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Rosa Maria

Ni le cœur ni les sens ne triompheront
jamais de vos souvenirs.

Balzac.

 

 

Wien, den 17. September 1898.
Privat.

Hochgeehrte Gnädige Frau!

Die gewünschten Papiere werden Ihnen heute von meiner Kanzlei aus zugesendet.

Da wir beide, Sie und ich, an unserm armen Freunde F. W. ein größeres und menschlicheres Interesse nehmen, als mit der Erledigung einer Rechtssache sonst verbunden zu sein pflegt, so gestatte ich mir, in diesem nicht geschäftlichen Schreiben die lang vergangenen Dinge noch einmal zu berühren.

Es wird Sie zunächst interessieren, daß auch von Seite der Frau Professor Keller das Ansuchen an mich gestellt worden ist, ihr die Briefe zu überlassen. Nach dem unzweifelhaften Wortlaut im Testament des verstorbenen Herrn Dr. Guido Burk sind jedoch sämtliche Schriftenpakete, die mit der Aufschrift »Felix Wielemann« versehen sind, Ihnen, falls Sie es wünschen, uneröffnet auszufolgen. Es bleibt Ihnen überlassen, die Papiere, wenn Sie es für gut finden, der darin genannten Dame zu übergeben.

Nun erlaube ich mir noch auf eine Bemerkung in Ihrem geehrten Schreiben vom 12. d. Mts. zurückzukommen.

Sie sprechen davon, daß ich als Vertreter Wielemanns in jener traurigen Angelegenheit vollständig informiert sein müßte.

Nein, gnädige Frau, ich wär nicht informiert, und alles, was ich weiß, ist Folgendes:

Ich war im Mai 1890 bei der Hochzeit Felix Wielemann's anwesend, die unter so glücklichen Zeichen geschlossen wurde. Von jedem Standpunkt konnte diese Verbindung nur aufs wärmste begrüßt werden. Felix war zweiunddreißig Jahre alt, um acht Jahre älter als seine Braut. Sie war ein schönes und begabtes Mädchen, vielleicht ein wenig stolz. Sie gehörte einer der angesehensten protestantischen Familien Wiens an; beide hatten Vermögen; doch wurde die Ehe lediglich in Folge einer tiefen gegenseitigen Zuneigung geschlossen, und jeder hatte seine Freude daran. Als man nach dem Trinkspruch, den der Vater der Braut, Professor Claudy, ausbrachte, aufstand, um auf das Wohl des Brautpaares zu trinken, begegnete ich dem alten Dr. Wielemann, der, auf seinen Stock gestützt, umherging; und selbst dieser verbitterte alte Herr strahlte und sagte zu mir: »Nun Herr Collega, Herr Collega, was sagen Sie? Selbst mein [irrlichternder] Herr Sohn ist in den Hafen der Vernunft eingefahren.«

Ich bin auch mehrere Male bei dem jungen Ehepaar zu Gast gewesen und ich muß sagen, sie schienen sehr glücklich zu sein. Frau Wielemann war seit ihrer Vermählung noch schöner geworden, und sein Benehmen gegen sie war, wie es in Felix Natur lag, außerordentlich zart und zurückhaltend. Sie waren beide so ungewöhnliche, ich möchte fast sagen, empfindsame Menschen. Ich erinnere mich, daß Dr. Burk einmal das Bild gebrauchte, es sei, wenn sie sprächen, als ob feine, zerbrechliche Glasfäden unsichtbar zwischen ihnen schwebten und jeder sich fürchtete, anzustoßen und sie klingen und zerbrechen zu machen. Ihn haben Sie ja sehr gut gekannt.

Sie waren seit drei Jahren verheiratet  – das Kind war eben zwei Jahre alt geworden  – als Felix eines Tages zu mir in die Kanzlei kam. Daran war nichts ungewöhnliches. Unsere Freundschaft datierte aus jener Zeit, als ich noch Concipient seines Vaters und er selbst ein vierzehnjähriger Knabe war.

Es war eben ein Client bei mir, so daß er eine Zeit lang warten mußte. Ich hörte ihn ungeduldig auf- und niedergehen. Als er eintrat, fiel mir auf, daß er sehr nervös und sein Gesicht so bleich war, als es bei seinem dunklen Teint sein konnte. Ich werde Ihnen das Gespräch, das wir führten, so genau als ich mich nur irgend erinnern kann, wiedergeben:

»Ich komme dich … in einer dringenden Familien- … oder vielmehr Prozeßangelegenheit um deinen Rat zu bitten … du sollst uns die nötigen Schritte sagen … und die Advokaten empfehlen …« Er stockte.

»In was für einer Sache?« fragte ich.

Er schwieg. Ich bemerkte, daß seine zusammengebissenen Lippen so bebten, daß das Kinn und der dunkle zugespitzte Bart sich leicht zitternd bewegten.

Endlich sagte er:

»Es handelt sich darum … daß ich und meine Frau uns scheiden lassen … müssen … und du sollst uns sagen, wie es am leichtesten und mit dem wenigsten Aufsehen geht, und welche zwei andern Advokaten, wenn du schon der eine sein willst, … der meine oder der ihre, das ist gleich … du empfiehlst.

Sie werden sich mein fassungsloses Erschrecken vorstellen. Ich sagte geradezu mechanisch: »Ja … gewiß, mit Vergnügen. Das heißt, wenn du darauf bestehst, und ich dir von Nutzen sein kann. Aber entschuldige, lieber Felix  – ich weiß ja von gar nichts  – muß es denn sein?«

»Natürlich muß es sein«, sagte er ziemlich heftig, »sonst wäre ich wohl nicht zu dir gekommen. Wenn du nicht willst, so will ich durchaus nicht in dich dringen. Dann empfiehl mir jemanden, den du für geschickt und taktvoll hältst …«

Ich hatte das Gefühl, ich könnte vielleicht Uebereilungen verhindern, und sagte daher:

»Nein, nein. Du wirst wohl wissen, was du tust; und ich stehe dir, soweit ich kann, zur Verfügung. Ich werde auch zwei Kollegen finden, auf die man sich verlassen kann. Wenn deine Frau einverstanden ist und wir sonst …«

»Mathilde ist einverstanden. Es soll nur möglichst wenig Aufsehen machen.«

»Ihr wünscht eine Scheidung von Tisch und Bett, keine völlige Trennung des Ehebandes.«

Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Ich habe kein Recht, das heißt, ich wünsche nicht, sie irgend wie zu binden. Sie soll ganz frei sein.«

Ich begriff gar nichts. Sie mögen sich denken, gnädige Frau, daß der Fall mir persönlich doch zu nahe ging. »Entschuldige«, sagte ich daher. »Ich werde gar nicht indiskret sein, ich will nichts wissen, was ich nicht wissen muß, aber aus welchem Grunde soll die Trennung erfolgen? Darüber seid ihr vielleicht übereingekommen.«

»Aus unüberwindlicher Abneigung oder wie das heißt. Das geht doch?«

»Es geht, wenn es bewiesen wird.«

»Bewiesen? Was heißt das? Bewiesen? Wenn wir beide es sagen?«

»Das genügt nicht. Es müssen wirkliche Indicien vorhanden sein  – die ihr eventuell fingieren müßtet  – eine Komödie …« Felix machte eine abwehrende Bewegung. »In jedem Fall werden Versöhnungsversuche angeordnet. Vielleicht wäre böswillige Verlassung das geeignetste  – entweder du fährst fort und sie klagt, oder sie geht zu ihren Eltern und du klagst  – das wäre vielleicht das Beste!«

»Es darf kein Schatten eines Verdachts auf sie fallen.«

»Dann ist diese Art das Beste.«

»Es soll aber auch nicht so aussehen, als ob ich sie betrogen hätte  – denn das kann ihr auch nicht angenehm sein! Du mußt nicht so starren! Ich habe sie nicht betrogen! und sie mich noch weniger  – du weißt ja, daß sie schön und gescheidt und gut ist  – und ich bin schließlich auch kein Hund!  – Und es geht doch nicht, es geht nicht!« Er ging aufgeregt auf und ab. »Und besser gleich als später. Besser ganz als halb!«

Ich fragte nicht weiter und nahm die Vertretung an. Wie sehr ich und die beiden Kollegen und die erschreckte Familie, die erst jetzt davon hörte, sich ins Mittel legten, wir erreichten nichts.

Ich hatte wiederholt Konferenzen mit Frau Wielemann. Sie sah sehr schlecht aus, aber ihr Gesicht trug den Ausdruck der Entschlossenheit, die in ihrem Wesen lag und die ich fast hochmütig nennen möchte. Sie saß vor mir, sah vor sich hin, und ihre regelmäßige Antwort war: »Halten Sie sich an das, was Felix sagt!«

Bei den Versöhnungsversuchen das Gleiche. Beide standen unter dem Martyrium der fremden Augen und Fragen da, bleich aber gefaßt, wie Menschen, die etwas furchtbares durchzumachen haben aber entschlossen sind, es durchzumachen. Felix schäumte manchmal vor Wut und beherrschte sich nur schwer. In meiner Kanzlei rief er: »Welches Recht haben diese Menschen, sich darum zu kümmern? Welche infame Gesetzgebung gibt ihnen das Recht, so in unseren Seelen herumzubohren? Was geht das diesen Kerl an, was wir wollen und was wir tun?« Nur mit Mühe brachte ich ihn dazu, ruhig zu bleiben, indem ich ihm vorstellte, daß er anders nichts erreichen könne. Sie wissen ja, daß unser Freund sich in die Ordnung der Welt, wie sie ist, nie recht finden und fügen wollte, und daß er zu den [Neurern] gehörte, die meinen, eine eigene Sittlichkeit für sich konstruiren zu können, die in unsere Gesellschaft nicht paßt. Daraus sind ihm viele Enttäuschungen erwachsen. Ich erinnere mich, daß Dr. Burk einmal von ihm sagte: Niemand hat die Ordnung noch gestört, so fehlerhaft ihr Netz auch geschlungen schien, ohne daß die losgerissenen Fäden sich ihm um den Hals gelegt und ihn gewürgt hätten.

Der Landesgerichtsrat, Baron Torfe, ein gemütlicher alter Herr, kein Psycholog, redete die notwendigen Dinge, und ärgerte sich manchmal, daß er so gar nichts begreifen konnte. Auf jedes formale »Könnten Sie sich nicht doch entschließen?« kam immer ein bebendes »Nein«  – »Nein« von beiden als Antwort. Sie begrüßten einander stumm und korrekt, man sah wohl, daß keine bösartige Feindschaft zwischen ihnen war; aber ich, und ich glaube jeder, mußte fühlen: es war hoffnungslos. Irgend etwas lag vor, das sie nicht aussprechen konnten und wollten. Sie vermieden es, einander anzusehen, aber wenn es geschah, lag in seinen Augen kein Vorwurf und in den ihren keine Bitte. Einmal gebrauchte der Landesgerichtsrat ungeduldig das Wort »betrogen«  – es war weder notwendig noch taktvoll  – und da nur sagte sie  – oder ich möchte sagen: es rang sich wie eine Klage von ihr los: »O ja  – betrogen!  – vom ersten Augenblick an  – bei Tag und bei Nacht!  –  –« aber als sie die allgemeine Spannung und das Erstaunen bemerkte, sagte sie sogleich wieder ruhig: »O nicht in dem Sinn, in dem Sie das meinen. Es ist nichts darüber zu sagen  – und Sie würden es nicht verstehen!«

Schließlich wurde die Trennung ausgesprochen. Frau Wielemann kehrte zu ihren Eltern zurück, während Felix auf Reisen ging. Das Kind blieb mit seiner Zustimmung bei der Mutter. Doch erhielt er das Recht, es, so oft er wollte, zu sehen.

Vier Jahre später verheiratete Frau Wielemann sich zum zweiten Mal mit dem Dozenten Dr. Keller.

Das ist alles, was ich weiß. Weder der Klatsch noch die Indiskretion der Freundschaft haben den Fall aufgeklärt, wieviel auch darüber in Wien geredet wurde. An Vermutungen und Erfindungen fehlte es nicht. Aber mir schienen sie lächerlich. Ich war der Meinung, die auch meine Frau darüber sogleich geäußert hatte: Gott weiß, was für verborgene Dinge in solchen bitteren Fällen Grund- und Ausschlag-gebend sind; die Ehe ist wohl immer ein schwieriges Problem  – wieviel schwerer mußte sich das Verhältniß zwischen zwei so komplizierten und jähen Naturen gestalten. Aber an mir war es nicht mitzureden, und man hielt mich für eingeweiht, während ich es nicht war.

Vielleicht aber irren auch wir uns  – und diese Briefe mögen für Sie den Schlüssel zu dem Geschehenen enthalten, der ja so oft in Erinnerungen und im Vergangenen liegt.

Ich verbleibe, hochgeehrte gnädige Frau,
in ausgezeichneter Hochachtung

Dr. Philipp Mann,
Hof- und Gerichtsadvokat.

Frau Clemence Hörmann
in Wien.

 

Mein lieber, du beklagst dich mit Recht: ich bin verändert, abnormal, krankhaft verändert, was du willst, jedenfalls nicht mehr das, was ich war, und ich habe mit unverantwortlichem Egoismus an dir gehandelt, wenn du gleich in Deiner Liebenswürdigkeit, die ich so gut kenne, es nicht so haben willst. Erst flehe ich dich an, trotz deines Widerstrebens, mit mir zusammenzukommen, brauche dich, bewege dich endlich, all die wichtigen Geschäfte und großen Arbeiten, die du vorhast, zu unterbrechen, und nachdem du es getan, lasse ich dich tagelang in Bregenz auf mich warten, vertröste dich von Tag zu Tag, und da ich endlich komme, schweige ich, bin unleidlich, nervös und gereizt, und fahre eines Morgens wieder davon, fast ohne Abschied zu nehmen und ohne dir gesagt zu haben, was ich wollte. Und dein Brief, Lieber, ist wieder nur ein ganz leiser Vorwurf,  – milde und zartfühlend wie du immer bist.

Und doch war es nur wieder die alte Erfahrung: wenn ich nach langem Kampf mich entschließe, in bittersten Zweifeln irgend jemanden,  – dich, der du nicht »irgend jemand« bist, um Rat zu fragen, erkenne ich, daß ich niemandes Rat brauchen kann und daß ich den Becher meines Schicksals gut oder schlecht mir selbst mischen, wie ich ihn selbst austrinken muß.

Und heute setze ich mich nieder, um dir alles zu schreiben, weiß, daß ich Tage und Wochen schreiben muß, um fertig zu werden, und dir alles begreiflich zu machen, weiß aber nicht, ob die Frage, die heute so brennend in mir auflodert, dann nicht längst durch die Ereignisse selbst entschieden sein wird. Weiß auch nicht, ob ich nicht schon morgen wieder aufhöre, und wenn ich bis ans Ende komme, ob ich je den Mut haben werde, dir was ich schrieb zu schicken … vielleicht doch, vielleicht einmal. Nur ein reiner Spiegel ist im Stande, solche Bilder rein aufzunehmen; bei dir laufe ich nicht Gefahr, den übertragenen Anschauungen und abgegriffenen Gedanken der Vielen zu begegnen, die sie durch ihr Urteil beflecken würden. Nicht als ob ich mich rechtfertigen oder irgend etwas beschönigen wollte. Was ist, ist. Da fällt mir ein, daß du gerne sagtest: die Wahrheit sei immer unkünstlerisch. Wie gleichgültig das der Wahrheit doch ist! du wirst mit dem, was ich dir schreibe, nichts anfangen können. Mir aber wird das Niederschreiben eine Qual und eine Erleichterung sein. Eine Erleichterung? Mir ist, als wäre mein Schicksal hinter mir, wie ein unheimliches Meer, dem ich nicht entrinnen kann, und wie böse Geister aus der Tiefe, wie Ungetüme, die man darin fabelt, oder die wirklich sind, stiegen Flüche und Erinnerungen in ihm auf.

 

Wann mein Niedergang, der zugleich mein Aufgang war, anfing, fast vermöchte ich es aufs Jahr, aufs Datum festzustellen. Und doch auch nicht. Ist es dir nicht oft vorgekommen, daß du irgendwo einen Namen aussprechen gehört, einen Menschen gesehen, oder von ihm erzählt gehört, eine Begegnung hattest, deren Spur sich wieder völlig verlor  – und dennoch setzte sich damals ein unerklärlicher Eindruck wie mit einem feinen Wiederhäkchen fest, und Jahre später sagst du: damals, damals, war der Anfang.

Arthurs Tod, das weißt du, war für mich ein Tor ins Leben. Armer Arthur! Ist es nicht seltsam und traurig, daß ich gleich zu Anfang über ihn wegsteigen mußte? Die wenigsten haben ihn wirklich gekannt. Er war so verschlossen und leicht verwundbar, und von seiner Krankheit so früh zerstört. Und in der vergeblichen Hoffnung, gesund zu werden, trug er sein Leiden fort, und ich weiß nicht, mit wem er in Meran und an der Riviera verkehrt hat.

Ich habe die Kunst, Menschen zu gewinnen, wenig verstanden, besonders nicht in jener Zeit, in der ich in Wahrheit eine am Boden kriechende Raupe war; aber einige wenige Menschen haben mich immer sehr lieb gehabt und weit mehr Hoffnungen in mich gesetzt, als ich später erfüllt habe. Von Arthur, der es eigentlich nie aussprach, wußte ich es gut. Als er zum letztenmal in Wien war, gab er mir ein Festmahl, buchstäblich ein Festmahl. Sein Zimmer war voll Blumen,  – Weine, wie ich sie nie getrunken, Cigarren, wie ich sie nie geraucht  – und matt, wie er bereits war, sah er mir genießen zu und ergötzte sich an meinen Erzählungen aus meinem eigenen armseligen Leben, das ihm schon bewegt und belangreich schien, müde und lebensunfähig, wie er war. Unter meiner gedrückten Maske, die er kaum wahrnahm, war die starke animalische Lebenslust, und die große unbestimmte Hoffnung, die er herausfühlte, halb neidisch, halb liebevoll,  – denn in ihm war nur mehr Resignation. Ein paar Mensuren, die ich damals hatte, elende Kindereien, erschienen ihm wie romanhafte Heldentaten. Hätte er von Elisen gewußt! aber davon schwieg ich.

Später ist mir manchmal der Gedanke gekommen, daß er in mir nur meine Schwester Edwina liebte. Ich sah ihr damals sehr ähnlich; er machte auch ihr viele Geschenke, zarter und zurückhaltender als mir. Er wußte jedenfalls, daß seine Liebe unerwidert und hoffnungslos war. Aber er setzte von allen Verwandten uns beiden zu Erben ein, während meine Eltern und Clara nur mit geringen Legaten bedacht wurden.

 

In der Tat, mein Leben war ein Leben im Schatten gewesen, im Schatten der Enge meines väterlichen Hauses, der ewigen Sorge und der unaufhörlichen Geldnot. Mein Vater immer mürrisch und leidend, und jeder vor seinen Launen zitternd,  – das Flüstern, zu dem wir unsere Stimmen dämpfen mußten, ging durch unser Leben. Und meine milde, freundliche, immer geängstete Mutter!  – ihr Horizont war von unseren Sorgen eingeengt, wie der einer Landschaft von immerwährenden, niedrigen Wolken. Mit meinen Schwestern wußte ich nichts anzufangen.

Der einzige Mensch, der hie und da wirkliche Strahlen in unser kleines Leben brachte, war mein Großvater. Er selbst war etwas Strahlendes, schön, geistreich, überlegen und milde. Was in mir Gutes und für andere Erfreuliches ist, das verdanke ich sicherlich ihm.

Jedes Jahr verbrachte ich ein paar Wochen in seinem kleinen Landhaus; dort habe ich jene wenigen Menschen kennen gelernt, die die Keime höherer Gedanken, die Möglichkeit freierer Ausblicke in mein Leben trugen, die vielleicht mehr waren als er, aber magnetisch von ihm gefesselt wurden; war es seine unverwüstliche Jugend, sein ewiger reger, sprühender Geist, der Tropfen französischen Blutes in ihm, was ihn so anziehend machte, war es die anmutige Gastfreundschaft, die man bei ihm fand! Halb mitleidig, halb verächtlich sah er auf seinen Sohn, meinen Vater, der ein so ängstliches, kleinliches Leben führte. Vielleicht hat es ihn einmal gequält, dann hat er sich jedenfalls damit abgefunden, wie mit allem, was nicht zu ändern war, und sein Leben gelebt. Er starb zu früh für mich. Er hatte sein Geld  – übrigens eine nicht gar beträchtliche Rente  – bis auf den letzten Kreuzer verbraucht, und uns nichts hinterlassen außer dem kleinen Landhaus im Triestingtal, das ohne ihn nicht viel wert war. Darum ist sein Andenken in unserer Familie mit Vorwürfen gepaart.  – Ich aber zürne ihm nicht, ich habe das Gefühl, nie etwas schöneres gesehen zu haben, als dieses bis zum letzten Augenblick reiche freudige furchtlose Dasein. Als ich etwa 14 Jahre alt war, erhielt ich ein Stammbuch; ich ließ Niemanden etwas hineinschreiben, ehe ich es Großvater gebracht hatte,  – und er schrieb auf die erste Seite mit starken Lettern: »Es gibt keinen elenderen Knecht, als den Knecht der Meinung der Andern.« Hat er mir nicht mehr gegeben, als wenn er mir ein paar tausend Gulden hinterlassen hätte?

Denn zu Hause wurden wir in der Furcht des Lebens erzogen. Wir wurden überhaupt viel erzogen, brav und ehrlich, aber ohne Kühnheit. In mir freilich wuchs statt der Kühnheit langsam ein zäher Trotz. Aber die armen Mädchen, die man so liebevoll brach! Werden nicht alle unsere Mädchen noch wie die Phönikierinnen erzogen, denen eine goldene Kette von Knöchel zu Knöchel sich schlang, die sie nur trippeln, nicht ausschreiten ließ, ihre Virginität wahrend und garantierend? Heute wird diese Kette den Seelen angelegt.

Beim Großvater habe ich mich manchmal ausgetobt. In einer dumm-trotzigen Weise. Ich war nicht beaufsichtigt und tat Dinge, die mir unschädlich waren, zwecklose Tollheiten. Ich mußte der niedergedrückten Unbändigkeit eines fast hysterisch gewordenen Knabengemütes Luft machen. Einmal habe ich heimlich Feuer gelegt, wirklich Feuer  – ich weiß nicht mehr, wie es entdeckt und verhütet ward, aber ich weiß, daß der Großvater mir nur die unvorsichtige Torheit verwies. Er starb, als ich sechzehn Jahre alt war.

Die Ideale von Daheim fand ich in dem einen Hause wieder, in dem ich am meisten verkehrte, in dem ich die Abende verbrachte, wenn ich sie nicht trübselig zu Hause versaß. Weil Elise die Freundin meiner Schwestern war, weil sie hübsch war  – weil ich mich in Folge der Stürme meines Innern für ruhelos hielt und nach Ruhe sehnte, verliebte ich mich in sie. Drei Jahre aus meinem Leben hat diese Liebe rein herausgenagt wie mit spitzigen Mauszähnen. Wie war das alles bürgerlich und gut berechnet und vorsichtig! was für eine kluge Jungfrau sie war! ihre ganze Liebe auf das Leitmotiv »O bitte, nein, nein!« gestellt. Und was für eine wilde Sehnsucht in mir unter allem lag, mir selbst nicht bewußt und jedenfalls ganz in die Irre gegangen, rotheiße Glut an eine Asbestpuppe gelegt. Vieles, was mir heute einfach widerlich erscheint, liegt da hinter mir. Ein dreijähriger, uneingestandener und doch bewußter und gebilligter Brautzustand, ein bescheidener Brautzustand unter schwesterlicher und mütterlicher Aufsicht, ein ewiges Warten, weil ich nichts war, und sie nichts hatte. Wenn zwei nicht zusammen können, weil die materiellen Umstände noch nicht günstig genug sind, die täten doch besser, es gleich ganz zu lassen! Wissen wir es nicht, daß es für Menschen, die Liebe ergriffen hat, keine Brautschaften, sondern nur Hochzeiten gibt? Daß der erste Blick Vermählung ist? Daß sie ein Feuer ist, das kein Dämpfen und Löschen und Zumessen und Warten kennt? Wir wissen's, die wir ihre Flammen gefühlt.

Wäre Arthur drei Jahre früher gestorben, so hätte ich Elisen geheiratet, und alles wäre anders gekommen. Wie muß ich ihr danken, daß sie so klar und vernünftig war, und den Ring bei Zeiten gelockert hat!  – denn nicht ich, nicht einmal das kann ich von mir sagen, nicht ich hab ihn gelöst, selbst dazu war ich zu schwach; das armselige Feuer erlosch von selbst, und sie legte mit ihren kalten klugen Fingern das Löschhütchen auf das letzte glimmende Stümpfchen. Tu' ich ihr heute Unrecht? Ich sehe sie schwerfällig, anmutlos, mit einem unmöglichen Gang  –  –  – sie erschien mir einmal anders. Aber, mein Lieber, ich habe ja auch seither die nackte erglühende Schönheit in ihrer berauschendsten Pracht gesehen, ich habe geschlürft, was wenigen zu schauen gegeben, in geheimnisvollen Gärten bin ich gewesen und habe Früchte gepflückt, von denen wenige zu träumen wagen!

 

Rosa Maria! Sag, kann man anders heißen? oder vielmehr darf noch jemand andrer so heißen? Rosa Maria! Wenn du auf der Straße diesen Namen rufen hörtest, sag, würdest du dich nicht umdrehen, um zu erfahren, wer diesen blumenhaften, heißen, südlichen Namen führt? Du hörst Weibernamen genug auf der Straße rufen und wendest den Kopf nicht, du stellst dir irgend ein gleichgültiges Geschöpf vor, wenn du überhaupt darüber denkst  – aber Rosa Maria! Hättest du ihn gehört, wie ich ihn gehört habe,  – vor vielen vielen Jahren, irgendwo, von einer anmutigen starken Frauenstimme, so daß es über das Wasser scholl  – es hätte auch auf dich den gleichen Eindruck gemacht. Eine feine, nicht gar starke Stimme antwortete: »Was willst du?« Diese banalen Worte rief sie  – und die andere vollere Stimme: »Warte, ich komme!« und dann das Plätschern eines Bootes, das zum Land zurücktrieb. Das alles, während ich über die Kieswege dem Hause zuging, und in einen Salon trat und wartete; denn ich war eingeladen und machte einen schüchternen ersten Besuch. Auf dem Tische stand eine große metallene Schüssel mit Visitkarten; ganz oben lag eine schmale feine elfenbeinweiße Karte, darauf in ganz feiner Schrift zu lesen »Rosa Maria Bréal«. Das also war der Name zu jener Stimme. Als ich ans Fenster trat, flog ein Boot schon weit hinaus, das ein Mädchen, dessen Umrisse ich nur noch wahrnehmen konnte, mit raschen Stößen ruderte. Romantisch für meine achtzehnjährige Phantasie!  – Wieviel Jahre waren seither vergangen, und ich hatte es fast vergessen, auch daß der Name bald wieder an mein Ohr schlug. Irgendwo bei einer Prüfung trat mir ein Herr Bréal entgegen. Er war Professor am Theresianum oder irgend einer anderen Anstalt, ein polyglottes Genie, das englisch, französisch, italienisch und spanisch lehrte. Uebrigens ein getaufter italienischer Jude, der seinerzeit ein bekannt schöner und geistreicher Mensch gewesen und in gewissem Sinn Carriere gemacht hatte. Er war schon ein alter Herr, als ich ihn sah, aber immer noch verrieten die glänzenden Augen, die vielleicht gefärbten dunklen Locken, und die weichen wollüstigen Hände den Mann, der einst so vielen Frauen gefallen hatte. Man sprach von seinen Töchtern, aber sie waren nicht anwesend, jedenfalls sah ich sie nicht.

Das hatte ich auch wieder vergessen, ganz und gar vergessen.

Konflikte ohne Ende hatten meine Zeit und mein Denken in der Nebelwelt festgehalten und ausgefüllt, in der ich jene Jahre verbrachte. Ich war innerlich frei und entschlossen, ich hatte den Schritt über den Rubicon gemacht, als ich aus der Buchhandlung, in der mich mein Vater untergebracht hatte, austrat und abermals zu studieren begann. Elisens wegen hatte ich die Universitätsstudien nach zwei Jahren abgebrochen und war ins Geschäft eingetreten, das mir ein rascheres Fortkommen versprach, weil mein Onkel in Deutschland mich vielleicht einmal zum Teilhaber genommen hätte. Nun wollte ich nach dreijähriger Unterbrechung dort wieder beginnen, wo ich damals aufgehört hatte. Ich hatte an Arthur geschrieben und ihn zum ersten Mal gebeten, er möge mir helfen. Da kam die Nachricht von seinem Tod und sein Testament, das mich unabhängig machte. Höre, damals, nicht als ich es entbehren mußte, sondern als ich es zum ersten Mal hatte, hab ich erst empfunden, was das Geld bedeutet, was für ein Zaubermantel es ist. Ich lebte nunmehr den Gelüsten und den Kräften meines Leibes und den Launen und den gierigen Bedürfnissen meines Geistes.

Ich hatte das Meer gesehen und die Alpen, Italien, Paris und London, ich hatte Reisen in den Orient geplant. Mit unbeschreiblicher Freude hatte ich mich vom Leben treiben lassen, hierhin und dorthin, nach Eindrücken lüstern und nach Menschen suchend; und ich hatte fast mehr gefunden, als ich gesucht  – und doch auch wieder weniger. Wahrlich, ich war ein anderer geworden, ich atmete im Licht, entwichen aus jener Welt von Schatten und Bangheit, einsam in meiner Freiheit und voll Sehnsucht nach meinem Werke; das weißt du. Denn das war die Zeit, in der ich auch dir begegnete, in der wir die Pläne großen gemeinsamen Wirkens entwarfen und begannen, die nie zu reifen bestimmt waren. Das war die Zeit, da ich jedem geben, jedem wertvoll sein konnte, weil ich so frei über das Leben wegging, hemmungs- und sorgenlos. Damals war mein Gesicht gebräunt von der freien Luft und mein Leib wie von elastischem Stahl, so daß ich manchmal allein an sonnigen Morgen, wenn ich durch die Straßen wohlbekannter oder fremder Städte schritt, aufjauchzte vor Lust am Leben, ohne zu wissen warum.

Und immer war in mir das rätselhafte Gefühl des Schicksals, das wie in einer Wolke über mir hing, oder um die Ecke kommen mußte. Oft sagte ich mir in Verzweiflung  – denn, ohne Frage, Nächte der Verzweiflung ergänzten die Lust der Tage, Nächte sehnsuchtsvoller unerträglicher Einsamkeiten, und dann sagte ich mir: Was ich auch erlebt, es ist an mir vorübergeglitten, fast ohne Spuren zu lassen,  – dort in jener Gasse vielleicht, in jenem Hause oder Garten mußte mir das entgegentreten, was mich unerbittlich ins Leben hineinzog.  – Und ich drängte meine Phantasie auf die Pfade ungeheurer Versprechungen und Drohungen; ich wollte die Wundmale meines Schicksals tragen; denn es war eine unendliche Liebe in mir. Ich verlangte nach der Tat, die in ihrem Rückschlag Leiden heißt. Aber das Leben entglitt mir immer wieder, und das Leiden, das mein Tun, die Berührung mit der Kleinlichkeit und Stumpfheit der Menschen mir brachte, focht mich kaum mehr an.

Diese Sehnsucht war nicht nur dumpfe Begierde, gewiß nicht, denn die konnte ich ja befriedigen, oder vielmehr ich konnte es eigentlich nicht; denn es war eine Reinlichkeit des Leibes und der Seele in mir, das darf ich nicht sagen. Das Nichtige, was ich genoß, ward mir für Freude, die ich gab. Ich bin nicht in den Schmutz gestiegen, nie und in keiner Weise. Und dennoch waren es Erniedrigungen! Erniedrigungen!

 

Eines Tages, noch früh im Jahr  – ich war eben von München zurückgekommen  – erhielt ich eine Einladung ins Haus des Generalkonsul Hueber, in dessen Fenster ich vom Speisesaal des Hotels, in dem ich wohnte, hinüberschauen konnte. Ich verkehrte oft in dem Haus. Liebenswürdigere Menschen konnte es nicht geben, man traf den und jenen, und die Schönheit Margaretha Hueber's, der jüngeren Frau, war ein Bild zu schauen. Ich erhielt die Einladung am Morgen und sagte ab, weil ich bei meinen Eltern zu Abend essen wollte. Ich war bereits im Hause meines Vaters, als mir eine zweite dringendere Einladung, mit Entschuldigungen für die Verspätung der ersten nachgeschickt wurde. Mein Vater, der auf konventionelle Beziehungen mit einflußreichen Leuten peinlich hielt, wünschte, daß ich ginge. Gibt's wirklich einen Zufall?  – Ich kam spät, man saß bereits bei Tische, und ich fand meinen Platz neben der jungen Frau, mit der ich gerne plauderte. Sehr bald aber ward meine Aufmerksamkeit von ihr abgezogen, denn mir gegenüber, am anderen Ende des Tisches, saß eine Dame, deren Gesicht mir auffiel und die ich schon früher einmal gesehen haben mußte. O jeder hätte nach ihr gesehen! Als meine Nachbarin dies bemerkte, sagte ich, daß die Dame uns gegenüber ein interessantes Gesicht habe. »O freilich, ist die interessant«, sagte Margaretha, »kennen Sie sie denn nicht? Frau Hauptmann Georgi!« Nein, ich kannte sie nicht, und doch war ich gewiß, daß ich sie bereits gesehen hatte, ich wußte nur nicht, wo.

Sobald man sich von der Tafel erhob, führte ich meine Nachbarin durch das ganze Zimmer nach der anderen Seite und bat sie, mich vorzustellen. »Ich kenne Sie bereits«, sagte die Dame, als Margaretha uns allein gelassen hatte, »durch meine Freundin Clemence.«

Wir hatten indes kaum zwei Minuten gesprochen, als eine ältere Frau auf sie zutrat und ihr sagte, »daß es Zeit sei zu gehen.« Sie stand auf und reichte mir die Hand. »Ich muß heute ausnahmsweise früh fort,« sagte sie, »aber wir können uns Donnerstag bei Clemence treffen, nicht morgen, aber am nächsten Donnerstag.« »Ich werde gewiß hinkommen, gnädige Frau,« erwiderte ich. Das Verlangen uns näher kennen zu lernen, war nach den ersten Worten so groß, daß diese sofortige Verabredung mir damals kaum auffiel. Aber als ich zu Clemence kam, fand ich niemanden. Ich war enttäuscht und geärgert, aber ich plauderte mit meiner Freundin, ohne Frau Georgi zu erwähnen.

Zwei Tage später schrieb mir Clemence: »Lieber Felix! Wollen Sie morgen abend zu mir zum Tee kommen? Eine Freundin, die schon lange wünscht, Sie kennen zu lernen, wird gleichfalls bei mir sein.«

Es war ein heller Frühlingsnachmittag. Clemence saß am Fenster und blätterte in einem Buch. Alles an ihr war still und bestimmt. Sie glich einem starken Baum, der durch ein schweres Wetter im Blühen gehemmt ward und keine Früchte gereift hat, aber weiter grünt und Schatten gibt. Als ich eine ganze Weile bei ihr gewesen war, sagte sie: »Rosa Maria ist immer unpünktlich.« Und so schlug der Name, der mich vor Jahren verfolgt und beschäftigt hatte, wieder an mein Ohr. In demselben Augenblick läutete es, Schritte tönten im Vorzimmer, und dann wurde die Portiere zurückgeschlagen, und ein lachendes wunderschönes Frauengesicht erschien in der Tür; und dieselbe Stimme, die damals über den See die bedeutungslosen Worte gerufen hatte, bat um Verzeihung für ihr Zuspätkommen. Es war ein Augenblick, in der [dem] eine Hand den Vorhang in die Höhe hielt, während der ganze schlanke Körper sich nach vorne neigte, so anmutig bewegt, wie nur ein vollkommener Leib sich bewegen kann. Ich wußte nun, wo ich sie vorher gesehen hatte.

Sie trat einen Augenblick vor den Spiegel und richtete mit beiden Händen ihr Haar, dann setzte sie sich zu uns ans Tischchen, und Clemence schenkte ihr Tee ein.

Was wir an diesem Abend gesprochen, ich schwöre, ich weiß kein einziges Wort davon: was sich zwei Menschen vor einem Dritten sagen können, die seit Jahren befreundet und verschwistert sind, ohne sich je gesprochen zu haben, zwei Geschöpfe, die aus dem dunkeln, fremden Schicksal, das immer um uns ist, heraustretend, sich begegnen, verwundert, daß eines das andere so vollkommen versteht, daß jede Taste, die sie anschlagen, Akkorde zwischen ihnen ertönen läßt. Clemence, die nie stört, störte auch uns nicht. Sie war da und sprach mit ihrer freundlichen Stimme, und sprach doch auch nicht; ihre Worte waren an diesem Tage wie die Luft, die den Schall von einem zum andern trägt, aber nicht gefühlt wird.

Als es dunkel wurde, stand Rosa Maria auf, um fortzugehen, und ich fragte, ob ich sie begleiten dürfte. Auf der Straße sagte ich: »Was Sie für einen wunderschönen Namen haben, gnädige Frau!«

»Nicht wahr?« sagte sie, »aber er fällt jedem auf!« Ich erzählte ihr, wo er mir zum ersten Male aufgefallen war. Sie erinnerte sich. »Ja, ja,« sagte sie sinnend, »damals war ich am Attersee; mehrere Sommer; das waren meine letzten Mädchenjahre. Schöne Jahre!« fügte sie hinzu.

»Erlauben Sie mir noch eine Frage, gnädige Frau: Waren Sie nicht einmal auf einem Ball der Artillerie-Offiziere in Görz?«

»Ja,« sagte sie, »waren Sie denn da auch? Der einzige Ball, auf dem ich als junge Frau war!« Sie blieb ganz überrascht stehen.

»Sie trugen ein lila Kleid, nicht wahr? Ist das nicht erstaunlich, daß ich Sie einmal vor Jahren gehört habe, ohne Sie zu sehen, und einmal gesehen, und Ihr Gesicht nicht vergessen habe, und nie ahnte, daß diese Stimme und dieser Name und dieses Gesicht zusammengehörten? Ist das nicht merkwürdig?«

»Ja,« sagte sie, »ganz merkwürdig. Wie kamen Sie nach Görz?«

»Ich war auf der Durchreise in Triest, und einer der Offiziere war mein Schulfreund; und Sie?«

»Mein erster Mann hatte dort sein Gut.«

Ich sah sie so überrascht an  – denn sie konnte nicht älter als zweiundzwanzig sein  – daß sie leise und freundlich sagte: »Ich war damals Frau von Lohenkirch. Wußten Sie das nicht?«

»Nein,« sagte ich.

Sie sprach nichts, und ich schwieg auch. Dann redeten wir von gleichgültigen Dingen. Wir waren vor ihrem Haustor angekommen. Sie reichte mir die Hand. »Auf Wiedersehen,« sagte sie und ging ins Haus.

Ich war ganz in der Nähe des Südbahnhofs und ich nachtmahlte dort, allein mit mir, aber in mehr als gewöhnlich froher Stimmung. Als ich spät abends nach Hause ging, machte ich, fast ohne zu denken, einen geringen Umweg an ihrem Hause vorüber. Die Straßen waren einsam und menschenleer. Späte starke Frühlingswinde wehten brausend über die noch laublosen Bäume der Gärten hin, die sich pfeifend unter ihrer Wucht bogen. »Er stieg nieder, das Kind der vielen Winde.« Wie ein Rauschen und Brausen lief es von allen Seiten über die Stadt, über Dächer und Gärten hin  …

 

Ein paar Tage später begegnete ich ihr auf der Elisabethbrücke. Ich hatte erwartet, daß sie mich auffordern würde, sie zu besuchen; ich hatte mich, ohne mir irgend einer Empfindung Rechenschaft zu geben, in ihrer Gesellschaft viel zu wohl befunden, als daß ich es nicht hätte wünschen müssen. Ich redete sie an, um ihr dazu Gelegenheit zu geben, aber sie hatte Eile und ging nach ein paar freundlichen Worten weiter. Ich fühlte wohl, daß ihr Bild, wenn auch weit entfernt und unaufdringlich, nicht aus meinem Gedankenkreise wich, und ich ärgerte mich, daß diese Frau, die mir am ersten Abend, an dem ich sie sah, mehr oder minder ein Rendezvous gegeben, mich nun gleichsam fallen gelassen hatte, wie einen, der sie nicht weiter interessiert. Halb zufällig, halb absichtlich ging ich in den nächsten Tagen öfters um dieselbe Zeit die Wiedner Hauptstraße von der Paulaner Kirche hinab und über die Elisabethbrücke der inneren Stadt zu. Mehrmals vergebens, aber am vierten oder fünften Tage begegnete ich ihr wieder. Diesmal kehrte ich mit ihr um und begleitete sie ein Stück. Wir waren mitten im Gespräch  – auf einmal fährt es wie ein Zittern über sie, und sie sagt: »Jetzt müssen Sie sich verabschieden  – nicht wahr? Dort kommt mein Mann!« Ich schaute sie ganz erstaunt an; aber der Ausdruck ihres Gesichtes war so flehend, daß ich mich schweigend empfahl und ging. Als ich mich noch einmal umsah, sah ich sie mit einem großen breiten Herrn weitergehen. Ich dachte: Ist dieses Weib mit einem Irrsinnigen verheiratet? oder ist sie einer Gefahr gegenüber vorsichtig, die nur in ihr selbst sein kann, daß sie eine so harmlose Begegnung zu verbergen sucht wie ein Vergehen? Damit aber war ein freudiger Schreck über mich gekommen und gleichzeitig ein immerhin geckenhaftes Gefühl, das ich früher nicht empfunden hatte, das Gefühl des begonnenen Abenteuers. Aber was war ihre Geschichte? und wer war ihr Mann? und Lohenkirch? Langsam stieg in meinem Gedächtnis, das Gesichtszüge so gut bewahrt, eine höchst widerwärtige Erinnerung auf. Im Vorbeigehen trat ich in ein Caféhaus ein und ließ mir den Armee-Schematismus geben. Ich fand einen Hauptmann Eduard Georgi unter der Rubrik »Offiziere des Ruhestandes in besonderer Verwendung.« Das Jahr seiner Pensionierung war 87. Das war alles, was ich nun über ihn wußte. Ich mußte eines Wortes denken, das sie auf dem Heimweg von Clemence zu mir gesprochen hatte: »Wie können Sie ein so freudiger Mensch sein, da doch das Leben so traurig ist?« Was war die Ursache und die Geschichte dieser Traurigkeit?

Wieder trieb der Zufall, was ich suchte, über meinen Weg. Es war nicht ganz Zufall. Ich ging zu Huebers, wo ich ihr zuerst begegnet war, und fand dort niemand anderen als den alten Bréal, der seither Regierungsrat geworden war und mit seinen weichen weißen zitternden Händen regelmäßig bei dem Generalkonsul Whist spielte.

Ich stand im Salon an der Kaminecke mit zwei älteren Herren und einem eleganten jungen Ministerialbeamten. Sein Gesicht glich dem einer rotwangigen frisierten hübschen Wachspuppe, mit klugen boshaften Augen. Kaum hatte ich den Namen Bréal genannt, so entfesselte ich einen Strom von Erzählungen. Sie wurden ziemlich leise geführt, da der Regierungsrat selbst im Nebenzimmer saß. Der ältere der beiden Herren, ein Fabrikant, kannte Giuseppe Bréal, seit er aus Mailand nach Wien gekommen war. »Ein sehr fähiger Mensch, ah, gar nichts zu sagen! Die Frau ist aus sehr guter Familie, sehr fromm; das hat ihnen auch sehr genützt. Und die Töchter, ah! Schönheiten! Aber sehr schlecht erzogen! sehr elegant, ja gewiß!«

»Das Haus war immer etwas louche«, sagte der Ministerialbeamte. Er sprach sehr weich und stieß ein wenig mit der Zunge an.

»Ja  – ja  – man kann es so nennen. Diese Frauengeschichten, die nie ein Ende genommen haben, und, wissen Sie, mit italienischer Ungeniertheit! Dabei drei halberwachsene Töchter im Hause!  –  – Dann hat er ganz gewiß an der Börse gespielt. Die Mädchen, wissen Sie, waren immer pickfein angezogen.  – Was in dem Hause nur an Handschuhen aufgegangen ist! Und dabei haben sie ganz gewiß oft nur eine Speise zu Mittag gehabt, und manchmal vielleicht die nicht einmal. Den Fiaker vor dem Haus und den Executor im Haus! Und die arme Frau, die hat was gelitten!«

»Sie war eine geborene Krapp?«

»Krapp-Georgi. Von den Krapp-Georgi's, die einmal Hofjuweliere waren, aber zu Grunde gegangen sind. Der bekannte Monsignore Krapp, das war ihr Onkel.«

»Nun und die Töchter?« fragte ich.

»Hm, ja  – sie haben alle sehr hoch hinaus wollen, aber die besten Partien sind natürlich ausgeblieben, wie sie gehört haben, daß ihre Schönheit auch ihre ganze Mitgift ist. Die Aelteste hat einen Collegen von Ihnen geheiratet  – den Dr. Mécsey. Der Skandal war ja in allen Zeitungen!«

»Sie ist ihm mit einem Klavierspieler durchgegangen!« warf der Ministerialkonzipist ein.

»Sie erlauben, es war ein Komponist  – sie waren immer sehr musikalisch. Man darf übrigens nicht von ihr reden, die Familie kennt sie nicht mehr. Die Zweite ist an einen Vetter in Italien, ich glaube, sehr reich verheiratet; Aristide Bréal, eine sehr bekannte Seidenfirma …«

»Ja, sehr bekannt«, sagte der dritte Herr, der Advokat war.

»Die jüngste hat einen Herr von Lohenkirch geheiratet, einen Neffen des Sektionschefs im Unterrichtsministerium. Eine Liebesehe, aber sehr unglücklich, denn der Mann ist im ersten Jahr der Ehe irrsinnig geworden  – lebensgefährlich irrsinnig. Er lebt noch!«

»Wie?« rief ich.

»Ja, er lebt noch, im Irrenhaus. Die Ehe ist getrennt worden. Und die arme junge Frau, die mir offen gestanden die liebste von allen ist, hat ein Jahr ganz einsam in Görz auf dem Gut des Mannes gelebt und hat sich dann, wie seine Verwandten ihr Prozesse angehängt haben, nur damit sie Schutz hat, mit einem Hauptmann Georgi, einem Verwandten von der Mutter verheiratet. Sie ist aber jetzt ganz anders. Sie lebt sehr zurückgezogen!«

»Es hat nämlich nie eine Familie von geriebeneren Spekulanten gegeben, als diese Bréal,« sagte lispelnd und unendlich freundlich der Ministerialbeamte. »Ein schöner italienischer Jude, der eine musterhafte Abenteurer-Carriere gemacht hat …«

»Abenteurer dürfte doch wohl ein etwas starker Ausdruck sein,« sagte der Advokat.

»Sie sehen das wirklich milder an, meine Herren, weil Sie mit soviel Gemeinheit zu tun haben  – aber ich möchte als Beamter mit diesem ›Regierungsrat‹ nicht in ein Fach geworfen werden. Ich ziehe Glacéhandschuhe an, wenn ich diese Leute berühre.«

»Sie haben nie bei ihnen verkehrt?« fragte ich.

»Ich war eingeladen. Ich war am Attersee, und mein Freund Alfred v. Fischer führte mich bei ihnen ein. Ich kannte sie nicht. Und Sie wissen: mit wem man im Sommer auf dem Lande verkehrt, das verpflichtet zu nichts. Sie jagten ja förmlich nach jungen Leuten.«

»Wer jagte?«

»Nun, die Mädchen. Sie waren eben darauf dressiert. Diese drei Töchter waren für den alten Bréal ein Kapital. Er hat die Erste verkauft. Sie hat ja gar nicht wollen,  – sie waren ja viel ehrgeiziger  – und sie hat die Rasse jedenfalls nicht verleugnet. Dann wurde die Zweite verkauft, ein Geschäft, das die Familie Bréal »in sich« machte. Die Dritte war unzweifelhaft die beste Anlage, denn sie ist zweimal verkauft worden …«

»Aber bitte sehr …« sagte der Fabrikant.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, aber die Farce ist ja doch deutlich. Haben Sie Ferdinand von Lohenkirch gekannt? Haben Sie das Scheusal gekannt?«

Wenn dieser Lohenkirch mein Lohenkirch war, war er ein Scheusal; gewiß!

»Die Ehe ist auch gar nicht getrennt worden.«

»Pardon …« sagte der ältere Herr.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Katholische Ehen können ja gar nicht getrennt werden. Sie ist ungültig erklärt worden.«

»Ja ganz richtig, natürlich,« sagte der Fabrikant ärgerlich, »das war ein Irrtum, das hab ich vergessen. Sie ist ungültig erklärt worden, weil der Mann bereits bei Eingehung der Ehe nicht bei Sinnen war.«

»Ah, das ist also der berühmte Fall Lohenkirch!« sagte der Advokat.

»Der berüchtigte Fall Lohenkirch. Wissen Sie, was der Mann alles getan, schon getan hatte, als man ihn zum Schwiegersohn wählte  – und wie er sich in seiner Ehe benommen hat? … Die Kleine ist gestraft worden.« Hier sank die Stimme zu einem Flüstern, denn aus dem Spielzimmer tönte die heisere scharfe Stimme des Regierungsrates: »Pique ist Atout.«

»Das beweist doch nichts gegen sie?« sagte ich.

»Und das Testament?« fuhr der Sprecher fort. »Und der Prozeß, den die junge Dame,  – wenn Sie wollen, der Herr Papa mit den Verwandten des Mannes geführt hat? Ich sage Ihnen, die Geschichte war mehr als louche!«

»Sie scheinen ganz außerordentlich informiert zu sein.«

»Es gibt Personen, die mich sehr interessieren. Als ich mit angesehen, wie mein Freund von Fischer in diesem Hause düpiert worden ist, habe ich beschlossen, mich nicht düpieren zu lassen. Fischer war nämlich in Aussicht genommen, bevor die Kombination Lohenkirch möglich war. Er hatte allerdings kein Vermögen und keinen Onkel, der Sektionschef war. Und ich bin auch durch die zweite Ehe dieser sehr hübschen jungen Dame nicht düpiert worden. Ich bitte, bedenken Sie doch, der einzige Onkel in der mütterlichen Familie, der Geld hatte  – denn die Krapp-Georgi waren ja alle zu Grunde gegangen,  – und der absolut heiraten wollte. Es wäre alles der Familie verloren gegangen. Da hat man Familienrat gehalten, um dieses Unglück zu verhüten und das Vermögen zu sichern: und die schöne Nichte war ja doch das Nächstliegende! Ich sage Ihnen, ich weiß die ganze Komödie, weil ich sie zweimal mitgemacht habe. Sie hat vor dem Onkel singen müssen, wie sie vor Alfred gesungen hat und vor mir. Bitte, hören Sie es, es ist der Mühe wert. Oder tanzen Sie mit dieser kleinen Herodias, da werden Sie in vieles einwilligen!«

»Wissen Sie, ich finde, daß der Hauptmann sehr gescheit getan hat,« sagte der ältere Herr.

»Bitte, sehen Sie das Paar in der Loge an  … Zwei haben jedenfalls immer gewußt, was sie tun, und das waren die alten Bréal. O sie haben niemandem eine Tasse Kaffee angeboten, ohne zu wissen warum. Uebrigens haben es die Mädels auch sehr gut verstanden. Man hat sie am ganzen Attersee gekannt. Mein Freund Alfred kann Ihnen reizende Intimitäten erzählen. Er war ja so gut wie verlobt mit der Georgi.«

Und mit der ganzen Ritterlichkeit unserer jungen Leute und sehr zum Ergötzen der beiden älteren Herren berichtete er lispelnd, was für Intimitäten sein Freund Alfred zu erzählen wußte. Ich hörte gemartert zu, ohne ein Wort zu sprechen. Das hatte ich nun von meiner Neugier. Ein unsäglicher Widerwille erfaßte mich. Ich ging fort; beeinflußt oder nicht, ich fühlte mich beschmutzt von all dem Spülicht, das dieser lächelnde lispelnde Affe vor mir ausgegossen, als ich den Namen, der mich so sehr bewegte, vorsichtig oder unvorsichtig ausgesprochen hatte. Ich freute mich fast, daß ich ohnedies im Begriff war, wieder zu verreisen. Ich sollte mit Erich Benklein nach Italien und Griechenland.

Acht Tage später saß ich ihr selbst bei Huebers gegenüber.

Sie fragte: »Warum haben Sie keinen Beruf? kein Werk? frei wie Sie sind und mit all Ihren Gaben? Sie müßten ein reines, fruchtbares, großes Leben führen!  – Sollten Sie das nicht? Spreche ich unbescheiden? Sie lachen mich aus?«

Ich lächelte in der Tat. »Unrein mit Aspirationen« dachte ich. »Den vom Leben Befleckten steht der Zug zum Idealen sehr gut. Kann sogar echt sein.« Das waren meine Gedanken. Laut aber sagte ich, daß ich ein Werk hätte, daß ich aber noch sehr viel dazu sehen und lernen müßte, fing an, ihr von deinen und meinen Plänen zu sprechen. Das aber ging im vollen Salon nicht gut. »Davon müssen Sie mir ein ander Mal ausführlich erzählen« sagte sie. »Das wird kaum gehen,« erwidere ich, und sage ihr, daß ich in drei Tagen abreise. »Das muß wohl auf den nächsten Winter verbleiben.« »Kaum«, sagt sie traurig. »Nächsten Winter dürften wir nicht in Wien sein. Mein Mann will wieder fort. Er verträgt die Stadt nicht gut und er hofft mit seiner Arbeit bis zum Herbst fertig zu werden.« »Also nicht«, denke ich mir, und ein leises Bedauern zuckt durch meine Seele, weiter nichts.

Derselbe hochgewachsene Herr, mit dem ich sie auf der Straße gesehen hatte, tritt auf sie zu, und sie stellt mich ihm vor. Ein Mann von etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahren, ziemlich grau an den Schläfen, mit blassem, glattrasiertem Gesicht. Wir sprechen ein paar Worte. Seine Art ist sowohl selbstbewußt als verbindlich und mißfällt mir doch. Irgend etwas stößt mich ab.

Er will fortgehen. »Wann reisen Sie?« fragt sie noch einmal.

»In ein paar Tagen!«

»Also auf Wiedersehen! Genießen Sie all das Schöne, das Sie sehen werden!«

Ich gehe auch. Ein Dienstmädchen hilft ihr im Vorzimmer ein Spitzentuch umnehmen. Ihr Mann spricht mit Richard Hueber. Plötzlich sagt sie auf italienisch: » Le auguro tutto il bene del mondo!« drückt mir sehr freundschaftlich, aber nicht zu heftig die Hand und geht.

Glaube an Schicksal oder nicht! Am folgenden Tage wird Erich krank. Unsere Reise muß aufgegeben, muß auf den Herbst verschoben werden. Mittwoch hatte ich im Hause des Generalkonsul von ihr Abschied genommen, Montag stand ich auf der Ringstraße am Stadtparkgitter plötzlich vor ihr. Sie bleibt stehen, traut ihren Augen nicht, lächelt, fragt: ich erkläre ihr, was mich abgehalten. Sie bedauert, dann sagt sie ganz unvermittelt: »Kommen Sie und besuchen Sie mich; ich bin jeden Dienstag zu Hause!«

Wie könnte ich die Empfindungen jener Tage erklären? Es war, als ob sich ein ganz feiner, leuchtender Nebel über mich und die Welt gelegt hätte, ein Nebel, der etwas berauschendes hatte; aber was er bedeutete, das wußte ich noch nicht. Auch war der Rausch so unendlich leicht, ein Nichts, vielleicht durch einen scharfen Luftstoß sofort wegzublasen, und durch soviel Mißtrauen mit einer leichten Bitterkeit versetzt. Aber Dienstag um 4 Uhr Nachmittag ging ich in ihre Wohnung.

Durch den Torweg kam man in den Hof und von da durch ein Gitter in einen Garten; in diesem Garten stand das Haus, das Erdgeschoß bildete eine Art schräggebauter Rustica mit vergitterten Fenstern, es glich fast einer Festung. Im ersten Stock las ich auf einem weißen Porzellanschild in schwarzen Buchstaben: »Eduard Georgi, k. u. k. Hauptmann d. R.«

Die Einrichtung des Salons, in den ich geführt wurde, war elegant aber nüchtern: weiße Türen und Fensterverkleidungen und grüne Empire-Möbel; man hatte keine Empfindung von Wärme oder Behagen beim Eintreten.

»Wir wissen nicht, ob wir länger hier bleiben  – die Wohnung ist kaum eingerichtet,« erklärte sie. »Wir haben sie so übernommen.«

»Und nun,« sagte sie, als wir uns gesetzt hatten, »erzählen Sie mir von den Dingen, von denen Sie Mittwoch anfingen, von dem, was Ihr Freund und Sie vorhaben!«

Und ich sprach von unseren Vorarbeiten und Hoffnungen, du erinnerst dich, daß wir aus Prinzip und Vorsicht zu keinem davon sprachen, der nicht mittun sollte  – aber seltsamer Weise fühlte ich mich ihr gegenüber nicht zum Schweigen verpflichtet. Sie hörte zu, fragte, zweifelte, sprach mit Frauenklugheit.

»Das wollen Sie alles erreichen? und in dieser Welt? Nein, da ist keine Aussicht!«

»O doch!« sagte ich, »Menschen, die fähig und einig sind und sich auf einander verlassen können …« So dachten wir ja damals, eine neue wirkliche » Histoire des Treize« wollten wir spielen. Was wollten wir nicht alles reformieren und neu ins Leben rufen, wen nicht zu unserem Werkzeuge machen und dem Netz unserer Pläne einfügen, während wir, die wenigen Eingeweihten und Entschlossenen, die zwanglos nur durch den eigenen Willen vereinten, soviel wie möglich im Hintergrund blieben! Und das Alles in Oesterreich! Es war kindisch  – obwohl mancher Same nicht ganz verdorrt ist!

In dem ganzen ersten Feuer, das uns damals noch erfüllte, erklärte ich ihr begeistert und besonnen zugleich, was wir wollten, auf welche Schwierigkeiten wir vorbereitet waren, was wir zu tun gedachten, um sie zu überwinden. Es war eine Phantasmagorie, aber sie schien möglich. Ihre Augen leuchteten. »Ja«, sagte sie, »ja, es muß gehen. Es ist zu schön. Und wenn Sie so voll fester Hoffnung sind, dann kann es auch in Erfüllung gehen!«

»Sicherlich,« dachte ich, »was immer die Vergangenheit verdorben haben mag, dieses Weib hat eine adelige Seele.«

Ein leises Klopfen erscholl an der Türe. »Herein,« rief sie, »kommt nur herein!«

Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Knabe traten ein. Das Mädchen war etwa sieben Jahre alt, der Knabe vierjährig, hübsch und kräftig. Er salutierte militärisch.

»Das ist mein Fratz,« sagte sie strahlend. »Komm Richard! und das meine Tochter Dosi.« Und hier glitt etwas trauriges über ihr Gesicht. Das kleine Mädchen reichte mir die Hand mit einem Ernst, der nicht drollig war, wie sonst bei Kindern. Sie sah mich mit großer Aufmerksamkeit an. Sie war sehr schlank und zart, nur der Kopf überraschend groß, und die Augen groß und zu traurig für Kinderaugen.

»Ich bin viel älter, als Sie glauben,« sagte die Mutter lächelnd, als ich von den Kindern nach ihr und von ihr wieder auf die Kinder sah. Der Kleine schritt auf mich zu; als ich ihn aber ohne weiteres in die Höhe heben wollte, ward er böse und rief: »Mich darf niemand anrühren!«

»Bravo Fratz,« sagte sie, »gerade wie seine Mutter! Aber gib dem Herrn schön die Hand! Er ist ein Freund, ein sehr guter Freund!«

»Es muß sehr angenehm für Sie sein, gnädige Frau,« sagte ich, »auch in der Stadt einen Garten für die Kinder zu haben.«

Aber ich sah durchs Fenster hinaus. Der Garten, eingesperrt zwischen dem Hof und den Häusern, mit kahlen Bäumen und Sträuchern, war ein trauriger Anblick.

Ich sagte: »Da können sie immerhin schreien und tollen, wie sie's vom Land gewöhnt sind.«

»O die dürfen nicht viel schreien und tollen, das mag mein Mann nicht leiden. Die müssen viel stille sein.«

Die Kinder saßen auch in der Tat völlig still.

»Machst Du nicht gerne Lärm?« fragte ich den Knaben. Er sah mich an.

»Ja!« sagte er schließlich kurz und trotzig.

»Bst!« sagte die Mutter mehr zu mir als zu den Kindern. »Geht wieder, Kinder. Addio Fratz.« Sie gingen widerspruchslos, der Knabe, nachdem er die Mutter noch einmal stürmisch geküßt hatte, das Mädchen ohne sich zu rühren.

» Carina!« rief die Mutter.

Sie kam lautlos zurück. »Willst Du dem Herrn nicht Adieu sagen?«

Sie knixte unbehilflich und sagte: »Adieu!«

»Mein Mann ist für militärische Disziplin, auch im Hause,« sagte Frau Georgi, als die Kinder die Türe still geschlossen hatten. »Vielleicht zu sehr!«

»Aber im Garten oder in ihrem Zimmer, da können sie sich doch austoben?«

»Ich habe kein Zimmer,« antwortete sie, und mit nachdrücklicher Heftigkeit fügte sie hinzu: »Ich habe gar nichts eigenes!«

Ich schwieg. »Sie haben sich selbst,« sagte ich endlich.

»Auch das nicht, das am wenigsten. Ich habe mich selbst nie gehabt und werde mich nie haben.«

»Man kann und muß sich haben,« wiederholte ich, und ich löste meine Empfindung von allen Hemmungen und Verkleidungen und strömte mein ganzes, durch den Druck, den ich selbst einst empfunden, so heftig gewordenes, so all mein Wesen beherrschendes Freiheitsgefühl aus. Aber sie schüttelte den Kopf in hoffnungsloser Resignation.

»Sie können so sprechen, der Sie eben ein freier Mensch sind. Und ich bin glücklich, daß ich einen solchen getroffen habe, der es wirklich von sich sagen kann. Aber ich …«

Es läutete draußen. »Jetzt müssen Sie wieder gehen,« sagte sie, »denn meine Zeit ist um, ich habe heute noch viel im Hause zu tun. Aber warten Sie, erst bekommen Sie noch etwas Süßes. Diese verzuckerten Früchte kommen aus Italien, von dort, wo Sie hätten hinfahren sollen. Meine Schwester Anna Maria hat sie mir geschickt. Die sollen Sie kennen lernen. Das ist ein Geschöpf, wie Sie es wünschen, voll Leben und Trotz  – und doch ganz anders, nicht wie Sie's meinen.«

»Sie haben noch eine Schwester, gnädige Frau? Nicht wahr?« fragte ich absichtlich.

»Ja. Bianca Maria. Die Arme! Sie wissen ihre Geschichte? Die Arme!«

»Ist es wahr, daß Sie sie nie sehen?«

»Fast nie. O ich möchte schon, aber ich darf nicht. O ich habe sie so lieb gehabt, so ein zartes süßes Geschöpf! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön sie war. Und so dumm verheiratet. O ich habe sie lieb; aber mein Mann erlaubt nicht, daß ich mit ihr verkehre.«

»Und Sie gehorchen?«

Sie sah mich an. Sie unterdrückte sichtlich irgend etwas, was sie schon sagen wollte. »Ich sehe sie hie und da, fast im Geheimen. Ich will ja doch meinen Mann nicht kränken,« sagte sie endlich.

»Sie verdammen sie nicht?«

»Ich verdammen? Wer bin ich, daß ich irgend jemanden verdammen sollte?  – Aber von alledem reden wir ein andermal!«

Sie stand auf, und ich erhob mich, um zu gehen.

Sie reichte mir die Hand. »Auf Wiedersehen!« Unsere Blicke begegneten sich. Vielleicht ahnte sie nicht, wie die ihren leuchteten.

Als ich fortging, kam ich durch leere stille Straßen; der Himmel, der früher bewölkt gewesen, hatte sich geklärt. Es war die Stunde, wo der späte Sonnenschein warm und rot über Häusern und Straßen liegt  – und von den wenigen Menschen, die mir begegneten, fielen lange Schatten. Mir war, als ob ein eigenes fremdes warmes Licht über der Welt läge. Eine stille und doch ungeheure Freude war in mir, ein nicht zu beschreibender, unerklärter Jubel … Aber plötzlich begriff ich den Grund. Aus diesen Augen war mir  – von Anfang an  – eine Sympathie entgegengeströmt, wie ich sie noch nie und nirgend empfunden hatte; ein persönliches tiefes Einverständnis klang aus jedem Wort, eine Freude an meinem Wesen und meinem Sein, ein gutes Wünschen, das mich wie mit seliger Wärme umfloß und vor jedem bösen Einfluß schützen mußte.

Da aber machte ich eine neue Entdeckung, die wie eine jähe Erschütterung über mich kam; denn es schrie plötzlich in mir: diese Frau liebt mich … liebt mich. Diese Frau, die schöner ist, als irgend ein Weib, das ich im Leben gesehen, dieses Wunder des Südens liebt mich! Und warum? Ich weiß es nicht!

Vielleicht weiß sie gar nicht, daß sie mich liebt.

Oder … aber ich vernichtete den häßlichen Gedanken sofort, der in mir aufstieg  – er wurde weggetragen von den Wogen des unsichtbaren hellen Meeres, das um mich war.

Auf einmal erschien mir das ganze reiche Leben, das ich bisher geführt, so bettelarm und nackt im Vergleich zu dem neuen Reichtum, der lockend vor mir lag. Ueber sonnenbeschienene Sandwüsten war ich gezogen, lachend und froh, weil ich nichts besseres kannte, und weil ich soviel Wüstengeister überwunden hatte. Aber nun war ich vor den Rosentälern des Lebens angekommen und hielt an, in frohem Erstaunen, trunken vom Duft, der mir entgegenströmte.

Einen Augenblick, einen Augenblick war mir, als würde beim ersten Schritt, den ich auf den verzauberten Grund setzte, ein Wehelaut an mein Ohr schlagen  –  – aber schon war alles wieder von Licht und Duft umflossen.

Ich wünschte, diese Stunde, in der ich bald stehen bleibend und träumend, bald langsam weitergehend, jeden Schritt mit süßer Wollust tat, möchte nie enden, und ich aus dem unsicheren traumhaften Zustand, in dem ich wandelte, nie erwachen. Laß mir, rief ich, diese Wonne, die mich umsprüht, ich weiß nicht warum, daß ich lache, wenn ich sprechen will, oder wenn ich einem Menschen ins Angesicht sehe. Ich begehrte nichts und wünschte nichts, als dieses Nicht-Erwachen; ich wich den Gassen aus, in denen ich die Menschen sich drängen sah; ich ging durch die leeren, asphaltgepflasterten Straßen am Musikvereinsgebäude vorbei  – ganz still mit mir, nur manchmal wendete ich mich zurück und sah nach den Dächern, die sich hinter der Kuppel und den Säulen der Karlskirche erhoben, nach der Gegend, wo ihr Haus stand: von ihr her quillt diese Wonne  – anders kann es nicht sein!

Auf einmal ging ich rasch nach Hause. Ich setzte mich nieder und schrieb an sie  – irgend eine Auskunft, um die sie mich ersucht hatte: Ich begann: »Sehr geehrte gnädige Frau!« Aber ich fühlte wohl, daß ich Chiffern schrieb, daß das hieß »Unvergleichliche, köstliche Perle,« und ich dachte: Wirst du's lesen können, du liebes schönes Weib? Wirst du's verstehen, wenn du den Brief in deinem öden Zimmer liest? Wirst du's verstehen, wie die Sklavin, der über die Mauer des Gartens vieldeutige Blumen zugeworfen werden?

Aber als ich am nächsten Tage erwachte, waren die Kränze fort, mit denen ich eingeschlummert war. Vor der kälteren Klarheit des Tages zerflossen die Träume. Wie, wenn ich mich irrte? Welches Recht hatte ich aus den paar freundlichen Worten und Blicken anderes als Interesse und gute Gesinnung herauszulesen? Aber das Leben schien mir nicht mehr möglich ohne dieses wonnige Gefühl, das ich gestern gekostet hatte … und es begann jenes quälende Zucken und Zweifeln, das ich nicht mehr ertragen konnte. Ich war nicht mehr jung genug für solche knabenhafte Liebesqual, für dieses seelische Zupfen der Blumenblätter, ich mußte sogleich Gewißheit haben. Der Tag darauf war zum Glück der letzte Empfangstag des Generalkonsuls.

Während ich durch die Zimmer ging, unruhig mit dem und jenem redend, sah ich an einem Tischchen mir gegenüber denselben jungen Ministerialkonzipisten, der damals so viel schändliches über das liebe Weib gesprochen hatte. Und obgleich ich in der Zwischenzeit nichts gefunden hatte, ihn zu widerlegen, war doch eine kaum zu dämpfende Wut in mir, ein Bedürfnis, ihn zu mißhandeln, mit beiden Händen nach dem lächelnden Mund zu greifen und die Lippen über die weißen hübschen Zähne böse zu pressen. Ich hütete mich, in seine Nähe zu gehen. Die Zahl der Besucher und das Geplauder wurde stärker, die Teetassen wurden von Tischchen zu Tischchen getragen, … plötzlich mußte ich mich umdrehen, und ich wußte wohl, wer eingetreten war. Sie kam in einem dunkeln, spitzenbesetzten Seidenkleid, in einer Wolke von anmutiger Vornehmheit und Eleganz, aber als sie den Schleier hinaufschob, sah sie müde und weit älter aus, als ich je gedacht; irgend etwas mußte vorgegangen sein: das war eine Frau von mindestens dreißig Jahren.

Es kamen einige Minuten, die wir allein in einem kleinen Salon beisammen saßen, aber wir sprachen mühsam und mir erstarben die Worte … Der kleine Enkel des Generalkonsuls, der Bub Margaretha's, kam hereingelaufen, und Rosa Maria rief ihn zu sich und fragte ihn, ob er sie lieb habe. »Ja, sehr lieb« sagte der Kleine. »Und hast du diesen Herrn auch lieb?« fragte sie auf mich zeigend. »Ich weiß nicht, wer dieser Herr ist« sagte der Bub verlegen. Mir aber klangen die Worte im Ohr und drängten sich auf meine Lippen, sie zu fragen: »Haben Sie diesen Herrn auch lieb? Haben Sie diesen Herrn auch lieb?« … Aber Leute kamen und gingen, und sie stand auf und sagte müde: »Nun muß ich schnell gehen, wir haben Besuch.« »Bleiben Sie doch noch ein bißchen« bat ich. »Nein, danke, ich kann nicht« sagte sie und ging.

Ganz lächerlich kam ich mir vor, und meine Hoffnungen versanken. Aber wie ein blutroter Strahl schoß es in mir empor: ob sie mich liebte, das wußte ich nicht, aber daß ich sie liebte, das war mir furchtbar klar geworden,  – rasend, begehrend, unerbittlich! Wie ein ehernes Seil schlang es sich um mich  – der Wille, dieses schöne Weib zu gewinnen, mochte sie sein wer und wie sie wollte. Aber im nächsten Augenblick kam wieder ein Zittern über mich und eine tödtliche Aufregung, die sich nicht ertragen ließ. Und sie kam nicht für Augenblicke, sondern blieb Tag um Tag. Ich aß und schlief nicht mehr, und ging abends und nachts in völliger Verwirrung durch die Gassen, und fand oft nicht den Weg nach Hause  – und wenn ich heim kam, stieg ich wie betäubt die Treppe empor, und sprach mit mir selber, so daß die Kellner mich ansahen und fragten, was ich befehle … bis es nicht mehr möglich war, diesen Zustand zu ertragen, und ich ein Ende zu machen beschloß: sprechen, und wenn alles vorüber wäre, fortgehen, gleichgültig wohin, weil das Leben keinen Sinn mehr haben konnte.

Da ging ich den Weg über die Elisabethbrücke  – vergeblich  – endlich einmal traf ich sie mit ihrem Knaben, und wir gingen ein Stück neben einander her, beide beklommen, und sprachen dies und jenes; aber das Wort wollte nicht über meine Lippen, es war zu sonderbar und unmöglich, hier auf der Straße unter soviel Menschen  – und während sie den Kleinen an der Hand führte … Doch wuchs an diesem Tag eine wilde Gewißheit in mir: auch ihre Augen sahen fragend und unsicher nach den meinen.

Endlich kam der Tag, an dem ich sie wieder besuchen konnte.

Sie saß in dem öden Salon nahe am Fenster, den Kopf zurückgelehnt, in einem dunkeln Kleid  – und sie erhob ihre lange, schlanke Gestalt, um mir entgegen zu gehen. Meine Lippen waren trocken wie im Fieber, als ich sie begrüßte. Aber obwohl die Aufregung in mir bis zur Ohnmacht ging, obwohl ich mich widerstandslos vorwärts getrieben fühlte, tat ich, was ich tat, überlegt und mit Berechnung. Wir kamen sogleich in ein Gespräch über uns selbst, und auch, wenn wir von anderem sprachen, sprachen wir doch nur von uns selbst. Ich erzählte ihr von meiner Jugend. Ich weiß und wußte auch damals, daß ich, der ich gerne still bin, dennoch, wenn ich einmal ins Sprechen und in ein gewisses Feuer gekommen bin,  – so daß mir selbst wird, als trügen mich Schwingen,  – Menschen berauschen und durch den Ton, den ich halb bewußt wähle, in eine fremde Stimmung versetzen kann. Und das tat ich damals, halb unbewußt, halb mit wildem Wollen. Wie ich's getan, weiß ich nicht mehr, aber sicherlich fand ich intuitiv Worte, die in ihre eigene Jugend und Vergangenheit wie zurückleuchtende Blitze schlugen, und wenn ich von der Gefangenschaft meines Wesens, von meiner verborgenen Empfindsamkeit sprach, von den Ketten, die ich zerrissen hatte, und von dem großen Leben, das sich vor mir aufgetan, den außerordentlichen Menschen, die ich zu Freunden gewonnen hatte, da sah ich ihre Augen leuchten, und ihre Brust flog.

Da hielt ich inne und in mir selbst sagte ich mir: Nun mußt du reden. Aber da erstarrte alles in mir in plötzlichem Schreck, und ich konnte kaum mehr sprechen und sie auch nicht, wir wurden schlaff und stumm und blätterten in den Büchern, die vor uns auf dem Tisch lagen. Das Buch aber, das vor ihr lag  – wann werd' ich es je vergessen?  – war eine schöne große, weiß gebundene Dante-Ausgabe.

Endlich sprach sie: »Was Sie da sagten vom großen bewegten Leben ist wunderschön, aber es ist doch so eine Unruhe in alledem, so ein Stürmen,« und während ihre Brust sich wie in bitterem Schmerz hob, sagte sie: »Die Sehnsucht geht nach Ruhe.«

»Wann kann unsereins Ruhe finden?« sagte ich. »Ich weiß nichts von Ruhe und ich will nichts von ihr wissen, ich will nur leben! …«

»Vielleicht würde ich auch so sprechen, wenn ich keine Sklavin wäre. Ich bin eine Sklavin« sagte sie, da mein Gesicht widersprach. »Ich war nie etwas anderes und werde nie etwas anderes sein. Es ist ganz umsonst, wenn man mir von der Freiheit erzählt und die Wege der Freiheit vorgaukelt …«

»Weil Sie den Weg nicht zu gehen wagen!«

»Nein gewiß nicht; und ihn nicht gehen kann. Nein, nein« sagte sie abwehrend, »antworten Sie nichts. Ich will meine Ketten.«

»Nein« sagte ich heftig.

»O doch! da läßt sich nichts ändern!«

»In wenig Wochen werde ich wieder fortgehen und das Leben suchen, in neuen Eindrücken, in neuen Menschen, neuen Plänen. Aber ein Gedanke wird mir besonders bitter sein …«

Ich vollendete nicht. Sie sah mich an, öffnete sehr langsam das Buch und las die zwei Verse der Francesca:

» Se fosse amico il re del' universo,
Noi pregheremo lui per la tua pace …
«

Nie, nie werde ich das vergessen. Den Ton, der diese Worte zum liebevollsten schwesterlichen Segen machte. Und nun, sieh, hätte ich gehen können. Es war alles klar zwischen uns. Aber jetzt nahm ich das Buch, in das wir beide hineinsahen und … wir lebten den alten Inhalt. Wir sprachen erst ein paar Worte darüber, unwillkürlich, weil wir keiner etwas zu sagen fanden, weil ich mit meiner erstickten Kehle nichts antworten konnte, auf das, was sie mir gesagt und gegeben … Wir sprachen ein paar Worte darüber, dann las ich:

» Noi leggevamo un giorno per diletto
Di Lancilotto e come amor lo strinse,
Soli eravamo e senz' alcun sospetto …
«

Es war nicht möglich.

Bei dem » Questi che mai da me non fia diviso« da versagte mir die Stimme, und »ganz zitternd« ließ ich ab und ging zum Fenster. Sie blieb schweigend am Fenster stehen. Als ich mich wieder umwendete, hatte sie sich gesetzt und sah vor sich hin.

»Ich kann nicht weiter lesen« sagte ich.

Sie erwiderte nichts; Minuten vergingen, dann sagte ich:

»Und wissen Sie warum nicht?«

»Warum nicht?«

»Weil ich Sie liebe. Und weil es unsinnig ist, solche Gedichte zu lesen, … wenn ich vor Ihnen stehe … und Sie sehe …«

Ich mußte stille sein, so hatte sich ihr Gesicht verändert. Ihre Hände flogen an ihre Schläfen, ihre Augenlider senkten sich, dann starrte sie mich wieder erschreckt an, und nur ein leiser Wehlaut kam von ihren Lippen.

»Es kann nicht anders sein« sagte ich, »ich muß es Ihnen sagen, weil ich ersticke. Ich hab selbst nicht gewußt wie …«

»Still, still!« sagte sie und wieder senkten sich ihre Lider.

Ich beugte mich herab und griff nach ihren Händen, aber ich erschrak, so eiskalt waren sie.

»Liebe, Süße« sagte ich und küßte sie auf den Mund. Aber ihre Lippen gaben meinen Kuß nicht zurück, sie waren gleichfalls eiskalt und zitterten.

»Gehen Sie fort!« sagte sie leise in einem Ton, der mich erschreckte.

»Liebe« sagte ich, »Liebe, bitte geben Sie mir eine Antwort …«

»Nein, nein, das darf nicht sein« sagte sie.

»Es muß sein!« sagte ich ebenso leise.

Sie rang schmerzlich die Hände, als wäre ihr ein großes Unheil geschehen.

»Und Sie sind mir eine solche Freude gewesen, solch' eine Freude!«

»Ich will es noch mehr sein« sagte ich. »Sie dürfen so nicht weiter leben. Ich weiß ja nichts von Ihrem Leben und fühle doch, daß ich alles weiß. Liebe, Liebe, wenn das, was jetzt zwischen uns geschah, nicht der Anfang eines neuen herrlichen Lebens ist, dann hätte es nie sein dürfen!«

»Es hätte nie sein dürfen!« sagte sie »oh nie! Wie haben Sie alles zerstört! alles!«

Wie ein Grauen faßte es mich: auf welchen Boden endloser Qual war ich getreten!

»Gehen Sie fort!« sagte sie wieder. »Bitte! gehen Sie fort, und lassen Sie mich allein!«

»Ich muß eine Antwort haben, sonst kann ich nicht fortgehen!«

»Morgen!« sagte sie, »Uebermorgen!«

»Ich kann nicht so lange warten. Ich kann nicht. Sehen Sie das doch ein!«

»Ich werde Ihnen schreiben! morgen! Aber jetzt, bitte, bitte gehen Sie fort!« Immer wieder sprach sie diese Worte.

»Nicht küssen!« rief sie flehentlich. Ihre Lippen waren todeskalt.

Ich kann nicht sagen, wie zerbrochen ich das Haus verließ.

Ich bin durch die Straßen gegangen, ich bin nach Hause gekommen, ich saß am Fenster, jede Minute eine endlose Ewigkeit. Dann ging ich zu Benklein, um zu fragen, wie es ihm gehe, dann wieder nach Hause, in einer eigenen unbeschreiblichen Qual, der des Verschmachtenden, der das Glas an der Lippe gefühlt und vom ersten eisigen Tropfen erschreckt zurückgebebt hat, und es nun ewig vor den Augen tanzen und flimmern sieht. O, diese Nacht! diese entsetzliche Nacht! Aber der Morgen kam zum Fenster hereingeflutet, groß, golden und siegreich, und drängte mich hinaus in die freie Luft. Ich wartete die Post ab, aber kein Brief kam. Und nun wollte ich keinen mehr haben. Ich eilte in den Prater, und fühlte mich seltsam beruhigt, als ich durch die einsamen noch kaum belaubten Wäldchen ging oder mich da und dort ins junge Gras warf, und die wundervolle Frühlingsluft um mich spielte. Aber gegen Mittag konnte ich nicht länger widerstehen und kehrte ins Hotel zurück, um nach einem Brief zu fragen. Es war keiner gekommen. Ich ging zur Elisabethbrücke, obwohl ich gewiß wußte, sie würde nicht kommen. Sie kam auch nicht. O, sie hatte vielleicht gepackt und war abgereist oder hatte sonst etwas verhängnisvoll abschließendes getan! Was wußte ich denn von ihr? Auf meinen Lippen brannte das Gefühl der Berührung mit den ihren und gleichzeitig erschreckend die Erinnerung an ihre Todeskälte. Nein, ich wollte keinen Brief abwarten; ich wußte, was in einem Brief gestanden hätte. Ich ging geradewegs nach ihrer Wohnung und schickte meine Karte hinein.

Ich trat in den Salon. Sie kam mir entgegen in einem langen, weißen Morgenkleid. Sie sah erschreckend aus, ungepflegt, krank, alt  – was hatte ich getan?

Ihre Augen leuchteten mir mit einem wehmütigen Ausdruck entgegen, und sie sprach nichts.

»Liebe,« sagte ich, »ich lege mein ganzes Leben in Ihre Hände!«

»Das ist alles Torheit,« war ihre Antwort, die mir nicht gefiel.

Ich griff nach ihrer Hand, aber sie entzog sie mir, und sagte: »Nein, es kann jeden Augenblick jemand hereinkommen.«

Das gefiel mir noch weniger.

Ich sagte ihr, daß ich nur verlangte, sie weiter besuchen zu dürfen, sie oft zu sehen, ihr Freund zu sein.

»Ich tauge nicht zu Ihrer Freundin,« erwiderte sie, »Sie brauchen ein furchtloses Geschöpf, das Ihr furchtloses Leben teilen kann, das ein Flügel für Sie ist, keine Last!«

Wir sprachen nur noch wenige Worte: Sie müsse sich eilends ankleiden, und ich müsse gehen; ich dürfe schon wiederkommen!

»Brav sein!« sagte sie, als ich zur Türe ging und legte den Finger auf den Mund, »brav sein!«

Nie hatte mir ihr Benehmen so wenig gefallen, wie an diesem Tag. Die bösen Worte stiegen quälend in mir auf, die ich über sie gehört hatte. Zwar was ging ihre Vergangenheit mich an, wenn ich sie liebte! Aber die Angst quälte mich, die bitterste Entdeckung zu machen, die es für den liebenden Menschen gibt, die Entdeckung, daß der Geliebte anders und niedrigerer Natur ist, als man gedacht. Und doch widersprach ihre ganze Persönlichkeit dem Eindruck dieses Augenblicks.

Ich fand einmal als Knabe eine Schwalbe am Gesims eines dunkeln Torwegs, es gelang mir, sie zu erhaschen, und als ich sie in der Hand hatte, erkannte ich, daß es eine Fledermaus war, und schleuderte sie mit Entsetzen fort. Woher diese plötzliche Angst eigentlich kam, wüßte ich kaum zu sagen. Sie dauerte indessen nicht lange; sie zog wie eine Wolke vorüber.

Ich verstand sie damals nicht. In meiner eigenen Aufregung sah ich nicht, wie rührend hilflos und einfach ihr Betragen war.

 

Bittersüße Tage waren das. Ich dachte viel und führte endlose Gespräche mit der, die nicht da war. Unselig war vor allem das Warten. Ich konnte nicht so bald wieder zu ihr gehen.

An einem der nächsten Nachmittage besuchte ich Clemence; in ihrem Vorzimmer sagte mir das Mädchen:

»Die gnädige Frau ist nicht zu Hause, aber sie muß jeden Augenblick kommen. Die Frau Hauptmann wartet auch schon auf sie.«

Ich trat ein. Sie war im Zimmer nebenan und kam rasch, als sie Schritte hörte,  – und blieb mit unbeschreiblichem Erstaunen stehen, als sie mich sah.

»Liebe,« sagte ich, »das Schicksal selbst führt uns zusammen.«

Sie nickte, dann ging sie zum Fenster und blickte hinaus. Ich folgte ihr nicht, und sie kam wieder zurück und blieb vor mir stehen.

»Was soll nun aus alledem werden?« fragte sie.

»Das weiß ich nicht,« gab ich zur Antwort. »Freude, unendliche Freude!«

»O nein,« sagte sie, »daraus wird nur viel Schmerz. Aber vielleicht … ja, wenn Sie könnten …« sie verstummte.

»Ich habe Ihnen mein Leben zum Geschenk gemacht, ohne zu fragen, warum und wozu … ich habe alle meine Pläne aufgegeben und abgeschlossen.«

»Nein, nein,« sagte sie erschreckt.

»Ja,« sagte ich, »es fängt alles neu an. Ich habe es getan, fast ohne zu wissen, wer Sie sind, ohne Ihre Geschichte zu kennen, weil ich Sie liebe. Sie haben mir gesagt, Sie hätten nie etwas eigenes gehabt, nicht einmal sich selbst: nun gehöre ich Ihnen.«

»Das verdiene ich nicht,« sagte sie.

»Das weiß ich nicht. Ich habe Ihnen auch kein Opfer gebracht, ich tue einfach, was ich muß … Sie haben mir gesagt, Sie hätten keine Wünsche mehr, weil Ihnen noch niemals einer erfüllt worden. Nun, ich bin da, um Ihre Wünsche zu erfüllen, wo und wie ich es kann; ich bin da, um Freude und Freiheit in Ihr Leben zu bringen.«

»Wie wollen Sie das machen, Sie lieber Mensch, Sie?«

»Das weiß ich nicht. Wie Sie es eben wollen werden.«

Sie stand dicht vor mir, und durch ihren ganzen Leib fuhr eine elastische Bewegung. Es war, als ob sie jünger würde.

»Rosa Maria!« sagte ich, »Rosa Maria!« und oftmals wiederholte ich ihren Namen, berauscht, nicht so sehr vom Klang wie davon, daß es der ihre war, nicht wie man einen Namen spricht, sondern in leidenschaftlicher Zärtlichkeit, wie ein Liebkosen mit der Stimme. Sie sprach nichts, nur ihre Augen, die so süß beredsam waren, leuchteten. Wir setzten uns einander gegenüber, ängstlich, achtsam, daß keiner den anderen berührte, und plauderten. Ich glaube, wenn wir seit jenem Tage bis heute fortgesprochen hätten, wir wären nicht müde geworden, einander zu erzählen. Endlich sah sie nach der Uhr und sagte: »Ich muß fort, ich kann nicht länger warten. Nein, Sie dürfen nicht mit mir gehen; aber wir sehen uns bald. Warten Sie auf Clemence und grüßen Sie sie von mir!«

»Wie danke ich Ihnen für diese Stunde,« sagte ich, »und wie hab' ich Sie lieb, oh, wie hab' ich Sie lieb!«

Ich küßte ihre Hand, die sie mir rasch entzog. »Und Sie, haben Sie mich denn gar nicht lieb?«

»Nein,« erwiderte sie mit klingendem Lachen, »ich habe Sie gar nicht lieb! Ich habe Sie gar nicht lieb!«

Im Zimmer war ein Duft von ihr geblieben. Ich ging zum Fenster, sie konnte ich nicht sehen; ich sah einen Wagen, vor den ein buntgeschecktes Pferd gespannt war, ich sah Menschen gehen, ich sah Bäume im Garten gegenüber im leichten Wind sich bewegen, ich sah die Abendsonne von den Fensterscheiben spiegeln, und dann Dämmerung rasch sich senken. Die Türe hinter mir ward geöffnet, Clemence trat ein und sagte: »Wie hübsch, daß Sie gewartet haben!«

Es war unvermeidlich; daß wir von Rosa Maria sprachen. Clemence sagte viel Liebes von ihr, sie sagte aber auch:

»Und dennoch gibt es manches, was ich ihr nicht verzeihen kann.«

Als ich fragte, antwortete sie: »Sie geht lieber die verzweifeltesten Umwege, als daß sie einmal dem Schicksal gerade ins Gesicht sähe.«

Ich dachte: »Diesmal wirst du's wohl nicht vermeiden können.«

 

Der Frühling schritt vor, und ich wäre gerne aufs Land gezogen, aber ich konnte mich von der Stadt nicht trennen, in der sie war. Jeden Tag beschloß ich, das öde Hotelzimmer, das mich gar nicht zu mir selber kommen ließ, aufzugeben, aber die drängenden Ereignisse ließen mich nicht dazu gelangen.

Eines Tages, es war in der zweiten Hälfte April, ich kam die Treppe hinunter, in den Vorsaal mit den unvermeidlichen Palmen, roten Sofas und Topfpflanzen, und wollte ins Bureau treten, um nach der Post zu fragen; da geschah etwas Erstaunliches: eine Dame trat herein, ging an mir vorüber, ohne mich zu erkennen  – ich war so starr vor Erstaunen, daß ich mich überhaupt nicht rührte  – und fragte den Portier, ob Frau Anna Bréal bereits angekommen sei. Der Portier verneinte, und da erst wandte sie sich um und schien mich zu erblicken und begrüßte mich mit dem unbefangensten Erstaunen  – das meine konnte wahrhaft niemand für gemacht halten.

»Sie wohnen hier?« fragte sie.

»Und wie kommen Sie hierher?«

»Meine Schwester kommt nach Wien und soll hier wohnen.«

Damit begleitete ich sie ein paar Schritte auf die Straße. »Ich will heute aufs Land fahren«, sagte sie. »Wäre das nicht hübsch, wenn Sie mitfahren könnten?«

»Wie gerne wollte ich das,« sagte ich, denn ich hielt es für Scherz und verabschiedete mich. Sie warf unmutig den Kopf zurück. Ich war bereits wieder ins Hotel getreten, als der Gedanke mich durchzuckte: »Aber wenn's doch möglich wäre« und ich rasch umkehrte und ihr nacheilte.

Fast hätte ich sie nicht mehr erreicht. »Gnädige Frau«, rief ich, »wirklich?«

»Aber ja,« sagte sie. »Ich bin absichtlich hier vorbeigegangen, ich wußte ja, daß Sie hier wohnen. Der Zufall hat mich Sie im Vestibül sehen lassen. Da bin ich herein und hab den Einfall gehabt, und ich war schon böse, daß, nachdem ich einen so tollen Schritt gewagt,  – noch dazu hier gerade unter den Hueber'schen Fenstern,  – Sie mich nicht verstehen wollten!«

»Wohin?« fragte ich.

»Wohin Sie wollen; der heutige Vormittag gehört mir. Nur sehen Sie, daß uns niemand begegnet. Es ist ja nicht sehr gefährlich: es kennen mich nicht viele Leute in Wien, weil ich zu lange fort war; aber ich falle auf.«

Wir trennten uns sofort und nahmen jeder einen Wagen. Es war ein Wochentag: kaum einen Arbeiter haben wir in diesen vier Stunden gesehen. Wir stiegen einen steilen Hohlweg empor, zwischen Bäumen, die das erste Grün trugen. Der Boden war stellenweise noch öde, und der Wind fuhr den Bergabhang hinab, bis zum Wasser. Sie ging mit kleinen Schritten, ohne mich anzusehen, und drehte ihren Sonnenschirm zwischen den Händen. Ihre Kühnheit, die mich überrascht hatte, hatte Sorgen Platz gemacht, das sah ich wohl. In mir aber war rasende Freude.

Ich sah sie an und sagte: »Fühlen Sie, wie übermäßig glücklich ich bin?«

»Ja, ja, Sie leuchten, Ihre Augen sind wunderschön, Sie sehen ganz anders aus als sonst. Bin ich das wirklich, die das macht?«

»Nur Sie!«

Wir kamen an geschlossenen Villen mit weißen und grünen Läden vorbei, hinter deren Gitter Hunde unruhig nach uns bellten. Wir kamen zu einer Höhe, auf der eine Bank stand, und setzten uns hier nieder. Meine Hand lag auf der Lehne, während wir sprachen. Da lehnte sie ihre Stirn an meine Finger und sagte: »Nur ausruhen! nur einen Augenblick ausruhen!« und schloß die Augen. Leise näherte ich meine Lippen ihrer Wange, aber unter der ersten Berührung flog sie empor und sprang weit weg.

»O Gott! Nicht mich berühren!« rief sie schmerzlich.

Wir gingen weiter, und wieder sprach sie die Worte, die sie schon einmal zu mir gesprochen hatte: »Ich tauge nichts für Sie, Sie brauchen Jemanden, der ein Flügel für Sie ist und nicht eine Hemmung; nicht ein vom Leben zerbrochenes Geschöpf, wie mich.«

»Ich glaube nicht, daß Sie zerbrochen sind, jung wie Sie sind.«

»Ich bin nicht so jung. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Das wäre ja nichts, aber mein Leben hat so furchtbar früh begonnen. Wissen Sie denn, was meine Kindheit war? und was dann war?«

Das Gesicht des Mannes stieg vor mir auf, den ich gekannt hatte. Mit den weißen Zähnen, den Kinnladen, die eng zuliefen, wie die einer Hyäne, dem strohfarbenen Backenbart und den unsteten gierigen Augen. Das Weib also, das neben mir ging, war die Frau gewesen, die er geheiratet hatte. Wir hatten ja davon gehört. Ein quälender Zorn ergriff mich.

»Ich habe Herrn von Lohenkirch gekannt,« sagte ich mühsam.

»Sie haben ihn gekannt?« Ein Schauder flog über ihr Gesicht.

»Er lebt noch?« fragte ich leise.

»Ja, ja  – er lebt noch  – bitte sprechen wir nicht davon,« sagte sie flehend.

Mein Blick flog über die Stadt zu unseren Füßen, wo das Haus in der Lazarettgasse stehen mußte …

»Was ich damals durchgemacht habe … vorher und nachher, … vielleicht werde ich Ihnen das einmal erzählen können. Gott, was hab ich damals gebeten, daß es mir erspart werden möchte! Kein Mensch ist mir je so unheimlich gewesen …«

»Wie haben Sie ihn nur heiraten können?«

»Bei uns hat es nur Gehorsam gegeben. Wir Kinder waren niemand, niemand. Wissen Sie, das Schreckliche war: sie waren gar nicht streng, besonders der Vater nicht, aber auch die Mutter war nie zornig, es hat nur nicht anders sein können. Es hieß: ›Wir wollen nur dein Glück, mein Kind, und du verstehst es nicht.‹ Da war alles vergebens, Bitten, Weinen, alles. Sie wissen nicht, was für Dolche einem da auf die Brust gesetzt werden. Der Vater war in einer so schlimmen Lage. Es hieß, er werde seine Stelle verlieren, und Ferdinands Onkel war Sektionschef im Unterrichtsministerium. Ich war ein undankbares Kind. Und ich sollte den Pater Granitsch fragen, unseren Beichtvater: ich sollte mich nicht versündigen, hat der gesagt. O, sie waren alle so fromm! Wie hab' ich das verachten gelernt!«

»Und dann?«

»Dann? Ich weiß nicht was dann war: ich hab' weiter gelebt  – das weiß ich. Aber wenn ich zurückdenke, ist mir, als hätte ich geschlafen  – aber mit Höllenträumen. Das war's. Und dann war noch etwas: Ich habe damals jemand anderen lieb gehabt  – ich schäme mich dessen heute  – er hieß Alfred v. Fischer und war recht hübsch und nichts; ich war eben noch sehr jung und die Zeit für mich gekommen. Ich hab' ihn übrigens bald vergessen, das Elend war zu groß und zu wirklich  – aber jetzt, wozu rede ich denn davon? Es ist ja solange vorüber und hier so schön,« sie holte tief Atem, »so wunderschön auf der Welt!«

Wir schwiegen eine Zeit lang beide und gingen weiter. Einen kleinen Fußpfad, der durch Weinberge lief, wo ganz junger Trieb an den Stöcken emporsproß. Wir kamen zu einer Stelle, wo der Weg durch einen Zaun gesperrt war, hinter dem eine Tafel mit der Aufschrift »Verbotener Weg« stand. Wir gingen dem Zaun entlang aufwärts, aber wir mußten hinab: sie wollte zu Mittag zu Hause sein. Ein ganz kleiner Bach trennte uns von einem Weg auf der anderen Seite; es war fast nur eine Rinne, aber der jenseitige Rand lag etwa zwei Schuh tiefer.

»Da komme ich nie hinüber,« sagte sie.

Ich lachte. »Dann heb' ich Sie hinüber,« rief ich, sprang hinab und streckte die Hände aus, um sie um ihre Hüften zu legen, aber sie sprang hinüber, fast ohne sich darauf zu stützen.

»Sehen Sie, wie jung Sie sind!« rief ich. »Sie springen ja wie ein kleines Mädchen.«

»O, mein Herr,« sagte sie lachend, »ich kann auch fliegen!«

Wir liefen den Abhang hinab, uns an den Händen haltend. Unten aber begann das Dorf, und wir mußten sittig gehen. Vor einem Treibhaus, dessen Fenster geöffnet waren, blieb sie stehen, hob sich auf den Zehenspitzen, um hineinzusehen und rief mich heran. Wunderbare große vielfarbige Glocken, seltsame Orchideen, Fingerhüte mit offenem Rachen wie bunte Schlangen, rote feurig blühende Lilien  – ein ganzes Märchen war vor uns. Der Garten selbst lag gegen Süden und war mit Gras und auch schon mit einzelnen Blumen bedeckt  – aber er war wild und ungepflegt, alle Sorge aufs Treibhaus verwendet.

Sie lehnte den Kopf ans Gitter. »Lieber Freund,« sagte sie, »wenn ich ein junges Mädchen wäre, wie spränge ich da hinüber und hinauf und liefe mit Ihnen in die wilde Welt hinaus!«

»Auch so muß es sein,« sagte ich.

»Nein,« sagte sie, »das wird nie geschehen! niemals!«

Ich schwieg, weil die Worte mir weh taten und weil sich zunächst nichts darauf sagen ließ. Ich fühlte, daß ich einer Seele nahe gekommen war mit Schwingen zart wie Schmetterlingsflügel, die jede Berührung erschreckte. Wir gingen eine Zeit lang schweigend, bis sie stehen blieb und sagte:

»Dort unten ist die Station, und ich fahre zurück. Sie müssen einen anderen Weg gehen. Und hören Sie mich: nächstens werde ich Ihnen alles erzählen und erklären, aber quälen Sie mich nicht! und jetzt adieu, Sie lieber, lieber Freund! Ich danke Ihnen für diesen Vormittag.«

Als ich mich umblickte, sah ich sie noch am Wege stehen und mir nachschauen mit Blicken, die Küsse waren.

Wie wurde mir der Rest solch eines Tages zum wertlosen Strunk, mit dem nichts mehr anzufangen war!

 

Als ich das nächste Mal bei ihr war, spielten die stillen Kinder um uns. Nie hab ich Kinder sich so lautlos unterhalten sehen. Auch wir sprachen leise. Die Tür zu dem anderen Zimmer stand offen, und die Kinder kamen und gingen. Später erschien die Erzieherin der Kinder, ein korrektes Fräulein mit einem regelmäßigen, ernsten Gesicht und dunkelblondem Haar  – sie sah mich einen Augenblick sehr aufmerksam an, dann führte sie die Kinder ins Nebenzimmer.

» Non parlar cosa, ehe non può esser intesa,« sagte Rosa Maria leise, »aber schauen können wir, so viel wir wollen, nicht wahr?« Und ihre strahlenden Augen ruhten auf mir kosend und aufregend wie Flammen; oft begann ich von etwas Gleichgültigem zu reden, aber immer wieder verwirrten mich diese brennenden Augen, bis auch ich kaum mehr sprach, sondern nur mehr meine Blicke glühend und schmeichelnd auf sie richtete. Es war eine Verwirrung, die bis ins innerste Leben drang. Wir rührten uns nicht, nur hie und da begann sie leicht lachend etwas zu sagen, was ich gar nicht verstand  – so oft ich aber etwas zu erzählen begann, traf mich wieder der betörende Blick ihrer Augen, und ich wußte nicht mehr, was ich sprach  – o, sie spielte ein süßes und furchtbares Spiel! Ich griff endlich nach einem Buch und zeigte ihr dies und jenes, sie sah hinein, und ihr Gesicht war dem meinen ganz nahe; da hob sich plötzlich ihr Mund lächelnd mir entgegen, und ein langer glühender Kuß verband meine Lippen und die ihren. Nie hatte ich etwas ähnliches gefühlt. Ich sagte etwas albernes, aber sie merkte es gar nicht. Wir sahen bereits wieder ins Buch, aus dem ich einige Zeilen mechanisch laut las. Es läutete. Ein großer dicker Herr trat ein. »Erlaube, Onkel Peter, daß ich dir Herrn Wielemann vorstelle  – Herr Bergrat Krapp!«

»Freut mich sehr,« sagte eine dicke Stimme. »Wo ist denn dein Mann?«

»Er muß wohl jeden Augenblick kommen,« sagte Rosa Maria.

»Und was hört man von Anna Maria?«

»Ich denke, sie wird nun doch nach Wien kommen. Aristide war unwohl.«

»So, was hat ihm denn gefehlt?«

»Ach nichts, eine Magenverstimmung …«

O Jesus, was begann jetzt für ein Gespräch! Jedes einzelne Familienglied und sein Befinden und jedes Unwohlsein der letzten acht Tage wurde durchgesprochen  – die Mama, die Kinder, die Gouvernante, und als er fertig war, begann sie pflichtschuldigst zu fragen, wie es Tante Paula gehe, und ob sie die neuen Schürzen gemacht oder nicht …

»Nun ja, du weißt ja wie sie ist. Sie lamentiert eben  – und Peter macht ihr ja auch wieder viel Sorgen.«

Rosa Maria lachte ihr klingendes Lachen. »Was geht sie Peter an und seine Schriftstellerei; laßt ihn doch!«

»Wir haben doch die Verantwortung für ihn!«

»Ich weiß nicht, ob man für seine eignen Kinder eine Verantwortung hat  – es würde jedenfalls für viele Eltern ein schlimmer Stand sein  – aber für seiner Geschwister Kinder! Das ist zuviel!«

Als die Familiensorgen erledigt waren, kam das äußerst merkwürdige Avancement eines Inspektors an die Reihe, der irgendwo Generaldirektor geworden war, dann die Verbesserungen, die ein Herr Heinrich Meier, über den sehr viel zu sagen war, und der ein auserlesener Mensch sein mußte, auf seinem Gute vorgenommen hatte. Irgendwie geriet er auch mit mir in ein Gespräch über Italien, das heißt, über italienische Gasthäuser und Pensionen, über die er ein vernichtendes Urteil fällte.

Rosa Maria weidete sich an meinem Aerger über die Störung und an meiner entsetzlichen Langeweile  – sie machte sich am Fenster zu schaffen, und hie und da wendete sie sich um und heftete ihre verwirrenden Blicke auf mich, so daß ich mitten im Gespräch stockte und ungereimtes Zeug sprach. Sie aber verbeugte sich lachend und ungesehen hinter dem Rücken Onkel Peters  – mein Gott, war sie damals schön!

Der Hauptmann trat ein; erst erinnerte er sich meiner nicht, dann begrüßte er mich sehr freundlich. Mir aber war nicht mehr wohl zu Mut, und ich wollte fortgehen. Rosa Maria sah mein verdrossenes und bitteres Gesicht, und als die beiden Männer im Gespräch ins Nebenzimmer traten, in dem die Lampe bereits brannte,  – weil der Bergrat dem Hauptmann einen Brief zeigen wollte  – beugte sie sich im Dunkeln von rückwärts über meinen Sessel und preßte meinen Kopf an ihre Brust … Fast in demselben Augenblick fiel das volle Licht der Lampe aus dem Nebenzimmer auf uns … und Rosa Maria trat langsam in die Türe.

Ich verließ das Haus mit den verwirrtesten Gefühlen; flammende Freude war in mir  – und doch hatten die plumpen Schatten, die am Abend auf der Scene aufgetaucht waren, sie irgendwie entwertet und verdüstert. Unruhige Gedanken und argwöhnische Gesichte quälten mich wieder. »Das ist alles unrein« schrie es in mir.

Als ich abends im Bette lag, war mir im Traum, als ob ein langes widerwärtiges Geschöpf, halb Mensch halb Hund in meinem Zimmer wäre, ein Geschöpf, das in einer gewissen Entfernung von mir,  – es konnte ebensogut ganz nahe wie unendlich weit sein,  – auf und nieder ging und hie und da stehen blieb und mich anglotzte. Dann verschwand es, und ich sah Büsche und Hecken voll merkwürdiger Blumen, aber so oft ich auf sie zuging, kroch das Tier unter den Büschen hervor. Es raubte mir alle Freude, Ueberdruß ergriff mich, so daß ich nicht leben wollte, und eine entsetzliche Angst vor der Nähe des Unheimlichen. Da gingen die Büsche auseinander, und ich sah auf ein stilles dunkles Wasser mit sehr hellen grünen Pflanzen am Rande; nie hab ich etwas stilleres, heimlicheres gesehen. Jemand rief mich, ohne daß ich sehen konnte, wer es war. Es rief immer lauter, so daß ich, der wohl wußte, daß ich träumte, fürchtete zu erwachen; ich sagte daher: »Wozu rufst du so laut? Komm doch!« Da sah ich, daß Rosa Maria auf der anderen Seite des Wassers stand, sie trug ein langes dunkles Kleid und offenes Haar und stieg mit bloßen Füßen ins Wasser und kam zu mir. Sie küßte mich und bat mich ruhig zu sein, sie hätte so laut gerufen. Ich sagte: »Die Steine im Wasser sind rauh und deine kleinen Füße werden dir weh tun!« Sie lächelte: »Wie besorgt du bist!« »Warum fürchtest du dich?« sagte sie dann, »Sie können dir nichts tun, so lange ich bei dir bin.«

Nie im Leben hatte ich auf Träume etwas gehalten, aber nie hatte ich einen ähnlichen Traum gehabt. Er war wie ein neues Erlebnis, als ob sie mich in der Tat beruhigt hätte.

 

Ich hatte sie bei Huebers in der Brühl getroffen. Es war niemand zu Gast gewesen als sie; und sie war fröhlich gewesen und gut gelaunt und hatte gesprochen und gescherzt, wie ein freier Mensch unter den behaglichen Philistern, die uns bewirteten. Wir brachen zeitig auf und gingen miteinander in weitem Umweg über den Lichtenstein nach Mödling zur Bahn. Der Himmel war licht und blau, wie er es nur im Frühling ist, die Felder waren grün und bewegt, die sinkende Sonne lag über der Welt. Rosa Maria ging neben mir her und erzählte. Ich sah, wie wohl es ihr tat, sprechen zu können, und ich hörte gierig zu. Sie sprach von den Sorgen, die ihr kleines Mädchen ihr früher bereitet hatte, und da erst erfuhr ich, daß das Kind aus ihrer ersten Ehe stammte. Es war, als ob ich einen Schlag empfunden hätte …

»Was muß dieses Kind für ein Schmerz für Sie gewesen sein,« sagte ich, »schon daß es überhaupt ward …«

Sie blieb stehen und sah mich ganz überrascht und lange an. Von da an war es, als ob der Ton, in dem sie sprach, ein anderer geworden wäre … inniger noch als vorher.

Es war etwas in den Schwingungen der erwärmten Luft, das auch in uns zitterte. Kleine Vögel flogen hin und wieder, und das Laub schien zu beben. Ich sagte: »Ist es nicht, als ob die Welt in heimlichen Flammen stünde?«

Sie aber wurde unruhig und ging ein paar Schritte nachdenklich voraus, während ich schweigend folgte. Plötzlich drehte sie sich um und sagte:

»Ich erzähle Ihnen so gerne; und Sie müssen immer gut zu mir sein. Aber Sie müssen vernünftig sein. Sie sind ein Freund für mich, wie ich mir einen besseren gar nicht denken kann …«

Ich blieb stehen.

»Ich bin nicht Ihr Freund,« sagte ich nachdrücklich. »Ich liebe Sie; und das ist ganz etwas anderes.«

Sie sah betroffen vor sich hin und erwiderte nichts; und wir gingen lange schweigend.

Langsam begann ich wieder zu fragen und sie zu erzählen. Nur an ein Thema rührten wir nicht, das zwischen uns lag, wie eine verborgene Klippe unter hellen Wassern.

Es war noch ein Augenblick, dann mußte die Sonne sinken. Wir setzten uns nieder und sahen hinaus. Weit, weit lag der Duft über die Ebene. So warm war der Abend. Rosa Maria legte sich im Grase zurück, während ich mich neben sie hinstreckte und auf den Arm gestützt plauderte. Ihre halb geschlossenen Lider blinzelten unter dem Schein, und ich hörte auf zu sprechen und sah nur mehr ihr Gesicht an. Immer hat die Form ihres Kopfes mich an eine feine Perle erinnert, und auch ihr Teint glich wie der Beatricens »der Perle sanftem Schein, so wie es Frauen schmückt, nicht allzusehr!«

»Du, du«, sagte ich, und ein zitterndes

»Was sagst du?« kam von ihren Lippen.

Ich aber schob leise ihren Schleier zurück und küßte den Mund, der mich so gern wieder küßte.

Wir sprangen auf und gingen weiter durch die Büsche, aber Worte und Schritte und Küsse waren eins, unsere Lippen suchten sich immer wieder.

Der Himmel war grau und schwer geworden. Es war Zeit, daß wir heimkehrten.

Schluchzend lehnte sie sich an mich und sagte: »Du willst nicht mein Freund sein  – gut!  – Aber ich sehe nur schlimmes vor uns, und es wird kommen. Mein ganzes Leben und deines wird zerstört werden.«

»Süße,« sagte ich »und wenn das schlimmste kommt, und je mehr sich die anderen von dir wenden werden, um so mehr werd' ich dich lieben, um so enger werden wir zusammen gehören. Nicht über das weinen, Geliebte, was mir so ungeheure Freude ist!«

Sie legte dankbar ihre beiden Hände in die meinen. Wir stiegen hinab und gingen durch die staubige kleine Stadt dem Bahnhof zu.

Der Waggon, in den wir einstiegen, war fast leer. Wie viel Freude, wie viel Freude da mit uns war! Wie zwei Kinder fuhren wir durch die Welt, die selig gespielt hatten; nur waren wir als Kinder niemals so glücklich gewesen. Und als Kinder hätten wir nie gewußt, daß wir wiederum ein Stück vom schönsten Gewebe der Zeit unwiederbringlich abgeschnitten, hätten wir jenen Schreck nicht gefühlt, der das Glück so süß und bange macht. Lächelnd saßen wir einander gegenüber und sprachen nicht, aber leise schob sich ein zarter Fuß an den meinen.

Wir waren schon nahe bei Wien, als ich sagte: »Wenn Sie den nächsten Winter hier bleiben, so richte ich mir eine Wohnung ein, denn diese Flucht von einem Gasthof zum andern ist mir schon sehr zuwider. Ich hab' viel schöne Sachen, die alle in Kisten verpackt sind; wenn Sie dann zu mir kommen, zeig ich sie Ihnen und Sie werden mir helfen, meine Wohnung einzurichten.«

Sie antwortete zerstreut und schien an Fernes zu denken. »Sie dürfen nicht mit mir aussteigen« sagte sie, als wir in den Bahnhof einfuhren. »Addio!« Damit sprang sie aus dem Wagen und eilte davon.

Alle Freude, die sich über mich ergossen hatte, wurde durch ihre Kälte beim Abschied vernichtet.

 

Verstimmt und müde ging ich am nächsten Tage mechanisch der Brücke zu. Wir hatten uns lange nicht auf diesem Wege getroffen. Heute kam auch sie. »Ich bin böse auf Sie«, sagte sie, »und darum bin ich gekommen. Wie konnten Sie mich gestern so behandeln?« Ihre Augen funkelten, und ihre kleinen Hände schlossen sich.

»Ja um Gotteswillen, was habe ich denn getan? wovon sprechen Sie denn?«

»Wie konnten Sie sagen: ›Wenn Sie zu mir in meine Wohnung kommen werden …‹«

»Ja  –  – aber …«

»Wie können Sie so zu mir sprechen? wie die ganz gewöhnlichen Männer, die jede Frau als Beute behandeln!«

»Aber Liebste …« sagte ich.

»Ich bin nicht Ihre Liebste!«

»Ich bin vielleicht nicht Ihr Liebster!« erwiderte ich, »Sie aber sind für mich das Liebste, was ich habe und kenne, und wenn ich etwas harmlos sage  – weil es das süßeste ist, was ich mir denken kann, wollen Sie mir darüber böse sein? Wollen darin etwas brutales sehen? Sie tun mir sehr unrecht. Ich mag alle Fehler haben, aber Brutalität nicht  – und gegen Sie! Ich hab' diese Worte gesprochen und will sie hundertmal wieder sagen, weil gerade so, wie wir uns hier begegnen, wir uns irgendwo begegnen können  – im Wald oder in meinem Zimmer, weil es süß ist, Ihnen zu begegnen, und der Gedanke an ein Haus, das mein ist, und in das Sie treten, mir der festlichste Gedanke ist  – ein Glück, bei dem es mich überläuft und vor dem ich zittere …«

Sie war schon besänftigt. »Du Lieber« sagte sie, »ich bin ja so froh, wenn ich dich so sprechen höre; aber deine Worte klangen so … herrenmäßig! ich will das nicht. Nie, nie darfst du so mit mir sprechen! Du weißt nicht, was das in mir weckt, wie man mich mißhandelt hat! nie! nie!  – Ich werde mich schenken, wann ich will  – aber nicht nach mir greifen!«

Ein rührendes Flehen lag in ihren letzten Worten  – ich aber hatte nur das Versprechen gehört, und Lust und Glut floß über mich wie ein Kleid der Freude.

»Ich weiß nicht« sagte ich, »ob du zu versprechen hast, ich weiß nur, daß es ein Fordern nicht gibt, und dann, daß seit ich dich kenne, mir ist, als wäre ein Stück des Himmels mit allen Sternen über mich gebreitet, wie ein Mantel, und wo ich gehe, sprüht's und glitzert's um mich her.«

Ihre Augen glänzten schon wieder. »Gehe nun,« sagte sie, mir die Hand reichend, »und komm Dienstag zu mir.«

 

Vielleicht habe ich nie eine schönere Zeit erlebt als die Tage, die nun folgten. Eine stille intensive Freudigkeit lag über ihnen. Ich sah Rosa Maria nicht oft genug für meine immer brennendere Sehnsucht, aber so oft ich sie sah, wuchs meine Freude an ihr. Wir waren wie zwei heimlich Verlobte, von denen die Welt nichts weiß.

Und über den Tagen lag wie eine ferne Glut eine ungeheure Erwartung. So süß und schwellend ward das Gefühl, daß ich oftmals, wenn ich abends nach Hause kam, stundenlang in meinem dunkeln Zimmer auf- und niederging, ehe ich schlafen konnte, kosende Worte vor mich hinflüsternd. Damals bin ich keinem Menschen begegnet, der mir nicht sogleich geneigt gewesen wäre, habe an keinen eine Bitte gerichtet, die er mir nicht gerne erfüllt hätte. Solch ein Strahlen, das von der Liebe ausging, war um mich.

Einmal nur war ich in diesen zwei Wochen bei ihr. Wir trafen uns bei Clemence und bei Huebers. Bei Clemence habe ich sie auch zum ersten Male singen gehört.

»Ich hab es ja fast ganz aufgegeben« sagte sie, als ich davon zu sprechen begann. Als ich dennoch darum bat, ging sie schweigend zum Notenkasten und suchte ein paar Hefte hervor, dann trat sie ans Piano und sang, während Clemence sie begleitete.

Wer kennt die Empfindung nicht, wenn abends in einem von Lampen erhellten Zimmer Menschen, die sich einander nahe fühlen, beisammen sind und musizieren? Es gibt nichts, was so das Gefühl der Unendlichkeit in die Enge trägt, was die Seele so in Flammen setzen und beruhigen kann, so berauscht und so traurig macht, tausend Hoffnungen und Erinnerungen aufweckt, mit atemloser Glut erfüllt und entsetzter Enttäuschung.

Sowie Clemence anschlug, und die ersten Töne durchs Zimmer quollen, war es, als würde eine Hand auf mein Herz gelegt und hielte mich regungslos fest. Rosa Maria stand an den dunkeln Fenstervorhang gelehnt, den Kopf ein wenig zurückgeworfen; mit der einen Hand hielt sie unwillkürlich den Vorhang fest, die andere lag auf dem Klavier.

Ihre Stimme war nicht gar stark, ein hoher Mezzosopran, aber der Vortrag so, wie ich ihn nie von einer Dilettantin gehört hatte. Sie sang ein Lied  – von Tosti, glaube ich  – das begann:

» Cosa c'era quel fior che m' hai dato?
Era un filtro? un arcano poter?
Nel toccando il cor m'ha tremato …
«

Zweimal mußte sie die Strophe wieder beginnen, weil ihre Stimme in Zittern erstarb,  – wie konnte sie singen, was unser Schicksal war?

Als sie aufhörte, sprach niemand von uns ein Wort.

»Es ist zum Ersticken heiß,« sagte Clemence; ich half ihr die Balkontüre öffnen, und sie trat hinaus. Rosa Maria stand aber noch immer an den Vorhang gelehnt, und als ich auf sie zuging, streckte sie beide Hände nach mir aus und legte sie auf meine Brust.

Sie sang nie gerne, weil es sie furchtbar aufregte, und ihre Stimme durch schlechten Unterricht eigentlich verdorben war.

An jenem Abend aber sang sie noch viel, lauter italienische Lieder, fast ohne aufzuhören.

Als Clemence einen Augenblick das Zimmer verließ, und ich sie in meine Arme nahm, und ihr zärtliche und bewundernde Worte zuflüsterte, fühlte ich, daß sie am ganzen Leibe zitterte. Die Glut der Lieder war in ihr.

 

An dem Tage, an dem ich zu ihr kam, trug sie ein ganz weißes Kleid. Nur vollkommen schöne Menschen dürfen weiße Kleider tragen, und ihr stand nichts besser. Sie wollte mit ihrem Knaben, der an der Hand des Fräuleins gerade das Zimmer verlassen hatte, aufs Land fahren. Die Türe zur fremden Welt, die sie umgab und mir entzog, war zugefallen, und ich kniete unter Küssen und leisen Liebesreden vor ihr.

»Anders möchte ich dich hören, Geliebter,« sagte sie.

»Wie denn?« fragte ich.

»Schreien, Jauchzen!«

»Und wie werde ich erst froh sein,« sagte ich, »wenn du aus diesem düstern Hause einmal fort sein wirst!«

»O, wir gehen weit fort, nach Görz  – da kannst du nicht hinkommen. Der Sommer wird arg sein!«

So hatte ich es nicht gemeint.

»Ganz fort, mit mir,« sagte ich.

»Das wird nie sein,« erwiderte sie.

Ich sah sie an. So wie wir uns bereits zu einander gehörend, innerlich vermählt fühlten, konnte ich nicht fassen, daß sie anders dachte als ich. Und fast ohne es zu wollen, hatte sie mir von soviel quälender Tyrannei, von soviel Unverständnis erzählt  – daß ich um ihretwillen mich freute, daß sie fortkam.

»Ich bin nicht frei!« sagte sie.

»Ich werde dich schon frei machen!«

»Es sind nicht bloß äußere Ketten, die mich halten; es sind auch innere!«

»Ich kenne diese Ketten nicht, aber es genügt mir, daß es Ketten sind.«

»O du glaubst, daß ich in meiner Ehe Gott weiß wie mißhandelt oder unglücklich bin. Und ich bin ja auch nicht glücklich. Er ist nicht so gegen mich, wie ich es erwartet, und wie es für uns beide gut wäre. Aber ich habe ihn lieb, und ich bin ihm die größte Dankbarkeit schuldig. Schlimm genug, daß ich ihn belüge. Ich habe noch nie jemanden belogen!«

»Auch ich will nicht lügen,« erwiderte ich. »Ich bin bereit, ihm morgen alles zu sagen!«

»Um Gotteswillen!« rief sie, »nein, nein! Du mußt es einsehen? Wie kann ich denn! Ich kann ihn nicht verlassen. Und ich kann vor allem meine süßen Kinder nicht verlassen, die ich dann nie wiedersehen könnte.«

»O«, sagte ich, »wer wird so unmenschlich sein?«

»Er!  – er würde mich für ganz unwürdig halten und sie nie wieder zu mir lassen. Aber ich bin nicht frei. Ich kann auch von ihm nicht weg. Ich kann ihn nicht zu Grunde richten. Er ist ohne dies kein glücklicher Mensch!«

Unmöglich, erbitternd waren diese Worte für mich.

»Dann kann es eben nicht sein!« sagte ich kalt und stand auf und entfernte mich von ihr. Ich zitterte vor Aufregung und fühlte, wie meine Zähne aneinander schlugen. Sie sah mich mit tiefster Angst und Beklommenheit an. Aber sie sprach kein Wort.

»Dann kann es eben nicht sein,« wiederholte ich. »So nicht!«

Sie sah immer nach mir, voll Liebe, aber sie sprach nicht.

Der Kleine kam herein und fragte: »Wann, Mama, gehen wir fort?«

»Gleich,« sagte sie, »gleich!« und sie kniete vor ihm nieder, nahm ihn in die Arme und küßte ihn.

»Lieber Bub!« sagte sie, »ich geh' gleich mit dem Bubi fort, aber ohne ihn nicht! … aber schau nur den dort beim Fenster an! Wie er böse ist! Wie er böse ist!  – Felix!« rief sie vor sich hin, »Felix!  – Sag, Bubi, ist das nicht ein schöner Name?«

Nie noch hatte sie meinen Namen aussprechen wollen, ich weiß nicht warum! Jetzt aber wiederholte sie ihn, mit hastigem, bittenden Flüstern: »Felix! Felix!«

Der Knabe machte sich los und kam still auf mich zu.

Ich sah mich nach ihr um, ihre Augen waren voll Tränen. Ich konnte nicht widerstehen.

»Geh' Bubi,« sagte sie, »ich komme schon!«

»Liebste,« sagte ich, »nicht weinen! Irgendwie wird sich alles lösen! Ich fühle das!«

»Glaubst du?«

»Ja, ich glaube es, ich weiß, daß wir nicht von einander können.«

Sie sprang mir in die Arme und küßte mich.

»O du!« sagte sie, »du! in einem Augenblick kannst du mich froh machen!«

Sie nahm ihren Hut und trat vor den Spiegel und wie sie die Hände hob, ihn zu richten und den schlanken Leib zur Seite bog,  – nie noch hatte ich solche Anmut gesehen.

An jenem Tage bin ich unterlegen. Und das war bitter Unrecht. Aber wie hätte ich anders können?

 

Drei Tage später schrieb sie mir, ich möchte ihr am nächsten Morgen zeitlich früh auf dem Schwarzenbergplatz begegnen.

Es regnete. Sie stand bereits auf der Brücke, ungeduldig nach mir aussehend und sagte sogleich:

»Ich habe dir sehr wichtiges zu sagen. Ich fahre übermorgen nach Italien. Du weißt, Anna Maria sollte nach Wien kommen, hat aber nicht können, und jetzt hat sie geschrieben, ich möchte doch sicherlich nach Venedig kommen und sie dort treffen, und mein Mann sagt, daß es ihm recht ist.«

»Und du willst fort?« rief ich.

»Nicht gleich bös sein,« sagte sie. »Höre mich zu Ende. Ich muß fort und ich will ja meine Schwester gerne sehen, aber ich  –  –  – Du kannst ja auch hinkommen? Wir können uns ja zufällig treffen? Nicht?«

Noch ehe sie den Gedanken ausgesprochen hatte, war ich bereits entschlossen. Erich hatte sich einigermaßen erholt, und die Aerzte schickten ihn nach dem Süden. Er wollte an den Gardasee gehen, und ich hatte ihm schon früher versprochen, ihn zu besuchen. Nichts war leichter und natürlicher, als daß ich von dort einen Ausflug nach Venedig machte.

Noch ein paar Schritte ging ich mit ihr unterm Schirm, fast ohne ein Wort zu sprechen, dann trennten wir uns. Als ich sie nicht mehr sehen konnte, ging ich heimwärts. Spiegelglatt glänzten Pflaster und Häuser im Frühlingsregen. Ein einzelner Wagen fuhr über den fast völlig leeren Platz, Spatzen und Tauben duckten sich sorgenvoll unter dem Pferde des Monumentes  – es war, als ob die Stadt beim Geräusch der fallenden plätschernden Tropfen für einen Augenblick entschlummert wäre; auch ich ging einsam und träumend in der grauen warmen Regenluft hin  – aber die Träume, die in mir aufstiegen, kleideten die Welt in Flammen.

 

Ich erinnere mich, daß ein schwedischer Pastor und ein ungarischer Handlungsreisender mit mir im Schlafwaggon fuhren und daß ich nicht schlief. Ich erinnere mich, welch eine Mischung ungeheurer Freude und bitterster Ungeduld in mir waren,  – wie ich das wundervolle Wasser des Sees begrüßte und wie öde es mir nach einer Stunde bereits vorkam. Erich durfte nicht viel Bewegung machen; er lag meist auf der Terrasse am See und sah hinaus; auf seinem feinen bärtigen Gesicht lag so viel Müdigkeit, und er scherzte wehmütig über sich selbst. Wenn er allein war, machte er wie gewöhnlich endlose Notizen über sich, über seinen Zustand, über die Dinge, die er sah und die ihm einfielen. Mir war jeder Tag, den ich blieb, zuviel, und die ungestüme Unruhe in mir ließ mich nicht still sitzen. Er merkte es und schrieb es anderen Ursachen zu, und während ich voll ungeduldigen Lebensdranges neben dem Kranken saß und wohl in rücksichtslosem Vergessen von Reisen, von Arbeiten und Plänen sprach, sagte er bitter: »Andere Leute sind auch begabt, und haben auch Pläne, die etwas wert sind, aber der ›Krumme‹ hat sie eingeholt, und da ist's zu Ende!« Ich aber dachte: »Wie wenn dieselbe Tücke, die heute ihn unterhöhlt, morgen mich anzufressen beginnen würde  – dann vorbei, seliges Leben! Aber wäre es so, heute noch!« Und rücksichtslos sagte ich: »Ich reise morgen!« »Du hast Recht,« sagte Erich. Ich drückte seine Hand, und ein sehr wehmütiges Gefühl kam über mich: ich reise dem Leben entgegen, und er erwartet hier den Tod. Ich kaufte die schönsten Rosen, die ich bekommen konnte und schickte sie am anderen Morgen in sein Zimmer  – mir war fast zum Weinen. Aber als ich auf dem Verdeck des Dampfbootes stand, da zog ich die kleine Photographie Rosa Maria's heraus, die ich bei mir trug, und heftete meine Augen in die des Bildes.

Nie war die Luft so berauschender Versprechungen voll, wie an jenem strahlenden Morgen, als ich in die weißen Schaumstreifen blickte, die die Räder in dem tiefgrünen Wasser zogen, während es wie ein riesiger Smaragd seine durchscheinende Masse unter dem Boot hervorwälzte.

An weißen Straßen vorüber, im Norden die Berge  – über die rauschende Etsch  – Verona  – an alten Kastellen vorbei  – Vicenza  – und durch die Ebene nach Padua. Von hier wählte ich die Fahrt über Fusina den umbuschten villenreichen Ufern der Brenta entlang: denn ich wollte zu Wasser ankommen; und der Vaporetto trug mich über die leuchtende Lagune bei leichtem Wind und einer Sonne, die ihre Strahlen wie ein zweites Meer von Glut über die Wogen schüttete, nach der Riva hinunter. Weit, weit lag auf der anderen Seite das weiße Meer. Barken mit flatternden Wimpeln und gelben, weißen und roten Segeln fuhren an uns vorüber. Die Giudecca lag hinter uns und vor uns die weißen Voluten von Santa Maria della Salute  – und mit leisem Zischen landete das kleine Ungetüm an der Riva degli Schiavoni.  – Stadt der Schönheit! Stadt meines Glücks! Stadt des ewigen Jubels meiner Seele!

 

Es ist ein Augusttag, an dem ich dir schreibe. Ich habe wieder einmal den ganzen Nachmittag müde gepackt. Draußen liegt ein greller Sonnenschein über Hügeln und Wiesen, die ich morgen verlassen werde. Wie ich ihm böse bin, diesem Schein, diesem Leben. Ich wollte, es regnete und weiß doch, daß auch mir dann noch bitterer zu Mute wäre. Diese Erinnerungen sind alles, was ich habe, und in ihnen bin ich wieder dort, in jenen reichsten unwahrscheinlichsten Tagen meines Lebens.  – Nur aufschauen darf ich nicht und erwachen, denn dann wird jede Minute zur Qual. Weiter.

 

Ich wußte, um welche Zeit die beiden Schwestern auf dem Marcusplatz spazieren zu gehen pflegten. Ich hatte nun keinen Sinn mehr für den alten Glanz und die Schönheit, die mich umgab, sondern ging suchend auf und ab, in dem farbigen breiten Menschenstrom die zu entdecken, der zu begegnen ich gekommen war. Lange vergebens. Ich ging auf die Piazzetta hinaus, ich ging bald außen auf dem Platz herum, bald unter den Kolonnaden, verzweifelt in dem Gedanken, daß sie vielleicht draußen ging, während ich innen stand, und wie leicht ich sie auf dem ungeheuren Platz unter den Vielen, die sich auf ihm drängten, ganz verfehlen konnte. Es war alles umsonst, und ich wollte das Suchen schon aufgeben, da sah ich sie plötzlich vor mir an einem Tisch sitzen. Sie war eben gekommen. Es muß mir wohl gelungen sein, mein Erbeben zu verbergen, während sie ziemlich gut die Erstaunte spielte: »Wie in aller Welt kommen Sie hierher?«

Sie stellte mich ihrer Schwester vor. Das also war Anna Maria! Sicherlich wurde sie von manchen für die schönere von beiden gehalten. Sie war größer als Rosa Maria und viel kräftiger, eine stattliche, italienische Schönheit; ihr Gesicht war runder als das ihrer Schwester, die Augen groß und dunkel, der Mund hatte einen zugleich sinnlichen und entschlossenen Ausdruck. Rosa Maria hatte viel feinere Linien, ihre Gestalt war schlanker und vornehmer, und der Geist hatte bei ihr »sich sein Gesicht gebaut«  – der Ausdruck war mehr noch als die vollendete Form.

Anna Maria war entzückt, mich kennen zu lernen, entzückt, wieder einmal einem Wiener zu begegnen. »Ob ich Venedig schon kenne?« fragte sie. »Ja.« »Italien überhaupt? ob ich italienisch spräche? sie habe ihr Deutsch fast verlernt. O, Italienisch sei natürlich weit schöner. » La lingua del Tasso!« Ich weiß nicht, warum sie gerade den Tasso nannte. Wie mir das Land und die Leute gefielen? O ja, sie sei Wienerin und Italienerin zugleich … Und das war sie auch. Sie sprach laut, wie die Italienerinnen sprechen, mit einem klingenden, heitern Organ, das allem, was sie redete, Reiz gab. Mit ihrer Schwester sprach sie nur Italienisch.

Sie fragte nach allen möglichen Dingen in Wien, nach der Annagasse, wo sie in die Schule gegangen war, welche Häuser und Straßen umgebaut wären, und nach gemeinsamen Bekannten. Sie sei so lange nicht dort gewesen!

»Denn meine Familie zu sehen habe ich keine Sehnsucht!« sagte sie ganz offen, »außer dieser Kleinen da!«

Sie fragte mich, wo ich wohnte, ob ich schon ein Programm hätte, ob ich mich ihnen morgen zu einer Fahrt nach Murano anschließen würde. Sie sprach über die Vorübergehenden und ihre Toiletten, spottete, lachte, scherzte,  – es war eine merkwürdige Art, voll Verstand und Leben, aber ganz ohne Geist.

Die Schatten lagen auf dem Platz, der sich immer mehr mit Menschen füllte, der Himmel leuchtete in mattem Grünlich-Blau, die Lampen wurden angezündet, die Musik begann zu spielen  – unter dem Tische hielten zwei Hände sich fieberhaft verschlungen, und hie und da, wenn die Schwester wegsah, sanken zwei Augenpaare trunken ineinander. Wir sprachen nun.

» Ecco Aristide!« rief Anna Maria. Ihr Mann kam auf uns zu. Er war wirklich ein wunderschöner Mensch, er vereinigte die Schönheit des Orientalen und des Italieners in seinen Zügen. Nur der brutale Ausdruck des Mundes mißfiel mir. Er kam die Damen abzuholen; sie mußten in die Pension zur Cena.

Wir waren am andern Tage in Murano, wir waren in Kirchen und am Lido zusammen, wir machten Gondelfahrten und besuchten die Galerien. Anna Maria gebot stets, wohin gefahren wurde, während Rosa Maria und ich uns schweigend fügten. Dabei war nie zu erfahren, warum sie gerade dies oder jenes wollte, denn sie hatte kein wirkliches Interesse an den Dingen, außer an der Schönheit des Wassers und des Himmels und an der Güte des Gefrorenen. Ihr Mann hatte in Venedig Geschäfte und war nur des Abends mit uns.

»Wir sind nun wieder wie damals, als wir kleine Kinder waren«, sagte Rosa Maria lächelnd, als sie vergeblich den Wunsch geäußert hatte, an der Südspitze der Giudecca zu landen und von dort hinauszusehen. »Anna Maria hat immer das Kommando geführt.«

»O mein Kommando war nicht hart«, sagte Anna Maria.

»Gewiß nicht, Signora Bréal«, sagte ich, »und zum Zeichen werde ich, der ich auch unter dem Kommando stehe, mich diesmal nicht fügen.« Ich rief dem Gondoliere, ans Land zu rudern.

» Ma no!« rief Anna Maria, und da war sie mir überlegen: sie sprach in venetianischem Dialekt zu dem Mann, der natürlich ihr gehorchte und nicht mir!

Jetzt mischte sich Rosa Maria darein, wenn auch nicht im Dialekt, und in der schönsten Sprache, die ich je gehört, bat sie ihn, zu landen. Der Gondoliere wußte lachend nicht, welcher von den Frauen er gehorchen sollte.

» Una lira di più, se ti fermi«, rief ich, und das entschied.

»Sie siegen natürlich durch Korruption«, sagte Rosa Maria, »während wir Frauen nur durch unsere Liebenswürdigkeit zu wirken suchen!«

»Das waren Sie, Herr«, sagte Anna Maria. » La Maria non avrebbe mai osato! Povera creatura! Mein Kommando war nicht hart. Jetzt muß sie ganz anders ducken!«

Rosa Maria's Gesicht wurde rot und sehr ernst. » Non parlar di ciò!« rief sie heftig.

Am dritten Tage hatte Anna Maria Kopfschmerzen und blieb durch zwei Tage zu Bett. Der Signore Bréal, der bei all seiner Schönheit unerträglich langweilig war, war abgereist. Ein Gespräch zwischen mir und ihm war nur dadurch gewesen, daß ich vorgab, mich für Seidenkonjunkturen zu interessieren oder seine Deklamationen gegen den Sozialismus anhörte. Rosa Maria blieb bei der Schwester, um ihr Umschläge zu machen, aber sie fand ein paar Stunden für mich, und Anna Maria selbst trieb sie aus dem Zimmer.

Als wir zum ersten Mal allein waren, war unsere Aufregung so groß, daß wir beide nicht sprechen konnten. Wir gingen durch die kleine Gasse bei Santo Zaccaria hinein über Plätze und Gäßchen, an einsamen Kanälen vorbei auf die Piazza San Marco zurück und dann durch die Merceria und die kleinen Gäßchen dem Hause der Deutschen zu; ich wollte nach Briefen fragen. Wie sie lachte, wenn ich mich immer wieder verirrte. Wie die Sonne in diese winzigen kleinen Wegengen schien  – wie Fremde und Italiener fröhlich an uns vorbeikamen, wie sie mich auf jede hübsche Venetianerin aus dem Volk mit dem schwarzen Umhängtuch und den klappernden Holzpantöffelchen aufmerksam machte, wie wir froh vor dem Goldoni-Denkmal standen, ganz wirr unter diesen alten Häusern und dem stillen Treiben der geräuschlosen Stadt  – so sonderbar, so ähnlich einem Kindertraum von einer stillen Welt. Einen Augenblick später standen wir im Licht und sahen jauchzend vom Rialto auf den hellen breiten Kanal hinab, stiegen herab unter all den Verkäufern und Buden und nahmen eine Gondel, und beim leisen Schaukeln auf dem silbernen Wasser sollte ich ihr von den alten Palästen und ihren Bewohnern erzählen. Aber ich hatte keinen Sinn für die alten Paläste und ihre klugen Bewohner  – ich hielt die Hände vor mich hin und lachte.

»So ein dummer Bub!« sagte sie, und dann schaute sie wieder und fragte, und wir fuhren in die Lagune hinaus.

»Ich will jetzt alles vergessen, was je in meinem Leben gewesen ist. Ich will mich nur freuen … deiner, du lieber, lieber, lieber Mensch!«

»Was bin ich denn? was findest du denn besonders an mir?«

Es war Absicht in meiner Frage, die Lust, das süßeste zu hören, was mir je gesagt worden ist  – die Worte, die so ernst und freudig gesprochen wurden und die ich nicht wiederholen mag.

Wir stiegen am Lido aus und gingen den Weg nach Malamocco zu. Der Weg war einsam. Es ist dort eine Stelle, ich weiß sie nicht zu beschreiben, aber ich würde sie blind wiederfinden. Büsche wachsen dort. Dort saß sie auf meinen Knieen und sagte mir wieder, daß sie nie geglaubt, daß ein Mensch wie ich leben könnte, noch viel weniger, daß er je in ihr Leben treten könnte.  – Die Ueberschätzung der Liebe ist in solchen Worten, aber wie elend ist der, der nicht einmal im Leben so überschätzt worden ist!

Als wir wieder ans Ufer traten, und sie wieder aufs Meer und die herrliche farbenreiche Stadt hinaussah mit vor Glück leuchtenden Augen,  – unvergleichlich, fürstlich stand sie da, die ganze Gestalt gehoben von der elastischen Kraft der Freude.

»Wunderschön!« rief sie und klatschte in die Hände.

»Ja wunderschön!« rief ich, aber ich stand mit dem Rücken gegen das Wasser.

»Du siehst ja nur mich an!« sagte sie lachend.

»Ja, und was ich sehe, ist tausendmal schöner noch  – ist das Schönste auf der Welt!«

»Das ist sehr subjektiv  – es gibt noch viel Schöneres!«

»Nein!« sagte ich näherkommend. »In meiner Welt bin ich Herr, und ich bestimme souverän, daß es nichts Schönres auf der Welt gibt als dieses Weib. Darf ich etwa nicht?«

»Ja, mein König!« sagte sie und beugte sich herüber, um mich zu küssen.

Plötzlich versank sie in Sinnen, und ihr Gesicht ward schmerzlich und ängstlich verzogen.

»Du Geliebter«, sagte sie, »bin ich dir nicht eine Qual? Ich verstehe nichts von Männern  – aber bin ich dir nicht eine Qual?«

»Liebe, Teure«, sagte ich, »du bist meine Wonne, du bist alles Glück, das ich kenne … Aber ich verstehe dich wohl  –  – Ja  – ich dürste!«

»Ja« sagte sie ganz leise und der Ausdruck ihres Gesichtes war eigentümlich starr.

Wir fuhren schweigend zurück. Der Vaporetto war voll von Menschen. Es war Zeit, daß sie heimkam. Ich schritt der Riva degli Schiavoni entlang bis hinaus zum Arsenal und den Gärten, aber es war eine unbekannte, nie gesehene Straße  – um mich schlugen schwere breite Flügel einer fast lastenden und drohenden Freude. Von diesem Tage an war es, als ob Freudenfackeln irgendwo Tag und Nacht für mich brennen würden  – ich schlief nicht mehr  – eine wilde selige Sehnsucht erfüllte die Welt.

»Du sollst mich verstehen und erraten, Geliebter!« sagte sie am andern Tage zu mir. »Anna Maria möchte gern nach Padua zu einer Freundin fahren, die ihr Mann nicht mag. Es ist wirklich etwas ganz unschuldiges!  – Aristide selbst kommt erst in fünf Tagen wieder. Sie möchte gern drei Tage ausbleiben, und ich soll sagen, daß sie mit mir geblieben ist. In diesen drei Tagen …« sie endete nicht.  –  – Ich war damals viel zu sehr in meinem Glück befangen, um darüber zu lächeln, wie die zwei Schwestern, die sich gegenseitig für ihre Männer behüten sollten, die sie jeder durch die andere tyrannisierten, sich gegenseitig Freibriefe gaben.

 

Von einem früheren Aufenthalt in Venedig her kannte ich einen kleinen Palazzo, den ein Freund bewohnt hatte. Ich fand, daß er seither leer gestanden, nur die Witwe des Custode wohnte dort. Er lag im Norden der Stadt unweit von Colleone und dem Ospedale di San Marco. Die meisten Zimmer waren verstaubt und verwahrlost, aber es war ein Saal da, der wohnlich gehalten wurde. Möbel aus altem vergoldetem Holz und blauer schadhafter Seide und viele riesige Spiegel standen an den Wänden; die kleinere Hälfte des Saales bildete eine Art Alcôve, in dem ein wundervolles altes Bett stand.

Den mietete ich für eine Woche unter einem erfundenen Namen. Am nächsten Tage waren alle Gefäße, die ich finden konnte, mit dunkeln roten Rosen gefüllt. Um zehn Uhr schickte ich die Custode mit irgend einem Auftrag in die Stadt, und eine Viertelstunde später öffnete ich selbst die Tür einer zitternden verschleierten Frau, die klopfenden Herzens, bleich von furchtbarer Aufregung in meine Arme sank.

Sie war zwei Tage und eine Nacht bei mir und wieder einen Tag. Drei Tage und eine Nacht durfte ich mein Glück in meinen Armen halten, durfte ich diese langen dunklen Locken durch meine Hände gleiten lassen, diese kleinen zierlichen Füße liebkosen, von diesen wundervollen Lippen endlose berauschende Küsse saugen. Drei Tage und eine Nacht war dieser Leib mein, dieser tadellose Leib, dessen bloßen Anblick ich trank, während sie selbst berauscht vor dem Spiegel stand,  – und mich mit unbefangener Freude auf die vollkommene Schönheit ihres eigenes Leibes aufmerksam machte. »Ja«, rief sie, »du hast eine schöne Geliebte, und ich freue mich dessen, weil sie dein ist!« Tränen und Angst und Lust und Bitternis der Liebe war mit uns in diesen drei Tagen, und süßeste überwältigte Scham …

Ich habe, um sie zu kleiden, meinen weißen Bademantel um ihren Leib geschlungen, den ich seither teuer hielt und verwahrte, wie eine Gattin ihr Brautkleid; ich habe, da sie keine Schuhe hatte, ihre nackten Füße in meinem Schoße gehalten, während sie vor dem Spiegel saß und ihre langen feinen Haare kämmte. Ich habe sie schlafen sehen, selbst weinend vor Freude. O ich habe keinen übermütigen Gedanken gehabt. Eine demütige Lust war in mir und die Gewißheit, daß ich ein Sakrament der Liebe empfangen und für immer und immer diesem Leibe und weit mehr noch dieser süßen Seele vermählt war. Wahrlich es war eine zarte, süße, zitternde Seele, die sich mir enthüllte, zugleich mit dem enthüllten Leibe, eine graziöse, leicht erschreckte, empfindliche Seele, die eins war mit diesem Leibe, die ihn mit Anmut übergoß, in jeder Bewegung und in jedem Worte sich offenbarte und alles in entzückende Schönheit kleidete, was sie tat.

Ich mag die lieblichen Worte nicht wiederholen, die sie zu mir sprach, ich mag überhaupt nichts erzählen, nicht weil ich solche Dinge als etwas Beschämendes verbergen möchte, nein, weil sie zu hold, zu intim, zu teuer sind, als daß ich mehr tun möchte, als, wenn ich es nur könnte, ein Hohelied der Liebesgnade singen, die mir widerfahren ist. Es sind befleckte Hunde, die aus eigner Niedrigkeit etwas Niedriges und Schändliches sehen wollen in dem Höchsten und Süßesten, was der Erde gegeben ist. Es ist nicht wahr, was die Menschen reden. Die Lilie ist kein Zeichen der Entsagung, sondern ihre Blüten sind ein silberweißes Brautbett, das die Natur selbst, der dies schön scheint, weil sie es erhält, für die Zeugung und ihre Organe bereitet hat.

Nie, nie werde ich etwas Schöneres sehen, als das Weib, das mit ausgebreiteten Armen nach rückwärts sank, und mit selig geschlossenen Lidern » Lasciami ora!« flüsterte. » Sono stanca! ho sonno! Troppo, ah troppo dolci sono le tue carezze!« Und unselig, wie mein Leben verläuft, wird das Bild, die Erinnerung daran mich nie verlassen, und am letzten Tag, an dem ich einsam und elend dahinfahren werde, werde ich sagen: Alle Gnade, die einem Menschen gegeben werden kann, ist mir geworden.

Könnte ich je enden, sie zu preisen, diese seltsamen drei Tage, in denen alles verändert war, Stadt und Land und Meer! Wenn wir manchmal hinaussahen unter den ausgespannten Jalousien auf das stille grüne Wasser, oder hie und da der Warnungsschrei eines Gondoliere herauftönte oder die Glocken des Abends läuteten  – wie Töne der fremdesten Welt kam das alles zu uns. Tage des Rausches! Tage der endlosen Freude! Und doch auch Tage des Entsetzens, Tage der Angst! O sicherlich, ja, ich gestehe es, an dem Abend, an dem sie fern war, blieb ich elend und gequält zurück, verwundert, daß ich nicht froher, nicht jubelnd war, und lange, lange ging ich in dem düstern Zimmer auf und ab, und ging traurig zu Bett  –  – bis ich entschlummerte, träumend, daß sie noch in meinen Armen läge, und der Morgen kam und sie mir zurückkehrte, diesmal in dem weißen Kleide, das ich liebte, und ich abermals mein geliebtes Glück in meine Arme nahm.

Und dann war's vorbei. Anna Maria und ihr Mann waren zurückgekommen. Das gewöhnliche Leben mußte wieder beginnen, das heißt, zwei Tage blieben wir noch in Venedig beisammen, und dann war der Traum vorüber. Seltsam verändert klang mir ihre Stimme, als ich sie zuerst unter Menschen wieder sah, und sie mit dem Uebermut eines glücklichen Weibes zu mir sagte: »Nun Signore, was haben Sie gestern den ganzen Tag getan?«, und ich ihr eine von den Rosen des Zimmers anbot, die sie wohl erkannte, und nicht ohne zu erröten, an ihre Brust steckte.

Ich aber mußte noch einmal in unser Haus zurück, um mein Gepäck abzuholen. Aber das Zimmer war in Unordnung, die Rosen standen welkend in den Vasen, die Spiegel warfen einen grellen Sonnenschein zurück  – ein Schreck kam über mich, und ich beeilte mich fortzukommen. Die alte Custode, Signora Madalena hieß sie, kam herein, um mir packen zu helfen, und schweigend hob sie eine Haarnadel vom Boden auf und reichte sie mir  – und das gab mir meine Freudigkeit wieder.

Ich konnte sie nicht mehr allein sprechen, sie fuhr mit Anna Maria und Aristide davon, und ich mußte vor beiden zeremoniell von ihr Abschied nehmen. Ich selbst hielt es für gut, noch einen Tag in Venedig zu bleiben. Nie habe ich eine einsamere Fahrt gemacht, als diese Rückfahrt über den Canal Grande  – nie die schreckliche Einsamkeit einer Schönheit, die für mich keine Seele mehr hatte, bitterer empfunden. Tags vorher hatte ich bei einem Italiener ein kleines goldenes Blatt gekauft, auf das ich drei Buchstaben, die für uns Bedeutung hatten, hatte ritzen lassen. Am nächsten Morgen erhielt ich eine Karte aus Verona von ihr, mit einer einzigen Zeile: »Das Blatt ist zurückgeblieben und alles!  – alles!« Ich bin nicht abergläubisch, aber ich erschrak doch. Ich fragte in der Pension nach: es wurde nicht mehr gefunden.

 

Ich kam zu Erich zurück, tödlich niedergeschlagen. Es ist unglaublich, aber es war keine Freude in mir, nur Angst und Elend. Dort erst flammte die Erinnerung an mein Glück wieder in mir auf und mit ihr wütende Sehnsucht. Und nun kam das Bitterste. Sie mußte von Wien sogleich nach Görz fahren und sollte erst Mitte Juli für einige Tage zurückkommen, und dann wiederum ins Gebirge gehen … Denke dir zwei Neuvermählte, die nach drei Tagen auf Monate getrennt werden  – gibt es eine größere Grausamkeit?

Wir schrieben uns wohl; unter dem Namen, unter dem ich in Venedig unser hochzeitliches Haus bewohnt hatte. Liebe traurige Briefe schrieb sie mir: » Amico mio dolce,« begann der erste, »heute hab ich endlich deinen Brief bekommen, endlich konnte ich nach Triest fahren; ich bin zitternd aufs Postamt gegangen, hab das liebe Siegel geküßt, das Couvert zerrissen und dann in den Kanal geworfen, und den Brief ins Mieder gesteckt. Lieber, Alles ist tot in mir, wie vor wenig Tagen alles in mir Freude war …«

Die Briefe waren kurz, mit Bleistift geschrieben, ich fühlte die hastige Angst, mit der sie hingekritzelt waren. » Amico mio dolce,« schrieb sie, »ich bin heute einmal allein, die anderen sind alle fort, und ich will dir einmal länger schreiben. Ich habe mich eingesperrt, dennoch klopft mir das Herz vor Angst, sie könnten kommen. Ich kann dir nicht sagen, wie unglücklich mich's macht, dich unglücklich zu wissen, du armer, lieber! O Liebster, ich verliere manchmal die Hoffnung! Hier ist's so öde, und wenn du die Gespräche anhören müßtest, die ich täglich hören muß  – da unsere lieben Verwandten für drei Wochen bei uns sind  – es ist zuviel!  –  – Du, was tust du! ist Schönes um dich? Freunde? Frauen? Gehst du nicht bald von Wien fort? Es muß ja so unerträglich heiß sein! Der Schmerz ist noch ganz schwach da, ich hab ihn lieb und möcht ihn nicht missen! (ich hatte sie einmal so heftig umarmt, daß ich ihr an der Brust bitter wehe tat.) Ich bin froh, daß ich deinen Sonntagsbrief schon erhielt, der letzte war so wüst  – Gott, wie muß es da in dir aussehen!  – Und das wird immer schlimmer werden, nie besser, nie gut! Leb wohl, du Süßer!«

Wie rasche karge Tropfen auf verdurstende Lippen, die zerfließen, noch ehe sie geschlürft werden, waren diese Briefe. Dazu der quälende Gedanke, daß sie mit anderen lebte, bei anderen wirklich saß, bei jämmerlichen Philistern, deren wertlose Gespräche ich erraten, deren Gesinnungsniveau ich mit jedem bürgerlichen Zollstab messen konnte. Ich trug es nicht, daß ihre Tage dort öde, flach und unersprießlich verliefen, während jede Minute für mich köstliches Entzücken gewesen wäre. Ich wurde rasend bei dem Gedanken, daß andere mit ihr zu Tische saßen, sie küssen und  – in einem Zimmer mit ihr schlafen durften … Gott! Gott! ich Narr! ich dachte schon damals unglücklich zu sein! ich Narr!

Ich hatte in diesem Sommer arbeiten wollen. Die Bilderwerke, die ich bestellt hatte, waren gekommen, die Pläne für unser Musterschulhaus waren gezeichnet. Richard Hueber hatte die Freundlichkeit gehabt, uns den Kostenüberschlag zu machen; wir hatten beständig Sitzungen  – erinnerst du dich, wie nervös und geistesabwesend ich war, wie ich dich bat, die Verhandlungen mit Hofrat Rüpfler zu führen, der unser Unternehmen begünstigen sollte? Wenn du wüßtest, was für eine Last und Qual mir jeder Brief, den ich schreiben, jede Rechnung, die ich ansehen mußte, waren!

Erinnerst du dich eines Abends, den ich bei dir verbrachte? einen jener lärmenden Sommerabende der Stadt. Wir standen an der offenen Balkontüre und sprachen. Du fühltest, daß ich nicht mehr bei der Sache war, ich, der Mensch ohne Selbstbeherrschung  – du hattest ja auch das deinige zu tragen, aber niemand gewahrte eine Veränderung an dir  – du fühltest das und sagtest: »In allen Märchen dürfen die, die nach den hohen Preisen ringen, sich nicht umsehen, sich nach den goldenen Aepfeln nicht bücken, die über ihren Weg rollen«.

»Ja« sagte ich, »sonst verfallen sie dem Zauber und sind kaum mehr zu erlösen. Aber, höre! keinen Preisen des Geistes zuliebe würde ich je auf die Früchte des Lebens verzichten. Ich bücke mich  – und werde das Opfer …«

Du schwiegst, dann sagst du: »Du liegst im Netz des Seins.  – Ich auch … vielleicht mehr als du.« Und nach einer Pause: »Alles, was wir tun, und wäre es das Schrecklichste, steht uns frei, wenn wir es ganz und rein tun. Ob es gut ist in den Augen der Menschen, darauf kommt es nicht an. Aber ganz muß es sein! … Und wann ist das möglich …?«

Wie verzehrendes Feuer haben sich diese Worte mir eingebrannt.

Wir gingen in dein Zimmer zurück; du zündetest die Lampe an; wir saßen lange schweigend. Meine Blicke hefteten sich erschrocken auf eine neue Photographie, die über deinem kleinen Tische hing: Rossetti's » Donna della Finestra«. Ich konnte meine Augen nicht von ihr wenden: es war unglaublich, wie ähnlich das Bild Rosa Maria war, in der Last der Haare, dem sehnsüchtigen und trauervollen Ausdruck der Augen, dem Küsse begehrenden Mund! Nur waren die Züge Rosa Marias zierlicher, nicht so groß, und in ihrem Ausdruck lag oft genug eine schalkhafte Heiterkeit, die man sich zu dem Bilde gar nicht denken konnte.

Als ich fortging, drücktest du mir die Hand wärmer, als gewöhnlich. Du fühltest, daß du im Begriffe warst mich zu verlieren.

Im Netz des Seins!  –

Ich bin in der Tat sehr bald ganz ausgesprungen, nicht weil es Sommer war, sondern weil ich nichts anderes tun und denken konnte.

Bei Hueber's hörte ich etwas, was mich halb verrückt machte. Margaretha und ihr Mann waren als Gäste auf dem Gut in Görz. Warum hatte sie nicht auch mich eingeladen? Vergeblich sagte ich mir selbst, daß sie doch das gerade nicht tun konnte, daß ihr Mann mich kaum kannte. Wenn ich je eifersüchtig war, so war ich es damals auf diese zwei harmlosen Menschen.

Plötzlich blieben die Briefe aus. Der Beamte am Postschalter muß mich wohl für völlig verrückt gehalten haben  – wenn anders er nicht an dergleichen gewöhnt war  – aber wie oft ich auch nachfragte, die Antwort war: »Bedauere. Nichts da!«  – Clemence war in Südtirol!

Bei Hueber's erfuhr ich endlich, daß sie krank war. Ein neues Elend! Nicht täglich hören können, wie es ihr ging, nicht an ihrem Bett sitzen, sie streicheln und pflegen, und ihr Liebesworte sagen dürfen, während sie litt! Es war nur eine heftige fieberische Erkältung, und nach zwei Wochen kamen ein paar Zeilen von ihr, um mich zu beruhigen. Endlich Mitte Juli kam sie zurück, und ich sah sie in der Brühl. Ich ging durch die Villa in den Park. An einem Tisch saß der alte Herr Bréal mit dem Generalkonsul und mit seiner Frau bereits bei den Karten.

Ich hielt mich nicht weiter auf, sondern ging der erhöhten Terrasse am Ende des Gartens zu, von der die Stimmen der übrigen Gesellschaft herüberschollen. Bei einer Biegung des Gartenweges stand ich vor ihr. Ein Blick des Einverständnisses und der Warnung traf mich, dann begrüßte sie mich mit jener kalten Gleichgültigkeit, mit der sie vor Fremden mit mir redete. Als alle anderen die Terrasse verlassen hatten, blieben nur wir zurück, und sie lehnte sich schweigend an den Pavillon und sah mich mühsam an. Jetzt erst, da sie den Hut abgenommen hatte, sah ich erschüttert, welch eine Veränderung mit ihr vorgegangen war. Müde, fahl und grau war ihr Gesicht und furchtbar gealtert, ihre Gestalt war schlanker noch als sonst, und alles an ihr war Leid und Leiden  – und doch so süß zu schauen; nie vielleicht hab ich sie so zärtlich lieb gehabt, wie in diesem Augenblick.

»Wie ist es Ihnen gegangen?« fragte sie endlich.

»Und Sie waren leidend?« erwiderte ich.

»O ja, sehr leidend!«

»O, wie es mir leid getan hat!«

»Nun ist's ja vorüber!«

Wirklich, das war unser Gespräch. Keiner von uns fand ein Liebeswort für den andern. In diesem Ton sprachen wir weiter, und meine Seele zog sich erstarrt und verletzt zurück. So kurze Zeit war vergangen, und schon war jene süße Intimität geschwunden, so junge Liebe so alt geworden. Ich ging in stummer Wut neben ihr her, bis ich es nicht mehr ertrug und ich vor ihr stehen blieb und ihr mit wilder Sehnsucht in die Augen sah. Sie gab den Blick zurück und lag in meinen Armen. »Ja, hast du mich denn noch lieb?« fragte sie ganz verwundert. »O du dummes, dummes Mädel du!« war alles, was ich zur Antwort gab.

Einige Augenblicke später trafen wir den Hauptmann und Richard Hueber, und von da an war Rosa Maria geängstigt und unruhig. Ihre Nervosität teilte sich mir mit. Als wir an dem Gartentisch beim Kaffee saßen, schloß sie plötzlich die Augen, und ihr Kopf sank zurück. Margaretha fing sie auf und half ihr aufstehen, der Hauptmann sprang gleichfalls auf und führte sie ins Haus, während ich im Garten sitzen bleiben mußte, nicht einmal zuviel Besorgnis verraten durfte. Der Hauptmann kam zurück und schalt auf die Nervosität der Frauen, die erst nie folgten, noch das täten, was man ihnen sagte, um es dann zu büßen: er habe ihr dringend geraten, zu Hause zu bleiben, und sie habe absolut nicht gehorchen wollen. Aber er werde nicht mehr nachgeben, und in Zukunft werde geschehen, was er sage. Er habe noch immer Recht behalten und es immer bereut, seine Erlaubnis wider Willen gegeben zu haben. Das war ein Ton und eine Art von ihr zu sprechen, die ich nicht ertrug. Für mich war Rosa Maria mein mir heimlich vermähltes Weib, dieser Ton traf mich wie ein Peitschenschlag. Um ihretwillen durfte ich den Zorn, der in mir kochte, nicht zeigen. Ich stand vom Tisch auf und ging durch den Garten.

Ich stieg bis zur Terrasse hinauf, ich fühlte, daß ich das nicht ertragen konnte. Als ich zurückkam, war Rosa Maria bereits wieder im Garten  – sie stand mit den andern vor dem Glassalon, der Hauptmann erklärte, daß sie sofort nach Hause fahren müsse. Vergeblich bat sie, halb dem Weinen nahe, halb scherzend, daß sie lieber bleiben wolle, es sei nichts gewesen, die frische Luft tue ihr gut. Der Hauptmann erwiderte mit dem Ton eines Menschen, der an widerspruchslosen Gehorsam gewöhnt ist: »Es wird nach Hause gefahren, und du legst dich sofort zu Bett, morgen hast du ohnedies die Uebersiedelungsarbeiten vor dir …«

Ich sah sie in den Wagen steigen, blaß vor Zorn, und wegfahren, nachdem ich sie zwei Monate nicht gesehen und keine zehn Sätze mit ihr gesprochen hatte, ohne daß ich mit ihr hatte abmachen können, sie noch zu treffen. O Guido, ich habe Gelegenheit gehabt, mich in der Selbstbeherrschung zu üben!

Das war das erste Mal, daß ich erkannte, daß meine Herrin eines andern Mannes Sklavin war, dem sie gehorchen wollte oder mußte, der sie als sein Eigentum ansah und ihr soviel feineres Wesen nach Laune mißhandelte. Jahre ihres Lebens und all ihr geheimes Leid standen mit erschreckender Lebendigkeit vor meinen Augen.

Als ich des abends vom Bahnhof nach Hause ging, während ein heftiger Wind hinter mir herblies, und ich über all mein Glück und das Weh, das sich daran heftete, nachsann, da war mir, als ob Scharen von bösartigen Quälgeistern hinter mir her und an mir vorbeijagten  – die Stunde eines jeden sollte kommen.

 

Ich sah sie am nächsten Tage dennoch. Mit der unerhörten Kühnheit, die sie manchmal aufbot, war sie in ein Caféhaus getreten und hatte mir telephoniert. Es war ein bitterer Abschied. Ich hatte Angst, daß sie noch nicht gesund genug sei und wieder krank werden könne.

»Das wäre nichts,« sagte sie.

»Mußt du  – mußt du fort?«

»Ich muß.«

»Und kannst mich so lange in solcher Qual lassen? Ich verschmachte.«

Sie warf sich an meine Brust. »Ich auch,« sagte sie heftig.

»Mit fremden Menschen leben?«

»Es sind nicht fremde Menschen, es ist mein Mann und meine Kinder!«

»Bin ich nicht dein Mann?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du bist der geliebteste Mann, der lebt! Aber sie brauchen mich, Liebster, es kann nicht anders sein! So stark bin ich nicht  – und darf es und will es nicht sein. Es wäre nur pflichtvergessen und grausam. O ja,  – du hast viel mehr von mir! Wir müssen nehmen, was wir haben können  – vielleicht wird es einmal anders!«

Ich habe sie im Laufe dieses Sommers gesehen. Scheinbar verließ ich die Nähe Wiens nicht, scheinbar widmete ich mich den Damen in meiner Nachbarschaft. Aber zweimal war ich zwei Tage lang fort, ohne daß jemand darum wußte. Ich reiste mittags ab und kam abends an, und am nächsten Vormittag wartete ich in dem Walde, den sie mir bestimmt hatte. Sie hatte jedesmal nur eine Stunde für mich. Ich wartete am Rande des Wegs, auf Laub und Moos sitzend, die Uhr in der Hand, ängstlich auf jeden Schritt lauschend.  – Zwei barfüßige Bauernknaben gingen an mir vorüber  – dann war wieder alles still  – ein Waldhüter mit dem Säbel an der Seite  – wieder Stille. Der tiefblaue Augusthimmel sah durch das Geäst über mir, fern vom Abhang hörte ich das Dengeln einer Sense und jetzt von tief unten den Pfiff des Dampfbootes, das über den See fuhr. Ich verzweifelte schon  – da hör' ich einen Schritt, ein Rauschen  – und dort, wo die dichten Büsche einen Rahmen bildeten, und den weißen Weg, auf den eine grelle Sonne fiel, durchleuchten ließen  – dort in dem grünen Rahmen stand das wunderschöne Weib in demselben weißen Kleid, das sie für mich angelegt, den offenen Sonnenschirm über der Schulter, und sah mich mit Blicken an, für die noch niemand Worte gefunden hat. »Liebe, daß du wirklich gekommen bist!« mehr konnte ich nicht sagen, als ich sie wieder und wieder an meine Brust preßte. Wie köstliche Früchte leuchten diese zwei Stunden durch das endlose öde Blau dieses Sommers hindurch!

 

Als der Sommer zu Ende ging, mietete ich die Wohnung in der …gasse, die du kanntest. Eine schönere hab' ich nie gehabt. Von einem Fenster des großen Zimmers hatte ich die erwünschte weite Aussicht auf die tiefer liegende Stadt  – ihre Türme und ihr Häusermeer, bis zur Ebene und dem blauen Streifen des Stroms. In dem kleinen Zimmer, in das nie jemand kam, stand nichts als ein mächtiges altes Holzbett auf drei flachen Stufen und ein dunkler Waschtisch; viele dichte weiche Teppiche bedeckten den Boden.

In dem großen Zimmer ließ ich die Wände in lichtem Grau streichen, die des Schlafzimmers waren ein dunkles Rot. Allmählich brachte ich die meisten der schönen Sachen, die Arthur mir hinterlassen hatte, und die  – soweit ich sie nicht verschenkt hatte  – in Kisten verpackt warteten, im Zimmer unter.

Das Haus war so gut angelegt, daß man vorne durch den Torweg zur Treppe und zu meiner Wohnung gelangen konnte, ohne an irgend einem Fenster oder einer Türe vorüberzukommen, während man auf der anderen Seite auch durch den Garten fortgehen konnte. Mit einem Wagen konnte sie in fünfzehn bis zwanzig Minuten bei mir sein.

Sie kam zum ersten Mal an einem trüben Septemberabend. Ich war den ganzen Tag nicht aus dem Hause gegangen, außer um zu essen, die Uhr war vor mir auf dem Tisch gelegen, vergeblich hatte ich mich mit irgend etwas zu beschäftigen gesucht, immer wieder ging ich auf und ab, in ungeduldiger Erwartung, in unerträglich steigender Aufregung; von sechs Uhr abends an wich ich nicht mehr vom Fenster, und die angespannte Qual des Schauens und der Erwartung war gleichzeitig solch eine peinigende Lust, daß ich ähnliches nie empfunden hatte. So oft ich einen Wagen rollen hörte,  – ich konnte ihn nicht gut halten sehen  – eilte ich zum Guckloch der Türe, und wenn endlich die wohlbekannten ängstlichen, hastigen Schritte über die stille Treppe heraufliefen und das Kleid leicht über sie rauschte, dann erreichten beides, Lust und Pein einen Augenblick lang einen Höhepunkt, der mich fast ohnmächtig werden ließ; meine Hand lag auf der Türklinke, und eine Sekunde später eilte das von tödlicher Angst und Aufregung ganz zitternde Geschöpf an mir vorüber ins Zimmer.

War sie schön in ihrem Schreck! Ihr Herz klopfte so, und sie sah sich so verstört um, daß ich sie zu meinem großen weißen Sofa führte, und vor ihr niederkniete und ihre eiskalten Hände streichelte und küßte. Dann erst hob ich ihren Schleier empor und nahm ihr den Hut ab. Ich ließ die letzte Roulette an dem Fenster, von dem ich ausgelugt hatte, herab und zündete die Hängelampe an, die ein seltsames Licht über das ganze Zimmer streute.

Jetzt stand sie auf und ging, lief beinahe, mehrmals rasch durch das Zimmer und sah alles an, Bilder, Vasen, Möbel und Bücher. Ich saß indessen auf dem Sofa und sah entzückt ihren Bewegungen zu. Oft, wenn ich sie umschlungen hielt, ließ ich sie wieder los und trat zurück, weil das Bild zu schön war, das ich mit allen Sinnen in mich saugen wollte.

Sie sprach kaum, nur zu einzelnen Dingen machte sie ihre hübschen Bemerkungen. Hin- und hereilend öffnete sie die kleine Türe zum Schlafzimmer, sah hinein und nickte nur leise mit dem Kopf.  –

»Sie glauben mich bei Clemence,« sagte sie, »ich gehe öfters des Abends zu ihr, wenn mein Mann im Klub ist, und die Kinder schlafen.«

Das war bereits unvorsichtig. Aber wie sollte ich diese süße Unvorsichtigkeit tadeln?

Sie hatte kaum zweieinhalb Stunden für mich. Wie sollten wir da denken, wie zum Erzählen, zum Besprechen, zum Planen Zeit haben?

Sie kam öfters in diesen Tagen, manches Mal auf noch kürzere Zeit, manchmal für länger; immer wußte ich es voraus und erwartete sie in der gleichen entsetzlichen peinigenden Lust der Erwartung. Sie kam immer gleich verstört, glühend und liebesdurstig und immer sprach sie kaum ein Wort. Sie küßte mich still und wild und entrang sich mir, lange, ehe ich sie von mir lassen wollte. Während sie vor dem Spiegel ihr Haar kämmte und ich ihr beim Ankleiden half, lächelte sie mir von Zeit zu Zeit zu, aber sie sprach fast gar nicht.

Der Oktober kam und der November, und die Bäume in meinem Garten wurden kahl, und die Sonne ging des abends glühend zwischen entlaubten Zweigen unter. Manchmal gingen wir spazieren, weit draußen auf einsamen Wegen außerhalb der Stadt, die jetzt noch viel verlassener waren, als im Frühjahr. Dann war sie oft fröhlich und jubelnd wie ein junges Mädchen, scherzte und erzählte, und jagte mit mir durch die Büsche, um mich zu haschen und zu küssen. Wir gingen, bis es ganz dunkel wurde; und wieder, obgleich wir soviel kluges und dummes redeten  – sehr viel über meine Pläne  – weiß ich fast nichts mehr von unseren Gesprächen! Die Liebe überflutete sie und verschlang alles andere.

Nur eines Abends erinnere ich mich gut. Wir waren lange miteinander umhergegangen und als wir in der Dämmerung heimkehrten, blieb Rosa Maria plötzlich erschrocken stehen und wies in eine Seitengasse, an der ich, ohne den Blick von ihr selbst zu wenden, vorübergegangen war. Ein paar Leute standen auf dem Trottoir im Zwielicht der eben angezündeten Laterne, ein Wachmann hatte ein blasses junges Frauenzimmer angehalten und zog sie am Arme vorwärts, während sie sich schweigend, aber heftig widersetzte. Die herumstanden, sahen teils betroffen, teils belustigt zu. Plötzlich brach das Mädchen in ein widerliches dumpfes Weinen aus,  – selten habe ich so unbehagliche Töne gehört.

»O Felix! Felix!« sagte Rosa Maria.

Du weißt, daß bei uns ein Wort zu sprechen, wo ein Polizeimann »seines Amtes waltet,« nicht nur vergeblich, sondern strafbar ist  – ich konnte nichts tun und wollte Rosa Maria bewegen, weiterzugehen. In diesem Augenblick kam ein widerwärtiges altes Weib aus dem Gasthause und begann heftig etwas ganz unverständliches zu erzählen; die Arretierte warf sich auf die Erde  – die Burschen lachten, und die Alte wendete sich plötzlich zu uns mit ihrer Erklärung und faßte Rosa Maria am Arm. Die aber riß sich los, und ganz zitternd sagte sie nur: »Komm! Komm!« und drängte mich fort.

»Ich kann nicht!« sagte sie, »o glaube nicht, daß ich verachte,  – ich habe nur Mitleid  – aber es ist eine solche Schande für uns alle! Und so viele! so viele!«  – sie war nicht zu beruhigen.

Wir haben an diesem Abend lange gesprochen, und oft hab ich mich später an ihn erinnert; oft Rosa Marias ernstes aufgeregtes leidgequältes Gesicht gesehen. Damals versank es sofort wieder in Vergessen, verlor sich in der Freude dieses Herbstes, in der wir keines fremden Elends denken konnten.

Einmal bat ich dich, mir jene Photographie zu leihen, die ihr so ähnlich sah, und zeigte sie ihr.

Es war beinahe, als ob ihr bange würde vor dem Bilde. »Von wie viel Banden mag diese Frau innerlich gehalten und gequält sein, während sie so sehnsüchtig und schmerzvoll hinabsieht!« sagte sie. »Wie luftig das Fenster ist! und diese blühenden Rosen! Findest du nicht, daß das Gesicht dadurch doppelt schwermütig aussieht? Und sieh nur, diese merkwürdigen Hände! Die sind ganz anders als die meinen. Und diese Lippen! sind sie nicht wie ein einziger, langer Kuß, Felix?  – Denk' einmal, Felix, ob sie wohl je hinabgestiegen ist, die Donna Pietosa?«

»Wahrscheinlich nie«, sagte ich, »denn auch er hat ja seine Liebe zu ihr bekämpft und verflucht«.

Sie sah mich an. »Das wirst auch du vielleicht einmal tun«.

»Still!« sagte ich, »still sein!«

Ich haßte es, wenn sie solche Worte sprach. Sie aber sah wieder auf das Bild. »Wer mag ihr Mann gewesen sein? Und ob sie wohl Kinder hatte? Denk' nur, die eine enge Gasse in Florenz war zwischen ihnen! … Nein, bei uns war's anders. Il pietoso sei stato tu! Du bist zu mir herabgestiegen.«

Ich faßte ihr Gesicht. »Wirf die Lippen auf, wie sie«, sagte ich, »daß sie ganz gleich werden.«

Ganz unglaublich war die Aehnlichkeit!  – Und allzu zierlich war sie, wenn sie bei solchen Gesprächen ängstlich zu mir aufschaute, ob ich nicht am Ende spottete. Das tat sie besonders, wenn sie über Bücher sprach,  – denn sie hielt sich für ungebildet, während sie es gar nicht war,  – bis ich lachen mußte, weil sie sich so sehr davor fürchtete.

Meine Wonne wuchs in diesen Tagen unbeschreiblich  – nicht nur die Wonne meiner Sinne, deren Flammen immer glühender emporschlugen und immer heißer und gieriger genossen und die Süßigkeit des wundervollen Leibes schlürften, der mir gegönnt war  – auch die Wonne meiner Seele wuchs von Tag zu Tag und von Woche zu Woche, je mehr ich all den raschen, anmutvollen Reichtum der ihren kennen lernte.

Gerade darum aber fraß sich ein Schmerz der Unbefriedigung immer tiefer in mein Glück ein. Ich ertrug es nicht mehr, ohne sie zu sein, ich wollte keinen Augenblick dieses wonnigen Lebens verlieren, ich fand keine Freude an meinem Leben und an meinen Freunden ohne sie, ich wollte alles mit ihr teilen und mit ihr genießen, denn alle Blüten des Lebens waren duftlos und alle Früchte ärmlich, wenn sie nicht da war, ihnen erst Reiz zu geben.

Und ich gönnte weder sie noch ihr Plaudern, noch ihre Gegenwart, oder irgend eine ihrer Empfindungen anderen mehr, ich sehnte mich nach ihr morgens und abends, und die einsamen Nächte wurden mir unerträglich, unerträglicher noch der Gedanke, daß sie jetzt neben einem anderen Mann lag, und wenn er nur in ihrer Nähe schnarchte.

Wo ich unter Menschen saß, deren Gespräch reich war, wünschte ich sie gegenwärtig, zu hören und gehört zu werden. Wie hätte ihr feiner dürstender Geist nach der Oede, zu der sie verdammt war, es genossen! Wenn ich im Theater oder im Konzert saß, verloren meine Gedanken sich nach ihr, sie schwebte auf allen Tönen, und oft war es mir wie eine Vision, als ginge sie unsichtbar auf ihren feinen kleinen Schuhen an der weißen Wand vorüber und wendete den Kopf mit den dunkeln Locken nach mir zurück, oder sie saß neben mir auf dem Sofa in irgend einem fremden Zimmer, und so stark war die Einbildung, daß ich mich umwendete und die Hand leise auf ihren Arm legen wollte,  – um zu erkennen, daß sie nicht da war. Und ich ertrug es nicht.

Darum wollte sie, was ich nicht wollte: daß ich häufiger in ihrem Hause verkehrte; und da ich der Möglichkeit, sie öfter zu sehen und zu sprechen, nicht widerstehen konnte, gab ich nach. Und ich ging unter die Philister, wahrlich ein Fuchs, der Flammenbündel nach sich zog,  – aber meine Liebste setzte sorgfältig Löschhütchen auf und gab acht, daß ich die friedlichen Pflanzungen der guten Leute nicht zerstörte.

Und ich war lieb mit Tante Paula und führte lange Gespräche mit Onkel Peter, ich lernte Karten spielen, so daß ich zur Not einspringen konnte, wenn dem alten Bréal ein Partner fehlte  – das sagt genug. Und ich war liebenswürdig mit dem Hauptmann selbst. Aber das ist ein ganzes Kapitel.

 

Wie soll ich über diesen Mann schreiben? Er war kein unbegabter Mensch. Er war Professor an einer Militärschule gewesen und hatte aus gekränktem Ehrgeiz seinen Abschied genommen, weil er bei einem Avancement übergangen worden war. Seitdem hatte er alles mögliche versucht und unternommen. Er hatte eine Liebhaberei, die ich pries, die Mineralogie, denn sie führte ihn auf Ausflüge fort  – er hatte sogar Abhandlungen über gewisse Gesteinsarten geschrieben, und sein geheimer Wunsch war, zum Mitglied irgend einer gelehrten Gesellschaft ernannt zu werden.

Ich weiß nichts von ihm, was man im gewöhnlichen Sinne schlecht nennen kann. Als Kommandeur soll er streng, aber wohlwollend gewesen sein. Wenn man seine Unfehlbarkeit anerkannte, so war er manchmal voll Bonhommie, gastfrei, gefällig und höflich, und liebte es, wenn es nicht zuviel kostete, seine Untertanen zu beglücken. Er war übrigens für einen Offizier sehr gebildet und im Gespräch nicht ohne Originalität. Fühlst du, daß ich mich bemühe, objektiv zu sein  – fühlst du das? Ich gestehe, daß es mich Mühe kostet, es gibt zuviel Erinnerungen, die ich zurückdrängen muß, Dinge, die ich nur zu denken brauche  – und ich will von diesem Menschen ein gehässiges Zerrbild entwerfen, das dennoch jeder erkennen müßte, und das noch lange nicht so ungerecht wäre!

Das Schicksal hat uns in eine jener furchtbaren Kreuzstellungen gebracht, in der es keine Gerechtigkeit geben kann  – aber was ich erzähle, ist Wahrheit.

Er war mir in der Seele zuwider, ich empfand einen wahren Horror sanguinis gegen ihn  – seine Stimme, sein Blick, sein Gang waren mir antipathisch. Und ich bin immer liebenswürdig gegen ihn gewesen, so sehr ich es vermochte, sowie auch er von Anfang an mir freundlich entgegen kam; ich vermied alles, was den Zwiespalt unseres Wesens zum Klaffen bringen konnte, obgleich ich es tausendmal lieber getan hätte, und jeden Augenblick brannte, es zu tun. Um ihretwillen beherrschte ich mich und verstellte mich.

 

An einem der ersten Tage, an dem ich sie in diesem Herbst besuchte,  – du darfst nicht etwa glauben, daß ich oft hinaufkam  – sah ich Rosa Maria in einem langen schwarzen Mantel am Tisch sitzen, den Kopf auf die Hand gestützt, ohne mich anzusehen. Als ich näher trat, blieb ich erstaunt stehen. Sie war es und war es nicht. Die Haare, die unter dem schwarzen Capotehut hervorsahen, waren zum Teil ergraut, die Züge vergrämt, das Gesicht abgemagert und leidverzogen. Ich wußte sofort, wer vor mir saß. In diesem Augenblick kam das Stubenmädchen und rief sie in das Kabinett des Hauptmanns. Gleichzeitig ließ der Hauptmann mich bitten, ihn noch zu entschuldigen, seine Frau müsse übrigens gleich kommen. Ich blieb allein im Salon zurück.

Das also war jene wunderschöne Bianca Maria, von der alles gesprochen hatte, die, wo sie hinkam, in Wien, in Pest, in Mailand die Königin jeder Gesellschaft gewesen war! O ihr armen Schwestern! Ich hatte etwa zehn Minuten gewartet und ging in ungeduldiger Aufregung auf und ab, als Rosa Maria durch die Gangtüre eintrat und lächelnd stehen blieb  – in demselben Augenblick wurde auch die Türe des Kabinets geöffnet; Bianca Maria kam heraus mit den Worten »Liebe Rosa Maria! Nie mehr!« warf sie sich laut weinend der Schwester an den Hals.

Ich trat ans Fenster und sah hinaus. Rosa Maria folgte der Schwester auf den Gang, die Treppe hinab und durch den Garten, während aus dem Kabinet die zornige Stimme des Hauptmanns nach ihr rief. Als sie zurückkam, warf sie mir einen flehenden Blick zu, von dem ich leider nicht wußte, ob er mich bleiben oder fortgehen hieß, und eilte zu ihrem Mann. Ich hörte beider Stimmen gereizt und heftig, aber ich verstand kein Wort. Endlich ging die Türe auf, und der Hauptmann trat heraus. Er trug seinen schwarzen Salonrock und sah sehr erregt und ärgerlich aus.

»Entschuldigen Sie, lieber Freund«, sagte er, »daß ich Sie warten ließ …«

»Im Gegenteil, ich bitte um Entschuldigung, ich konnte nicht ahnen, daß ich so ungelegen kam …«

»Gar nicht ungelegen! Sie tun mir einen Gefallen, wenn Sie bleiben! Das heißt, meine Frau hat jetzt zu tun. Kommen Sie eine halbe Stunde mit mir, und Sie bleiben beim Abendessen!«

»Es tut mir leid«, sagte er auf der Straße, »daß Sie gerade zu einer unangenehmen Familienscene gekommen sind. Das heißt, wenn diese Dame zur Familie gehört. Für mich nun einmal nicht!«

Ich begriff, daß er mich zum Bleiben aufgefordert hatte, um mir das zu sagen.

»Aber die Frauen sind alle sentimental und darum ungerecht«, fuhr er fort, »und haben für eine feste Korrektheit keinen Sinn. Keinen Sinn! Die sozialen Gesetze sind die notwendige Folge unseres Gesellschaftszustandes, und man muß die sozialen Urteile anerkennen, auch wenn sie hart sind. Mich regen solche Scenen leider sehr auf und sind mir schädlich. Darauf aber wird nie Rücksicht genommen.«

Ich erwiderte nur, daß sich das alles meinem Urteile gänzlich entzöge.

Er schlug mir vor, in ein Caféhaus zu gehen und eine Partie Billard zu spielen. Er spielte viel besser als ich und gewann zwei Partien nach einander. Das machte ihn guter Laune.

Auf dem Tisch, an den wir uns setzten, lag eine Zeitung, in der ein Artikel gegen den »überhandnehmenden Militarismus« stand.

»Was diese Leute alles schreiben«, sagte er, »und gänzlich gedankenlos. Phrasen! Der Militarismus ist heute eine Notwendigkeit. Ich gebe Ihnen ja gerne zu, daß, wenn dieses ganze enorme Geld auf Straßen. Kanäle, Schulen und andere Verbesserungen verwendet würde, damit viel mehr Kulturarbeit geleistet würde. Aber die Kultur, die wir haben, erhalten, ist eine ebenso wichtige Aufgabe, wie sie zu vermehren. Wir wissen nicht, ob unsere Kultur ohne unsere Armeen nicht ebenso ein Opfer der asiatischen und afrikanischen Barbaren würde, wie seinerzeit die Kultur der alten Römer. Und bei der übermäßigen geistigen Beschäftigung unserer Zeit würde ja die ganze Generation verkommen, wenn nicht der staatliche Zwang zur körperlichen Uebung und Strammheit wäre. Und in Oesterreich, sage ich, ist die Armee eine Kulturträgerin. Ich habe östliche Rekruten in meiner Batterie gehabt, die haben bei uns erst sich waschen gelernt! Und dann die innere Gefahr! Die [unzweifelhaft] besteht! Die Baronin Glauder, die Frau unseres Korpskommandanten hat mich wegen meiner freien Ansichten den Sozialdemokraten mit dem Portépée genannt. Damals durfte man sich solch einen Scherz noch erlauben, heute ist die Sache zu ernst geworden!«

Er sprach, sprach, ich hörte zu und sah ihn an  – dieses erste Alleinsein mit dem Manne, der mein Gegenspieler in dem Drama meines Schicksales geworden war, hat einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht. Obgleich ich mit ganz anderen Gedanken dasaß, ist jeder Satz, den er sprach, meinem Gedächtnis eingeprägt geblieben, wie jede Bewegung, die er machte. Ich sah das ausrasierte Gesicht, die kleinen, klugen, unruhigen Augen  – und ich fühlte damals wieder, daß seine Art zu trinken, seine Art, den Kellner zu rufen, das Trinkgeld niederzulegen mir antipathisch war.

Als wir zurückkamen, teilte Rosa Maria ihm mit, daß sein Verwalter gekommen sei, und er zog sich mit ihm in sein Kabinett zurück.

»Meine schönen Augen haben heute schon soviel Tränen geweint«, sagte sie, als wir allein waren.

»Wegen Ihrer Schwester?« fragte ich.

»Ja und auch seinetwegen.« Sie wies mit einer unwilligen Handbewegung nach dem Kabinett und ihr Mund zuckte. »Sie ist so arm. Der Mann, mit dem sie lebt, hat natürlich Schulden. Sie selbst hat etwas Geld, aber zu wenig. Und weder Anna Maria's Mann noch mein Mann wollen sie unterstützen, wenn sie nicht von ihrem Geliebten und von Wien fortgeht. Eduard hat ihr ja heute etwas gegeben  – aber wie beleidigend! Wenn es nicht wegen des armen Menschen, der obendrein nicht gesund ist, wäre, hätte sie es nie angenommen. Und Eduard erlaubt nicht, daß ich ihr Geld gebe. Von meinem eigenen Geld! Das heißt, ich habe ja gar kein Vermögen, es gehört alles der Dosi, aber ich habe den Nutzgenuß. Er sagt, ich verschwende ohnedies genug! Und ich soll mit dem armen Weib nicht verkehren! Hörst du? Bin ich denn besser? bin ich besser? Tausendmal schlechter und feiger bin ich! Sie hat wenigstens, was sie tat, offen getan!«

»Wie schäbig das ist!« sagte ich. Von der tiefen Verachtung, die ich damals für ihren Mann empfand, bin ich nie mehr zurückgekommen. Aber das wollte sie nicht hören, sie zürnte, als ich in diesem Tone sprach. Ich fühlte bereits, sie wollte nichts gegen ihn hören, sie wollte sich über ihn nicht klar werden. Und es kam eine Zeit, da ich das verstehen lernte. Sieh! Kein vornehmes Weib wird es leicht vor sich selbst zugeben, daß der Mann seelisch minderwertig ist, dem sie einmal gern und froh ihren Leib gewährte  – es ist die tiefste Wunde, die ihr geschlagen werden kann, und sie wird die unmöglichsten Argumente herbeischleppen, um ihn zu verteidigen, weil sie damit sich selbst vor ihrem eignen Empfinden verteidigt.

Ich aber, der ich keine Binden um die Augen trug, sah sie abermals erniedrigt. Wie konnte sie Schmutz verzeihen?

 

Einige Tage später lag sie des Abends neben mir und erzählte;  – auf ihren Arm gestützt, von meinem halb umschlungen, während ich in ihr Gesicht sah und leidenschaftlich lauschte. Sie hätte mir erzählen können, endlos wie Scheherazade die tausend Nächte, ich wäre nicht müde geworden, ihr zuzuhören. Wie ein Nest war unser kleines Zimmer, das vom Bette fast ausgefüllt war. Die Jalousien waren geschlossen, im Ofen knisterte leise die sterbende Glut, die rosenfarbene Ampel, die wie eine Lotosblüte geformt war, goß ein warmes Licht über uns,  – meine Blicke hingen an ihren Augen, meine Lippen tranken ihren Atem, während die Bilder ihrer Vergangenheit wie Scenen einer magischen Laterne vorüberglitten.

Ich sah die drei kleinen wunderhübschen Mädchen, die etwas derbere Anna Maria, und die zarte hochgewachsene Bianca, und sie, die damals die mindest schöne von allen war. Ich sah sie in ihren Kinderkleidern, lernen, zanken, einander necken, verklagen, lieben, in ihre Bettchen schlüpfen und des Morgens aufstehen  – innerlich unbändig, äußerlich wohlerzogen in der strengen religiösen Zucht der Familie. Denn die Mutter erzog sie um so strenger und frömmer, weil sie das Leben ihres Mannes zu verbergen und gutzumachen hatte. Ich sah sie heranwachsen, hörte ihre wichtigen Mädchengespräche, ihre Träume und Hoffnungen, und sah die ersten bitteren Schmerzen beginnen, mit der steigenden Empfindsamkeit, den wachsenden Wünschen und dem wachsenden Erkennen.

Ich hörte auch all die verderblichen Dinge, die sie gelehrt wurden, die gedankenlosen Strafen und törichten Regeln, die ganze hohe Schule der Verlogenheit, die sittsame Mädchen lernen müssen. Ich wußte, wie wenig sie der unbefangenen impulsiven Seele meines Lieblings geschadet hatten.

Dann kam die Zeit, sie zu verheiraten. Im Salon des Vaters hörten sie tausend Dinge, die sie anregten, lernten alle Bedürfnisse des modernen Lebens kennen und merkten allmählich auch, auf wie unsicherem Grund dieses Leben geführt wurde. Sie wußten sehr bald, daß sie hübsch und arm waren, und klug heiraten mußten. Heiraten, das große Wort ihres Mädchenlebens  – voll Schrecken und Hoffnungen, das Wort, das in alle Widersprüche gekleidet wurde. Wenn Bianca Maria davon sprach, hieß es »Selbständigkeit«, wenn sie davon las oder träumte, war es ein Mysterium, das Liebe hieß, ein Meer, in das man sich selig und zitternd stürzte, wenn sie davon reden hörte, war es ein Geschäft, bei dem man nicht verständig genug sein konnte. Anna Maria redete selten davon, sie dachte an die Toiletten, die sie dann selber wählen dürfte, und sie sagte sich, daß sie klug sein würde. Rosa Maria als die jüngste, hörte am wenigsten darüber. Sie war in einer Pension im Rheinland, als Bianca Maria »verkauft« wurde, und war nicht Zeugin der Tragödie, die sich damals in ihrem Elternhause abspielte; man hielt ihr alles geheim. Anna Maria hatte ihren schönen und reichen Gatten willig gewählt  – aber der vorsichtige Aristide borgte dem unsoliden Schwiegervater keine zehn Francs. Rosa Maria lebte ihren Träumen und dem Schicksal der Schwestern. Daß sie selbst viel angebetet wurde, wußte sie, aber es rührte sie nicht sehr, sie ergötzte sich an ihren Triumphen, tanzte in der Freude ihres jungen Leibes, teilte übermütig Gunst und Ungunst nach Laune aus, und schwärmte zuletzt für den schönen Alfred von Fischer. Dann war sie an Lohenkirch verheiratet worden.

Und dann war der »Schlaf mit den Höllenträumen« gekommen.  – Ihre Stimme erweckte mich aus den meinen:

»Weißt du, Felix, damals bin ich aus dem Haus gelaufen,  – einmal bei Nacht, kaum mehr bekleidet als jetzt, auf dem Land, ins Haus meiner Eltern, das gleich neben dem unsern war und hab' die Mutter aufgeweckt …« sie sprach nicht weiter …

»Und dann?«

»Und dann? … sie waren in Todesangst vor einem zweiten Skandal  – Bianca Maria war gerade von ihrem Mann fortgegangen  – und sie haben mich eben wieder zurückgebracht.«

»Ja, aber um Gotteswillen, warum bist du gegangen, Liebling, warum bist du gegangen?«

»Ich habe keine Kraft. Und was hätte ich tun sollen?« »In die Welt laufen  – betteln!«

»Ich habe keine Kraft.«

Ich sah die schlanke Gestalt neben mir mit den erschreckten sinnenden Augen.

»Wieviel Nächte bin ich in unserm Park auf und abgegangen, oder mit Anna Maria drüben aufgesessen, wenn sie da war, nur um nicht im Haus zu sein, nur um nicht …«

Wieder sah ich die Vergangenheit. Ich sah die zwei jungen Frauen am Tisch sitzen bei der späten Lampe, mit einer Handarbeit oder mit Büchern beschäftigt, in müden Gesprächen, bei denen die Worte in langen öden Pausen fielen  – während Angst und Grauen in der Seele der Einen war …

»Pflicht, Pflicht, hat der Pater Granitsch gesagt, Pflicht!«

»Ja, Pflicht!« wiederholte ich ingrimmig  – »das ist das Wort, das Kirche und Gesetz für die Schändlichkeit haben!«

»Bianca Maria hatte irgendwie davon gehört. Sie hat nicht ins Haus dürfen, natürlich nicht, aber sie hat mir geschrieben  – einen süßen Brief. Und sie hat auch der Mutter eine furchtbaren Brief geschrieben. Sie hat ihr darin gesagt, daß sie an ihrer Schande schuld sei, und daß sie mich denselben Weg triebe, und daß sie ihr fluche …«

»Und deine Mutter?«

»Sie hat den Brief verbrannt. Du hast sie gesehen. Sie ist versteint. Sie kennt nur Gebote und Verbote. Sie hat keine Freude gekannt seit langen Jahren und sie versteht von den Menschen nichts mehr. Von uns hat sie nie etwas verstanden.

Der arme Papa hätte ja vielleicht für mich etwas gefühlt, aber er hat im Haus gar nichts zu sagen gehabt. Weißt du, er war erst zu kurze Zeit getauft und  – man hat zu viel für ihn zahlen müssen. Die Mutter hat eigens den Onkel Krapp berufen, um mir zu imponieren. Ganze Sitzungen waren bei uns, hörst du, Felix, über mich  – und ich habe mich geschämt, daß ich mich in blutiges Feuer hätte flüchten können …«

Sie sah, wie ich litt: »Nein, du mußt nicht so erregt sein, Geliebter«, sagte sie, »das ist alles so fern hinter uns. Ich kann es ganz ruhig erzählen. Es ist, als ob du dich um das Leiden einer ägyptischen Königstochter grämen würdest.

Einmal aber hab' ich es dem Monsignore gerade ins Gesicht gesagt, daß er umsonst spricht, daß ich an nichts mehr glaube, nicht an Gott und nicht an ihn! Glauben!«  – Sie lachte. »Dort oben, Felix, kümmert sich Niemand um uns, das glaub' mir; wenn wir nicht für uns sind und wenn wir nicht ein bißchen Glück haben  – so ist keine Aussicht.

Was war meine Rettung? Daß Ferdinand wahnsinnig wurde  – so etwas schreckliches! Ich hab' ja kein Mitleid mit ihm haben können, ich hab' ihn nicht einen Tag pflegen können  – aber es ist doch fürchterlich, daß das meine Erlösung war.  –  – Nein, noch etwas war meine Rettung …«

In einem Nu war sie aus meinen Armen und stieß mich von sich, als ich sie halten wollte. Ihre Augen waren starr und schmerzlich in die Ferne gerichtet. Dann aber wandte sie sich mir wieder zu und küßte mich …

»Nicht denken! nicht daran denken!« klagte sie.

Ich wußte, was ihr war  – die Fabel, die mich rasend machte. Er war ihr Retter gewesen, Georgi! er hatte für sie Partei genommen, er hatte Lohenkirch zur Rede gestellt und ihn später in die Heilanstalt gebracht; er hatte die Ungültigkeitserklärung der Ehe durchgesetzt, von der ihre Eltern nichts wissen wollten. »Und als alle mich verleumdeten und verfolgten, da hat er mich zur Frau genommen.«  –  –

Das war die Klippe, an der wir immer wieder scheiterten. Warum konnte ich sie nicht losreißen, warum gelang es mir nicht, ihn von dem erlogenen Piedestal zu stürzen, das sie für ihn errichtet hatte? Warum übersah sie ihn und hing doch an ihm? War es nur Schwäche? Warum war er ihr nicht widerlich, wie er mir widerlich war? Wo in ihrer Seele war der Punkt des unmöglichen Zusammenhanges, in dem die Liebe zu mir und ihm sich begegnen konnte?

Ihr Gatte,  – der Vater ihrer Kinder  – lag es da? Waren es dunkle Erinnerungen erster ungetrübter Lust?

Immer wieder mußte ich mich aufbäumen gegen Mauern, die ich nicht durchbrechen konnte.

Er hatte sie immer gern gehabt  – ich will das Wort »geliebt« für diese Art Neigung nicht prostituiren  – schon als sie noch ein Kind war. Er hatte um sie angehalten, als sie siebzehn Jahre alt war, und man hatte sie ihm verweigert, ohne daß sie überhaupt davon erfahren hätte. Nun hatte er seine Gelegenheit erspäht.

Ich konnte daran nichts großartiges finden, daß einer ein Juwel, auf das andere noch Plumpere traten, aufhob und in die Tasche steckte, um so weniger, wenn der Betreffende sogleich überzeugt war, daß er nur das bekommen, was er verdient, und mit jener glücklichen Logik des Ehemannes sich sagt: Ich werde von dieser Frau geliebt, also muß ich's wohl verdient haben, ich brauche mich nun nicht weiter zu bemühen. Ich mache sie glücklich  – und werde ihr das gnädig weiter gewähren!

 

Hier, Guido, könnte ich eine ganze Abhandlung darüber einschieben, wodurch selbst feinere Menschen,  – zu denen er nicht gehörte,  – Menschen, die dieser größten aller Seligkeiten überhaupt fähig sind, sich die eigene Freude so schnell zerstören. Denn so wie es sehr wenig Menschen gibt, die des wirklichen wonnevollen Genusses eines Kunstwerkes fähig sind, so gibt es nur sehr wenige, die auch nur drei Tage in ihrem Leben Liebe genossen haben.  – Welche Kultur gehört dazu, welches Persönlichkeitsgefühl, und welche Freiheit! Aber selbst liebesfähige Menschen werden in unserer Zeit noch in so niedrigen Anschauungen erzogen, daß sie weder verstehen noch verstehen können, was das Geschenk der Persönlichkeit eines Menschen  – das des Leibes ist nur ein sinnlicher Ausdruck dieses Geschenkes  – für unendliche Gnade ist. Das Geschenk meiner Persönlichkeit wie der ihren. Unsere Welt ist ein subjektives Gebäude, und unser Wert wie unsere Würde ist unser eigenes Werk. Unsere Liebesschätzung macht die Worte eines Menschen zu köstlichen Perlen oder zur elenden Spreu. Der Natur gelten Perlen und Spreu vielleicht gleich. Der Glaube an den Fürsten macht seine Macht so groß, seine Gnade so kostbar. Und wir müssen einer an des andern Wert glauben, um einander zu genießen. Wer den Leib erniedrigt, erniedrigt die Liebe, wer des anderen Seele nicht mit Scheu umgibt, auch nur leise zu verletzen zitternd, der wird sich selbst alle Wonne verderben.

Er war damals schon fast vierzig Jahre alt, aber immer noch ein stattlicher Offizier gewesen, und sie hatte ihn für seine ritterliche Hülfe glühend geliebt. Sie hatte mir einmal, in einer bösen Stunde, das schmerzende Wort gesagt, sie glaube nicht, daß sie mich so liebe, wie sie ihn damals aus all ihrem Elend heraus geliebt hatte. Dann aber war in ihm der Fafner erwacht,  – Nietzsche, glaube ich, ist es, der irgendwo sagt, daß Fafner das Symbol des Ehemanns zu sein scheine: »Ich liege und besitze« ist sein Spruch.

Soviel war schon an ihr gesündigt worden  – er tat, ohne es zu ahnen, das schlimmste, weil sie ihn mehr geliebt hatte, als die anderen. Daß seine Frau ihm geistig, ich meine in feinem Verständnis, in der tiefen Auffassung der Dinge des Lebens, sowie an Vornehmheit des Wesens unendlich überlegen war  – er hätte sicherlich gelächelt, wenn man ihm das gesagt hätte. Daß seine Rücksichtslosigkeit sie mißhandelte, seine Verbote, mit dem oder jenem zu verkehren, seine Mißbilligung ihres stürmischen freien Wesens, das wie aus einem Bann erwacht war, sein Zanken, wenn das Essen schlecht war oder im Kleide eines der Kinder ein unmilitärischer Flecken sich fand  – ihr, die ihn mit der ganzen Zartheit ihrer Seele liebte, tötliche Verletzungen waren, das ahnte und fühlte er nicht. Manches davon scheint kleinlich zu sein  – aber manchen Menschen ist alles kleinlich, und für andere gibt es in diesen Dingen nichts kleinliches. Den Ton mit Fürsten darf Niemand verfehlen, und mit fürstlichen Kindern darf man nicht schreien. Entweder sie müssen die Verletzung der Persönlichkeit rächen oder sie haben ihren Adel verloren. Ein Mann, der mit einer liebenden Frau von solcher Feinheit schreit, hat sie verloren oder gebrochen. Rosa Maria, die keine starke stolze Natur war, sondern zart und liebend, ward gebrochen.

Denke dir, sie hat mir erzählt: als sie kaum fünf Monate verheiratet war, als er seit fünf Monaten »Herr« dieses entzückenden Geschöpfes war, das ihn mit kindischer blöder Dankbarkeit liebte, als sie die Nardenkrüge ihrer ersten Liebe auf ihn ausgoß, und die Kränze ihres Geistes und ihrer Lieblichkeit für ihn wand  – für einen Tag jener ersten Blüte ihres Lebens würde ich barfuß nach Görz wandern  – als er das alles hatte und genoß: da nun hatte ein ungeschickter Bursch verschiedenes im Haus angestellt, und er wollte ihn entlassen. Es war ein Slovene, ein treuherziger ungeschickter Junge, wie sie erzählte, vielleicht war er nur verschmitzt. Aber genug, er bat sie mit Tränen, sie möge für ihn bitten, daß er bleiben dürfe, und sie tat es. Der Hauptmann gab, wiewohl unwillig, nach, und am selben Abend zerschlug der Junge eine Vase, ein Geschenk, das er ihr gemacht hatte und das sie liebte. Da kannte sein Zorn keine Grenzen, der Bursch wurde augenblicklich hinausgeworfen und ihr, ihr machte er eine unbeschreibliche Scene. »Zwanzig Gulden hat deine Laune, deine Schwäche mich gekostet!« schrie er und war nicht zu versöhnen. Und es war sein Geschenk für sie gewesen! Und nicht, daß sie es liebte, daß es ihn zwanzig Gulden gekostet hatte, das erregte seinen Zorn. Das war eine Note, die immer wiederkehrte, mit immer neuem Text.

Er liebte sie  – in seiner Art, wenn Jemand diesen Grad der Zuneigung Liebe nennen will. Und er war vor allem eitel auf ihre Schönheit, ihren Geist und ihre Eleganz. Er freute sich ebensosehr über die offene Bewunderung, die sie überall erregte, als er gleichzeitig darüber empört war. Er freute sich über die Bewunderung nicht ihretwegen, sondern seinetwegen, aus Eitelkeit und er war empört, wenn sie sich äußerte, weil die Unsicherheit des Asurpators in ihm war. Ich glaube, er hätte sie am liebsten unter einem Glassturz herumgezeigt, mit der Aufschrift: »Nicht berühren! nicht ansprechen! Privateigentum!«

Sie fühlte das wohl und schämte sich  – aber sie schloß die Augen! »Es ist so seine Art,« sagte sie, »er kann aus seinem Wesen nicht heraus; und er hat mir eigentlich nie etwas zu Leide getan.« Daß er sie für seine Bequemlichkeit aufbrauchte, daß er sie mit Geboten und Verboten maßregelte wie einen Offiziersburschen, Vorboten der Eifersucht, die an sich unerhörte Beleidigungen waren, das nannte sie, »nichts zuleide tun.«

Es war fast nicht schmeichelhaft  – obgleich ich darüber sehr froh war, daß er mich für so ungefährlich und bedeutungslos im Leben seines Weibes hielt. Aber welche Qual für mich, daß sie ihn lieber betrog als sich auflehnte!

Denn wenn ich über ihn empört war: er war schließlich so, ich konnte gemeinen Stoff nicht feiner machen. Darum aber war ich fast noch empörter über sie, die solche Behandlung ertrug. Ich habe Dulden und Demut nie geliebt, die »zahme, schimpfliche, verhaßte« Tugend, und ich habe ihr einmal zornig gesagt: »Dein Gefühl für deine Menschenwürde steht auf derselben Höhe, wie das eines Piccolos im Caféhause.« Aber man hatte ihr das Gefühl ihrer Persönlichkeit bereits im väterlichen Hause gründlich ausgetrieben; die orientalischen und romanischen Traditionen des Vaters, wie die katholische Frömmigkeit der Mutter, hatten keine andere Lehre, als daß das Kind den Eltern, und das Weib dem Manne steten und unbedingten Gehorsam schuldig sei. Anders denken hatte sie gelernt  – aber von der Auflehnung im Denken bis zur Kühnheit des Widerstandes war ein zweiter Schritt. Sie ertrug eben und litt darunter, und war außerdem noch überlegen genug, um ihn zu übersehen und bei sich zu sagen: »Armer Mensch, wie glücklich könntest du sein und wie verdirbst du uns beiden das Leben! armer Mensch!«

Das feine rosenfarbene Netz, das die ersten Monate ihrer Ehe umwunden hatte, war immer grauer geworden, und sie hatte sich müde und gehorsam auf den öden Wogen treiben lassen, bis sie mir begegnet war.

Der Verkehr in ihrem Hause ward für mich eine Quelle endloser Leiden. Nicht nur der Verkehr mit ihm. Er war immerhin noch der interessanteste unter den Menschen, die um sie waren. Es hat keinen Sinn, dir die anderen zu schildern, sie waren nur Ballast. Da war der Bergrat, einer der schlimmsten Schwätzer, denen ich im Leben begegnet bin, und seine trostlos dumme Frau, da waren ein paar ältere Offiziere und Beamte mit ihren Gattinen, auch ein Professor der Mineralogie, alle unbedeutend, langweilig und flach  – bedrückende Philister und ohne anderes Interesse als Avancement und Verdauung, und, wenn die Männer unter sich waren, an unsauberen Witzen! Clemence kam hie und da hinauf, der einzige »Mensch«, dem ich oben begegnete, dann Richard und Margarete Hueber, die wenigstens schöne frische harmlose Geschöpfe waren. Ja, daß ich ihn nicht vergesse  – der Neffe des Bergrates, Peter der Jüngere, wie Rosa Maria ihn nannte. Er war Techniker und wollte Literat werden, ein hübscher blonder kräftiger Bursche, der mir im Caféhaus seine Gedichte vorlas und mich um mein unbefangenes Urteil bat. Ich merkte sofort, daß sie an Rosa Maria gerichtet waren, und ergötzte mich nicht wenig. Er war übrigens ein natürlicher Bursch, wie ein großer ungeschickter treuer Hund: er biß mich auch bei einer Gelegenheit, die mich ihn nicht vergessen lassen wird.

Ja, ich gestehe es, ich bin verwöhnt in meinen Forderungen an die Menschen, aber die geistigen Forderungen, die wir an die Menschen stellen, zeigen im Spiegel, was wir sind! Was war sie, die all diese Oede ertrug?

Nicht nur ertrug! Sie liebte diese Menschen mit einer kläglichen Liebe, und rieb sich in kleinen Diensten für sie auf. Sie konnte dem Bedürfnis nicht widerstehen, dem, der gerade um sie war, Holdes zu tun, und sie konnte nicht nein sagen. Sie ertrug das Gefühl nicht, daß jemand in ihrer Nähe ihr böse war. Es war die klägliche, hilflose Liebe einer Blume, die die Raupen lieben würde, die ihre Blätter zerfressen und geschändet haben!

 

So hob sich mein schimmerndes Glück von einem elenden und gefährlichen Hintergrunde ab. Mein wunderbarer Märchenvogel kam aus einem Sumpf zu mir geflogen, in dem er sein Nest gebaut hatte, und flog vor mir wieder dahin zurück, Junge füttern und mit anderen Sumpfvögeln, an die sie sich gewöhnt hatte, ein ärmliches und erbärmliches Dasein zu führen. Ein »Viertelsleben«, wie sie selbst es nannte, hatte sie geführt, bis sie mich kennen gelernt hatte.

Und das verdarb unser Zusammensein. Denn ich ward verstimmt und mürrisch darüber, daß ich sie nur hastende Augenblicke für mich haben konnte. Wir hatten kaum Zeit zu Kuß und Umarmung, und schon kehrte sie wieder in das »Nest im Sumpfe« zurück  –  – Ich aber wollte mit ihr leben!

»O welche Neigung zur Ehe! Auf einmal!« sagte sie halb spöttisch.

»Ja, zur Ehe mit dir« erwiderte ich, »zur Ehe zweier Liebenden, die ewig frei bleiben, bei denen alles Gunst und Gnade ist, und nichts ein Recht oder eine Pflicht! Der Vertrag ist's, der die Ehe unsittlich macht! Ja, ich bin sehr für die Ehe! Ich, der ich die Ehe zu brechen scheine, halte sie viel höher! ich breche nur, was brechenswert ist  – eine wirkliche Ehe kann gar nicht gebrochen werden! Aber dein Zusammenleben mit deinem Mann nenne ich keine Ehe! Was hat er aus dir gemacht?  – Was ist das für eine Ehe, in der die Gatten einer durch den andern nicht wachsen, sondern zurückgehen? was wird hier aus dir und all deinen Gaben? Du hast mich die »Nora« verstehen gelehrt, und ich wollte, du hättest mehr von ihr!«

»Nicht quälen«, sagte sie, »du bist ein Mann und kannst das nicht verstehen! Nicht verlangen, was unmöglich ist!«

»Muß ich's nicht verlangen, wenn ich dich liebe? Mußt du nicht verlangen, daß ich's verlange? Würdest du's ertragen, daß ich dich als ein Abenteurer betrachte? Kämest du dann noch? Dann würd' ich's so bequemer finden. Aber ich will auch für dich keine Nachmittagsunterhaltung sein!«

»Du bist frei, und ich bin gebunden. Warum bist du zu spät gekommen? Warum warst du treulos und kamst nicht an seiner Stelle vor sechs Jahren, als ich so einsam, so sehnsüchtig und verlassen war? Warum warst du treulos?«

Was sollte ich auf solch eine Logik erwidern?

»Ja, damals als du mich einmal gesehen hattest, kommen, mir nachfahren und mich holen, das wäre genial gewesen! Jetzt den Liebestrott gehen, das kann jeder! und noch dazu raunzen! Wer wird denn raunzen, wenn die Geliebte bei ihm ist?«

Aber die Frage mußte immer wieder brennend werden, weil das Mißverhältnis in den Tatsachen bestehen blieb, weil ich rasend wurde, wenn sie mir absagte, weil ihr Mann ihr pneumatisch geschrieben, er bringe am Abend Gäste mit, und sie möchte Vorbereitungen treffen, oder wenn ich sie mit ihm und der Familie des Bergrates in der Loge sitzen und nachher soupieren gehen sah  – und mich als Enterbten fühlte. Meine Phantasie aber sah noch mehr Bitternis als meine Augen: ich hörte im Geiste vertraute Gespräche des Abends, wenn er gnädig gestimmt war und sie seine Gnade gehorsam hinnahm, ich sah die Intimitäten, die ein dicker Herr im Schlafrock an der Kaminecke sitzend oder im Schlafzimmer sich erlauben durfte. Brennende Kohlen auf meinen Leib gelegt, hätten mir nicht weher getan, hätten mich nicht wilder emporfahren gemacht.

»Ich kann ihn nicht verlassen,« sagte sie, »er würde daran sterben. Er mit seinen Anschauungen, mit seinem Glauben an mich! Er würde die Zerstörung seines Hauses, seines Namens, dessen, was er seine ›Ehre‹ nennt, nicht überleben  – ich kann und darf ihm das nicht antun. Er darf nie von dir und mir erfahren. Tausend Meineide würde ich schwören, um es ihm zu verbergen.

Und die nächste Folge wäre ja … ein Duell … zwischen euch! Und ich dazwischen!  – Nein, das ertrüg ich nicht. Und es kann auch so kommen!  – O Gott!«

Sie schloß die Augen bei dem Gedanken.

»Und dann schau! Du, du wirst einmal über mich hinauswachsen und wegschreiten! das weiß ich gut!«

»Nie! Schweige!«

»O ja … ich werde vom Rade deines Schicksals ausgeschleudert werden! Und du wirst gegen mich so ungerecht sein, wie du es heute gegen die Frauen bist, die du vor mir geliebt hast! über die du weggegangen bist, wie über Sand und Blätter!«

»Schweige! Wie kannst du das sagen? Ich habe keine Frau vor dir geliebt!«

»Oh, ich weiß es nur zu gut! Und ich will keine einsame verlassene alte Frau sein  – ich will Kinder, ich will einmal Enkel um mich wachsen sehen!«

»Ja, du möchtest Liebe mit Altersversicherung,« sagte ich bitter. »Gib Acht, daß du nicht eines Tages um beides kommst! Man kann nicht schenken und rechnen zugleich! Den Rausch haben mit nüchterner Vorsicht  – nein, das gibt es nicht  – und es wird sich rächen, wie alles Halbe!«

»Ich bin halb und zerbrochen  – ich hab dir's vorausgesagt!«

»Aber ich bin ganz  – so ganz und eins, wie man es nur sein kann, und ich will nicht zerbrochen werden!«

Wir standen am Fenster, als wir so sprachen, und sahen auf die kahlen Bäume und Sträucher hinaus.

Zwischen den Wurzeln lag Schnee. In meinem Ofen brannte ein leises Feuer.

»Ich muß fort,« sagte sie.

»Ich ertrage das nicht! Ich ertrage das nicht!« rief ich. »Und ich gehe auch fort!«

Sie richtete sich auf den Zehen empor und küßte mich stürmisch.

»Geh!« sagte sie, »ich verdiene es nicht besser, und du  – du verdienst viel mehr!«

Ich setzte mich nieder und sah in die Glut.

»Man muß der Liebe alles geben oder nichts,« sagte ich, und ich erstickte ein Schluchzen, das sich mir gewaltsam in die Kehle drängte.

»Das ist der Anfang vom Ende,« sagte sie. »Das hab' ich kommen sehen. Und wenn es beiden nur Schmerz macht, dann muß es besser enden!«

»Beiden? Beiden?«

Ein Zug bitterster Trauer glitt über ihr Gesicht.

Sie war im Fortgehen; ich ließ sie rückwärts durch den Garten hinaus. Sie ging durch die leeren Gassen in den nahen Park, dort wartete sie auf mich. Ich kam ihr auf anderen Wegen nach und begleitete sie ein Stück  – aber wir gingen in bitterem Schweigen nebeneinander.

»Sei nicht gar zu traurig, wenn ich bei dir war«, sagte sie »du Armer, Lieber! Morgen um elf Uhr vormittags bin ich wieder bei dir. Ich kann nur eine Viertelstunde bleiben  – aber ich komme!«

Und sie kam und hatte einen ganzen Korb voll Veilchen und Narzissen mitgebracht, mit denen sie mein Zimmer schmückte. Aber ich war in der gleichen Stimmung, und wenn mein Mund ihre Lippen berühren, meine Hand sie umfassen wollte  – fuhr ich immer wieder zurück und biß mir die Lippen.

»Was hast du?« sprach sie leise. »Ist es physische Eifersucht? O dazu hast du aber gar keinen Grund. Das ist lange vorüber, lange! Das Feuer ist längst erloschen!«

Viele Wochen vorher hatte sie mir einmal in einem Augenblick süßester Freude gesagt: »Felix! Felix! weißt du, was? Denke, denke, wenn ich von dir ein Kind bekäme! Wenn wir beide ein Kind hätten! O unbeschreiblich süß ist dieser Gedanke!«

Ich hatte sie damals nur geküßt und geschwiegen; denn mich erfreute der Gedanke nicht  – nicht jetzt! Ich wollte mein Kind nicht als das eines fremden Mannes und noch dazu in dieser Atmosphäre aufwachsen sehen. Ich hätte es nie zugegeben. Ich hätte es bereits nicht ertragen, sie schwanger und leidend zu wissen, ohne täglich um sie zu sein, es hätte zu den furchtbarsten Konflikten geführt.

Aber diese Worte fielen mir jetzt quälend ein.

Heute, wo das alles so lange vorüber ist und soweit zurückliegt, heute sind sie mir teuerste Erinnerung und bitterste Qual zugleich, sie bedeuten eine der schmerzlichsten Enttäuschungen meines enttäuschten Lebens  – denn in der Tat  – von keinem Weibe will ich je ein Kind haben, es wäre denn von ihr. Süßeste Frucht der Früchte, die aus dieser Blüte gereift wäre! Alle Liebe und Hoffnungen meines Lebens hätte ich in sie versenkt, um sie gewunden wie Kränze  – hätte es so sein können! Liebesketten hätten sich um uns geschlungen, die nur die wenigen Glückseligen kennen, denen ein Kind solcher Liebe geworden ist.

Aber damals, da ich vieles nicht wußte und nicht verstand, regte die Erinnerung an diese Worte Zweifel in mir auf, die eine neue Pein zu den früheren fügten.

Immer noch hoffte ich, ich würde meinen Willen durchsetzen, oder ein Zufall würde eine Katastrophe herbeiführen, die keine andere Lösung übrig ließ. Wir waren einmal ganz nahe daran.

Ich kann nicht sagen, wie ich sie herbeiwünschte, obgleich ich wußte, was folgen mußte. Ich wußte, daß sie mich nach unseren schändlichen Ehegesetzen auch nach der Scheidung nie hätte heiraten können, ich wußte das alles  – und ich hatte ihr versprochen, nie etwas dazu zu tun und alle erdenkliche Vorsicht zu beachten. Ich hielt mein Versprechen,  – aber mit wie viel Furcht es auch gepaart war, ein ingrimmiges Wünschen war in mir.

Welche Wonne, welche innere Erlösung es mir gewesen wäre, ihm ins Gesicht zu schreien, was ich von ihm hielt!

Du glaubst doch nicht, daß ich beschämt, zerknirscht gestanden wäre bei der Entdeckung? Nein!!

All meine Tage habe ich keine Gattung von Menschen mehr gehaßt, keine für gemeinschädlicher gehalten, als die, die anderen, freiergeborenen die Flügel brechen!

Es ist so leicht und so schändlich, Frauen zu zerbrechen!

Es kam vor, daß ich ins Haus trat und das Benehmen aller verändert fand, daß sie einmal ausblieb und nichts von sich hören ließ, daß der Hauptmann mich plötzlich bitten ließ, ihn nachmittag im Caféhaus aufzusuchen, er habe über eine wichtige Sache mit mir zu sprechen, und ich mir einbildete, unser Geheimnis sei verraten, und mich innerlich rüstete und mit zusammengekniffenen Lippen den Szenen und Insolenzen entgegenging, die der in seinem Besitz gestörte Pöbel nun beginnen würde.

Mit was für Empfindungen bin ich manchmal durch den Garten gegangen und die engen Treppen emporgestiegen und habe das weiße Schild mit den schwarzen Buchstaben voll feindseliger und furchtbarer Erwartung wieder und immer wieder gelesen!

Dann trat ich ein und sah ihn breit und bequem am Tische sitzen und ihr Vorträge halten, oder Dicki österreichische Geschichte erzählen,  – denn er gab ihm eine »patriotische« Erziehung … und rasender Neid erfüllte mich, daß er der Vater ihres Kindes war.

Was für behagliche Szenen das scheinbar waren, am Kamin, im großen Zimmer,  – am Abend sah es ganz wohnlich aus  – der Hauptmann vielleicht gerade wohlgelaunt im Schaukelstuhl, und Dicki mit seinem Büchlein vor ihm; Rosa Maria auf dem Sofa in ihrem langen dunkeln Hauskleid, froh, daß ich scheinbar ruhig war  – während ich neben dem Kamin stand und rauchte, und schweigender, aber wilder Haß und Mordgedanken in mir waren.

Wie ich ihn verachtete, daß er nichts erriet! Wie fremd und verborgen mußte ihre Seele der seinen sein! Kein Hauch konnte über sie gleiten, ohne daß ich ihn bemerkte.

Er hatte die plebejische Gewohnheit, sie hie und da vor mir zu streicheln oder zu küssen, öfter aber, ihr Lehren oder Verbote zu erteilen, ja, ihr vor mir  – der ich doch für ihn ein Fremder war,  – Szenen zu machen, daß ich Tränen in ihren Augen sah.

Dann ging ich oft lange nicht in sein Haus.

 

Der Schnee lag dichter vor meinen Fenstern, und im Garten gegenüber ragten die kahlen kleinen Stämme junger Bäume aus der weißen Decke.

Ich vergaß jener Qualen wieder. Wenn sie bei mir war oder ich allein bei ihr plaudernd saß, bei »meinem lieben Freund,« wie ich sie an solchen Tagen, wenn ich ihr von mir erzählte, gerne nannte, war alles gut und warm und hoffnungsvoll; aber die einsamen Wege von meinem Hause fort und von ihr zurück ging ich in bitterer Unzufriedenheit.

Eines Vormittags, anfangs Dezember, traf ich sie zufällig im Belvederegarten und drängte sie, am nächsten Tag zu mir zu kommen. Sie wollte nicht, aber schließlich versprach sie es.

Dieser Tag war grau und finster, das Wetter naßkalt und kotig. Sie kam, und am Ausdruck ihres Gesichtes erkannte ich, daß irgend etwas vorgegangen war. Ich sprach nicht gleich, aber als ich sie in meine Arme nehmen wollte, sagte sie:

»Laß mich gehen! Ich bin ohnedies elend genug!«

»Rosa Maria!« sagte ich erschreckt.

Sie sah starr und traurig vor sich hin.

»Hab ich etwas getan? ohne es zu wissen?«

»O nein, du hast nichts getan! nur ich, nur ich! Und doch bin ich auf dich böse  – du hättest mich in Ruhe lassen sollen! Es kommt alles, wie ich es vorausgeahnt!«

Auf keine meiner Fragen gab sie eine Erklärung. Plötzlich warf sie sich in meine Arme  – ihre Küsse waren krampfhaft und heftig, und der Ausdruck ihres Gesichtes war verzerrt. In das müde Glücksgefühl, in dem ich zurückblieb, mischte sich eine unbestimmbare Angst.

Sie hatte versprochen, am nächsten Tage wiederzukommen. Ich hatte meine Furcht fast vergessen und wie gewöhnlich kleidete ich mich des Morgens mit Hast an. Meine Bedienerin bereitete bei Licht das Frühstück, räumte auf und wurde weggeschickt. Wieder ging ich in jener wilden steigenden Aufregung durch die Zimmer, in der ich sie immer erwartete; wieder stand ich spähend hinter dem Vorhang meines Fensters, bald ging ich durch die Zimmer zur Türe, weil ich vermeinte, ich hätte klopfen gehört  – immer nichts. Ein halbe Stunde war bereits über die bestimmte Zeit vergangen: plötzlich läutete es heftig an meiner Türe … ich öffnete rasch. Ein Dienstmann brachte einen Brief. Er war von ihr …

» – … Ich kann nicht länger deine Geliebte sein!« schrieb sie, »ich kann nicht! ich kann nicht! All die Schauder sind wieder da, die ich einmal gefühlt, und die ich nie wieder los werde. Eine Welle des Widerwillens steigt in mir auf, wenn ich in dein Zimmer trete, wenn du mir nahetrittst und mich verlangend ansiehst …

Ich bin ein zerbrochenes vergiftetes Geschöpf! Was soll dem guten Spieler das elende Instrument? Laß mich! Ich tauge nicht zu dir! So glücklich wollte ich dich machen, und nun muß ich dir so weh tun, du armer, geliebter Mensch! Immer noch bleibst du der feinste, entzückendste, dem ich begegnet bin  – aber ich kann nicht deine Geliebte sein! Und wenn ich frei wäre, wie der Vogel im Wald, ich käme nicht zu dir, nie! nie!

Oh, wie würde ich mich freuen, wenn du ein Weib fändest, das anders ist als ich, und für dich empfindet, was du verdienst  – aber selbst der Haß gegen mich selber und meinen elenden Leib und selbst die ferne leise Hoffnung, die ich fühle, können das Elend und den Schauder, den ich vor mir und dir empfinde, nicht besiegen. Leb wohl!«

Es war, als ob ein langes dunkles Gespenst hinter mir aus dem Boden stiege, mich hohnlachend beim Nacken packen und zur Erde stürzen würde. Alles wurde finster um mich, und meine Kniee zitterten so, daß ich nicht stehen konnte. Es war in der Tat ein Gespenst aufgestiegen  – ein Gespenst ihrer Vergangenheit.

Sie hatte es mir schon früher einmal gesagt, daß von ihrer ersten brutalen Vermählung her ihr ganzes Nervensystem eine Erschütterung erlitten, daß ein Schauder und Widerwille gegen jede Berührung des Mannes in ihr zurückgeblieben war, eine Todesangst, die sie jedesmal zu überwinden hatte  – unter süßen Liebesworten und zu meinem Entsetzen hatte sie mir das erzählt, und zugleich zu meiner unendlichen stolzen Mannesfreude, dies Schrecknis besiegt zu haben.

Und nun war es vernichtend wiedergekehrt, war dagewesen, ohne daß sie es mir gestanden hatte, unrein, erschreckend und gräßlich, die Folge des ersten Frevels, der an dem wunderbaren Geschöpf verübt worden war.

O Guido, kannst du begreifen, wie mir zu Mute ward?

Ich ging geradewegs zu ihr. Sie trug die Haare aufgelöst und war in einem dunkeln Morgenkleid. Krank und müde war der Ausdruck ihres Gesichts  – und mit schweigendem tiefstem Leide sah sie mich an. Aber sie wollte mir kaum die Hand geben, und als ich sie in meine Arme schließen wollte, sprang sie erschrocken zurück und warf sich auf ein Sofa. Zusammengekauert, vernichtet in Scham und Elend lag dieser hohe schlanke Leib vor mir. O Guido, wenn du das gesehen hättest, bis ans Ende deines Lebens würdest du es nicht vergessen können!

Ich sagte, was ich konnte, um sie zu beruhigen. Ich sagte ihr, daß das vorübergehen würde, ich versprach ihr, ein Bruder zur Schwester zu sein. Es war ja selbstverständlich, daß ich meine schreckhafte verwundete Mimose nicht berühren würde  – es gelang mir, wie so oft, sie froh und hoffnungsvoll zu stimmen.

Aber ich ging fort, den Tod in der Seele.

Das sind die Folgen rasender Frevel, die tagtäglich von Eltern an den eigenen Kindern begangen werden! Das ist das vierte Gebot! Das ist der infame Greuel, der zurückbleibt, wenn du die Decke wegziehst von dem, was man blasphemisch das Sakrament der Ehe nennt! Es ist freilich nicht jede Blume so fein, daß sie die Spuren der rohen Berührung in so furchtbarer Weise tragen muß  – aber gerade die feinsten sind es, die welken  – und wenn es nur einer geschehen wäre! Nie war ein Weib zur Liebe geschaffen, wie sie!

Aber es geschieht oft genug, und ärgeres geschieht noch in dem süßen Mysterium der Brautnacht, ärgeres noch!

Heute noch, nach soviel Jahren kann ich nicht daran denken, ohne daß mir das Blut in hilflosem Zorn zu Kopfe steigt! daß mir die Worte Fitgers einfallen, daß er den Himmel wohl entbehren könne, nicht aber Höllenstrafen für Menschen, die so tun! » Si quelque chose charactérise un siècle infâme, c'est une telle joie, c'est une telle union,« hat einer vor mehr als hundert Jahren geschrieben  – aber die Infamie setzt sich fort von Jahrhundert zu Jahrhundert, und weil solche Ehen geschlossen werden, darum sind die Menschen, die daraus entstehen, Krüppel und Schufte!

Wie ich diesen Tag verbracht habe, das weiß ich nicht mehr!

Aber desto besser weiß ich, wie die Nacht vergangen ist!

Kaum hatte ich das Licht ausgelöscht und die Augen geschlossen, als meine fieberisch erregte Phantasie zu spielen begann: ich sah das Weib, das ich liebte, noch ein junges zitterndes Geschöpf in vergeblicher Todesangst den Tag erwarten, vergeblich flehen, daß man ihr die Schmach und das Elend erspare. Ich sah das niederträchtige Hochzeitsfest, die Herren im Frack mit ihren zweideutigen lüsternen Späßen und Flüstern  – einige wenige ernstere vielleicht erschreckt, die ahnten, was vorging; ich hörte die verlogenen Trinksprüche auf das Glück des Brautpaares  – die lächelnden wohlwollenden Witze satter alter Herren, die sich den fettigen Mund abwischten. Und ich sah den Greuel selbst, die Nacht, die Angst, die Entweihung immer wieder  – ich sah, sah es unmittelbar vor mir, und immer wieder fuhr ich schreiend vor Wut, Angst und Mitleid empor  – und immer begann das entsetzliche Gesicht von neuem. Das war längst vorüber und geschah vor meinen Augen neben meinem Bett  – ich sah und hörte alles aufs deutlichste, mit jedem Nerven  – zehnmal zündete ich Licht an, um mich von den Schreckbildern zu befreien, und immer kamen sie im Dunkeln wieder. Ich war hilflos  – wie ich es in der Tat war, der Vergangenheit gegenüber, die mein Leben zerstörte.

Wut schwoll in mir auf gegen die noch Lebenden, die das verschuldet hatten  – alle Pein der Hölle, chinesische Martern hätte ich lachend an ihnen vollziehen lassen.

Das Scheusal selbst lebte noch: ein paar Tausend Schritte von mir entfernt saß er in Tobsucht oder kindisch lallend  – aber sein Gespenst mit dem hyänenhaften Maul saß auf meiner Decke und grinste mich an und hielt das weiße, zitternde, schreiende Weib in seinen Armen.

O Gott! wann werden diese Bilder mich verlassen!

 

So plötzlich, so unvermutet war der Schlag gekommen, auch von ihr so grausam gegeben, daß ich ein paar Tage mich überhaupt nicht zurechtfinden konnte.

»Mein Gott, wie Sie aussehen!« sagte Rosa Maria, als ich wieder zu ihr kam, und legte beide Hände vors Gesicht.

Das mußte getragen werden. Wir wußten uns beide keinen Rat.

»Komm zu mir,« sagte ich, »meine Schwester!  – Nicht deine Finger berühre ich! Aber komm zu mir, daß ich die Einsamkeit meines Zimmers ertrage, daß dein Duft nicht aus ihm weiche! Die Veilchen und Narzissen, die du mir gebracht hast, liegen verwelkt; meine Lade ist voll welker Rosenblätter, die neben deinen Briefen liegen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht,« sagte sie.

»Und ich kann ohne dich nicht leben!«

»Du mußt es versuchen!«

Ich ging fort, verzweifelt, und sann. Hatten wir wirklich verbotenes getan? was der Natur widerstrebte? und rächte sie sich nun? Nein, das konnte nicht sein. Wenn mich je an mir selbst etwas freute, so war es die Einheit von Sinnen und Seele, die ich von einander nicht trennte und nicht trennen konnte, so daß kein Zwiespalt und keine Erniedrigung in meinem Genusse war. Ihr Leib war mir süß und rein gewesen vom Scheitel zur Fußspitze, und ich freute mich der Reinheit und Gesundheit des meinen, seitdem er ihr Freude gab.

Nein, der Frevel lag ferne hinter uns. Wie ein bösartiges Ungetüm tauchte er aus den Tiefen der Vergangenheit empor und reckte seine Arme nach uns aus.

Nein, das war nicht der Traum meiner Sehnsucht gewesen, diese halbe Liebe einer Gebrochenen, die ich nicht aufrichten konnte; eine Spur von Abneigung begann in meinem Herzen zu keimen, ein leichter Schreck und Schauer, die aber sogleich wieder einer nur um so heftigeren Liebe Raum machten, schon weil ich soviel Mitleid mit ihr fühlte. Endlos hätte ich sie sanft küssen, ihre Haare streicheln und sagen können: »Sei ruhig! all diese Wunden muß die Liebe heilen!«

Und es schien auch so.

 

Zwei oder drei Wochen waren seit dem schrecklichen Brief vergangen. Es mochte etwa 4 Uhr nachmittags sein. Ich saß in trübem Sinnen auf meinem Sofa und starrte in das fast zerfallene Feuer; jedes der kleinen roten Kohlenstückchen schien einem glühenden Schlangenkopf zu gleichen.

Da läutete es. Jeder Besuch war mir willkommen, der mich aus meinen verzweiflungsvollen Träumen riß. Ich ging und öffnete und traute meinen Augen nicht: zwischen der Türe stand sie. Ich berührte kaum ihre Fingerspitzen, als ich sie hereinführte.

»Ja, ich bin's, ich bin wirklich zu dir gekommen. Ich hielt es nicht mehr aus, dich so unglücklich zu wissen.«

»Liebe, Süße, wie gut du bist!«

»O nicht das sagen, nicht das sagen! ich bin nicht gut, ich bin schlecht  – schlecht gegen dich und gegen alle!  –  –  –

 –  – Aber vergiß jetzt. Hier sind neue Veilchen und neue Narzissen für die alten und etwas, worin du sie länger halten sollst!« Sie zog aus ihrem Muff ein schlank gebauchtes, kleines, blaßrosa Glas hervor, das sie auf meinen Kamin stellte und mit den Blumen füllte.

Wieder brannten tausend Fackeln in dem dunkeln Zimmer. Sie verlangte, daß ich den bösen Brief verbrenne, sie wollte die argen Worte nicht mehr hören, sie hatte alles vergessen, was sie mir je gesagt oder gegen mich empfunden. Vor ihren Augen sollte ich ihn verbrennen. Die roten Schlangenköpfe züngelten einmal rasch empor, eine helle Flamme fuhr aus dem sterbenden Feuer auf, das verhängnisvolle Papier war vernichtet, und ein langer Kuß versöhnte unsere Lippen. Ich breitete das weiße Fell, das auf dem Sofa lag, vor den Kamin, in den ich neues Feuer schob, und wir setzten uns beide davor und plauderten. Aber unser Plaudern war stiller und erstarb in stummen Küssen  – immer enger, wilder umfaßten unsere Arme einander, und dann gab es kein Widerstehen …

»Böser, du hast mich geweckt!« rief sie, die großen heißen Augen auf mich gerichtet; und einen Augenblick später trug ich die süße zurücksinkende Gestalt auf das geliebte Lager hinüber.

Schon am nächsten Tage wollte sie wiederkehren; doch statt ihrer kam ein Zettel: »Kann nicht kommen, bin aber glücklich und hab dich lieb! veramente ti amo!«

 

In jenem Jahre war ein feuchter und milder Winter. Nur in seinen ersten Tagen und wieder gegen Weihnachten fiel starker Schnee. Die Straßen waren ganz weiß. Eines Tages sollte ich ihr mittags beim Hochstrahlbrunnen begegnen; sie hatte mich genau auf halbzwölf bestellt, aber die Glocke der Karlskirche läutete schon zu mittag, und sie war noch nicht da. In diesem Augenblick setzte ein plötzliches Schneegestöber ein, das die Luft verfinsterte, und gleichzeitig kam eine lange Reihe von Wagen aller Art, Lastwagen, Wagen vom Südbahnhof, Tramway und Omnibusse und die kleinen Wagen der Schneeschaufler mit den einzeln hintereinander trottenden Pferdchen, von allen Seiten den Weg und den Blick versperrend, und ich konnte Platz und Straßen nicht mehr übersehen. Ich war schon verzweifelt  – da auf einmal steht sie lachend vor mir, eine Kapuze über das weiße Gesicht geschlagen, schüttelt den Schnee ab, und reicht mir mit einem frohen »Da bin ich!« die Hand. Mit dem kleinen Fuß in ungeduldiger Freude stampfend ging sie durch den tiefen Schnee neben mir her  – sie hatte die Kapuze zurückgeschlagen und auf dem Mantel, dem blauen Kleide und auf ihren schwarzen Locken lagen die großen Flocken glitzernd wie weißes Geschmeide, ihr Gesicht war gerötet und strahlte  – gleichzeitig löste sich der weiße Schauer; wie ein Tuch senkte die letzte Schneeschicht sich zur Erde, und der Himmel blau wie ihr Kleid, lachte wieder. Weit konnte ich nicht mit ihr gehen, wir zeigten uns nicht gerne auf der Straße zusammen, besonders nicht in der inneren Stadt, wo ich zu vielen Bekannten begegnete; aber das Bild im Winter ist mir hell und freudig im Gedächtnis geblieben.

Ein andermal mußte sie mitten im Winter, ich weiß nicht mehr warum, nach Grinzing fahren. Dort, wo die Allee aufhört, die von Grinzing nach Döbling führt, stand ich wartend unter einer Laterne, und sah den einsam frierenden Bäumen entlang. Omnibusse fuhren schwer vorüber, in denen schläfrige Leute auf roten und blauen Ledersitzen durcheinander gerüttelt wurden  – meine Füße erfroren fast, und immer wieder zog ich die Uhr heraus. Da blitzten am Ende der Allee die Laternen eines Fiakers auf und schon hielt er, und schon sprang das unvorsichtige Weib auf der anderen Seite heraus  – aber im nächsten Augenblick waren wir beide wieder drinnen, eng umschlungen, und fuhren durch die dunklen Straßen hin. Als wir in die Stadt kamen, und der Laternenschein grell in die Wagenfenster fiel, hielt sie ängstlich den Muff vors Gesicht, während wir unsere aneinander geschmiegten Köpfe im Dunkeln zurücklehnten. Leise rollten die Räder des Wagens über den weichen Schnee, und während wir selig dahinfuhren, flog die weihnachtsweiße Welt an uns vorbei wie ein zerflatternder Traum auf weißen Kissen.

In diesen Tagen war es, daß sie erschrocken zu mir kam und sagte, sie fürchte, daß alles verraten sei. Ihr Mann habe heute einen Brief bekommen und sie so eigen angesehen und zunächst nichts gesagt. Dann habe er von mir zu sprechen angefangen, und sie sei mit ihm in Streit geraten, und er sei aufgesprungen, habe die Türe heftig zugeschlagen und sei in sein Kabinett gegangen.

Am vorhergehenden Tag war ihr ein Mensch weit nachgegangen, der sie zudringlich anbettelte, und obgleich sie ihm reichlich gegeben, unter geheimnißvollen Drohungen und Anspiegelungen mehr verlangte.

Wir sprachen, was wir tun wollten, wohin wir sogleich reisen würden  – und sie war so bereit dazu, daß ich selten eine größere Freude empfunden habe. So ganz war sie ihren Stimmungen unterworfen.

Aber die Angst erwies sich leider als blinde, der Brief hatte eine Rechnung enthalten, die der Hauptmann zu groß gefunden, und der Bettler war ein Spekulant gewesen.

Nie war unser Glück größer, als in jener kurzen Zeit der Versöhnung, und schon brach die alte Unzufriedenheit wieder durch. Als Weihnachten kam, und sie mit ihrem Mann und mit ihren Kindern von Wien fortfuhr, und ich allein zurückblieb, war ich böse und unglücklich und ihre leidenschaftlichen Glückwünsche erwiderte ich kaum.

»Was habe ich mit einer fremden Frau zu tun?«, sagte ich bitter, »die bei fremden Leuten Weihnachten feiert?«

Erst nach dem Dreikönigstag kam sie nach Wien zurück, eifrig im Hause beschäftigt und strahlend: ihr Mann hatte den Majorstitel ad honores erhalten. Nun gab es Banquette bei ihr selbst, bei Huebers, bei ehemaligen Regimentskameraden, zu welchen allen ich nicht geladen wurde. Ich war natürlich auch gratulieren gekommen, aber nur um wieder fortzugehen  – denn sie kam in einem grünen ausgeschnittenen Seidenkleide; ich mußte sie vorsichtig küssen, und wir hatten gerade Zeit auseinander zu fahren, als der Major in Uniform, mit seinen zwei kleinen Orden, eintrat; ich konnte noch mit beiden die Treppe hinunter und durch den Garten auf die Straße gehen, wo sie, das schwere Schleppkleid hebend, in den Wagen stieg und mit ihm davonfuhr; während ich auf dem nassen Pflaster stand und nachsah, und dachte, wie viele Augen sie heute entzücken würde. In welchem Zorn ich da nach Hause ging, jede Minute verwünschend, in der ich mich ihrer Nähe nicht erfreuen konnte!  – und doch manchmal freudig durchblitzt von dem Gedanken, daß keiner von allen, die um sie waren, ihr so nahe war, wie ich. Törichterweise ging ich in das Hotel nachtmahlen, in dem ich im vergangenen Frühjahr gewohnt hatte, und den gelben Vorhang vom Fenster, an dem ich saß, wegziehend, sah ich nach den hell erleuchteten Fenstern bei Huebers hinüber, und suchte aus den vorübergleitenden Schatten den ihren zu erraten. Hätte ich ihr doch noch sagen können, sie möge einmal ans Fenster kommen, und herübersehen.

 

Bei der Heimfahrt von einem dieser Diners holte sich der Major eine schwere Erkältung, die zu einer Lungenentzündung ward und ihn durch Wochen in Lebensgefahr brachte. Ich weiß, daß Rosa Maria die treueste Pflegerin war, daß ich ganz und gar auf sie verzichten mußte, daß sie Nächte lang an seinem Bette saß und so elend aussah, daß ich und alle sie bestürmen mußten, doch endlich auch zu schlafen. Clemence half ihr und löste sie ab, wenn sie es zuließ.

Aber errätst du, welche Gedanken in meiner Brust waren? welche entsetzlichen Hoffnungen und Befürchtungen mich an jedem Tag bestürmten, an dem ich mich nach dem Befinden des Kranken erkundigen ging? Es war, als ob das Schicksal mir keine Seelenqual ersparen wollte. Ich hätte  – ihr zuliebe  – den besten Arzt herbeigeschafft; wenn ich das einzige Heilmittel gewußt, das ihn retten konnte, ich hätte es gegeben, wenn sie darum gebeten hätte  – aber meine Empfindungen waren anderer Art!

Langsam erholte der Major sich wieder, und die ungeheuchelte Freude Rosa Maria's war mir unerträglich.

Nächte lang ging ich in den Straßen umher mit dem kindischen Wunsch, selbst krank zu werden, zu sterben, um diesen Qualen zu entgehen. Dann hätte sie um mich getrauert.

Aber es kam anders.

Sobald der Major ausgehen konnte, wollten die Aerzte, daß er nach dem Süden reise, und seine Frau sollte ihn begleiten. Im letzten Augenblick entschlossen sie sich anders: der Major wurde zu Anna Maria nach Mailand eingeladen, Peter der Jüngere sollte als Reisebegleiter mitfahren und Rosa Maria bei den Kindern bleiben.

Am Abend nach seiner Abreise kam ich zu ihr. Sie saß auf der Erde und spielte mit dem kleinen Buben, während Dosi mit ihrem ernsten Kindergesichtchen schweigend zusah. Der Bub aber richtete eine Kanone nach mir und sagte: »Jetzt schieße ich den Onkel tot!«

Ich wußte mit den Kindern nie etwas rechtes anzufangen; ich hatte sie lieb, weil es die ihren waren, aber ich war viel zu bewegt, wenn ich bei ihr war, daß ich mit ihnen viel hätte reden können; ich gab irgend eine gleichgültige Antwort.

»So, Onkel Felix, nun ist dein letztes Stündlein gekommen!« rief Dicki.

Rosa Maria reichte mir die Hand. Ihre leisesten Regungen konnten mir nicht verborgen bleiben und an der Art, wie sie mir die Hand reichte, merkte ich, daß irgend etwas in ihr vorgegangen war. Jetzt sah ich auch, daß ihr Gesicht gramvoll und traurig war; sie hatte ein schweres Tuch umgeschlagen, als ob sie friere. »Setzen Sie sich, lieber Freund!« sagte sie und dann sprach sie nichts mehr. Auch an dem Spiel Dicki's nahm sie nicht mehr teil.

Mit dem scheuen Takt, den der Knabe hatte, ging er von uns fort. Sie stand von der Erde auf und setzte sich auf ein kleines Sofa neben mir. Ich liebkoste ihre Haare und schlang die Arme um sie  – sie ließ es geschehen, aber sie sprach wenig und gab auf meine Worte nur karge Antworten.

»Was hast du nur, Geliebte?« fragte ich.

»Nichts, ich bin nicht wohl, ich bin nicht sehr wohl«, war die Antwort, und nach einer Weile: »Eduard hat schon telegraphiert, daß er gut angekommen ist.«

Das interessierte mich nun gar nicht. Ich war froh, daß er fort war. Ich war in dieser langen Zeit eifersüchtig genug auf ihn gewesen.  –

Wir gingen in den Salon. Vergeblich drang ich in sie, mir zu sagen, was sie denn habe, was ihr sei.

»Frage lieber nicht«, sagte sie.

»Das ist nicht zu ertragen!« rief ich aus.

»Nein, es ist nicht zu ertragen, du hast recht. Und ich begreife nicht, daß du's ertragen kannst!«

»Rosa Maria!« sagte ich. »Haben wir einander nicht versprochen, alles sogleich zu sagen, was wir einer gegen den anderen hätten? Du hast etwas gegen mich.«  –

Sie sah mich mit dem eigentümlich starren Ausdruck an, den ihr Gesicht manchmal annahm.

»Du willst es durchaus wissen? gut, du sollst es wissen, aber nicht jetzt! Du hast ja ganz recht  – wie kannst du dir das gefallen lassen, wie kannst du das annehmen? Du hast ganz Recht! Ich werde dir alles sagen, aber nicht jetzt; nicht hier!«

»Komm morgen zu mir!« bat ich.

»Ich werde kommen!« sagte sie. »Ich werde kommen!« Ihre Augen waren ganz groß und starr geworden. »Ich werde kommen, zweifle nicht! Aber jetzt gehe, ich bitte dich, gehe!«

»Rosa Maria!« rief ich, »um Gotteswillen! was ist denn wieder geschehen!«

»Gehe, ich bitte dich, ich beschwöre dich, gehe! Morgen um elf Uhr werde ich bei dir sein.«

 

Hätte ich doch den Kopf oben behalten, wäre ich ruhig geblieben! Aber ich war erregt und zerstört  – haltlos wie ein Baum im Wasser, aus dessen Wurzeln die Wellen das Erdreich weggespült haben, zittert und schwankt.

Sie kam, so ernst und finster, wie ich sie nie gesehen hatte.

»Es muß ein Ende haben,« sagte sie, »es geht nicht mehr. Ich kann dieses Doppelleben nicht weiter führen. Eduard's Krankheit war eine Warnung für mich. Ich gehöre zu ihm und zu meinen Kindern. Ich kann nicht mehr!«

Ich weiß nicht mehr, was ich erwiderte. Ich war wie betäubt.

»Rosa Maria! Was ist wieder? Was soll das? Das ist ja sinnlos!«

»Ich sage dir, daß ich nicht so weiter leben kann  – daß mein Leben mir ein Grauen ist!«

Ich trat auf sie zu und faßte ihre Hände. »Hast du mich nicht mehr lieb?«

Sie machte sich los.  – »Laß mich! Nein!« rief sie und sah mich mit starren bösen Augen an.

»Rosa Maria!«

»Ich weiß nicht! Ich weiß nichts!« rief sie gequält. »Ich weiß nur, daß es so nicht geht, daß ein Ende sein muß!«

»Herr Gott!« rief ich »und das sagst du mir so ohne weiteres? Nach allem, was zwischen uns war? War denn das alles nichts, als ein elendes Sommerabenteuer? War denn dir das alles nichts? Was war ich denn für dich?«

Sie bewegte die Lippen, als wollte sie reden.

»Denke doch, denke doch, was du sprichst, Rosa Maria!« fuhr ich fort. »Es ist ja ohne Sinn! Warum hast du dich mir geschenkt? nur um mich zu berauschen, nur um mich toll zu machen und mir alles wieder zu nehmen?! … Du zerbrichst mich ja …«

»Du wirst es überwinden! Ich bin's, die zu Grunde geht, ich! Egoismus gegen Egoismus, wenn du willst!« rief sie, »ich ertrage es nicht! Was weißt denn du von mir? was weißt denn du von meinen Kämpfen, meinen Qualen von Anfang an?«

»Ich glaube es dir, Rosa Maria! Ich glaub' es dir  – aber warum bleibst du in solch einer Lage? Tu' offen, was sein muß, und komm mit mir! Dann hat alle Unwahrheit ein Ende! Komm ganz zu mir!«

»Nie! Nie!«

Ich starrte sie an.

»Wie elend verdirbst du das, was war!« sagte ich. »Welches Recht hab' ich gehabt, dich zu nehmen?«

»Hättest du's nie getan!«

Ich ging verzweifelt auf und ab.

»Weißt du, was du aus mir machst: einen Schurken! Welches Recht hatte ich, in ein fremdes Haus zu treten, wenn es nicht geschah, um dich zu erheben  – aus Lust allein hab ich's nicht getan! Aber du, du hattest ja gar kein Verlangen nach einem reineren, menschlicheren Leben  –  – Ja wolltest du denn nichts, als bißchen Abwechslung!!!« schrie ich, »sonst nichts!?«

»Sag' und glaube von mir, was du willst!« sagte sie. »Ich werde mich nicht loben … Vielleicht hast du recht  – ich weiß nur, daß ich nicht anders kann.«

»Ich aber kann nicht mehr ohne dich leben, Rosa Maria!  –  – Man zerreißt eine Liebe, wie die unsere, nicht so! Und wofür?! wofür?«

»O ich weiß, für ein elendes Leben! aber besser ein elendes Leben, als diese endlose Qual!«

»Glaube nicht, daß du mich vergessen wirst. Glaube nicht, daß du auch nur so leben können wirst, wie bevor du mich gekannt hast!«

»Noch elender!« rief sie, »noch elender! zehnfach elend! Auch gut!«

Sie war außer sich.

»Aber was rede ich denn da!« rief ich, »ich gebe es nicht zu! ich lasse mich nicht so abtun  – und für wen? Um einen Menschen, der dich ruiniert, einen Menschen, mit dem kein vornehmer Mensch auch nur umgehen will, dem ich mich sittlich, geistig, körperlich überlegen fühle! Wie kannst du mich, wie dich so erniedrigen!«

»Du kennst ihn nicht!« sagte sie.»

»Ich kenne ihn sehr gut, und viele kennen ihn! Frage Clemence, wie sie über deine Ehe denkt, wie sie dich verachtet, daß du nicht längst aus dem Hause gegangen bist!«

»Clemence versteht ihn nicht!«

»Es scheint, daß ihn eben niemand versteht! Ich verstehe dich vor allem nicht!« sagte ich ruhiger, »sieh' ich kenne dich so gut, alles an dir ist fein und vornehm  – wo ist das Niedrige und Gemeine in dir, das dich an einem niedrigen Menschen festhält?«

»Er ist kein niedriger Mensch! Er war unendlich gut zu mir, als ich ganz unglücklich und verlassen war. Und ich hab' ihn dafür betrogen!«

»Sei dem wie immer, du mußt eben wählen zwischen ihm und mir!«

»Ihn! Ihn!«

»Rosa Maria! Und du hast mich geliebt?!«

»Dann war ich eben irrsinnig! Ich war viel glücklicher mit ihm als mit dir! Viel glücklicher!«

Was sollte ich erwidern? Jedes Wort war ein Messerschnitt, der eine Sehne meiner Kraft löste. Ein ungeheurer Zorn stieg in mir auf; ich war gleichfalls außer mir.

»Glaube nicht, daß ich zusehen, daß ich das dulden werde,« schrie ich, »und zusehen, wie du mit ihm weiterlebst. Ich dulde es einfach nicht! Ich werde euch nicht existieren lassen! Ich lasse dich nicht mit einem Menschen, den ich hasse, den ich verachte, dessen Hände ich nicht berühren möchte!«

Ich ging auf sie zu. Sie stieß mich mit der Hand zurück und sah mich mit wilden Augen an.

»Tu mir das Aergste, was du kannst!« sagte sie. »Verrate mich! Richte mich zu Grunde! Aber tu' ihm nichts!«

Sie setzte die Worte mit jener tödlichen Grausamkeit, die die schwächste Frau zu finden weiß, wenn sie gereizt ist.

»Du weißt gut,« sagte ich langsam, »daß ich dir nichts tun werde! Aber Rosa Maria! Rosa Maria! Liebste  – wie kann das sein? Wie kann das so plötzlich kommen? Solches Glück so plötzlich vernichtet werden!? Denke doch, was du tust!«

Sie saß auf dem Sofa, ich warf mich neben sie hin, das Gesicht nach unten, ich konnte mich nicht mehr halten  – zuviel Qual war seit langem in mir gehäuft  – ich, der ich nie weinen kann, weinte wie ein armseliges Kind.

»Felix! Felix! Felix!« rief sie und streichelte meine Haare und suchte mich zu beruhigen.

Ich küßte ihre Hände.

Sie stand auf und ging durchs Zimmer auf ihren Hut zu, kehrte aber wieder um und sagte: »Hass' mich nicht! Felix! Hörst du! Hass' mich nicht!«

Sie nahm Hut und Jacke. Ich nahm sie ihr weg. Alle Worte und alles, was sie gesprochen, begann von neuem. Eine ungeschlachte Wut gegen den Andern ergriff mich, die mich zu tobenden Ausfällen trieb  – bis das Lächerliche und Unwürdige dieses Streites mich unwiderstehlich ergriff, und ich in ein nervöses Lachen ausbrach, das mich schüttelte und das ich nicht los werden konnte. Ich mußte lachen und immer wieder lachen.

Sie sah mich ganz erschrocken an:

»Lach nicht so, Felix!« rief sie, »laß dich nicht so gehen! Spiel nicht Komödie!«

Da wurde ich ganz ruhig. Ein Gedanke kam mir blitzartig und leuchtend, und mit solcher Freude durchfuhr er mich, daß ich sie nicht beschreiben kann. Ich habe manches in diesem Augenblick verstanden. Ich wußte nun, ich brauchte nur ins Nebenzimmer zu treten und den Schrank zu öffnen  –  – ein Druck genügte, die ganze Qual für immer zu enden. Eine eigene klare Ruhe kam über mich, eine Art von Helle und Seligkeit, und ich sagte:

»Gehe nun, Rosa Maria, es ist alles gut, gehe nun!«

Es muß in meinem Gesicht etwas davon geleuchtet haben, denn sie blieb stehen und sagte ängstlich:

»Was wirst du jetzt tun, Felix, wenn ich fort bin?«

»Das kann dir nun wohl gleichgültig sein. Es ist schon gut. Gehe! Ich halte dich nicht. Warum gehst du nicht?«

Sie ging ein paar Schritte der Tür zu. Plötzlich aber kehrte sie um und ging geradewegs in mein Schlafzimmer. Die Türe stand offen, und ich sah, wie sie an meinem Bett mit gesenktem Haupt schweigend stehen blieb. Es sah wirklich aus, als ob sie für mich gebetet hätte. Aber sie glaubte ja an keine gütige Macht mehr.

Da aber hielt ich nicht mehr an mich. Ich ging ihr nach, setzte mich aufs Bett, schlang meine Arme um ihren Leib und sagte:

»Verlaß mich nicht, Rosa Maria! Ich habe dich lieb, und du hast mich auch lieb! wirf das nicht alles fort, tue nicht, was ein furchtbarer Augenblick, eine plötzliche Qual dich zu tun treibt! Es wird wieder anders in dir werden! Zerbrich mich nicht! denn ich gehe daran zugrunde. Und du wirst's nicht ertragen, mich zugrunde gerichtet zu haben. Ich bin nicht so stark, wie du glaubst. Meine ganze Seele ist eine Wunde, soweit du sie berührt hast, und wo wäre etwas in meiner Seele, daß du nicht berührt hast? Komm wieder, Rosa Maria! Laß eine Zeit vergehen und komm wieder!«

Zärtlich wie eine Mutter ein weinendes Kind küßt, küßte sie mich wiederholt auf Mund und Stirne.

»Gut!« sagte sie, »verreise auf vier Wochen und dann komm zu uns!«

»Vier Wochen!« rief ich, »nein, dann lebe ich nicht mehr. Heut' ist der zwölfte  – am ersten nächsten Monats komme zu mir!«

»Laß mich nicht zu dir kommen! Laß mich nicht mehr hierher kommen!« rief sie flehentlich, indem sie die Arme um meinen Hals schlang und ihren ganzen Leib zitternd an mich preßte  … »Nie mehr!«

»Gut, komm' nicht mehr,« sagte ich, »am ersten des nächsten Monats um vier Uhr bin ich bei dir!«

»Lieber!« sagte sie, »Lebwohl! Sei nicht böse auf mich! Ich kann nicht anders! Ich hab' dir's ja gesagt, daß ich ein armes schwaches, feiges Geschöpf bin, das nicht aushält. Leb' wohl, du lieber Mensch!«

»Leb' wohl, Rosa Maria!« sagte ich.

 

Die Türe fiel zu. Das Zimmer war leer. Das Feuer war ausgegangen. Es war finster und kalt. Einen Augenblick wollte ich ihr nachstürzen, dann kehrte ich hoffnungslos um und setzte mich nieder. Ich war ganz stumpf und apathisch. Es war kein Gedanke und keine Empfindung in mir. Das Glück war ausgegangen, und eine große graue Leere war da. Es war gleichgültig.

Drinnen im Schlafzimmer begann meine Weckuhr zu läuten; das Zeichen, daß ich mich anzukleiden hatte! Ich war zu Tische eingeladen. Mechanisch begann ich die Kleider zu wechseln und wunderte mich nur, daß mir alles so schwer ward; den Rock auf den Sessel zu legen, schien eine Leistung für einen Riesen zu sein. Alle Dinge hatten ein unbekanntes, sonderbares Gewicht.

Ich war fast völlig angekleidet und trat vor den Spiegel,  – da, als ich mich gleichsam mir selber gegenüber sah: es war, als wäre ein zweiter Mensch im Zimmer, der mich mit blassen, verzerrten Zügen anstarrte,  – da, wie mit einem furchtbaren Stoß, kam das Bewußtsein dessen, was geschehen, wieder über mich.

Es war ja gar nicht möglich, daß ich unter Menschen ging. Gar nicht möglich. Das fühlte ich erst. Mit unsäglicher Mühe schrieb ich eine Karte, in der ich mich wegen plötzlichen Unwohlseins entschuldigte.

Dann ging ich ins Gasthaus. Ich weiß nicht, ob jener Tag wirklich der finsterste des ganzen Winters war, oder ob er mir nur so schien. Es war grau auf den Straßen, ganz finster im Saale. Das Sprechen der Menschen, das Gehen der Kellner, das Klopfen der Messer und Gabeln tat mir schneidend weh. Mechanisch setzte ich mich nieder und bestellte. Dann sah ich mich um. Lauter unglückliche müde Menschen saßen an den Tischen, und viele starrten mich an. Alle waren vom Leben, von Sorgen und Enttäuschungen aufgerieben und sahen stumpf vor sich hin, und die, die lachten, lachten gezwungen. Alle sahen gemein und elend aus. Männer und Frauen. Zu denen gehörte ich jetzt auch.

Und ich erinnerte mich, wie viele Tage ich hier gespeist hatte, voll innerlichen Frohlockens, wenn ich sie erwartete oder im Begriff war, zu ihr zu gehen. Die Kellner wurden von meiner schweigenden Freudigkeit angesteckt, und solcher innerer Heiterkeit war ich voll gewesen, daß ich den Leuten ins Gesicht lächelte; jede junge Frau, die an den nahen Tischen gesessen, hatte mit irgend einer Freundlichkeit im Ausdruck nach mir geblickt,  – es war, als hätte sie gefühlt, daß um mich Liebe war.

Und jetzt! Das war unerträglich; ich konnte hier nicht bleiben. Ich rührte das Essen nicht an und ging fort. Ich ging meiner Wohnung zu, aber ich fürchtete mich einzutreten und ging, ging, ziellos durch die Straßen; endlich setzte ich mich in ein Caféhaus und starrte durch die Scheiben hinaus. An einem Tisch in meiner Nähe saßen ein paar Herren, die Schach spielten, und andere, die ihnen zusahen; einer stand auf und kam auf mich zu.

»Guten Abend, Felix!«

Es war mein Vater.

»Guten Abend, Papa,« sagte ich.

»Warum warst du heute nicht bei Mann zu Tische? Du hast Unwohlsein angegeben. Du siehst übrigens wirklich schlecht aus!«

»Ich habe Kopfschmerzen, Papa!«

»Es war eine junge Dame da, die sehr enttäuscht war, dich nicht zu sehen, Mathilde Claudy. Du, Felix, ich glaube, der Dr. Mann hatte Absichten, als er dich zu ihr einlud; ich habe sie statt deiner zu Tische geführt!«

»Du hast sie sicherlich besser unterhalten, Papa, als ich es getan hätte. Ich habe wirklich Kopfschmerzen und ich interessiere mich nicht für junge Damen!«

»Du siehst wirklich schlecht aus. Es ist ein Elend mit uns allen, Felix. Auch mir geht's wieder sehr schlecht.«

»Ich bedauere sehr, Papa  – ich komme morgen mittag zu Euch. Grüß die Mutter und die Mädeln.«

Ich konnte nicht mehr reden. Jedes Wort löste sich wie mit schmerzhaftem Schlucken aus meiner Kehle. Und der Anblick meines Vaters mit den spärlichen grau-blonden Haaren, dem müden Gesicht und dem Stock, auf den er sich stützte, erregte in mir ein Gefühl der gemeinsamen Unzulänglichkeit, eines bittern Erbes, daß unser Schicksal verdarb  – eine Aussicht auf ein langsames Hinsiechen und Versitzen des Lebens. Eben war ich aufgeflogen  – und schon war mir die Schwinge gebrochen. Was und wer Schuld tragen mochte  – mein Schicksal war schließlich das Echo meines Wesens. »Duck dich!« dachte ich mir.

Ich ging fort. Auf dem Stefansplatz blieb ich stehen und sah das Wechseln der Stellwagen; die Kutscher und Kondukteure stampften mit den Füßen  – mir war nicht kalt. Die Laternen wurden angezündet. Menschen kamen und gingen durch den Nebel.

Auf einmal erfaßte mich ein Gedanke. War nicht heute der Tag, an dem die regelmäßige Whistpartie bei den alten Bréal stattfand  – und konnte sie nicht, wenn auch der Major verreist war, dennoch dort sein? An solchen Tagen führte sie die Kinder zur Jause zu den Großeltern, und sie wurden vom Fräulein nach Hause gebracht.

Mehr als des Gedankens brauchte es nicht. Ich saß bereits in einem Wagen und fuhr in den siebenten Bezirk hinaus, wo die Alten wohnten. Ich hatte sie bereits ein oder zweimal besucht, man war nicht überrascht über mein Kommen. Nur war es noch zu früh. Der Regierungsrat saß in Pantoffeln, einen Fez auf dem Kopf, in einem roten Lederfauteuil und ließ sich die Zeitung vorlesen. Frau Bréal empfing mich in ihrer monotonen Weise.

Sie war lang und mager, ganz schwarz gekleidet, und ich blickte in ihr vergrämtes, hart gewordenes Gesicht, in die Züge, aus denen ewige Sorge und Berechnung alles kindhafte, das den Menschen sonst bleibt, gestrichen hatten. Und doch mußten in ihrer fernen, fernen Jugend, längst begraben unter der Last und der Dürre ihres Lebens, geheime Quellen gerauscht haben, kurze, sonnenbeschienene Frühlinge gewesen sein, denen jenes wundersame Geschöpf entsprungen war. Das war ihre Mutter! ihre Mutter!

Die Lampe brannte trüb, durch die geöffnete Türe sah ich im Schlafzimmer des frommen Paares das große Kruzifix über den Betten hängen. Und ich mußte nun reden, vor diesen Menschen, denen ich nicht nur nichts zu sagen hatte, die ich haßte als die ersten Urheber all meines Unglücks. Oder waren sie es wirklich? Dieser ganze Tag hatte etwas so unwahrscheinliches.

»Der Sprachunterricht in den Mittelschulen wird sehr unvernünftig erteilt,« sagte der alte Bréal.

In mir wiederholte ich: »Der Sprachunterricht in den Mittelschulen wird sehr unvernünftig erteilt. Ja gewiß!«

»Bleiben Sie zum Kaffee? nicht wahr?« sagte Frau Bréal.

»Wenn Sie erlauben, gnädige Frau!«

»Die modernen Sprachen sind viel wichtiger; aber sie werden zu gunsten der klassischen Sprachen vernachlässigt.«

Ich dachte an den Augenblick, wo sie eintreten würde. Ich zweifelte garnicht, daß sie kommen mußte.

Es läutete. Der Bergrat kam mit seiner Frau. Sie klagte über das naßkalte Wetter.

Es läutete wieder. Clemence trat ein.

»Heute kommen ja die seltensten Besuche,« sagte der Regierungsrat.

Ich dachte oft, daß Clemence ahnen mußte, was zwischen mir und Rosa Maria sei; aber jedenfalls machte sie nie eine Andeutung. Die Arme hatte selbst des Unglücks genug gehabt, sie hätte uns sicherlich geholfen, wenn wir es begehrt hätten.

Jetzt läutete es wieder  – das war sie. Sie stürzte fast einen Schritt zurück, als sie mich sah, aber sie faßte sich sogleich, und ich kam ihr mit ein paar wohlvorbereiteten Worten zu Hilfe.

»Wo sind die Kinder?« fragte der Großvater.

»Ich halte das Wetter für zu kalt und trübe. Nein, nein, sie sind ganz gesund, und eben deshalb bin ich gekommen, damit Ihr nicht besorgt seid.«

»Was für Nachrichten von Eduard?«

»Oh, sehr gute. In zehn Tagen kommt er zurück. Wie geht es Ihnen?« fragte sie zu mir gewendet.

»Danke, recht gut, gnädige Frau!« gab ich zur Antwort.

Man setzte sich um den Kaffeetisch. Auf der Schwelle, an mir vorüberstreifend, sagte sie rasch und leise: »Wie kommen Sie hier her? Ich freue mich!« Ich saß neben ihr. War das ein Abend! Wie der Abend eines Todgeweihten oder auch wie der eines Wiederauferstandenen. Ueberreizt und aufgeregt redete ich lebhaft und viel und unterhielt alle. Sie merkte es wohl; jedes ihrer Worte war, für die andern unmerkbar, gewählt, um mir wohlzutun, wie Balsam; sie spielte auf tausend Dinge und Ereignisse an, die nur ich verstehen konnte, sie trachtete mich zu bedienen; jeder Blick war der eines Menschen, der erschrocken und von Reue erfüllt ist über die Wunden, die er geschlagen.

Nach dem Kaffee setzten sich der Regierungsrat, seine Frau und der Bergrat zum Whist. Clemence, Rosa Maria, die Bergrätin und ich plauderten. Aber die Dummheit der Tante und ihre langwierigen Gemeinplätze zerstörten jedes Gespräch. Endlich ging Rosa Maria ans Klavier und begann leise zu singen. Es war ein beständiges Leid gewesen, daß sie bei mir nicht singen konnte, weil sie ihre Anwesenheit verraten hätte. Jetzt setzte Clemence sich zu ihr und begann sie zu begleiten, und Rosa Maria sang  – dasselbe Lied, das sie mir an jenem Abend bei Clemence vorgesungen hatte:

» O, cosa c'era quel fior che m'hai dato?
Era un filtro, un arcano poter?
Nel toccando il cor m'ha tremato …
«

Was war sie in ihrer Schwäche und Güte für ein furchtbares Weib! Und während die Klänge um mich rauschten, die mir so tief in die Seele gedrungen waren, fühlte ich, wie vollkommen ich vom »Filtro« besessen, wie ich in der ungeheuren Sehnsucht, die ich empfand, willenlos an sie gefesselt war. Alles an ihr war unwiderstehlich  – jeder Gedanke an ihren Leib, der mir so nah, so verhüllt und so fern war, machte mich toll. Ihre Stimme riß meinen Sinn wie auf abendlichen Wassern fort … ein Ausruhen kam über mich … da schlug sie plötzlich um und ward heiser  – und ich dachte: alles an dir haben sie verdorben, die Elenden, das Talent, das dir ward, um andere zu entzücken, gerade wie den zur Liebe geschaffenen Leib.

Als wir nach Hause gingen, war Frost eingetreten, der Nebel war verschwunden, und der Boden knisterte unter unseren Schritten. Einen Augenblick lang ging ich allein neben ihr her:

»Darf ich Sie in drei Tagen besuchen?« fragte ich.

»Ja, kommen Sie, ich bin froh, daß ich Sie getroffen habe, ich war so in Angst. Aber jetzt gehen Sie nach Haus. Sie klappern ja mit den Zähnen. Sie werden krank werden. Es ist so furchtbar kalt.«

»Es ist Sommer! es ist Frühling!« sagte ich.

»Du Armer, du mußt mich wohl sehr lieb haben!  –  –  – Findest du nicht, Tante Paula, daß es eine wunderhübsche Nacht ist?«

Bei der nächsten Straßenecke mußte ich mich verabschieden, um Clemence zur Tramway zu begleiten.

»Rosa Maria gefällt mir nicht!« sagte sie. »Haben Sie nicht bemerkt, wie blaß sie aussieht?«

Ja, ich hatte es bemerkt; sie hatte ja durch die Krankheit ihres Mannes soviel Mühe und Sorge gehabt.

»Ja, das ist wahr«, sagte Clemence und schwieg.

Aber als sie mir die Hand zum Abschied reichte, sah sie mir ins Gesicht und sagte: »Gehen Sie fort von Wien, Felix! gehen Sie weit fort! Ich rate es Ihnen! und kommen Sie nicht zurück! lange nicht!«

Sie sprach kein Wort mehr, der Wagen hielt eben, und sie stieg ein.

Was wußte sie? oder was dachte sie? Aber einerlei, sie würde uns nicht verraten.

Drei Tage später saß ich Rosa Maria an einem hellen Vormittag gegenüber.

»Geliebte«, sagte ich, »habe keine Angst; es wird alles gut werden. Dich sehen ist mehr, als alle Weiber der Welt besitzen. Wir wollen Liebender und Geliebte, Bruder und Schwester, beides in einem andern Sinne sein, als die Welt es versteht.«

In diesem Augenblick glaubte ich das wirklich.

»Du Lieber«, sagte sie und streichelte meine Wangen.

Dann öffnete sie die Lade ihres Schreibtisches und nahm ein großes steifes Couvert heraus: zwei Photographien, Bilder, die ihre ganze Figur zeigten, die ich mir schon lange gewünscht und die sie jetzt für mich bestellt hatte.

»O, Clemence«, dachte ich, als sie mich zum Abschied küßte, »wenn du heute hier wärst, wenn du diese Küsse fühltest, würdest du mir wohl zu reisen raten?«

Und ich ging, flammende Hoffnung nährend unter einer starren Decke von Pein.

 

Es wäre sicherlich alles gut geworden, wenn ich mit ihr hätte leben können, wenn mein Einfluß, der Klang meiner Worte, mit denen ich sie immer berauschen und beleben konnte, meine Hoffnungsfreudigkeit immer um sie gewesen wären, nein, wenn ich nur einen Tag lang sie im Bann meines Wesens hätte halten können  – und wenn der Major nicht wieder gekommen wäre.

Wenn ich sie bei Bekannten traf, oder wenn ich zu ihr kam, und sie von unendlichen Hausgeschäften  – die plötzlich irgendwie vermehrt schienen  – müde dasaß oder mit den Kindern lernte, von Zeit zu Zeit mit traurigen Blicken mich ansah, in denen soviel Liebe war, sprach ich Worte der Hoffnung, mich und sie überzeugend.

Hoffnung worauf? Auf ein unbestimmtes, scheinbar verheißenes Glück. Denn so konnte solch ein Liebessturm doch nicht enden!

»O, was können Sie einem für Freude machen!« sagte sie einmal, »mit Ihrem sonnigen Wesen! Ein Quell bist du, Lieber, der mich immer wieder erfrischt. Und du mußt arbeiten, und irgend etwas Großes muß aus dir werden, daß ich, deine Schwester, mich deiner freue! Ich habe nie einen Bruder gehabt, und mir immer Brüder gewünscht. Nun habe ich einen und will mich an ihm freuen.«

Was für ein Geschwisterpaar wir waren, Guido! So haben sich Bruder und Schwester nie geküßt, so nie sich entfremdet, so nie zueinander gestrebt! Und was für Qualen solche Worte für mich waren, was für Qualen! Und sie waren die geringsten, denn solche Augenblicke waren ja die besten dieser traurigen Zeit.

Aber wenn ich von ihr fern war, wenn ich sie tage- und wochenlang nicht sehen konnte, sank meine Hoffnung. Der Verlust war zu groß. Mein ganzer Sieg war mir entrissen und entwertet; und als Wochen vergingen und es nicht anders ward, da wurden die Schwingen meiner Seele müde.

Kannst du dir meine Tage vorstellen in dem öden trüben Winter? Ich ging viel in Gesellschaft  – du wundertest dich, als ich auf einmal wieder damit begann, aber ich ging absichtlich. Ich erwies mehreren hübschen Frauen soviel Aufmerksamkeit als möglich, und zeigte mich ihnen, so oft ich konnte, ich machte überhaupt viel den Hof und ich hatte die Ehre, die grundlose Eifersucht mehrerer Gatten auf mich zu ziehen. War das komisch! Der Herr hat diese Leute in der Tat zur Volksbelustigung geschaffen. Und Momus schreckt sie, seitdem sie sind. »Der Bourgeois ist immer eifersüchtig«, pflegte Erich Benklein zu sagen.

Es war mir ein Spiel und ein Scherz gewesen, als ich es im Triumpf meines Liebesglückes getan  – es war ein Spiel mit schneidenden Messern, unter deren Fall ich beständig blutete, als ich verarmt war.

Denke dir, wie mir zu Mute war. Wenn ich in meiner Wohnung saß und aus den Fenstern auf die öde Gasse, auf die trostlosen Gärten hinaussah, wenn ich hinter dem Vorhang stand, oder an der Türe, um mir selber einzureden, sie käme wieder, und wartete, bis ich das Rauschen ihres Kleides und ihre raschen ängstlichen Schritte auf der Treppe hörte; wenn ich in meinem Ofen Feuer anzündete, und die verwelkten Veilchen und Narzissen aus dem rosafarbenen Glas hängen sah, wenn ich die kleinen, goldgestickten Schuhe aus dem Kasten nahm, die mein Weihnachtsgeschenk für sie gewesen waren, damit ihre nackten kleinen Füße nicht den Boden berühren mußten, die Kämme, die Schuhknöpfler, all die süßen Frauensachen, die sie bei mir hatte  –  – eines Tages hab' ich alles eingesperrt und nie wieder herausgenommen.

Oder wenn auf meinem Schreibtisch die Lampe brannte, und die Lehne des Sessels hinter mir ihren langen Schatten auf den Teppich warf, und die Einsamkeit und das Dunkel der Winkel mich erschreckte, dann zündete ich die Hängelampe an, die ihr sonderbares Licht von oben über den Raum streute, so daß ich die unheimliche Einsamkeit nur noch greller empfand … Ich ging und erschrak vor meinen eignen Schritten, und Träume gingen hinter mir.

Der Heimweg aus der Stadt zu meiner Wohnung, den ich einst mit solcher Lust gemacht, ward mir eine tägliche Marter. Ich kannte die Häuser, die Geschäfte, die Leute, die vor den Toren standen, die Kinder, die auf der Straße spielten, die Hunde, die sich darin herumtrieben  – und sie wurden mir unerträglich. Es war, als legten sich meine Qualen wie trostlose, graue Nebel um sie, die sich von ihnen lösten, und um mich schlossen, sobald ich die Gassen betrat. Und ich ging immer neue Wege, soweit es möglich war, bis ich alle kannte, und alle mir gleich verhaßt waren.

Nie bin ich in die Wohnung eingetreten, ohne davor zu schaudern. Eiligst zündete ich die Lampe an, und entkleidete mich so schnell wie möglich, als könnte ich den Schlaf und die Nacht durch Hast und Nichtdenken beschwören. Wenn ich mich auf das einsame Bett hinstreckte, das soviel Wonne getragen hatte  – wie oft suchte ich mir einzureden, daß sie neben mir läge, und streckte meine Hand nach ihr aus  – umsonst!

Ich fürchtete mich vor dem Schlaf nicht weniger, als vor den langen, verzweifelten Nächten, in denen ich wachend lag. Denn sobald ich die Augen schloß, begann ich zu träumen: düstere, sonderbare, quälende Dinge … es war als ob furchtbare Dämonen mein Schicksal verkörperten, und sobald ich entschlummerte, sich grinsend über mich beugten: die fieberhafte Aufregung, in der ich lebte, schuf alles zu Bildern um, die, sobald ich nicht mehr völlig wach war, den geschlossenen Augen schrecklich sichtbar wurden. Immer wieder sah ich das Gesicht des Mannes vor mir, der in dem Hause in der Lazarettgasse dahinsiechte, er saß neben mir auf dem Bett, und das Gesicht, das ich dem einer Hyäne verglichen hatte, wurde immer spitzer und schmaler, und langsam, je mehr mein halbwacher Traum in Schlummer überging, umsomehr veränderte sich sein Körper in den einer übernatürlich langen Hyäne, und wie ich Wölfe im Käfig gesehen hatte, so ging das ruhelose Tier auf leisen aber hörbaren Pfoten auf und ab, rund um mein Bett von einem Ende des Zimmers zum andern; und, warf ich mich gepeinigt von Schrecken auf die andere Seite, so war die Bestie bereits drüben. Unten aber bei meinen Füßen saß eine große graugelbe Dogge  – wenn ich aber genauer hinsah, so hatte sie das Gesicht des Majors. Manchmal stand plötzlich ein gedeckter Tisch in einem Gasthausgarten da, und zwei Herren luden mich ein, mich zu ihnen zu setzen, und drückten mir beim Vorstellen freundlich die Hände, während mich ein Schauer überlief, und ich die Dogge und die Hyäne erkannte, mit denen ich mich zu einem Mahle gesetzt hatte. Oder sie kamen ins Zimmer, als aufrechte Menschen, nur mit Tierhäuptern, mit glühenden Kränzen auf den Köpfen und langen Kerzen in den Händen und blieben vor meinem Bette stehen und sahen mich an  – o schauderhaft! Ich warf Steine nach ihnen und Hölzer und was mir erreichbar war, oder ich fuhr auf schnellen Wagen vor ihnen davon und sie immer hetzend hinter mir her  – bis ich keuchend erwachte: Seiten für Seiten könnte ich dir die entsetzlichen Träume erzählen, die mir jede Nacht zu einer Hölle und den Augenblick des Zubettgehens, obgleich ich todmüde war, zum ärgsten Schrecken machten.

Ich träumte einmal, ich stünde am Ufer eines weiten Meeres und in das Meer hinaus, das grau und trüb und bewegt war, waren Glashäuser auf Säulen gebaut; und in diesen Glashäusern waren Frauen, die von fernen Männern geliebt wurden. Weit drinnen im Lande, wo Wiesen waren, gingen Menschen, die sprachen freudig von diesen Frauen  – ich hörte sie nicht, aber ich wußte es; und ich selbst war voll Freude. Ich ging eben in eins dieser Glashäuser; ich wußte, oben auf einem Ruhebett lag die Frau, die ich liebte. Aber als ich eintrat, kam mir eine unsauber gekleidete, rothaarige Dirne entgegen und sprach unanständige Worte. Draußen aber war noch immer das Meer, das graue endlose bewegte Meer. Von oben glitt etwas dunkles vor mir herab, das hinein versenkt wurde und das wie ein Sarg aussah  – und dann kam noch einer und noch einer. Unzählige Särge wurden überall ins Meer versenkt, und ein Weh war überall. Ich aber kam in ein Waldtal; es war wie ein weiter Kessel, an dessen Seiten Baumgruppen standen; nie hatte ich ein so graues, trauriges Grün gesehen. Viele, viele Menschen gingen umher, und auf allen Gesichtern war ein Schmerz, schwer, öde, unsagbar, der über alles Leid ging, das je ausgesprochen worden.

Auf einmal aber fingen diese Menschen an zu tanzen, einen trauervollen Tanz, einen Tanz des Jammers und der Verzweiflung, und in der Mitte tanzte am wütendsten eine tote alte Frau, die ein ganz junges, kräftiges, schwarzhaariges Weib umfaßt hielt und rasend herumriß. So wütend drehten sie sich im Kreise, daß mir schwindlig wurde  – und da sah ich erst, daß all diese Menschen tot waren  – nicht Schädel, sondern eben Verstorbene, mit fahlen traurigen Leichengesichtern. Und alle tanzten ihren gräßlichen wilden Tanz; mählich aber hörte der Tanz auf, und alle saßen still, und die Stille war noch schrecklicher als die wüste Bewegung.

Und wieder sah ich das Meer und endlose Särge, die hinein versenkt wurden  – und die Glashäuser standen alle leer. Da wachte ich auf und suchte, noch ganz betäubt und von dem Eindruck überwältigt, festzuhalten, was ich geträumt hatte. Aber ein Schreck war über mir und ein Gefühl: du hast eine Vision des Grauens gehabt  – höre auf, darüber nachzudenken.

Manchmal freilich waren die Träume anders und süß; wenn ich von ihr träumte und sie bei mir war, wie einst und liebliche Worte sprach,  – aber fast immer entwich sie, wenn ich sie umfassen wollte. Und die Morgen! Das öde Grauen, mit dem ich dem Tage entgegen ging! Das müde, lustlose Aufstehen und Ankleiden! Ich glaube, ich stand überhaupt nur auf, um den Zimmern zu entkommen, die mir so quälend waren und die aufzugeben ich mich dennoch nicht entschließen konnte, weil sie in ihnen gewesen war.

Ich versuchte zu arbeiten, ich verdreifachte meine körperliche Tätigkeit, ich focht fast jeden Abend, ich lief auf dem Eise, soviel der feuchte Winter jenes Jahres dazu Gelegenheit bot, ich ging jeden Morgen schwimmen  – es war alles umsonst; es half für Augenblicke, dann kehrte das Elend wieder.

Du kennst das Schreien der Sinne nach einem geliebten Leib, das dich von jeder Arbeit, jeder Beschäftigung aufpeitscht, das dich mit wachsenden Qualen verfolgt, eine unentrinnbare Marter, die machte, daß ich mitten im Lesen vom Sessel aufsprang und mich stöhnend aufs Sofa warf, oder bei Nacht in die Kissen biß, auf denen ich mich wälzte, das mich buchstäblich heulen machte wie ein gefoltertes Tier, wenn der Gedanke mich zerriß: Nie wieder, vielleicht, nie wieder!

Und keine Hilfe dagegen, keine! Ich konnte kein anderes Weib berühren  – andere Frauen hatten einfach aufgehört, für mich Weiber zu sein, sie konnten mich als Menschen, als Freundinnen interessieren, aber sie waren nicht mehr weiblichen Geschlechts für mich.

Es hatte eine Zeit gegeben, als ich noch sehr jung war, in der ich den Satz Byrons, er wünsche allen Weibern nur einen Mund, um ihn zu küssen, zu meinem eigenen hätte machen können, wo der Anblick eines Frauenkleides mich mit einem eigenen Reiz ergriff,  – ja, soweit ging die Sehnsucht nach der geheimnisvollen Welt des Weibes, daß ich die kleinen Worte »sie« und »die« mit einem besonderen Wohlgefallen sprach und schrieb. Die Gesellschaft irgend eines erträglich aussehenden Frauenzimmers regte mich sofort an und machte mich gesprächig und heiter. Diese Zeit lag unverständlich hinter mir, all meine Empfindungen waren auf ein Weib konzentriert, an dem mir alles entzückend und rein erschien, während der Gedanke an die Berührung des schönsten Weibes, das ich sah, mich mit Widerwillen abstieß.

Wohl habe ich dieser Konzentration meiner Sinne auch Wonnen zu verdanken gehabt, wie sie nur die sehr wenigen Menschen, die so zu lieben im Stande sind, empfinden können. Ich sage, daß ein Blick, ein Händedruck, jede Berührung Rosa Maria's mich mit Schauern von Lust durchbebte, die andere Männer, die aus allen Gläsern trinken, nicht kennen und nicht kennen können.

Denn es gab Tage, wo auch ihre Sehnsucht durchbrach oder meine Worte sie zwangen, und sie sich heimlich an meine Brust warf, oft indem sie mich gleichzeitig schon wieder von sich stieß, und mich enteilend küßte oder auf irgend eine Bemerkung von mir mich wie im Scherz ins Gesicht schlug, nur um mich zu berühren; und ihre Lider senkten sich wie Blumenblätter, die schwer von Tau sind, wenn ich sie an unsere Wonnen erinnerte.

Ich erinnere mich, daß sie einmal,  – es war schon im Frühjahr, an einem Tag, an dem ich ihr herrliche bedeutsame Blumen gebracht,  – plötzlich ihre Hand auf meine Brust legte  – noch heute überläuft es mich, wenn ich denke, was ich damals empfand. Ich habe überhaupt ihre Hände geliebt, die so zart und hart zugleich waren, nervöse, schlanke, feinlinige Hände, Hände eines Wesens, das unendlich zu glänzen und unendlich zu leiden bestimmt war.

Aber wenn solche Augenblicke rasende Freude brachten, so zogen sie auch um so wildere Qualen des Verlangens nach sich, aber sobald sie das erriet oder verstand,  – denn sie war darin kindisch,  – dann wurde ihr Gesicht traurig und starr, und sie hieß mich fortgehen und sie vergessen.

 

Mitten in dieser wogenden Zeit kam mir in einer schlaflosen Nacht ein Gedanke, der mich ansprang wie ein böses Tier, und seine Pranken in meinen Nacken schlug und nicht mehr abzuschütteln war: »Wie wenn jetzt« dachte ich, »während ich hier in furchtbarer Sehnsucht mich winde« … nicht auszudenken war es, ohne daß ich vor Zorn und Widerwillen umzukommen dachte. Lange blieb ich wach, immer dasselbe peinigende Bild vor Augen  – endlich schlief ich ein, einen bleiernen Schlaf  – und wie Blei lag es den ganzen Tag über meiner Brust, bis zu dem Augenblick, wo ich zu ihr gehen konnte. Ich hatte sie am Tage vorher zufällig getroffen, und zum ersten Mal seit unserer Trennung wieder frisch und blühend aussehend gefunden  – es war für mich, der ich sie so gut kannte, irgend eine unerklärte Lust um sie gewesen; vielleicht hatte das unter der Schwelle jenen verfluchten Gedanken in mir erweckt.

Als ich eintrat, strahlte sie wieder von irgend einer geheimen Freude und freudig streckte sie mir die Hand entgegen und sagte: »Wie hübsch, daß Sie kommen, Felix!« Sie nannte mich oft ungeniert bei meinem Vornamen; an einem fröhlichen Abend bei Clemence hatte sie damit begonnen, und es fiel nicht auf, obgleich der Major es nicht gerne hörte. Nicht weil er sich dabei etwas gedacht hätte, sondern weil er es nicht passend fand.

»Wie hübsch, daß Sie heute kommen, heute bin ich ganz allein, der Major ist im Kasino.«

Als ich in dem weißen Salon ihr gegenüber saß, sagte sie lachend, indem sie die Füße vor sich auf den Schemel streckte: »Nun erzählen Sie schön, was Sie die ganze Zeit gemacht haben, ob Sie brav und ruhig gewesen sind, erzählen Sie vor allem, wie es Edwina geht!« Edwina, meiner Schwester, die damals schwer krank war.

Ich aber fühlte all die Erinnerungen, die das Zimmer in mir weckte, und sie preßten fast Tränen in meine Augen. Im Nacken aber saß mir das Tier, und ich sagte endlich mit schwerer Stimme:

»Ich habe von etwas Anderem mit Ihnen zu reden.  – Ich mag dich nicht verletzen, du weißt, wie ungern ich dir wehe tue  – aber ich muß, weil ich sonst an der Qual zu Grunde gehe  – ich muß dich etwas fragen, weil es mich sonst erstickt.«

Ihr ganzes Wesen war augenblicklich verändert. Angst und Bestürzung waren in ihrem Gesicht.

»Was willst du? frage nur!« sagte sie, »frage nur!«

Ich sagte mühsam: »Du hast mir einmal gesagt: zu Physischer Eifersucht hätte ich keinen Grund. Erinnerst du dich daran? Ist das noch so?«

Sie wurde blaß, und wie ich es oft an ihr gesehen, wenn sie in Aufregung geriet, die Haut ihres Gesichtes veränderte sich ganz und gar  – ohne sie zu berühren, fühlte ich, daß ihre Hände wieder eiskalt waren. Sie antwortete in Ausflüchten:

»O  – er ist nicht mehr jung!« … »Ich weiß nicht, was das jetzt soll  –  –« Und ähnliches.

Ich wußte genug,  – aber ich drang unbarmherzig in sie, selbst tückisch gequält, und endlich sagte sie ganz leise und zitternd:

»Ich versage ihm nichts.«

Mir wurde es ganz dunkel vor den Augen »Und mir alles!« schrie es in mir. Ein böser Zorn stieg in mir auf. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr alles sagte, aber es müssen harte arge Worte gewesen sein.

»Ich wundere mich nur, daß du erst heute fragst«, sagte sie.

Sie hatte offenbar vergessen, was sie damals gesprochen.

»Ich hab' es eben nie für möglich gehalten! Alles, nur das nicht! Wie kann ein Weib wie du! wie du!  – o ich werde mich auch unterhalten!« rief ich brutal.

»Ich weiß nicht, was du denkst!« flüsterte sie, »du stellst dir Liebesorgien wie die unseren vor. Denke das nicht, es ist so selten, und wie könnte ich anders!«

Ein zweiter entsetzlicher Gedanke sprang in mir auf. Sie erriet ihn sofort: »Das kann man ja doch nicht wissen!« sagte sie.

Ich ging auf und ab, sinnlos vor Schmerz.

Sie trat vor mich hin: »Schlage mich«, sagte sie, »wenn das dich erleichtert. Töte mich! du kannst mich töten, wenn du willst!«

»Leb' wohl«, sagte ich, »nun kann ich nicht mehr! nun ist alles zu Ende. Ich hätte so gerne gewartet und getragen und dich nicht gequält  – aber so kann ich nicht. Und das Schlimmste ist, daß du mir nicht nur die Gegenwart, daß du mir auch die Vergangenheit verdorben und zum Ekel gemacht hast!«

»Wenn du nicht anders kannst, so leb' wohl! Ich hab' es ja immer gewußt, daß es nicht dauern kann«, sagte sie zitternd und die Augen voll Tränen und reichte mir die Hand.

Ich aber zog die meine zurück. »Ich kann nicht!«

»Nicht die Hand mir reichen?!« rief sie schmerzlich, »Nicht die Hand? Felix!« rief sie »Felix! so willst du von mir fortgehen und auf immer? und wofür? für Dinge, die nicht das sind, was du denkst?«

»Nicht reden, nicht davon reden!« rief ich. »Ich ertrag's nicht! Leb' wohl!«

Sie sprang auf und fiel mir um den Hals und küßte mich zum Ersticken. Ich erwiderte ihre Küsse nicht und machte mich los.

Siehe, ich erzähle dir alles, wie es war, ohne zu beschönigen, ohne zu erklären. Wir waren beide wie von quälenden Dämonen besessen.

Ich war kaum aus dem Zimmer getreten, als ich wieder umkehrte und sagte:

»Vielleicht wird einmal alles anders und gut. Dann will ich so gerne wiederkommen.«

Sie saß am Tisch, das Kinn auf die Hände gestützt, das Gas brannte trüb. Ich erinnere mich wohl, sie trug ein schwarzes Sammtkleid an jenem Abend, und ich weiß nicht warum, das schien den dunkeln schmerzlichen Eindruck zu erhöhen.

Ich war im Vorzimmer, als ich noch einmal umkehrte und sagte:

»Ich danke dir, Rosa Maria, für alles, was du mir gewesen bist  – O, es hätte so wunderschön sein können! Aber du hast alles selbst zerstört!«

Ich trat auf die Straße und atmete mit tiefen Zügen die Luft ein. Ich war frei und ich hatte mich befreit. Ein schmerzlicher Triumpf war in mir.

Ich ging durch die Straßen. Die Laternen brannten, Wagen fuhren an mir vorüber, und Menschen gingen  – es war so wunderbar: ich war frei. Ich hatte ein Ende gemacht; ich hatte nicht anders können, ein ungewohntes Kraftgefühl war in mir, bis ich in die Nähe der Ringstraße gekommen war. Da war mir, als ob Jemand mir über den Platz nachginge. Ich sah mich um; eine Gestalt kam auf mich zu, die Rosa Maria zu sein schien. Ich zitterte und blieb stehen; sie war es nicht; in mir aber brach das ganze gesteigerte Gefühl von Freiheit und Kraft zusammen, und ich fühlte wieder nur, was ich verloren hatte.

Ich mußte einen Menschen sehen und ging zu Clemence. Sie war zum Glück nicht zu Hause, wurde aber erwartet. Ich ließ das Dienstmädchen kein Licht anzünden und saß in dem dunkeln Zimmer, durch dessen Fenster der Laternenschein von der Straße hereinfiel, bis Clemence kam.

Während ich Rosa Maria's Namen sonst nie vor Menschen in den Mund nahm, nie von ihr zu sprechen begann, mußte ich heute auf alle Gefahr von ihr reden, und ich schalt auf ihre Schwäche, ihre Halbheit, daß sie die elendsten Dinge tue und dulde …

Clemence aber antwortete für sie, und die Rollen zwischen uns waren vertauscht.

»Nein, nein!« sagte sie. »Sie dürfen ihr nicht unrecht tun. Man hat ihr geradezu das Rückgrat gebrochen, alle Menschen sind auf ihrem Herzen herumgetreten, die sie lieb hatte. Keiner ist ihr je gerecht geworden, keiner hat sie verstanden, keiner hat sie geschont, keiner war zart und gütig genug für sie, und jeder hat die blutenden Wunden in ihr immer wieder aufgerissen. Sie ist ein armer gefangener Vogel, der sich nicht wehren kann, und den jeder quält. Tun Sie nicht mit, Felix! Ich glaube, sie ist Ihnen sehr gut, tun Sie ihr nicht wehe!«

Ich hätte Clemence küssen und mich selbst prügeln können.

Aber was wußte sie? Was dachte sie?

»Seien Sie auf der Hut! Felix!« sagte sie nach einer Pause, mit den Händen im Schoß spielend und ohne mich anzusehen. »Gehen Sie fort! Ich glaube, die Sache ist gefährlich, sehr gefährlich für Viele! Glauben Sie nicht, daß Sie der einzige sind!  – Aber der einzige, um den es mir leid täte, wenn er sich im Netz finge, und am schlimmsten, wenn sie mitverschlungen würde! Gehen Sie fort, glauben Sie mir, die ich selbst so Bitteres erfahren habe, solche Dinge werden nie gut  – nie gut! Selbst bei kraftvollen Menschen kaum! Die Anderen reden zuviel drein und geben nicht Ruhe, als bis sie alles Schöne herausgerissen und zertreten und alles häßlich und gemein gemacht haben. Lassen Sie's nicht dahinkommen! Ich bin die Einzige, die Augen hat, und ich sehe die Gefahr!«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Clemence!« sagte ich, so ruhig ich konnte, »ich habe Rosa Maria sehr gerne und ich glaube, daß auch sie mir gut ist, aber Sie sind wahnsinnig, wenn Sie unmögliche Dinge vermuten. Sie sollten sie und mich nun doch besser kennen  – Sie wissen doch, daß wir beide anderswo gebunden sind.«

»Ich weiß gar nichts«, sagte sie und sah mich zweifelnd an. »Uebrigens  – lassen wir das. Nur etwas will ich Ihnen noch sagen: wenn ein Vogel in einer Schlinge steckt, tut der ihm kein Gutes, der ihn bei den Flügeln packt und herauszureißen sucht.«

»Die Menschen stecken alle nur in einer Schlinge, in der Lüge, der innerlichen Lüge.«

»Ach, es lügen alle soviel«, sagte Clemence, »und Sie werden nicht der Einzige sein, der davon frei ist. Eines sage ich Ihnen: Wenn ein Mensch wahr ist, so ist es Rosa Maria. Was könnte sie durch Lügen alles richten! Und was für ein Leben sich schaffen! Nur ihre Wahrhaftigkeit verdirbt ihr alles! O ja, sie sagt gewiß auch Unwahrheiten  – wir Frauen müssen das eben manchmal tun, weil wir arme Sklavinnen sind und für die Wahrheit immer gestraft werden  – aber ihre Unwahrheiten sind wahrer, als die großen »Wahrheiten« anderer  – ja, sie ist gewiß schwach, aber ihre Schwäche ist Güte …«

»Oder ihre Güte Schwäche!«

»Ach«, sagte sie. »Reden Sie keinen Unsinn! das sind so unscheidbare Dinge! Die Schwäche der Anderen ist meistens nur Beschränktheit und Gemeinheit. Glauben Sie, Felix, Sie haben eine arme süße Laube vor sich  – spielen Sie nicht den Raubvogel, der die Taube »zum Fressen gern hat!«

Ich habe es nie ertragen können, wenn Jemand sich in meine Angelegenheiten mischte und mir gute Ratschläge gab, und jetzt war ich viel zu zermalmt für solche Erörterungen  – aber ich ließ mich so gern ins Unrecht setzen! Es fiel mir plötzlich ein, in welchem Zustand Rosa Maria sich befinden mußte, wie ich sie behandelt hatte, wie sie die Nacht verbringen würde. Ich hab' es nie ertragen können, sie leidend zu wissen  – vielleicht war auch mein Gefühl Schwäche. Aber hatte ich ihr nicht einmal gesagt, daß ich nie etwas von ihr fordern würde, daß es Rechte eines Menschen an einen andern nicht gäbe, daß ich leben wollte, um ihr Freude zu bringen? War ich nicht im Stande, großmütig und unklug zu lieben bis zuletzt?

»Glauben Sie nicht zuviel, Clemence«, sagte ich aufstehend, »und warnen Sie nicht zuviel! Man tut damit selten Gutes!«

»Das ist leider wahr«, erwiderte sie. »Nun, Ihnen wird es ja nichts schaden. Ich bin Ihnen gut, Felix, das wissen Sie wohl, aber ich halte es immer mehr mit den Frauen. Und mir können Sie in solchen Dingen nichts weiß machen. Sie sind kein so harmloser Idealist, wie Sie gern erscheinen möchten.«

»Gerne erscheinen möchte!« rief ich aus.

»Aber Sie sind ein guter Mensch! Noch einmal, richten Sie dieses arme Ding nicht zu Grunde! Gehen Sie fort von Wien! Und jetzt Adieu! es ist spät, und ich will schlafen gehen!«

Hatte sie nicht Recht? War ich nicht wie ein Raubvogel an das arme verwundete Wesen herangekommen und hatte sie an mich gerissen, während sie in den Schlingen der Vergangenheit gebunden lag? Benahm ich mich nicht gerade so wie er? Wie der, der »Rechte« hat? Und hatte Clemence nicht Recht, wenn sie von Rosa Maria's Wahrhaftigkeit sprach? Wie rührend war ihr Geständnis gewesen? Sie hätte ja nur zu leugnen gebraucht. Hundert andere Frauen an ihrer Stelle hätten mich mit einer raschen Lüge beruhigt.

Es war zu spät, ich konnte nichts mehr tun. Es verging eine jener Nächte, die wir fern von einander schlaflos, und jeder gequält durch das Leid des anderen verbrachten. Sobald der Tag es mir möglich machte, schickte ich ihr Blumen mit ein paar Worten  – ich wußte, sie würde mich verstehen.

Wieder feierten wir eine unserer süßen Versöhnungen und wieder war ich unterlegen, wie der, der mehr liebt, immer unterliegen muß.

»Ich habe dich gequält, Geliebte,« sagte ich,  – »ich bin brutal gegen dich gewesen  – nun tue du, was du willst, du kannst mich zu Tode quälen, ich werde nichts sagen.«

»Lieber,« sagte sie, »ich bin dir nicht böse, ich quäle dich ja so sehr, und es ist mir alles begreiflich. Und wenn du es nicht aushältst und mich verläßt, hast du Recht. Aber wenn du so fortgehst, und mich behandelst, wie etwas unreines,  – glaub' mir, das bin ich nicht. Und diese Erschütterungen, die können wir beide nicht vertragen. Wenn es immer wieder solche Seelenkämpfe und Szenen geben soll, wohin soll das führen?«

Ich war wieder berauscht und in Ketten, und wir saßen stundenlang in seligem Geplauder beisammen. Das war eine jener Inseln von Freude, die uns inmitten unseres Leides blieben, Stunden der Hoffnung und des Vertrauens in unser Schicksal. Wir saßen vor einander wie schiffbrüchige Kinder, die nicht recht wissen, was ihnen widerfahren ist, und mitten in Leid und Gefahr glauben, es könne ja nicht so arg sein, und gleich müsse die Mutter kommen und alles wieder gut werden.

»Was mußt du für eine Nacht zugebracht haben!« sagte ich.

»Schlimm genug,« sagte sie, »und deine Blumen waren eine große Freude für mich. Uebrigens,« sagte sie lächelnd, »hab' ich gar nicht gezweifelt, daß du wiederkommen wirst. Du hast ja gar nicht fortgehen können!«

Sie hatte noch etwas auf dem Herzen und mehrmals versuchte sie es auszusprechen  – endlich, als ich fort mußte, sagte sie:

»Du wirst mir noch krank werden,  – gequält wie du bist«  – und ganz leise: »Ich weiß, wie du dürstest  – gehe zu andern, aber sag' mir nichts davon!«

Unglaublich süß und unglaublich töricht war dieses Weib!

 

Aber die Szene veränderte sich wieder.

Ich hatte auf sie verzichtet, obwohl die furchtbare Eifersucht mich immer wieder anfiel und würgte; aber mir war, als hielte ich sie an dem unsichtbaren Seil einer starren Hoffnung fest. Ich schluckte die Erniedrigung hinab, die dieses Verhältnis mir brachte, und schon fühlte ich, wie sie mir weiter entglitt.

Ich kam zu ihr und sie saß mit Dosi am Tischchen und half ihr bei ihren Aufgaben. Ich wartete geduldig, endlich war sie zu Ende, und das stille kleine Geschöpf ging mit einem eigentümlichen Blick nach mir aus dem Zimmer. In dem Augenblick läutete es, und die Großeltern kamen. Die gewohnten leeren Gespräche begannen, und ich ging fort.

Ich traf sie fast nicht mehr ohne die Kinder. Ihr Fräulein hatte ihr aufgesagt, und der Major hatte gefunden, daß eine Gouvernante nicht nötig sei und sie sich selbst ganz mit den Kindern beschäftigen könnte. Sie hatte sich, wie gewöhnlich, gehorsam gefügt; ja, sie tat mehr, als er verlangte, sie drängte sich, sich für ihn und die Kinder zu opfern.

Ihr ganzes Wesen war Reue und Leid geworden. Sie war meine Freundin, meine Schwester, gewiß  – aber vor allem war sie nun Hausfrau und Mutter.  – Mit einem Hohnlachen, das mich selbst am tiefsten verwundete, sah ich, wie das Weib, das ich so vergöttert hatte, Schritt für Schritt denselben jämmerlich banalen Weg ging, den hunderttausende braver Frauen vor ihr gegangen waren. Nerven- und Angsterscheinungen hatten ihr die Freude der Liebe vergällt  – die moralische Entmutigung folgte  – wäre sie fromm gewesen, der Beichtvater hätte seine Freude an ihr gehabt. »Aber was weiß der von Liebe, der nicht eben verachten mußte, was er liebte!«

Ihre Hausgeschäfte nahmen in auffallender Weise zu. Früher hatte sie in ihrer eben so gütigen als schnell entschiedenen Art ihr Haus in wunderbarer Stille verwaltet. Auf einmal wurde sie überall selbst notwendig, wurde nervös und gehetzt, und für mich fand sie immer weniger Zeit.

Wenn ich zu ihr kam, waren die Kinder da, oder die Großeltern oder der Bergrat, und besonders Peter der Jüngere, der ihr mit der Intimität des Cousins vor meinen Augen den Hof machte: das Bedürfnis mit mir allein zu sein, schien sie gar nicht mehr zu empfinden, sie, die wenige Monate früher so unglücklich gewesen war, wenn irgend jemand uns gestört hatte.

Wenn ich ihr Vorwürfe machte, sagte sie:

»Es geht nicht anders. Sie denken sich das so leicht. Sie sind eben frei und können sich alles einteilen, wie Sie wollen, ich muß auf viele Dinge Rücksicht nehmen.«

»Nur auf mich nicht!«

Sie machte eine Bewegung der Verzweiflung: »Ich denke immer an Sie und bin sehr traurig, daß ich Ihnen Schmerz bereiten muß, aber Sie klagen über Kleinigkeiten, die von keinem Belang sind.«

Die Pünktlichkeit, die der Major vorschrieb, war die der Kaserne, und mit wahrem Zittern hielt sie seine Stunden ein. Wäre nicht das Bureau, der Klub, die mineralogischen Vorträge und Ausflüge gewesen, wir hätten nie zusammenkommen können. Seit seiner Krankheit war er nervös und reizbar geworden, und seine Forderungen waren gänzlich unberechenbar. Sie lebte in beständiger Angst: »Was wird er jetzt wollen?« »Was wird ihm heute nicht recht sein?« und die Folge war, daß sie nicht zu Hause sein konnte, wenn sie es mir zugesagt hatte, daß ich ihr nicht begegnete, wenn es besprochen war, und ich betäubt von Wut und Qual nach stundenlangem Warten elend nach Hause ging.

Sie wurde heiser, und der Major verbot ihr zu sprechen, oder Besuche zu empfangen. Die Tyrannei, unter der sie lebte, erdrückte und entehrte mich.

Es war ohnedies ein Wunder ihres südlichen Temperaments, daß sie unter seiner Zucht so viel Feuer und Leben bewahrt hatte. Sie konnte aufbegehren, wenn es ihr unerträglich wurde  – und selbst er trat den Rückzug an, wenn sie die feinen Zähne aufeinanderpreßte und ihr melodischer Zorn spielte, aber zuletzt gab sie immer wieder nach.

Höre, was da möglich war: sie hatte mich eingeladen, einen Abend bei ihr zu verbringen, und als ich kam, bat sie mich wieder fortzugehen: der Major hatte sich im letzten Augenblick entschlossen, mit ihr zu einem Ball zu fahren. Sie hatte ihm nicht sagen wollen, daß sie mich bestellt hatte, und mich zu verständigen, war ihr nicht Zeit geblieben. Ich hatte mich gerade auf diesen Abend gefreut, und der Gedanke war mir unerträglich, daß sie auf einen Ball gehen, lachen, plaudern, tanzen wollte, während sie mich so elend machte; es schien mir frivol und abscheulich. Ich bat sie, nicht hinzugehen. »Das geht nicht«, sagte sie, »wir sind erwartet.«

»Sag' ab.«

»Der Major kommt um neun Uhr mich abholen, der Wagen ist bestellt!«

»Sag' ihm, du willst nicht gehen!«

Sie lachte geradezu: » Ich will nicht!!«

»Höre, Rosa Maria,« sagte ich, »ich beschwöre dich, tu's mir zuliebe, schenke mir diesen Abend!

»Ich kann nicht!«

»Werde unwohl!«

»Aber das nützt mir ja nichts! Vor zwei Wochen habe ich aus dem Bett aufstehen müssen, als er mit mir einen Besuch machen wollte, hörst du? Und Heute, wo er dem General versprochen hat, daß wir kommen! Wo die Karten genommen sind, und der Wagen bestellt ist! Du kennst ihn nicht! Und ich kann nicht nein sagen, wenn er befiehlt! Ich kann nicht, ich kann nicht!«

»Rosa Maria, du mußt mir das zuliebe tun! Das ist ja lächerlich!«

»Was soll ich denn tun?«

»Schütte Tinte über dein Kleid!«

»Ich habe der Kleider mehr!«

Ich lachte vor Ingrimm. »Wann hat man je gehört, daß eine Frau nicht von einem Ball wegbleiben kann? Ich verlange,« sagte ich wild, »daß du mir das zuliebe tust, einmal sollst du meinem Willen, nein, nicht meinem Willen, nur meiner Bitte folgen! Ich komme sonst nicht wieder!«

»Herr Gott!« rief sie. »Ich kann nicht! Ich kann nicht! Verlange, was du willst von mir! Hörst du, was du willst! Aber nicht das! Ich kann ihm keinen Widerstand leisten, ich hab' keine Kraft! Ich verspreche dir zu tun, was ich kann, aber es wird nichts nützen!«

»Nun, wenn du die Wahl hast zwischen einem Ball und mir! …«

»Aber das ist irrsinnig! Der Ball ist mir so gleichgültig wie alle Bälle! Ich wollte, ich müßte nirgends mehr hingehen und keinen Menschen mehr sehen, das weißt du! Und du hast tausend Gründe, mich zu verlassen, aber wegen so einer Dummheit nicht! Ich versprech dir, keinen Schritt zu tanzen  – aber das kann ich nicht! Bitte, bitte, quäle mich nicht so, verlange nichts unmögliches!«

Hat man je etwas jämmerlicheres, komischeres und herzzerreißenderes gehört? Ihre Augen waren ganz starr und weit aufgerissen, ihre Hände eiskalt, und sie zitterte am ganzen Körper, in Todesangst vor mir auf der einen und vor ihrem Mann auf der anderen Seite!

Sie drohte jeden Augenblick umzufallen  – und es blieb mir zuletzt nichts übrig, als sie zu beruhigen: »Tue was du willst! man kann von dir nichts verlangen! Nein, ich bin nicht böse!«

Indessen kam der Major nach Hause und ärgerte sich, daß sie nicht fertig war. Es waren keine guten Blicke, die ich ihm zuwarf.

Ich sah, wie ihre Füße unter ihr zitterten, als sie das Zimmer verließ, um sich anzukleiden.

Sieh, diese Szene hat mir mehr erklärt, als alles andere  …

Welch eine Existenz! … die einer geschändeten Seele!

Ich begann ihren Mann zu hassen, mit einem neuen persönlichen giftigen Haß, den ich früher nicht empfunden hatte. Früher war er mir nur ein trübes verächtliches und schädliches Anhängsel gewesen, jetzt war er in den Mittelpunkt meiner Empfindungen gerückt. Ich begann mich zu freuen, daß ich ihm sein Weib genommen hatte, daß das wenigstens nicht mehr gutzumachen war, und ich sagte innerlich, wenn ich dem Superklugen gegenüber saß: »Esel! Esel! Esel! der du so eitel bist auf dein schönes Weib und so eingebildet auf deine Herrschaft über sie!« Mit einem tückischen Hohn saß ich ihm bei Tisch gegenüber und hörte seine Gespräche und Theorien an, die ja nicht dumm waren, aber so bar aller Hoheit!  – Und ich fühlte, wie die Erniedrigung, in der ich lebte, auch mich niedrig machte.

Er war ja doch der wirkliche Sieger, und ich war der Besiegte. Er hatte das Weib, und ich stand bettelnd, stehlend, wenn du willst, vor seiner Türe, in seinem Hause. Ich war der Enterbte, er besaß, was mein war, und was ich nahm, war Raub.

O ja, ich war gestraft worden für mein blindes Vertrauen in unsere Wahlverwandtschaft. Ich habe es erfahren, daß man Herrn Zettel nicht unterschätzen darf. Ich sage dir, Zettel, der Weber, ist ein großer Herr, und Titania hat ihn wahrhaft und süß geliebt, und der wahre große Esel in der ganzen Komödie, die eigentlich eine Tragödie ist, ist Oberon, der sie selbst hineingehetzt hat. Ich hatte es nicht getan, aber der Mohnsaft, den ein tückischer Geist auf die Augen meiner Königin geträufelt hatte, hielt nur um so wirksamer. O ja, Zettel ist ein großer Herr, er hat nicht nur das Geld und die Macht im Lande, er ist Offizier und Hofrat und Richter und Bankier, und ich weiß nicht, was alles, er hat auch Titania für seinen Tag oder länger, und wenn Oberon sie auch wieder bekommt, er hat sie doch einmal abgeschmatzt und einmal ist sie Frau Zettel gewesen. Darüber hilft ihm sein ganzes überirdisches Königreich nicht hinweg. Wenn ich dichten könnte, ich würde Loblieder singen auf Zettel den Weber, den Triumphator, den Ehemann! O Ekel! Ekel! Ekel!

Was meldet Droll?

»Herr, meine Fürstin liebt ein Ungeheuer!  –

Sei es Kater oder Luchs,
Borstiger Eber oder Fuchs!«

Das sind Stimmen, die in den Lüften verklingen, wo die Geister spotten, ich weiß allerdings nicht, wessen mehr, ihres geistreichen Herrn oder des schlafenden Rüpels.

Sie aber gibt es nicht zu, unter keinen Umständen. Sie haßt den, der es ihr sagt. Und sie muß es tun, denn sie muß sich doch vor sich selbst rechtfertigen, daß sie Wohlgefallen daran fand, sich mit ihm zu paaren. Und sie findet ihn geistreich und männlich und vornehm, und wer es nicht findet, der versteht ihn eben nicht! Und sie überfließt von Dankbarkeit für ihn  – o Gott, wenn ich nur das nie hätte hören müssen!

Der Herr Zettel aber ist sich seines Besitzes und seiner Verdienste wohl bewußt, er verlangt, daß sie ihn hinter den Ohren kraule, daß seine Mahlzeit gut bereitet werde, und daß für sein Wohlbefinden gesorgt werde. Er rechnet und berechnet, was er tut. Und er schreit, wenn ihm etwas nicht recht ist. Und man fürchtet sein Schreien.

Herr Gott! Kann mich heute noch niemand von dem Gewicht des Hasses befreien? Wozu lebt dieser Mensch auf der Erde? Wozu war er da? Niemandem, nicht einmal sich zur Freude, und uns zum Verhängnis!

Wie sehr er ein Druck auf ihrem Leben, ein Mühlstein an ihrem Halse war, das mochte man an einem ermessen: wenn er abwesend war, dann war sie ein fröhliches Kind; sobald er kam oder in der Nähe war, wurde sie ein gedrücktes Weib.

Und das werde ich ihm nie verzeihen; wenn ich ihm in einem anderen Leben wieder begegnen müßte, ich würde ihn verfolgen, es ihm ins Ohr schreien, und die Höllenpein der Selbsterkenntnis wie siedendes Oel über ihn zu schütten suchen.

Ihr aber verzieh ich nicht, daß sie das alles geduldig trug und zu beschönigen suchte. Ihr verzieh ich nicht, daß sie den Unlieblichen mir vorzog. Ja, wäre es ein Mensch, wie du, wie Benklein gewesen, ich wäre gerade so unglücklich, aber sie wäre mir nicht erniedrigt erschienen.

Und ich verzieh ihr nicht, daß sie die Umgebung ertrug, die so gut übersah, die dich, wenn du je hingekommen wärest, gerade so wie mich, mit Spott und Schauder erfüllt hätte. Er war ja immerhin noch ein Mensch, mit dem man reden konnte. Er war nur ein Plebejer. Aber die Gesellschaft  – die Platituden, die stereotypen Gedanken und Reden  – wie konnte sie diese Sumpfluft ertragen?

Wenn ich die Abende, die ich mit dir, mit Alexandra, mit Erich oder Wilbert und ihren Freundinnen verbrachte, mit denen in ihrem Hause verglich  – dann jammerte es mich ihrer und meiner, der ich mit ihr verkettet war und mich mit ihr in den Sumpf gezogen fühlte, ob ich bei ihr war oder nicht. Wir haben ja auch nicht lauter geniales und druckfähiges Zeug gesprochen, das war ja auch gar nicht unser Ziel oder unser Ehrgeiz, aber der Teufe der Schwere war aus unseren Gesprächen verbannt, die Worte waren Schmetterlinge, nicht faules Stroh, wie dort.

Aber wenn ich ihr solche Dinge vorhielt, dann beugte sie den schönen Kopf und preßte die Lippen zusammen und sagte: »Ich weiß es, und ich leide genug darunter, aber ich kann nicht anders. Ich hab's auf mich genommen, und muß es tragen. Ich kann nicht los. Ich bin wie der Epheu: wo er Wurzel gefaßt und sich aufgeschlungen, muß er bleiben, auch wenn er leidet, man kann ihn nicht lösen, ohne ihn zu zerreißen. Ich bin schwach und feig. Ich hab' dir's immer gesagt.«

Ich stand eines Tages vor ihrem Garten  – es war wieder Frühjahr geworben, und ich hatte sie wieder einmal, ich weiß nicht wie lange, nicht gesprochen.

Sie sagte: »Ich kann diese ewigen Vorwürfe nicht ertragen. Ich mache mir selbst genug.«

»Wofür?« fragte ich.

»Ich habe diesen Mann schändlich betrogen.«

Ich sagte kurz: »Wie erbärmlich doch die Weiber sind!«

Und wir gingen auseinander.

Das war unsere bitterste Zeit. Ich hatte große Lust, überhaupt nicht mehr zu ihr zu kommen. Aber an ihrem nächsten Empfangstag ging ich dennoch wiederum zu ihr. Ich wußte, daß sie ihn aus irgend einem Grund abgesagt hatte, und ich hatte ihr eben deshalb angekündigt, daß ich allein kommen würde. Als ich aber hinkam, war sie fortgegangen und hatte mir hinterlassen, »daß sie einen wichtigen Gang vorgehabt.« Sie hatte auch Auftrag gegeben, daß man mir Tee oder Kaffee vorbereite, wenn ich etwas nehmen wollte. Das sah einer Verhöhnung zu ähnlich, und war sie unbeabsichtigt, so war sie um so fürchterlicher. Ich setzte mich schweigend an ihren Schreibtisch und begann, ihr zu schreiben. Ich war noch nicht fertig, als sie zurückkam, und schon wollte ich freudig den Brief zerreißen. Aber sie sagte mir sofort, sie müsse gleich wieder gehen,  – zu einer Freundin oder zur Schneiderin, ich weiß nicht mehr wohin. Ich wollte sie begleiten. »Das geht nicht«, sagte sie.

»Nun gut, dann geht es nicht«, erwiderte ich, »dann können wir gleich Abschied nehmen. Ich reise übermorgen von Wien fort.«

»Auf wie lange?« fragte sie.

»Das weiß ich nicht.« Sie begann zu verstehen. Ich trat dicht vor sie hin.

»Ich halte es nicht mehr aus, Rosa Maria, und ich kann mich nicht so mißhandeln lassen.«

»Wer mißhandelt Sie?«

»Sie!«

»Ich mißhandle Sie nicht.«

»Also nicht. Wenn Sie es sagen, ist es auch gut. Aber ich ertrage diese Rücksichtslosigkeiten nicht länger. Ich kann nicht mehr. Es reibt mich zu sehr auf. Und mir tut nur eines leid, zu wissen, wie du hier elend verkommst.«

»Geh,« sagte sie, »ich habe kein Recht, dich zu halten, und ich hab' es ja immer gewußt.«

Ich wollte sprechen, da trat der Major ein, und sie sagte nur: »Ich bedaure, daß ich Sie heute nicht empfangen kann. Ich begreife nicht, daß Sie meine Absage nicht erhalten haben. Aber der Major und ich müssen einen dringenden Besuch machen.«

»Ja, wir bedauern sehr, lieber Wielemann,« sagte der Major, »machen Sie uns doch ein anderes Mal das Vergnügen!«

Ich ging hinter ihnen die Treppe hinab. Da drehte Rosa Maria sich um, und ihre Lippen formten die Worte mehr, als sie sie flüsterten »komm noch einmal!«

Der Major sah sich um. Ich sagte: »Ich habe Ihnen die Adresse gebracht, wo meine Schwester den Tee besorgt.«

Ich kam wieder. Wieder einmal saßen wir in demselben Zimmer vor einander und wieder spielten wir das immer gleiche Spiel. Sie gab mir Recht, und ich war diesmal ernstlich entschlossen, fortzugehen. Ich hatte schon Vorbereitungen getroffen, und ein schmerzlich wildes Freiheitsgefühl erfüllte mich, ich glaubte mich wirklich fest,  – und zum Abschied warf sie sich an meinen Hals, und wir küßten uns, wie wir uns seit unserer Trennung nicht mehr geküßt hatten, und ich fühlte, daß ich rettungslos verloren war.

Sie lächelte schon wieder im Gefühl ihres Sieges.

»Du wirst sagen, ich halte dich durch die Sinne fest« Ich lächelte nur.

»Du hältst mich durch alles fest. Ich bin dir verfallen, und du wirst mich weiter zu Grunde richten. Vor allem deshalb, weil ich den Gedanken nicht ertrage, daß du hier so verkommst, weil ich auf den Augenblick warte, wo du wieder zu dir selbst und damit zu mir kommst. Ein Adlerskind bist du, in einem Gänsenest aufgezogen, das sich an die Gänselein gewöhnt hat, mit denen es aufgewachsen ist und das Fliegen verlernt hat. Die Gänse aber sind unbändig eitel auf das Adlerskind und binden ihm die Flügel, damit es ja nicht versuche, zu entfliegen, und sie sagen, das geschehe aus Liebe!«

Sie lachte ihr klingendes Kinderlachen.

Es war Frühling, und eine große Schale voll roter Rosen stand auf ihrem Tisch, ein Geschenk Clemences. Sie nahm eine davon und küßte sie und gab sie mir.

Von da an war es, als ob eine neue erwachende Liebe unter uns begänne. Sie steckte die Blumen an, die ich ihr brachte, wenn sie ausging, und ich freute mich, daß sie meine Zeichen trug. Wieder empfingen mich leuchtende Blicke, wenn ich kam, und folgten mir, wenn ich ging. Aber wenn ich ihr vorhielt, daß Wochen vergingen, ohne daß wir uns allein sprechen konnten, und sie bat, zu mir zu kommen, dann sagte sie:

»Nein, an dem Tag, wo ich zu dir komme, bin ich auch wieder dein, das weiß ich zu gut. Ich kenne deine verräterischen Küsse. Ich bin ja nur sicher, weil du nicht nimmst, was ich nicht gern gebe. Nein, ich kann dieses Doppelleben nicht wieder führen. Ich kann nicht zweier Männer Frau sein. Ich kann aus meinem Wesen nicht herausgehen. Und wenn du ein Weib wärest, würdest du nicht anders handeln können, und wenn du ein Weib besser verstündest, würdest du auch mich verstehen.«

Sie gestand offen: »Ja, ich liebe zwei Männer, und darum muß ich doppelt leiden, aber ich kann nicht beiden angehören! Ich kann den Knoten nicht lösen, vielleicht löst ihn das Schicksal.

O ja, wenn du statt seiner gekommen wärst, es wäre alles anders geworden.«

»Wie hat man dich verpfuscht, du schönes Werk Gottes,« sagte ich zu ihr. »Du bist die Liebe selbst und kannst niemanden recht lieben. Deinen Mann nicht, denn wie könnte ich sonst da sein  – mich nicht, denn wie könnte dein Mann noch sein? Was soll man mit dir tun?«

Sie schlug ein englisches Buch auf, das vor ihr lag, »The House of Life«, das ich ihr gebracht hatte und führte meine Hand nach den Versen:

»Sad Rose Mary, what shall be done
With a rose that is but a broken one?  –
Mother, let it fall from the tree
And never ask where the strewn leaves be,
Till winds have passed and the path is free!«

Immer wieder löste sich mein Zorn gegen sie in Mitleid auf. War es nicht ein Jammer, wie sie verging?

Sieh, kein Glaube an andere Welten ist mir je so einleuchtend erschienen  – viel einleuchtender jedenfalls, als der rohe Glaube an Hölle und Paradies  – wie der, daß unsere Existenz nur das Glied einer Kette von vielen Existenzen ist, die wie Funken eines Stromes vor uns aufblitzen, wie Perlen, die an einem Faden durch die Finger eines Gottes gleiten. Ein Wandeln durch die Reiche des Seins, in deren jedem wir uns durch ein hohes starkes Leben nach hohen Zielen zu einem noch höheren zu entwickeln haben. Nicht was wir tun,  – was aus uns wird, ist die Aufgabe unseres Daseins.

Sag, konnte mir, der ich sie so liebte, etwas bemitleidenswerter, wehevoller sein, als ihr Leben? Mußte sie nicht notwendig immer tiefer hinabgezogen werden, einer immer kleinlicheren Existenz verfallen, sie, die unter Menschen lebte, die nie viel gewesen waren, die mit dem wachsenden Verfall des Alters von Jahr zu Jahr mehr zurückgehen mußten? Mit Lebensläufen in absteigender Linie?

Und ich selbst? Denke, wie ich einst ausschritt! Bis ich über das Gitter gesprungen war, das in den Garten der Erfüllung zu führen schien! Denn was war ein Mensch, so lange die Quellen des ewig fortsprießenden Lebens, die jedem anvertraut sind, die Quellen des Feuers und der Frucht, nicht Leben zeugend und rein fluten durften? Was war ein Wesen, das sich nicht paarte wie der Vogel und sich gesellte wie der Mensch!

Aber da war ich auf den Boden alter Verwünschungen getreten, hoffnungslos und unfruchtbar festgehalten in einer Liebe, die oft beinahe Haß war. Am Ufer ihres Sumpfes mußte ich bleiben, vergeblich rufend, wie der Knabe im Märchen, der auf das Auftauchen des Weibes mit den Goldhaaren harrt. Wo war mein Weg?

Unlösbar, beide! Ich fühlte es wohl! Und der feige, aber so süße Gedanke an die Waffe und den einen Fingerdruck, der allem ein Ende machte, kam immer wieder.

 

Da könnte mich einer fragen,  – nicht du  – warum ich nicht in anderer Weise ein Ende machte. Ich konnte ja gehen. »Ich konnte« sage ich, denn die Möglichkeit war nicht benommen, und viele viele Male hab' ich es gewollt. Wieviel stolzer, männlicher, größer wäre es gewesen! nicht wahr? vielleicht, vielleicht sogar das beste, das einzige Mittel, sie wieder ganz an mich zu fesseln, und hätte sie es nicht »verdient«? nicht wahr?

Viel, viel könnte ich hier sagen, obgleich das eine Wort »ich liebte sie« genügen würde.

Wenn alle Menschen über die Leerheit und Oede ihres Lebens klagen, war meines nicht ausgefüllt? Wenn Rausch und Erregung das Daseinsgefühl steigern, wer fühlte sein Leben wie ich?  – nie bin ich auf ihr Haus zugegangen, ohne daß in den letzten Minuten, ehe ich sie sah, ich mich einer Ohnmacht nahe fühlte. Von dem Augenblick aber, wo ich sie erblickte, und so lange ich in ihrer Nähe war, war ich wie von doppeltem und dreifachem Leben durchströmt, und sie selbst sagte mir, sehr bald, nachdem wir uns kennen gelernt: »du weißt gar nicht, wie anders du bist, wenn du mit mir sprichst, als vor anderen Leuten.« Alle Hemmungen, die das Wesen der Menschen binden und trüben, hörten auf, wenn ich mit ihr allein war. Wir waren im Mittelpunkt, und alles Sein und Blühen und Atmen schien um uns konzentriert. Und das sollte ich lassen, um einen stolzen kalten, einsamen Weg zu gehen, den ich in ewigem Düster voraussah?

Sieh', ich bin eine Staubblüte der Natur, zweihäusig, nicht geboren, Früchte zu reifen,  – sondern dazu, daß ich treibe unter dem heißen Winde der Leidenschaft hierhin und dorthin nach meiner weiblichen Blüte im andern »Hause« suchend, und zwecklos zu verderben, wenn ich sie nicht fand.

Und nun hatte ich sie gefunden, und zwischen uns war nichts als eine Glaswand, und wie eine honigtrunkene Biene immer wieder an die Fensterscheibe stößt und gar nicht begreifen kann, was für ein unsichtbares Hemmnis sie von dem sonnigen Tag vor ihr scheidet, so flog auch ich immer wieder meiner Blüte zu.

 

Höchstes rätselhaftestes Geheimnis der Schöpfung! dieser hermaphroditischen Welt! Gefühl, in dem wir alle sind und leben, durch das wir leben! Feuriger Mantel, aus dessen Falten die Kältesten fielen! Fremdeste, befreundetste aller Kräfte, Kraft, von der jeder spricht, die jeder preist, und jeder lästert! Die du in allen Trefflichkeiten erscheinst und in allen Lastern, die du das Holdeste bist und Unholde schaffst! Irrendster, furchtbarster, schändlichster und geschändetster Gott! Gott mit der holden Maske und dem schrecklichen Antlitz! Riesiges fruchtbares Tier, das steril wird aus Zeugungslust …!

Eines Abends hatte ich ein sonderbares Gespräch.

Ich habe dir schon geschrieben, daß Rosa Maria von aller Religion nichts wissen wollte. Ich weiß nicht, wie der Major darüber dachte. Im Leben hielt er streng und flach auf die unvermeidlichen Gebräuche. An sehr hohen Festtagen wurde in die Kirche gegangen. Aber ich sah keine Geistlichen in sein Haus kommen. Er mochte sie nicht recht leiden, seit er bei einer Reichratswahl in Görz als Kandidat der sogenannten Mittelpartei aufgetreten und einem geistlichen Gegenkandidaten unterlegen war. Um so mehr kamen sie zu den alten Bréal. Der Regierungsrat war zwar seiner so förderlichen Frömmigkeit bereits müde geworden; seine Frau aber hatte keinen anderen wirklichen Verkehr. Doch kamen ihre Freunde offenbar nicht an den Whistabenden. Zweimal nur sah ich einen jungen Priester, der von seinem Oheim, einem Prälaten in Triest, empfohlen ins Haus gekommen und vielleicht nur zufällig gerade an diesen Tagen zum Abendbrot erschienen war. Er hieß Don Giuseppe Tocchi, und war ein junger schlanker Mensch mit blassem Gesicht und schmalen weichen Händen, Augen voll Glut, die er jedoch meist niedergeschlagen hielt. Er sprach nicht viel und benahm sich so bescheiden, als man nur konnte. Eines Abends jedoch, während die Alten und der Major spielten, sprachen Rosa Maria und ich über Frauendichtungen und Frauenverehrung  – ich weiß nicht mehr, wie unser Gespräch dieses Thema ergriffen hatte. Ich sagte, daß unsere Zeit auch darin neue Ideale suche, daß wir nicht mehr das sogenannte »weibliche«, zarte, hilflose Weib preisen, sondern große, kräftige lebensfreudige Frauen, und daß jene verhimmelnde Liebe zum Schwachen und Törichten nur in Zeiten, die die Entsagung priesen, möglich war.

Rosa Maria sagte, während ein Schatten über ihr Gesicht flog: »Wo finden Sie solche Frauen?  – und wer weiß, ob die Frauen jener Zeiten nicht lebensfreudiger waren, als die unsern!  – Und ritterlich hoffnungsloser Dienst war doch auch schön  –  – nicht schön, wenn die Frau es verlangte, schön wenn der Mann es tat …«

Ich widersprach und sagte: »Ich mag den Toggenburger nicht. Es ist auch unwahr. Auch die Entsagung war nur Hoffnung.«

Rosa Maria lächelte. Da mischte sich der junge Geistliche zum ersten Mal ins Gespräch. Er sagte:

»Ich möchte mir erlauben, der Frau Majorin recht zu geben. Heute will freilich niemand mehr die Hoheit der Entsagung begreifen.«

Rosa Maria aber, die, sobald jemand mir widersprach, sogleich für mich stritt, sagte:

»Die Früchte des Lebens werden nicht durch Entsagung errungen.«

»Höhere, leuchtendere Früchte vielleicht«, sagte der Priester.

Seine Stimme war wohllautend, nur etwas zu hoch und verschleiert.

Rosa Maria sah ihn an. Ihre Unfrömmigkeit trieb sie zum Widerspruch, und sie sagte:

»Ich verstehe das nicht.«

Don Giuseppe erwiderte nichts mehr.

Ich konnte ihr hier nicht erklären, welchen Mummenschanz Eros meiner Meinung nach in der Poesie aller Zeiten getrieben, die ja nur ein Maskenzug des quälenden und höhnenden Gottes ist.

Als alle fortgingen, und wir uns bei der Tramwaystation verabschiedeten, da war mir's einen Augenblick, als sähe ich beim Schein der Laterne die wahrhaft glühenden Augen des jungen Italieners auf Rosa Maria geheftet. Es war nur ein Augenblick, und ich hatte mich vielleicht getäuscht, denn sie waren niedergeschlagen wie sonst.

Wir gingen den gleichen Weg, und er sagte in dem bescheidensten Ton, den man denken kann:

»Die Menschen von heute sagen, sie können die Entsagung nicht verstehen, und müssen doch so viel entsagen. Sie rühmen sich ihres Unverständnisses der alten Ideale und müssen ihnen leben, nur nicht mit jener Freude und Hoffnung wie wir. Glauben Sie daß diese Frau glücklich ist?«

Ich erzitterte und sagte: »Wer ist glücklich? Darin sind wir Skeptiker mit Ihnen einig.«

Er kam auf die Literatur zurück.

»Der Begriff der Liebe widerspricht der Entsagung«, sagte ich.

»Gerade die Liebe zeigt sich in der Entsagung am reinsten.«

Ich kenne das, dachte ich, und erwiderte nichts.

»Unser größter Dichter«, fuhr er fort, »hat sein ganzes Leben einer idealen Liebe gewidmet, der er in unirdischer Treue anhing und die er allein besang.«

»Und er hat inzwischen geheiratet und Kinder gezeugt und Liebesverhältnisse gehabt!«

»Das beweist nichts, obgleich es wohl nicht recht war. Er konnte sein Temperament nicht überwinden und er war kein Priester, der es tun mußte.  – Aber sein Herz gehörte der einen Beatrice. Und ich sage Ihnen, es gibt manche gleich ihm, die ihr glühendes Herz einem Weibe gegeben, das es verzehrte, das es aß … vielleicht sahen auch sie das einst in einer wunderbaren Vision »Vide cor tuum«  – aber sie empfanden in diesem Schmerz eine Wollust, die unbeschreiblich war, und sie warfen sich um so glühender Dem hin, der Alles ist und alle Liebe in sich aufgenommen hat. Aber das ist mystisch, das ist Gnade, unerkennbar für den, der nicht glaubt.«

Ich aber dachte: ich verstehe dich viel besser als du glaubst mein Lieber; ich gedachte des Blicks, den ich bemerkt hatte und sagte zu mir: Auch du!«

Ich hätte mein eigenes Herz zeigen können und sagen: »Vide cor tuum«, aber schon machte diese mystische Nebenbuhlerschaft mir meinen Begleiter unsympathisch; ich ersah bereits neue Versuche, sich ihrer Wunden zu bemächtigen, um neue Bande für sie zu schmieden, und ich sagte:

»Hochwürden, das sind Fragen, die wir so spät nicht besprechen und gewiß nicht lösen können. Sie führen auf soviel, das vielleicht unlösbar ist und worüber die Menschen seit jeher in zwei Lager geteilt sind …«

»Ja in die, die der Gnade teilhaft sind, und die, die die Wahrheit nicht kennen«, sagte der Schwärmer.

Wir waren vor dem Pfarrhof angekommen. »Das Tor zum Mittelalter öffnet sich Ihnen«, sagte ich lächelnd.

Er lächelte gleichfalls und gab mir die weiche schmale Hand:

»Ich würde Ihnen«, sagte er, »obgleich Sie ungläubig sind, gern einmal Verse zeigen, die Sie vielleicht interessieren werden.«

»Auch du!« dachte ich wieder, »auch du!«  –

»Es wird mich sehr freuen und sicherlich interessieren, wenn Sie es erlauben«, sagte ich und verabschiedete mich. Ich ahnte ja schon, an wen diese mystischen Verse unirdischer Liebe in Wahrheit gerichtet waren. Ich konnte mich nicht täuschen. »O du Männerverhehrerin!« dachte ich.

War es denn hier um mich weniger trostlos als in dem kalten Zimmer des Kaplans, dort wo eben ein Fenster sich erhellte, und in das ihm ein weltliches Teufelchen gefolgt war, ohne daß er es ahnte?

War nicht mein glühendes Herz einem Weibe gegeben, das der Herr der Liebe zu mir gebracht, in ein blutfarbenes Tuch gehüllt?

War es nicht mein Herz, »das völlig glühte?« zeigte er mir es nicht immer wieder in neuen Visionen, das Herz, das zuckt und aus dem die Flamme bricht: »Vide cor tuum!«

Hatte er sie nicht durch die Kraft seines Wesens gezwungen, das glühende Herz zu essen und  – sie aß es zuletzt mit Zögern! »Darnach aber dauerte es nicht lange und all seine Fröhlichkeit verwandelte sich in bitterstes Weinen.«

O ja  – o Herr der Liebe  – sie aß es zuletzt mit Zögern!  –

 

Es war Frühling geworden, ein ungewöhnlich rascher und stürmischer Frühling, sowie der des Vorjahres feucht und kühl und langsam gewesen war. Mit wilden Regengüssen und Ueberschwemmungen war er gekommen und hatte sein Farbenkleid über die Erde geworfen. Die Bäume vor meinem Fenster waren grün, und grün die Alleen der Ringstraße, und Mädchen und Frauen in hellen Kleidern mit farbigen Schirmen und frischen Gesichtern ergossen sich wie losgelöstes Leben durch die Straßen der Stadt.

Auch wir gingen manchmal weite Wege miteinander, und sprachen von der Welt, und sie sagte: »Gehe fort! und tue! Ich werde von dir hören und mich deines Ruhmes freuen, laß mich zu Grunde gehen. In dir wird ein Bild von mir leben, das schöner und besser ist, als ich wirklich bin. Zuviel ist in unser Leben getreten, was uns befleckt und vernichtet hat. Wir haben uns zu spät gefunden. Löse dich, von mir, daß du wenigstens frei dahin gehst!«

Es waren nur Worte! Worte!

»Ach Gott! wie ist alles schlecht, schlecht!« sagte sie einmal verzweifelt, »schlecht und hoffnungslos für uns!«

Es kränkte sie auch, daß ich um ihretwillen nicht arbeitete und meine Tage müßig und elend verlor, und oft versuchte ich selbst, mich emporzuraffen. Die alten Bilder und Pläne tauchten ferne wieder in mir auf. Hätte sie Kraft und Adel genug besessen, wie andere Frauen in gleichen Fällen, meine Gefährtin zu sein; wenn sie meine Geliebte nicht sein konnte, mein inneres Leben zu beruhigen und zu glätten, anstatt es durch ihre jäh wechselnden Entschlüsse und Stimmungen immer wieder aufzureißen und zu zerstören, wir hätten eine jener qualvollen, aber reichen Freundschaften führen können. Aber da lag das Verhängnis: wir konnten nicht Bruder und Schwester sein; wir waren vom ersten Tag an nicht geschwisterlich gewesen, eine heißere Anziehung schraubte uns zusammen, sie wie mich  – und sogleich begann Entsetzen und Angst sie wieder zurückzuziehen.

Viele Menschen werden sie verdammen, die die unsichtbare Fessel nicht verstehen, die an ihr hing.

Und wenn ich dachte, wie ich vor wenigen Monaten gelebt hatte und wie ich jetzt lebe, dann rang sich manchmal auch in mir ein Haß gegen sie aus den tiefsten Gründen meiner Seele los, der sich dort niederkauerte und ringelte und wuchs wie eine kalte gefährliche Schlange, vor der mir selbst schauderte.

Es tat nicht gut, wenn ich mit diesem Gift in mir zu ihr kam. Dann wurde auch sie in Qual und Bitterkeit versenkt  – mit Freude mußte ich zu ihr kommen, wenn die Stunde eine frohe sein sollte. Dann flog sie mit  – hätte ich die zehnfache Kraft der Seele gehabt, hätte ich einen ehernen Willen besessen, eine unerschütterliche Hoffnung auf mich selbst und mein Schicksal, ich hätte noch gesiegt.

Weil es aber nicht gut tat, so floh ich und ging in die Berge.

Ich speiste zu Mittag mit unserem alten Freunde Doktor Mann. Er wollte mich verheiraten. Ich mußte lachen, mitten in meinem Unmut. Aber ernstlich: welch einen Frevel würde ich begehen, und welche Tragödie müßte früher oder später daraus werden, wenn ich mich je dazu verstehen könnte! Ich spreche nicht von damals, sondern von der Gegenwart.

Ein Erlebnis, das ich sofort erzählen werde, wird dir das klar machen.

Doktor Mann warf mir auch vor, daß mein Vermögen es nicht ertrüge, daß ich so ins Kapital wirtschaftete, und auch er klagte, daß ich keinen Beruf hätte. Ich wehrte mich gar nicht.

Ich hatte meine Rechnung mit mir selbst damals noch nicht abgeschlossen: ich spielte noch, aber auf eine Karte.

»Du hast ein Grübchen am Kinn, zu dir hat der liebe Gott gesagt: geh weg« sagte Dicki einmal zu mir.

Ich ging in die Berge. Noch einmal habe ich den vollen Rausch des Frühlings gefühlt, der so traurig für alle Verlangenden ist.

Durch einsame Bergtäler wanderte ich, in denen Tannen standen und verstreute graue Steinblöcke zwischen weiten grasbewachsenen Kuppen. Ich sah Nebelmeere um mich wogen und die rosafarbenen fernen Spitzen in das zarte weißgraue Licht hineinragen; und wenn der Nebel sich verzog und die Abgründe sich öffneten, sah ich Bastionen aufsteigen wie ungeheure Verteidigungswerke der Erde, Wall an Wall und Fels an Fels. Und ich sah an glühenden Abenden die feuerfarbenen Wolken wie Fanale kommender Gewitterzeit von hohen Burgen aufsteigen. In der Nacht bin ich an Bergrändern gegangen und sah in fernen Tälern und einsamen Häusern die Lichter der Menschen brennen.

Ich ging in feuchten dampfenden Tälern durch frisch grünende Wälder, durch die Ebene, in der die Felder noch braun und nackt lagen und die Bauern mit weißen Rindern und braunen Pferden den Pflug durch die fetten Furchen trieben.

Und ich sah die ganze Erde erfrischt den Orgien des Sommers entgegenblühen. Und ich dachte: alle Geschöpfe und Wesen gehen dem großen Hochzeits- und Früchtefeste der Natur entgegen. Nur der Mensch kann in unnatürlicher Entsagung vergehen.

Oder konnte Don Guiseppe Recht haben? Konnte die alte Askese, die ich haßte und verachtete, und der ich nur gezwungen lebte, von Bildern gegeißelt wie ein Einsiedlermönch  – aber ohne dessen Paradiese  – konnte sie von Wert sein? konnte sie feinere Früchte des Geistes reifen, Perlen, die ja der Muschel Krankheit sind? Ich glaubte es nicht.

Nachdem ich durch mehrere Tage helles Wetter gehabt, brach der Regen nieder und ich mußte in einem Wirtshause sitzen bleiben.

Ich saß auf einer großen hölzernen Terrasse und schrieb lange Briefe an Rosa Maria, die ich nie absendete. Sie schien mir so fern.

Vor mir troffen die Wälder vom üppigen Wasser, der Bach schwoll an und flutete über die niedrig gelegenen Wiesen, so daß die Büsche wie Inseln aus einem grauen trüben See hervorsahen; es flutete auch über den Bahndamm, und der Eisenbahnzug vor meinen Fenstern fuhr mit den Rädern durch das spritzende Wasser.

Dann ein Tag, und alles war verlaufen und verströmt, und Wiesen und Wälder schienen doppelt so grün und farbig als vorher.

Als ich meinen Weg weiter ging, sah ich über einem nackten stillen Felsenkopf neben mir einen Falken aufsteigen, ein zweiter folgte mit einem grellen Pfiff, und beide zogen ihre fernen hohen Kreise.

Wie einsam mein Weg war! Wie sehnsüchtige bunte Mittagsvögel mit blanken Schwingen waren im vergangenen Sommer die fernen Gedanken des sehnenden Weibes mit mir gezogen. Dies Jahr war ich allein.

Fortfahren? auch das Reich dieser Welt hat viele Wohnungen. Meere gab es und ferne Länder mit nicht auszudenkenden immer neuen Bildern … Wüßte ich es nur nicht:

Post equitem sedet atra cura!

In diesen Stunden bin ich mit mir selber ins reine gekommen. Ich maß meine Kräfte und mein Schicksal und ich gab nach. Ich kehrte in den Berg zurück.

 

Ich hatte nur noch wenige Stunden Wegs, dann erreichte ich eine Villa, in der die Mutter eines Freundes lebte. Er selbst war wohl nur Sonntags dort, aber er hatte mich dringend gebeten bei seiner Mutter einzukehren. Ich wurde freundlich aufgenommen und blieb dort über Nacht und dann noch einen Tag.

Erinnerst du dich, daß ich dir im Anfang von einem Fräulein schrieb, daß die Gouvernante von Rosa Maria's Kindern war. Ich hatte sie oft gesehen, aber selten gesprochen, sie war groß und schlank mit einem kräftigen Gang, einem ruhigen Gesicht, mit dunkelblondem Haar und grauen Augen. Rosa Maria, die an der Schönheit anderer Frauen immer ihre Freude hatte, machte mich wiederholt auf den herben Reiz dieses Weibes aufmerksam. Einmal sagte sie mir, sie sei überzeugt, daß das Fräulein mich liebe. Ich hatte nichts davon bemerkt und wußte nichts, was dahin hätte führen können, aber Rosa Maria erriet es mit dem Instinkt des Weibes, und sagte mir, sie habe Mitleid mit ihr. Ich war nicht überzeugt davon, interessierte mich auch kaum dafür, fand es aber für uns gefährlich, wenn es wahr sein sollte. Ich sagte ihr: »Viele Frauen sind mir gut, seitdem du mich liebst.«

Eines Tages hatte das Fräulein, ohne ein Motiv anzugeben, ihren Abschied genommen.

Als die alte Dame, deren Gast ich war, mich zum Nachtessen bat,  – ich war erst gegen Abend eingetroffen  – und wir aus dem Gartensalon ins Speisezimmer traten, und uns an den gedeckten Tisch setzten, trat noch eine schlanke, dunkel gekleidete Dame ein. Die Hausfrau stellte mich ihr als ihrer Gesellschafterin vor, und ich erkannte das Fräulein wieder. Sie sprach bei Tische nur sehr wenig.

Die Hausfrau selbst, eine feine alte Dame, aber müde vom Leben, leuchtete nur dann auf, wenn man von ihrem Sohne sprach. Gerade weil ihre Liebe zu ihm eine unglückliche war, und Wilbert selbst, den das Leben berauschte, nicht oft bei ihr war, und ihr nicht viel zu sagen hatte, hörte sie ihn um so lieber preisen. Sonst versank sie in starres Sinnen.

Am anderen Nachmittag, während sie ruhte, fing ich ein Gespräch mit dem Fräulein an, das lebhaft erwiderte. Später brachte sie Reifstöcke und spielte erst allein, dann nahm ich Teil daran; wir warfen die leichten Reifen einander zu, sie lief und wurde rot und erhitzte sich und lachte hie und da ein kurzes Lachen. Ich tat, was ich tat, um die Zeit zu erschlagen, mit größter innerer Gleichgültigkeit.

Am Abend hörte ich unter meinem Fenster Klavier spielen. Ich ging absichtslos in den Garten. Da erscheint eine Gestalt am Fenster und fragt, wer unten sei. Es ist das Fräulein, das sich mit halbem Leibe aus dem Fenster beugt. Ich melde mich, und sage, daß die wunderschöne Nacht mich verlockt habe, noch im Park spazieren zu gehen. Das Fräulein verschwindet am Fenster, und einige Augenblicke später erscheint sie gleichfalls im Garten. Sie fühlt, daß sie ihr Kommen doch irgendwie motivieren muß, erzählt etwas von einer Gittertüre, die noch geschlossen werden müßte, verwirrte sich aber mitten im Reden. Dann ein paar nichtssagende Bemerkungen. Ich hatte vor einer Stunde an Rosa Maria geschrieben und war erfüllt von quälenden Gedanken, was sie tun, ob sie an mich denken mochte. Das große schlanke blondhaarige Weib geht neben mir her und sagt plötzlich:

»Sie denken natürlich an Frau Georgi; jemand anderes interessiert Sie ja nicht.«

Du kannst dir denken, daß die Bemerkung nicht erfreulich für mich war. Aber ehe ich etwas erwidern kann, sagt sie »Gute Nacht« und geht; und wie sie geht, kann ich nicht umhin, zu bemerken, daß auch dieses Weib eine herrliche Gestalt und einen schönen Gang hat.

Ich gehe noch eine Viertelstunde mit verwirrten Gefühlen und ärgerlichen Gedanken im Garten umher, dann steige ich die Treppen zu meinem im zweiten Stockwerke gelegenen Zimmer hinauf. Da ich leise, um Niemanden zu stören, über den Teppich auf dem ersten Treppenansatz gehe, steht das Fräulein vor der Glastüre, die zur Wohnung führt, offenbar auf mich wartend, und sieht mich mit ihren brennenden grauen Augen an. Denke dir meine armen verdurstenden Sinne! Es war ja gar nicht anders möglich, als daß ich blind, wie unsinnig meine Arme um ihren Leib schlang, während sie die Augen schloß, das Haupt zurückwarf, und Worte flüsternd, die ich nicht verstand, mich in ihr Zimmer zog. War es ein plötzlich aufflammendes Begehren, das ihr die Besinnung raubte, war es wirklich eine lang zurückgedämmte Leidenschaft, die vielleicht aus der Eifersucht auf ihre Frau entsprungen war, ich weiß es nicht. Genug, auch sie sprach Liebesworte, aber es war nicht die Stimme, die ich hören wollte, und sie küßte mich mit wilden Küssen, aber es waren nicht die feinen Lippen, nach denen ich lechzte. Aber ich umschlang sie nur um so wilder und zog sie nach ihrem Bett …  – und, mechanisch, in der Gewohnheit, die mir aus meinen Liebestagen geblieben war, kniete ich nieder, um ihr die Schuhe aufzulösen, wie ich es Rosa Maria immer getan, und, da, wie ich das tue, und mich niederbeugen will, wie sonst den Fuß zu küssen, da durchzuckt es mich wie ein glühendes Messer, das in mich gerannt würde,  – »Sie ist es ja nicht!« und ich lasse die Hände sinken, stehe auf und starre sie an. Erst faßte sie mich wieder, fühlt aber schon, was in mir vorgeht und schlägt die Arme vors Gesicht. Ich aber, wie ein Wahnsinniger, um jämmerliche Tränen zu verbergen, eile hinaus, schlage die Türe hinter mir zu, renne auf mein Zimmer, und werfe mich auf mein Bett, starr und elend, als ob mich ein Krampf befallen hätte.

In dieser Nacht hätte ich mich sicherlich getötet, wenn ich eine Waffe gehabt hätte.

Am nächsten Morgen bin ich abgereist.

 

Als ich zwei Tage später Rosa Maria gegenüber saß, und sie mich nach den Erlebnissen meiner Fahrt fragte, erzählte ich ihr auch dieses, wenn auch nicht so wie jetzt dir, sondern andeutungsweise.

Da aber brach sie in wilde Klagen aus, wenn sich dieses Wort auf unsere so leise geführten Gespräche anwenden läßt.

»Ich habe dich vergiftet, wie ich vergiftet bin, und dein Leben zerstört  – und du wirst krank und elend!« und sie beschwörte mich stürmisch  –  – mir eine Geliebte zu suchen! Dasselbe Weib, das einst mit Tränen in den Augen mit mir von der »Schande der Menschheit« gesprochen hatte! Hörst du? und das, nachdem ich dieses Ereignis erzählt! Es war dumm, es war rührend, es war grotesk! Ihre vom Wege abgeratene Liebe machte sie verrückt. Gott weiß, was ihr irgend Jemand gesagt hatte!

Und da sie berückend schön vor mir stand, und ich an mich halten mußte, um sie nicht in meine Arme zu reißen, schwor ich ihr zur Antwort,  – daß ich nie im Leben ein anderes Weib berühren werde als sie.

Sie aber sagt: »Und ich werde dir nie etwas anderes als eine Schwester sein.«

Und ich gleichfalls rasend: »Gut, dann mache ich noch heute Nacht ein Ende!«

Sie: »Nein! Geh fort! Verachte mich! Hab' mich nicht so lieb! Wie kann man ein Weib wie mich so lieb haben?«

Und dann Erörterungen und bitterer Streit, flehentliche Bitten, ich möchte lieber sie vernichten, und ein langer wilder Abschiedskuß.  –

O Guido, ich lache heute in trostlosem Ingrimm über die tragikomischen Scenen, die unsere in die Irre gegangene Leidenschaft uns aufführen ließ.

Du siehst, ich habe mich nicht umgebracht, wohl aber erkältet, denn ich war im leichten Frühlingsanzug, und es war bitter kalt geworden und regnete, und ich konnte auf dem ganzen Wege keinen Wagen auftreiben.

Aber ich trug den Tod in der Seele. Wie ein lebendig Begrabener war ich, eingeschlossen im Grabe meiner Hoffnungen und gequält von der Begierde zu leben.

Wie gering und jämmerlich ging zu Ende, was so kühn und verheißend begonnen hatte.

Wo waren die sonnigen Meere und die fernen Küsten mit ihren leuchtenden Städten, nach denen ich im Vorgefühl kommender Eroberungen den Blick geworfen?

Wie war meine Barke im Sande aufgefahren, die bei so hellen Gesängen einst durch die Fluten schoß …!

Ich konnte mich in meinen Fesseln winden, aber vor meinen entflammten Augen stand das unentrinnbare, unverlaßbare Weib.

›Era un filtro, un arcano poter …‹

Sieh', es gibt Frauen, die Kinder oder Lieblinge Aphroditen's sind, und denen sie die Gabe ihres Gürtels lieh,  – wer sie geliebt, wen sie geliebt, der kann sich nie mehr von ihnen lösen. Zu wonnig, zu brennend rasen die Erinnerungen in ihm  – sie können Dirnen sein oder Engel, wer ihnen verfallen ist, ringt sich nicht mehr los. Das ist das Geheimnis der Cleopatra wie der Mariamne, der Louise de Chaulieu wie der Manon Lescaut.

Was konnte ich in mir alles gegen sie sagen, sie zu verdammen, ich selbst so gut wie ein anderer!

Und dennoch liebe ich sie, heute wie damals. Nicht nach dem, was sie tun, darf man die Menschen richten, sondern ihre Taten nach dem, was sie sind. Ich sah Rosa Maria's Wesen, das lieblich und fein war  – wer kannte, wer kennt es so wie ich? Ich sah es bis in Gründe hinab, von denen sie selbst keine Ahnung hatte.

Sie war ein schwaches, feines Gefäß, das das aufnahm, was es empfing, ein farbenspielendes Glas, in dem das Reine doppelt strahlte und mundete in dem alles Schmutzige ein Widerspruch erschien. Aber von Anfang an war sie ans Trübe gewöhnt worden. Sie hatte nie, nie unter reinen Menschen gelebt,  – sie hatte den Blick für sie verloren, nur eine unzureichende Sehnsucht darnach war ihr geblieben. Zu tief im Staube war sie geschleift worden. Weißt du, was neun Jahre der Knechtschaft selbst für einen starken Menschen bedeuten?

Aber was kümmert es mich, was Rosa Maria war?

Ich weiß nur, was sie mir war, was sie mit mir hätte sein können.

 

Ein Aufflammen sollte noch sein, und dann war alles vorüber.

Wir versöhnten uns natürlich wieder, und wieder beschlossen wir, wie hoffnungsvolle Kinder, das Leben weiter zu versuchen, die Qualen, die es uns brachte, zu ertragen und auf irgend ein Liebeswunder zu warten.

Daß die Welt sich irgendwie um uns kümmern und in unser Schicksal eingreifen könnte, daran dachten wir gar nicht mehr.

Anna Maria war mit ihrem Gatten nach Wien gekommen, ihr zu Ehren gab der Generalkonsul ein Gartenfest. Er hatte seine Villa in der Brühl verkauft und eine in Dornbach dafür erworben; und dieses Fest sollte gleichzeitig die Eröffnung der Gastfreundschaft im neuen Hause sein.

Wie erinnere ich mich aller Einzelheiten jenes Tages!

Wie blau der Himmel über der Stadt war!

Wie ich Toilette machte und den Frack anzog, und mich auf dem Sofa niedersetzte und erwartungsvoll des Abends dachte, der vor mir war.

Ich nahm einen Wagen und fuhr noch vorher zu Erich, der wieder krank lag. Ich brachte ihm Blumen, Frau Alexandra war gleichfalls bei ihm, er lag im Fieber, sie streichelte seine Hände und sagte: »Sehen Sie nur, Benklein, Felix bringt Ihnen Blumen, wie ein Liebhaber!«

Ich konnte nicht lange bleiben; als ich wieder im Wagen saß, dachte ich: so oder so, beide werden wir untergraben und ausgehöhlt  – der eine schneller, der andere langsamer  … Der »Krumme« ist hinter beiden her.

Der Wagen fuhr durch die Lazarettgasse. Hätte ich es vorher bemerkt, ich hätte es dem Kutscher verwehrt. Ueber die hohen Mauern neigten sich die dunkelgrünen Zweige der dichten Weiden herüber. Durch das Gittertor sah ich um einen massigen Rasenhügel die breiten Kieswege durch den riesigen Garten aufwärts zu dem Haus des Unheimlichen führen.

Keine gute Vorbedeutung schien mir's, daß ich so an meinem Gespenst vorüberfuhr!

Weiter hinaus, durch die Vororte, zwischen niedrigen Häusern, dann an leeren grünen Bauplätzen vorüber,  – die Hügel vor mir,  – durch die Dornbacherallee  – eine endlose Fahrt! Um halb sieben kam ich an. Garten und Zimmer waren schon voll von Gästen. Die Generalkonsulin mit ihren gepuderten Haaren, der jeder, dem sie gut sein sollte, sagen mußte, daß sie wie eine Maria Theresia aussähe, empfing lächelnd und freundlich.

Margaretha Hueber und Anna Maria Bréal strahlten vor den andern hervor. Beide süperbe Erscheinungen und doch so verschieden. Die eine blond und lässig, aber voll warmen Lebens in ihrem schönen Gesicht und in den blauen heiteren Augen: wie eine junge niederländische Patrizierin von den Bildern Rubens sah sie aus, eine voll erblühte weltfrohe Rose. Auch ihre Tracht entsprach dem Bilde. Die andere südlich, mit dunkeln Augen und Locken, vielleicht schon ein wenig zu üppig im Antlitz und den Formen des Leibes, aber doch noch immer mit Recht bewußt, wie gut sie aussah. Sie trug ein Kleid aus schwerer schwarzer Seide.

Rosa Maria war noch nicht da. Sie hatte mir versprochen, in großer Toilette zu kommen.  – Ich hatte die Augen auf den Eingang geheftet und sah die Bewegung: sie kam in einem tief ausgeschnittenen Kleide aus weißer Seide, weißen Atlasschuhen, ein Spitzentuch um den Kopf und einen weißen Kragen um die Schultern. Beides legte sie sogleich ab; um den Hals trug sie eine feine goldene Kette, an der drei große tränenförmige Perlen hingen, in der einen Hand hielt sie einen Fächer aus weißen Straußenfedern. Sie konnte nicht einfacher und nicht prächtiger gekleidet sein. Und sie siegte sogleich, so wie sie eintrat und das Haupt zurückwarf, und vorschritt mit einer Bewegung, die ihr eigen war  – vor ihrer Vornehmheit und Anmut schien die Schönheit der Schwester und der Freundin derb. Der Zug von Trauer, der nie von ihr wich, war um sie wie der geheimnisvolle Duft einer fremden Blume, und das volle Leben der beiden anderen ward flach und reizlos. Es waren nicht nur meine Augen, die sie so sahen. Ein Flüstern ward in jedem Zimmer, in das sie eintrat, als der Generalkonsul ihr das neue Haus und den Park zeigte und, während sie an seinem Arme lächelnd hinschritt, drängte der Strom ihr nach.

In mir aber wechselte das Gefühl eines frohen Triumphes, einer liebevollen Freude für sie, die zum ersten Mal mit einer heimlichen Eitelkeit gepaart war, daß ich dieses Weib besessen hatte mit dem schneidenden Schmerz, daß ich sie nicht mehr besaß. Und als die ersten Töne einer Musik erschollen, die nur Begrüßung der Gäste war, fühlte ich, daß ein leichter Rausch in mir aufstieg, ich fühlte, daß ich heute nur schwer Herr meiner selbst bleiben würde und nahm mir vor, auf mich achtzugeben.

Es wurde Tee gereicht, der Hausherr hielt eine kleine Rede, es fehlte nicht an Banalitäten. Rosa Maria saß neben Margareta inmitten einer Gruppe von Herren, sie freute sich ihres Triumphes, und die Antworten kamen sprühend aus dem kleinen Munde.

Es war ein berühmter Schriftsteller anwesend, der sich ihr sogleich vorstellen ließ und ganz in Bewunderung versank. Er begann ein langes Gespräch mit ihr, und man erlaubte sich nicht, ihn zu stören. Ich sah wohl, daß der Abend für mich eine Enttäuschung bedeuten müßte, daß ich wenig Worte mit ihr würde sprechen können, aber Stunden von eifersüchtiger Qual vor mir hatte. Als sie mich einsam und verstimmt sah, tat es ihr leid, und sie war so auffällig liebenswürdig gegen mich, daß ich Gefahr sah und mich entfernte.

Die Musik begann zu spielen. Polonaise. Der Generalkonsul eröffnete den Tanz mit irgend einer geschminkten Exzellenz, Richard Hueber tanzte mit Anna Maria, der Major führte Margareta, der berühmte Schriftsteller hatte Rosa Maria aufgefordert. Die Lichter waren längst angezündet worden, die Paare jagten durch die zwei mit Blumen und Flaggen geschmückten Säle, in denen getanzt wurde.

Ich ließ die Tänze vorüber gehen,  – auf einmal stand sie lachend vor mir:

»Signore, vergessen Sie unsern Walzer?«

Ich hatte nicht vergessen, und wir tanzten.

Dann führte ich sie in den Gartensaal und sagte:

»Rosa Maria, ich hab' dich lieb.«

»Ich hab dich auch sehr lieb«, erwiderte sie, »aber sei heute brav und verdirb mir den Abend nicht durch dein finsteres Gesicht!«

»Rosa Maria, wie wird der Sommer sein?«

»Ich will heute nicht daran denken, ich will tanzen, nicht denken.«

Schon kamen Herren, sie zu holen.

Ich erneuerte meine Bekanntschaft mit Anna Maria; sie plauderte so lebhaft, daß ich des Redens überhoben war; das war eine große Erleichterung.

Ein Zwischenfall entsteht, weil Richard's junge Dogge plötzlich durch den Saal zwischen die Tänzer springt und einen Herrn umwirft. Anna Maria lacht bis zu Tränen.

Ich sehe, wie Peter Rosa Maria zur Cotillon-Quadrille führt. Ich halte den ganzen Abend für eine überflüssige Banalität.

Ich sehe ihre Schleppe über den Boden rauschen, ich sehe die kleinen Schuhe im Takt ausgleiten, ich sehe sie das Haupt heben und den geschlossenen Fächer bewegen, während sie mit Peter spricht … Ich sehe die kleinen Spitzen, die am Rande des Kleides den Nacken umsäumen, dort, wo ich ihn viel hundertmal geküßt. Von hier aus kann ich fühlen, wie warm er ist.

Es kommt eine Figur, in der Rosa Maria den Major holen muß. Sie geht mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit auf ihn zu und sagt:

»Hier, Eduard, hast du mich!« Und sie tanzen ein paar Takte und reden dann miteinander.

Ich, Tor, verging vor Zorn.

Beim Souper saß ich neben irgend einem kleinen Mädchen, das mich langweilte und dem ich wütend den Hof machte.

Der Generalkonsul bringt einen Toast auf Anna Maria und ihren Gatten aus. Der feine alte Herr mit dem weißen Schnurrbart und Knebelbart strahlt von Fröhlichkeit und Güte. Aristide antwortet lächerliche Phrasen in pathetischem Italienisch. Seine Frau übersetzt lachend, was er gesagt, ins Wienerische.

Rosa Maria sitzt an einer ganz anderen Tafel.

Nach Tische finde ich sie mit dem berühmten Schriftsteller im Gartensalon. Peter hört andächtig zu.

»Dieser Herr,« sagt Rosa Maria, mich vorstellend, »hat mir Ihre Bücher gebracht. Er schreibt zwar nicht, aber er versteht sehr viel davon, und wenn ihm etwas gefällt, dann ist es auch gut.«

Der berühmte Mann, der mich so zu seinem Richter gemacht sah, sagt halb verbindlich, halb verdrossen, daß er sich freue, durch meine Protektion in so schöne Hände gekommen zu sein.

Und er begann sie nach dem Eindruck zu fragen, den dies oder jenes auf sie gemacht. Das war langweilig. Aber wenn ein zärtlicher Vater von seinen Kindern redet, hält man ihn nicht auf. Ich stand endlich auf und ging.

Als ich zurückkam, saß nur mehr Peter da, der von dem großen Mann schwärmte.

Aber Rosa Maria neckte ihn, bis er rot wurde, und kaum mehr zu reden wußte, doppelt verlegen und geärgert, weil es vor mir geschah.

Da stand sie auf und küßte ihn geradewegs auf den Mund. Das hätte sie nicht tun sollen. Da wurden viel Funken zu einem Brand.

Aus dem Saal tönte ein Walzer. Ich bot Rosa Maria den Arm, und wir tanzten. Aber wir brachen bald ab. Sie war erhitzt. Ich brachte ihr Tuch, und wir gingen durch das Treibhaus in den Garten. Fingerhüte, Gladiolen, Iris und Rosen und viel fremde große weißblütige Stöcke standen in dem Glashaus  – still und voll Duft, wie in jenem, in das wir im vergangenen Frühjahr hineingeschaut. Ich zog sie fort.

Die Luft im Freien war weich und warm. Wir gingen über die Kieswege. Wir kannten den Garten nicht. Wir standen wieder vor dem Treibhaus. Was für Gedanken unter den schweren dunklen Locken wogen mochten!

»Rosa Maria, du Blumenbringerin, du Frühling und Sonne meines Lebens, Unvergeßbare, wie hab' ich dich lieb! Wie sehne ich mich nach dir! Und wie bist du schön! Du bist wie eine dieser lilafarbenen Blüten, ganz Zartheit und Glut! Du bist wie eine dieser Nepente, die zucken und sich verbergen, sobald man sie berührt! Rosa Maria, deine Liebe, ob du gewährst oder versagst, leuchtet durch mein Leben! Wenn du grausam bist, bist du immer noch süßer als andere Frauen, wenn sie gewähren!«

»Nicht mehr! nicht mehr!«

»Rosa Maria, laß alles und komm mit mir! Mache mich wieder zu dem, was ich war! Gib mir meine Schwingen wieder und vertraue meinen Schwingen! Königreiche des Ruhms will ich für dich gründen! in Liebesflammen dich hüllen, die nicht verlöschen sollen! Liebeswunder will ich für dich wirken und alle Schauder der Vergangenheit überwinden! Auf den Höhen des Lebens werden wir gehen, seine Wonnen schlürfen und seine Früchte reifen sehen, und seine Qualen selbst sollen uns zu Wonnen werden, die unentrinnbaren, weil wir sie gemeinsam tragen werden.

Fürchte dich einmal nicht, alles geht, wenn man vertraut!«

Ich bedeckte ihre Hände mit Küssen.

Sie schüttelte den Kopf und flüsterte etwas, was ich nicht verstand.

»Laß mich!« sagte sie.

Aber ich warf mich vor ihr nieder und küßte ihren Fuß, ich zog den weißen kleinen Schuh herab und preßte wilde Küsse auf den Fuß, den ich in meinen Händen hielt.

»Sei nicht so verrückt, es wird jemand kommen!« Ich zog ihr den Schuh bereits wieder an, ich biß ein Stück des Atlasbandes heraus, während ich es tat.

»Steh auf  – steh auf  – du Lieber!« sagte sie.

Aber ich kniete noch immer und sah empor, und langsam beugte sie sich herab, und ihre Lippen küßten die meinen und so knieend umschlang ich sie und schloß meine glücklichen Hände um ihren Nacken und küßte ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Brust mit rasenden Küssen.

»Rosa Maria!« scholl es durch den Garten. Es war Peter's Stimme.

Sie riß sich zitternd von mir los. Ich ergriff ihren Arm und zwang sie langsam zu gehen, und wir kehrten von der andern Seite ins Haus zurück. Irgend jemand sah uns sonderbar an. Die Musik spielte einen Walzer, und wir tanzten.

Dieser Tanz war ein Küssen. Wie fühlte ich ihren Arm auf meiner Schulter, ihre Brust an der meinen, ihre Finger in meiner Hand  – o dieser Tanz  –  – ich finde kein Bild für seine Lust. Lieber, ich habe seither nicht mehr getanzt und werde nie mehr tanzen. Man sah nach uns. Die Musik hörte auf. »Weiter!« riefen viele Stimmen, »Weiter!« »Da capo!« rief ich unter stürmischem Händeklatschen. Anna Maria ging auf die Schwester zu und flüsterte etwas. Sie hörte nicht darauf und drängte sie zur Seite. Wir tanzten fort. Andere Paare hörten ermüdet auf. Wir tanzten zuletzt allein. Plötzlich ließ Rosa Maria mich los. In dem Spiegel gegenüber hatte sie das Gesicht des Majors gesehen, der an der Mauer lehnte und sie unverwandt betrachtete. Der Ausdruck seines Gesichtes war in der Tat schrecklich.

Jetzt kam er durch den Saal auf sie zu. Ich fühlte, wie sie zitterte, und führte sie zu einem Sessel. Sie lehnte den Kopf zurück.

Es war nur ein Augenblick, aber es war klar, daß ihr schwindelte … Ich faßte ihre Hand. Der Major riß sie aus der meinen. Nur ein Blick wurde zwischen uns gewechselt, aber er genügte. Was an Verachtung und Haß während eines Jahres der Folter in einer Brust sich ansammeln kann, war sicherlich in der meinen. Aber schon im nächsten Augenblick waren wir beide ernüchtert, und es war eine stillschweigende Uebereinkunft zwischen uns, den Blick zu ignorieren, solang die Welt uns nicht zwang, anders zu tun. Der Major reichte ihr den Arm und ging mit ihr in eines der Wohnzimmer. Anna Maria machte mir leise Vorwürfe, wie man nur so rasend und lang tanzen könne. Ich entschuldigte mich mit der äußersten Höflichkeit.

Es waren nicht viel Leute im Saal gewesen.

Durch die geöffnete Tür sah ich den Major vor Rosa Maria stehen, die auf einem Sofa saß; Margareta und Richard waren gleichfalls bei ihnen. Ich trat ein. Obgleich niemand davon sprach, war jenes unbestimmte Gefühl in allen, daß etwas vorgefallen war. Ich fragte, wie sie sich befinde, es tue mir sehr leid, daß ich nicht früher daran gedacht, aufzuhören. Niemand antwortete. Der Major wollte aufbrechen, sobald seine Frau sich abgekühlt hatte. Peter hatte ihr Tuch und ihr Cape hereingebracht, ich nahm ihm den Kragen aus der Hand, um ihn ihr umzulegen  –  – aber der Major nahm ihn mit einem bösen: »Entschuldigen Sie!« aus meinen Händen und legte ihn um ihre Schultern. Viel hohe Spiegel waren in dem Zimmer, aus denen allen dieselben aufgeregten Gesichter blickten; wie in einem lächerlichen Traum kreisten sie um mich. Einen Augenblick war alles ganz still, dann rief jemand, und dann ging alles hinaus. So wenig vorging, so unbeschreiblich war die Verwirrung, die in allen war; das Gefühl, daß etwas verhängnisvolles geschehen war, war niederdrückend in mir, und Rosa Maria's Gesicht war bleich wie der Tod. Sie reichte mir die Hand, ohne mich anzusehen. Wir begleiteten sie zum Wagen,  –  – es war das letzte Mal, daß ich sie sah … sie ließ sich willenlos und schuldbewußt wegführen.

Ich konnte nicht sogleich fortgehen, obgleich ich es kaum aushielt, obgleich ich fühlte, daß das Fieber mich zu schütteln drohte. Ich ging ans Buffet, stürzte ein paar Gläser Wein hinab  – ohne jede Wirkung. Ich stand noch eine Weile rauchend und plaudernd mit ein paar Herren, ging dann ostentativ mit Margareta durch den Saal; dann fuhr ich nach Hause.

Am nächsten Morgen ließ ich mich durch einen Dienstmann nach ihrem Befinden erkundigen. Er brachte die Antwort: sie sei nicht wohl und könne keine Besuche empfangen.

 

Als der Dienstmann hinausging, ließ er zwei unbekannte Herren in meine Wohnung ein.

Sie waren sehr jung und kamen im Auftrag Peters, mich zu fordern. Ich sollte ihn beim Fortgehen absichtlich zur Seite gedrängt und mich nicht entschuldigt haben.

Ich erklärte, daß ich mich an nichts erinnern könnte, daß es jedenfalls unabsichtlich geschehen sei, daß ich ihn nun nachträglich bäte, mich zu entschuldigen.

»Ob ich diese Erklärung schriftlich geben wolle?«

Dazu sah ich keinen Anlaß.

»Ob ich Herrn Krapp vor ihnen als Zeugen ausdrücklich um Entschuldigung bitten wolle?«

Ich hätte das ja bereits getan.

Damit könnten sie sich nicht zufrieden geben.

Dann bedauerte ich. Schon um Rosa Maria's Willen hatte ich zu diesem Dummen-Jungen-Streich keine Lust. Ich bat die beiden Herren, mich zu verlassen, ich würde mich mit zwei Freunden beraten, die ihnen meine Antwort mitteilen würden.

Es war von selbst verständlich, daß kein Vernünftiger einen Anlaß zu einem Duell fand, und es wurde ein Protokoll in diesem Sinne verfaßt. Aber ich hatte die Rechnung ohne des Jünglings erbitterter Eifersucht gemacht.

Er schrieb mir, daß ich ihn wiederholt und vor Damen verhöhnt hätte und nun »kneifen« wolle, er werde mich als einen Feigling betrachten und mich auf der Straße attaquieren …

Ich sah, daß das Satyrspiel unvermeidlich war. Was wollte ich übrigens mehr? in diesen furchtbaren Tagen, als irgend etwas, was mich ablenkte und mir Luft machte? Ich schickte den Brief zurück, und ließ den Verfasser meinerseits fordern, machte nur zur Bedingung, daß das Duell sofort stattfinden müsse.

 

Am nächsten Vormittag um elf Uhr fand ich mich mit Wilbert und dem Oberleutnant Gnaucke in der Equitation der Josefstädter Kaserne ein.

In einem kahlen Zimmer, an dessen Wand eine mit schadhaftem roten Tuch überzogene, mit gelbem Stroh gepolsterte Bank hinlief und in dem ein Pferdegerippe stand, wurden die Waffen geprüft und desinfiziert. Ich war in guter Uebung und ohne Sorge, obgleich mein Gegner breiter und kräftiger war. Er war in seiner Uniform als Reserveleutnant der Artillerie erschienen und machte ein so feierlich finsteres Gesicht, daß ich lächeln mußte.

Wir betraten den mit Lohe bestreuten weichen Boden der gedeckten Reitschule, durch deren hohe Fenster ein grauer Tag hereinfiel.

Die Männer gingen auf und ab, zählten Schritte und stellten uns. Ich kann nicht sagen, wie gleichgültig mir alles war. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, aber aus ganz anderen Sorgen. Ich hatte durch Clemence die Nachricht erhalten, daß Rosa Maria mit dem Major nach Görz abreise und keine Besuche mehr empfangen werde. Der Major, der von der Vergangenheit nichts ahnte, hatte ihr nach dem Vorfall auf dem Ball den weiteren Verkehr mit mir untersagt. Er erwartete jedenfalls von meinem Takt, daß ich gar nicht mehr versuchen würde, ihn fortzusetzen. Ich war noch nicht entschlossen, was ich tun wollte.

Beim ersten Gang verteidigte ich mich nur, ich weiß nicht mehr, warum die Sekundanten »Halt« riefen.

Als ich in dem Augenblick der Pause meinen Gegner betrachtete, der mit aufeinandergebissenen Lippen dastand, stieg solch ein Aerger über die Dummheit der ganzen Sache und das Gerede, das daraus entstehen mußte, in mir auf, daß ich im zweiten Gang ihn wütend anging … ohne anderes Resultat, als daß eine Klinge zersprang.

Die Waffen mußten gewechselt werden. Ich sah zu den hohen Fenstern und nach der grauen Wand mir gegenüber … Rosa Maria in ihrem weißen Kleide mit den kleinen weißen Schuhen ging dort vorüber. Man reichte mir einen Säbel. Ich hörte das Wort: »Bitte die Herren, die Klingen zu kreuzen« und streckte die Waffe vor. Rosa Maria warf den Kopf mit den dunkeln Haaren zurück und sah mich an. Jemand rief »Los!«

In demselben Augenblick sah ich etwas Dunkles auf mich zukommen. Mechanisch hob ich die Faust. Ein Klang wie von Blech erscholl. Ich spürte keinen Schmerz, aber ich trat einen Schritt zurück und hielt die Hand auf die rechte Brust und Schulter gepreßt. Dann sah ich alle Herren auf mich zukommen, und dann nichts mehr.

Als ich erwachte, lag ich auf der roten strohgepolsterten Bank; vor mir lag ein blutbeflecktes zerrissenes Hemd, und um meine Schulter waren weiße Tücher gewickelt. Jemand sagte eben: »Wenn er den Arm je wieder bewegen kann, kann er von Glück sagen!« Ich lachte.

»Warum, zum Teufel, haben Sie nicht ordentlich pariert?« sagte der Oberleutnant.

Dann lag ich in einem Wagen, gleichgültig zum Fenster hinaussehend und dachte gar nichts.

Vor irgend einem Hause hielt der Wagen. Ein Portier öffnete den Schlag. Ich wurde Treppen hinaufgetragen und befand mich auf einem metallenen Tisch. Mehrere Leute standen um mich und redeten.

»Armer Kerl,« sagte Wilbert, und ich ärgerte mich darüber.

Jemand legte mir einen Flanell auf die Nase, der so betäubend roch, daß ich ihn wegschleudern wollte, aber ich vermochte es nicht. »Zählen Sie,« rief er. Eins, zwei …«

Ich zählte, meine Stimme hallte wie von unzähligen Wänden zurückgeworfen, und ich träumte allerlei verworrene Dinge. Die Welt war jedenfalls zu Ende.

Als ich matt, aber mit einem unbeschreiblichen Wohlbehagen erwachte, befand ich mich in einem Bette in einem großen lichten Zimmer, durch dessen Fenster das grüne Laub der Bäume sah  …

Ein hochgewachsener blonder Herr sagte: »Wie geht es Ihnen?«

Eine dicke Frau mit einer weißen Schürze schob ein Polster zurecht.

Ich war müde und suchte vergeblich darüber nachzudenken, was vorgefallen war. Ich fragte, ob kein Brief für mich da sei. Sehr bald geriet ich in Verwirrung  – denn das Fieber von meiner Erkältung und allen Aufregungen, die ich durchgemacht, brannte noch in mir … und ich geriet durch die Komplikation der Krankheit und der Wunde in große Gefahr. Aber in all meinen Delirien verriet ich nichts; ich fragte nur nach einem Brief, der nie gekommen war. Meine Schwester Edwina kam ins Sanatorium, in dem ich lag und meine Mutter; hie und da erkannte ich andere Gesichter und sah viele Blumen. Als ich klarer wurde, ließ ich Clemence bitten, mich zu besuchen.

Von ihr erfuhr ich, daß Rosa Maria bereits in Görz sei, und daß sie von meiner Verletzung vermutlich gar nichts wisse.

Sie brachte mir einen langen Brief von ihr und sprach sonst kein Wort dazu. Was in dem Briefe stand, du errätst es. Ich fuhr ihr nicht nach. Es hätte ja auch keinen Sinn gehabt. Ein Zusammenstoß zwischen mir und ihrem Mann hätte nichts gut gemacht, und dieser halbe Zustand war nicht mehr erträglich. Ich habe weiter gelebt, ich habe dies und jenes gearbeitet und ich habe sie nicht wiedergesehen. Vielleicht ist sie elend, vielleicht fühlt sie sich schon wieder behaglich im Sumpf  – um so schlimmer für sie. Die Schlange in mir hat sich losgeringelt, und ich hasse sie und ihre elende Schwäche, die mich zerbrochen und mir die Freude des Lebens geraubt, und meine jubelnde Gesundheit in krankhafte Sehnsucht verwandelt hat. Ich hasse sie, die immer nur nehmen wollte und nie geben, die mir Seele und Leib erschöpft und ausgesogen hat, wie ein Vampyr. Ich kann nicht sagen, wie ich dieses Weib hasse!  –

Ich kann aber auch nicht sagen, wie ich sie liebe, die ich hasse, wie die Fessel meinen Fuß hält  – wie ich ihren sinnbetörenden Leib liebe, und wie die Erinnerung in meinem Herzen brennt! Wie liebe und hasse ich ihre kindische Seele, die heute den Himmel begehrt und sich morgen in den Staub treten läßt  – und das Herz, das so weich ist, daß es keinem weh tun konnte, und darum alle verdarb,  – wie liebe ich die Stimme, die in meinem Ohr klingt, die Hand, die ich noch am letzten Tag auf meinem Herzen fühlen werde.

Sieh, ich will nicht überwinden  –  – ich bin nichts, als einer, der sich erinnert. Ich sitze am Ufer und starre über die unendliche Ferne und werfe das Seil einer törichten Hoffnung ins Unermeßliche …

Mein Bestes hab' ich verschenkt oder verschleudert  – mein Boot ist leer  – ich habe kein Recht mehr zur Ausfahrt.

Und dennoch … das Meer des Lebens hat so viele Küsten!

 

Druck von Wilhelm Möller,
Oranienburg.

 


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