende Treiben war noch von der Hand in Gang gebracht worden, die mir vor andern Menschenhänden lieb war und die nun still über dem kühlen Stahl des Schwertes im Grabe ruhte. Ernst Wurches Uhr, die mit mir durch die Kämpfe der Njemenschlacht und der Schlacht bei Wilna den Weg zu den Eltern in der schlesischen Heimat suchte . . . . Als ich in der Frühe des Unglückstages, der seiner Sterbenacht folgte, an die Seite des Toten eilte, schwiegen Lippen, Puls und Herz des Freundes seit Stunden, aber als mir die kleine Uhr in die Hand hinüberglitt, erspürte ich das leise, behutsame Pulsen des Werkes, das er noch in Gang gesetzt, wie ein Stücklein Leben von seinem Leben, und ich hatte und hegte einen Augenblick lang das törichte Leidgefühl, als hielte ich das liebe Herz meines Freundes in Händen.

Durch Stunden und Tage mühte ich mich, die kleine, unermüdliche Stimme, die mich seitdem durch Märsche und Gefechte begleitete, besser zu verstehen. Und sie redete zu mir und sprach auch heute: »Du lebst die Lebensstunden meines toten Herren, deines Freundes, die Gott ihm als ein Opfer abforderte. Denkst du daran? Du lebst seine Zeit, wirke seine Arbeit! Er schläft, du wachst, und ich teile dir die Stunden deiner Lebenswache zu. Ein rechter Kamerad wacht für den andern, wache du für ihn! Sieh. ich hüte treu das Amt, das er mir zugeteilt, sei ihm treu wie ich, du Mensch, der mehr ist als wir toten Dinge, deren Leben von euch stammt!« . . . Die leise kleine Uhr sprach und sprach, und ihre Stimme sickerte mir tiefer und tiefer ins Herz . . . . Ich wollte gehorchen und mich über den Schmerz emporreißen. Und schrieb im Halbdunkel:

»Im Osten, von wannen die Sonne fährt,
Ich weiß ein Grab im Osten,
Ein Grab, vor tausend Gräbern wert,
Drin schläft ein Jüngling mit Fackel und Schwert
Unter des Kreuzes Pfosten.

Als Fackel trägt er in weißer Hand
Eine goldene Sonnenblume,
Auch loht von des Heldenhügels Rand
Eine Sonnenblume wie Feuersbrand,
Eine Fackel zu seinem Ruhme.

Das Schwert, so oft beschaut mit Lust,
Glüht still in eig'nem Glanze.
Es deckt des Sonnenjünglings Brust
Als Sonnenwappen der Blütenblust
Der gold'nen Blumenlanze.

Er war ein Hüter, getreu und rein,
Des Feuers auf Deutschlands Herde.
Nun blüht seiner Jugend Heiligenschein
Als Opferflamme im Heldenhain
Über der blutigen Erde.

Die Fackel, die seinem Grabe entloht,
Soll Jugend um Jugend hüten,
Bis unter Morgen- und Abendrot
In Friedensträumen und Schlachtentod
Die letzten Deutschen verblühten.

Ein Flammenengel des Weltgerichts
Schläft still in schimmernden Waffen.
Einst wird er, zerstäuben die Welten in Nichts,
Die blühende Lanze voll schwellenden Lichts
Von seinem Grabe raffen.

Dann leuchtet sein Leib aus der Toten Chor,
Ein Blitz aus wogender Wolke.
Dann bricht er mit Fackel und Schwert hervor
Und leuchtet durch der Ewigkeit Tor
Voran seinem deutschen Volke.«

Die Pulse flogen mir. Ich stand auf und ging hinaus. Freie und Frische wehten mich an. Das Herz wallte mir leichter als seit langem. Da – ein Rauschen in den Lüften, ein scharfes Schreien, ein Näherbrausen, ein wanderndes Gänseheer rauschte hoch über Winknobroscz hin nach Süden. Ihre Schatten flogen über mich hin. Eine Erinnerung drückte auf mich wie eine lastende Hand. Wie lange war es her, daß das Gänseheer wandernd nach Norden rauschte über die kriegswunden Wälder vor Verdun hin, über den Freund und mich?

»Rausch' zu, fahr' zu, du graues Heer!
Rauscht zu, fahrt zu nach Norden!
Fahrt ihr nach Süden übers Meer –
Was ist aus uns geworden?

Wir sind wie ihr ein graues Heer
Und fahr'n in Kaisers Namen,
Und fahr'n wir ohne Wiederkehr,
Rauscht uns im Herbst ein Amen!«

Aus Frühling und Sommer war Herbst geworden. Die Graugänse wanderten nach Süden. Fernhin rauschte ihre Fahrt über das einsame Grab auf den stillen Höhen über dem Simno-See . . . . Ich schaute dem wandernden Heere nach, doch nicht lange. Wie eine Hand lag mir's im Nacken, die mich duckte. Da ging ich zurück in die polnische Schmiede und warf mich ins Stroh.

Tiefer und tiefer hinein in russisches Land ging der Vormarsch. Moskauer und Petersburger Garden warfen wir aus verschanzten Wäldern, setzten auf Pontons über die Wilia und lagen in der Hölle des brennenden Porakity, über dessen Trümmer die Flut der Russengeschosse hinging, während wir wehrlos, von siedender Helle übergossen, durch mörderische Stunden warteten. Wir schanzten uns vor Ostrow ein und hörten das Geheul der durch das brennende Uljany vorbrechenden und wieder zurückgeworfenen Russenhorden.

Wir stoßen unsre Schwerter
Nach Polen tief hinein.
Die Hand wird hart und härter,
Das Herz wird hart wie Stein.

Die Lust ist uns bestohlen.
Wer nahm uns Glück und Glut?
Das macht im Sand von Polen
Das viele stille Blut.

Wir tragen unsre Fahnen
Still in die Nacht hinein,
Das Blut auf unsern Bahnen
Ist unser Frührotschein.

Durch Polen möcht' ich traben,
Bis mir das Blut erglüht.
Das kommt vom Gräbergraben,
Das macht die Hände müd'.

Bei Schwertern und bei Fahnen,
Schlief uns das Lachen ein.
Wen schert's! – Wir soll'n die Ahnen
Lachender Enkel sein.

Das Hin und Her der Märsche und Gefechte ging weiter. Aber der Krieg brannte nieder. Aus der Schlacht bei Wilna führte ich zuletzt die Reste zweier Kompanien heraus hinter die Kette der litauischen Seen, an denen wir uns einschanzen sollten.

. . . Und wieder vor der Kompanie
Tappt meines Fuchsen müder Schritt.
Durch Wald und Nachtwind führ' ich sie,
Und hundert Füße rauschen mit.

Der Wald ist wie ein Sterbedom,
Der von verwelkten Kränzen träuft,
Die Kompanie ein grauer Strom,
Der müde Wellen rauschend häuft.

Der graue Strom rauscht hinter mir,
Durch Sand und Schnee, durch Laub und Staub,
Und Well' um Welle dort und hier
Wird Sonnenraub, wird Erdenraub.

Es schwillt der Strom und ebbt und schwillt . . . .
Mein Herz ist müd', mein Herz ist krank
Nach manchem hellen Menschenbild,
Das in dem grauen Strom versank.

Die Welt ist grau, die Nacht ist fahl,
Mein Haupt zum Pferdehals geduckt,
Träum' ich, wie hell durchs Todestal
Mein Strom einst klang lichtüberzuckt . . . .

Mein Fuchs geht immer gleichen Tritt
Voran, entlang dem grauen Zug,
Und graue Reiter reiten mit,
Die er vor mir im Sattel trug. –

Bei Nacht zogen wir uns hinter die natürliche Verteidigungsstellung der Seensperre zurück, hoben in größter Eile Gräben aus und ließen den Gegner anlaufen. Tag und Nacht schanzten unsre Leute. Rings um die Seen brannten die Russendörfer nieder, rotlodernde Leichenfackeln des sterbenden Krieges. Und wieder monatelanges Stilliegen in Schützengräben wie einst auf den Maashöhen vor Verdun und in den Wäldern vor Augustowo. Und doch alles anders. Wie ein ferner, schöner Traum lagen die lauen Sommernächte hinter uns, die wir singend und plaudernd durchwacht hatten. Jetzt türmten sich Schneewälle um unsre Erdhöhlen. Schneidende Ostwinde fegten das graue Eis der Seen und peitschten nadelscharfe Kristalle gegen die wachtmüden Augen. Dreizehn und vierzehn Stunden dauerte das nächtliche Horchen und Lauern der Wacht im Osten.

Eisgrauer See,
Mondheller Schnee . . . .
Wie lang noch soll ich schreiten,
Das kalte Schwert zur Seiten?
Wie lang' währt Mord und Streiten?
Weh', Russenerde, weh' –!

Einsame Wacht,
Schneekühle Nacht.
Es knarrt der Frost im Eise,
Der Sturm singt harsche Weise,
Der Friede, den ich preise,
Der ist in Bann und Acht.

Brandhelle loht!
Mord, Haß und Tod,
Sie recken ob der Erde
Zu grauser Drohgebärde,
Daß niemals Friede werde,
Schwurhände blutigrot.

Was Frost und Leid!
Mich brennt ein Eid.
Der glüht wie Feuersbrände
Durch Schwert und Herz und Hände.
Es ende drum, wie's ende –
Deutschland, ich bin bereit.

Die Zeit schlich durch die Winternächte hin so träge wie eine Flamme, die sich schwelend durch feuchte Buchenkloben frißt . . . .

Die Lücken, die der Bewegungskrieg gerissen, schließen sich durch Ersatz aus der Heimat. Frisch ausgebildeter Landsturm und junge Rekruten. Der Graben füllt sich mit fremden Gesichtern und neuen grauen Röcken, die seltsam von den verwitterten erdfarbenen Kleidern der alten Leute abstechen. Und wieder Wochen und Wochen des Schanzens und Lauerns, und in Schnee und Regen sind alle Röcke sich gleich geworden. Es gibt keine fremden Gesichter mehr im Graben. Aber die fehlenden kommen nicht wieder. Nur in den langen, grauen Nächten kommen sie und reden. Der Verkehr mit den Toten macht einsilbig und still . . . .

Ich liege erst zwischen den Seen, dann fünf Monate hindurch mit meiner »Sechsten« Schanzen und Wachen, Wachen und Schanzen. Alle Nächte sind tief und dunkel wie Abgründe und voll unfaßbaren Lebens. Die Tage sind fahl und kurz und sind nichts als bleierner Schlaf und verworrener Traum. Die Nächte sind ein verhohlenes Leben in Erdhöhlen und dunklen Gräben, ein Auf- und Abwandern an starrenden, grauen Drähten in aufflackernder und verwehender Helle. ein Lauern über Brustwehren und Schießscharten und ein Hocken am Feldtelephon . . . . Und aus jeder Nacht hebt sich dunkel und bedrückend vor den überwachen Sinnen die eine verschollene Nacht, die Nacht von Zajle . . . . Der Summer im Feldtelephon klöhnt. Die stille Fläche des Simno-Sees schimmert auf. Ferne Schüsse knattern. Der Posten geht auf und nieder . . . . Oh, ihr Nächte, ihr Totenbeschwörer! Traum und Trug sind die Tage, die wie Blätter verwehen, und in jeder Nacht erneut sich das Dunkel der Sterbenacht über dem Simno-See. Ich sitze zusammengekauert vor der flackernden Kerze im Unterstand und lausche den Stimmen der Nacht und hadere. Jede Nacht erlebe ich dein Sterben, Freund! Du und ich, wir beide in einem brennenden Hause, die Habe unseres Volkes zu retten, durch dünne Wände geschieden, du und ich. Und du, mein Bruder, verbrennst in der Kammer neben mir, und ich darf dir nicht helfen . . . . Ich sitze zusammengeduckt und hadere. Und fühle doch deine Nähe. Du bist bei mir und schwichtigst. Ich höre deine gute, junge Stimme.

»Leutnantsdienst tun heißt seinen Leuten vorleben, das Vorsterben ist dann wohl einmal ein Teil davon.« Ich hebe die Augen und suche. Gestalt und Stimme verwehen. Ich schlage den Mantelkragen hoch und trete ins Freie. Und die russische Nacht durchfrostet mich wieder. Vor den Gräben und Horchlöchern wandre ich auf und nieder. Von der Höhe über den verkohlten Dorftrümmern ragen gespenstisch die hohen, schwarzen Kreuze des lettischen Friedhofs. Wie oft sind wir im Morgen- und Abenddämmern an diesen kahlen Todesstätten mit den müden Kompanien vorübergezogen! Sie gleichen sich wie Schatten, einer wie der andere. Und doch weht von keinem so kühler Schauer wie von dem Sonnengrabe über dem Simno-See. Ich starre auf die Kreuze. Eine blasse Helle sickert aus dem Wolkendunkel im Osten. Es ist Zeit, schlafen zu gehen.

Alle Nächte sind eine Totenklage. Nachtstürme rütteln heulend an meine Hütte aus Lehm und Brettern. Mein Herz ist eine Scheune voll wilder Pferde, eine Scheune, die in Brand geriet. Rosse stampfen, Halfterketten klirren . . . .

Stille Nächte schleichen dahin wie Gespenster. Morgenkühle weht auf, mit übernächtigen Augen sehe ich in den fahlgewordenen Kerzenschimmer und lösche das Licht. Alle Nächte sind eine Totenklage. Der Morgen ist von Nebeln überfallen, und sein Glanz ist dahin! Der Winter ist da, und sein Frost macht die Scheiben blind. Meine Seele ist kalt wie ein kahler Raum. Die Scheiben sind gefroren. Kein Strahl der vertrauten Welt dringt von außen in mich hinein. Ich sitze einsam hinter gefrorenen Fenstern, mein Freund, und starre auf deinen Schatten, der den Raum füllt . . . . Und hadere. Aber draußen wächst das Licht. Und wieder bist du mir nahe und schwichtigst. »So laß sehen, ob ich nicht lebendiger bin als du! Sieh', ich trete an die Fenster und lege die Hand auf das Eis. Es taut mir unter den Händen. Der erste Sonnenstrahl bricht hell herein. Ich hauche lächelnd über das kalte, blinde Eis – sieh', wie es hinwegtaut! Wälder, Städte und Seen schauen herein, um die wir gewandert sind, liebe Gesichter schauen von draußen herein. Willst du ihnen nicht rufen? Sind wir nicht immerdar Wanderer zwischen beiden Welten gewesen, Gesell? Waren wir nicht Freunde, weil dies unser Wesen war? Was hängst du nun so schwer an der schönen Erde, seit sie mein Grab ist, und trägst an ihr wie an einer Last und Fessel? Du mußt hier wie dort daheim sein, oder du bist es nirgends . . . .« Der Tag ist mächtig geworden, und mein Herz will hell werden und gläubig.

Alle Nächte sind eine Totenklage. In grauem Mantel lehne ich an der verschneiten Brustwehr und sehe auf zu den bleichen Sternen der Winteröde. Und mein Herz hadert. »Wir sind alt geworden an unsern Taten und alt an unsern Toten. Der Tod war einmal jung und verschwenderisch, aber er ist alt und gierig geworden.« Aber der Freund ist neben mich getreten, still, ich weiß nicht woher und ich frage nicht. Sein Arm liegt in meinem wie in den Waldgräben vor Augustowo. Und er schwichtigt: »Ihr glaubt zu altern und werdet reif. Eure Taten und eure Toten machen euch reif und halten euch jung. Das Leben ist alt und gierig geworden, der Tod bleibt sich immerdar gleich. Weißt du nichts von der ewigen Jugend des Todes? Das alternde Leben soll sich nach Gottes Willen an der ewigen Jugend des Todes verjüngen. Das ist der Sinn und das Rätsel des Todes. Weißt du das nicht?«

Ich schweige. Aber mein Herz hadert weiter. Und er läßt seinen Arm nicht aus meinem und hört nicht auf zu schwichtigen, leise, voll guten, geruhigen Eifers. »Totenklage ist ein arger Totendienst, Gesell! Wollt ihr eure Toten zu Gespenstern machen oder wollt ihr uns Heimrecht geben? Es gibt kein Drittes für Herzen, in die Gottes Hand geschlagen. Macht uns nicht zu Gespenstern, gebt uns Heimrecht! Wir möchten gern zu jeder Stunde in euren Kreis treten dürfen, ohne euer Lachen zu stören. Macht uns nicht ganz zu greisenhaft ernsten Schatten, laßt uns den feuchten Duft der Heiterkeit, der als Glanz und Schimmer über unsrer Jugend lag! Gebt euren Toten Heimrecht, ihr Lebendigen, daß wir unter euch wohnen und weilen dürfen in dunklen und hellen Stunden. Weint uns nicht nach, daß jeder Freund sich scheuen muß, von uns zu reden! Macht, daß die Freunde ein Herz fassen, von uns zu plaudern und zu lachen! Gebt uns Heimrecht, wie wir's im Leben genossen haben!«

Ich schweige noch immer, aber ich fühle mein Herz ganz in seinen guten Händen. Und seine liebe Stimme schwingt und schwichtigt weiter. »Wie wundgeschlagene Bäume süße und herbe Säfte ausströmen, so die Herzen der Dichter süße und herbe Lieder. Gott hat in dein Herz geschlagen. Singe, Dichter!«

»Mein Freund, mein Freund, meine Seele klingt von der deinen wider, wie eine Glocke, die im wogenden Klange der Schwesterglocke mitschwingt!« – –

Aus dem Himmel im Osten fließt hellflüssiges Gold über schwarze Wolken und dunkle Erde. Ein Rosenschimmer schwebt in den Jungtrieben der Birkenkronen. Ein Wölklein frisches Grün hängt fern und nah in den Wipfeln über der schwarzen Erde. Der zweite Kriegsfrühling hebt an. Der Sturm geht über die Gräber in Polen.

Es weht ein Sturm aus West, aus West,
Heimatwind, Gotteswind,
Der Kreuz und Kranz erbeben läßt,
Wo er ein Grab in Polen find't.
Es klagt und klagt der Sturm aus West:
Weh, deutscher Erde Kind!
Was hält dich Polens Erde fest?
Die deutsche Erde kühlt so lind,
Dich kühlt sie nicht!

Der Sturm aus Westen klingt und klagt
Hätt' ich Kraft, hätt' ich Kraft,
Ich hätte wie eine Kindesmagd
Dich längst in meinen Arm gerafft!
Kann's nicht, kann's nicht, Gott sei's geklagt!
Hätt' ich Kraft, hätt' ich Kraft,
Ich hätte euch auf nächtiger Jagd
Eine Handvoll Heimaterde geschafft
Zu Kranz und Grab!

Es fährt ein Sturm aus Ost, aus Ost,
Gräberwind, Gotteswind:
Du liebe Heimat, sei getrost!
Wir bleiben deiner Erde Kind . . . .
Von allen Gräbern weht's aus Ost:
Erde ist immer lind.
Erde, aus Heimaterde entsproßt,
Wir selbst nur Heimaterde sind,
Fürchtet euch nicht! –


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