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Ein Tag unter vielen

Unser erster Blick rückwärts, in eine nun schon so sehr fern liegende Kindheit, gleicht dem in eine von wallenden Nebeln zart verhüllte Landschaft. Zunächst erscheint alles noch ganz undeutlich, mit verwaschenen, verschwommenen Konturen, und was sich hinter den da und dort schattenhaft sich andeutenden Dingen und Gestalten in Wahrheit verbirgt, erschließt sich kaum unserer Ahnung, geschweige denn unserm Wissen. Mählich aber, während die aufsteigende Sonne das ziehende Gewölk spaltet und auflöst und vertreibt, verflüchtigt sich der feuchte Schleier. Und wie hier bald eine Hügelkuppe oder der dunkle Rand eines Waldes, ein stilles, sanftes Tal oder eines Baches silberner Lauf sichtbar werden, so hebt dort die Erinnerung bald den, bald jenen Vorgang heraus aus der strömenden Fülle unserer gelebten Tage und stellt ihn, langsam immer deutlicher werdend, vor unsere Augen. An ihn klammern wir Blick und Seele. Solche einzelnen Geschehnisse und Erlebnisse, solche nie ganz vergessenen Tage oder Stunden sind wie die Meilensteine längs des Weges, den wir gewandert sind. Machtvoll rufen sie uns unser eigenes kindliches Ich zurück. »Jener Knabe dort«, so spricht erschauernd unser Herz, und eine seltsame Kühle weht uns dabei an, »der war ich! Und jenes Kind, das war ich auch! Wie wunderlich das ist. Wie unbegreiflich habe ich mich geändert, da aus dem Kinde langsam ein Mann geworden ist, dem Grabe so unendlich viel näher als seiner Wiege und seinen ersten, frühen Träumen …«

Haben wir uns wirklich geändert? Ist man wirklich ein anderer geworden? Ach ja, wir müssen es wohl glauben. Doch gibt es da, zwischen dem Ich von einst und dem Ich von heute, einen Zusammenhang, eine verbindende Brücke, die keine noch so lang währende Zeit und keine rollenden Jahre zerstören können. Mancher mag nun denken: Wir, die wir jetzt in der Mitte unseres Lebens stehen oder sie gar schon überschritten haben, wir sehen die Dinge eben nur anders, und deshalb scheinen wir uns selbst anders zu sein. Je näher wir dem Tode sind, als dem unvermeidbaren Abschluß alles Seins, desto mehr wandelt sich in uns das Bild des Lebens und das unseres eigenen Ich. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube, daß es in Wahrheit überhaupt keine Vergangenheit gibt, weil alles einmal Gewesene noch im Gegenwärtigen ganz lebendig ist.

Und deshalb lebt noch heute in mir das Kind, der Knabe, der ich einmal gewesen bin. Und in jenem Knaben lebte schon ganz der Mann, der ich später einmal wurde … Wir wohnten damals in der sogenannten Niederstadt, dort, wo sich die sanft schwingende, fruchtbare Ebene der Danziger Niederung bis dicht an das Weichbild der Stadt heranschiebt. Dort stieß man auf Schritt und Tritt noch auf die unübersehbaren Merkmale einer alten, starken, viel gefährdeten und entsprechend gut gesicherten Festung. Wälle gab es dort noch und Bastionen mit seltsam klingenden Namen – Bastion Aussprung, Bastion Einhorn, Bastion Kessel, Bastion Maidloch und wie sie alle hießen – nordwärts und westwärts waren sie um diese Zeit gerade niedergelegt worden, hatten sie dem Ausdehnungsdrange einer ständig wachsenden Bevölkerung weichen müssen.

Meinem Vater mochte es lieb sein, und angenehm auch, hier zu wohnen. Denn dadurch hatte er seine Arbeitsstätte, die damalige Königliche Gewehrfabrik, ganz in seiner Nähe. Und oft und oft bin ich, ein bißchen ehrfürchtig, aber ein bißchen stolz wohl auch, an deren mächtigen Portalen vorbeigegangen, habe zu den beiden erzenen Adlern mit den goldenen Kronen aufgeschaut, die die Pfeiler am Haupteingang zierten, und habe meines Vaters gedacht, der hinter diesen starken, mächtigen und hohen Mauern werkte und arbeitete.

Manchmal mußte ich eine Bestellung ausrichten, dann nahm mich der Portier in Empfang, unter seinen mahnenden Blicken durfte ich an den bunt blühenden Beeten, an dem sorglich eingezäunten, grünschwellenden und gepflegten, saftigen Rasen entlang wandern, die den Vorplatz des Direktionsgebäudes schmückten, bis man den »Meister mit dem großen Hut« geholt hatte. Ja, so nannte man meinen Vater, bei seinen Kollegen und unter seinen Arbeitern, weil er zeitlebens immer eine bestimmte Art von Hüten trug, einen Kalabreser, wie er selbst sie nannte. Es waren dunkelblaue oder fast schwarze, breitrandige Schlapphüte aus feinstem Filz, deren Beschaffung oft erhebliche Schwierigkeiten machte. Er hielt mit verbissener Zähigkeit an ihnen fest wie an vielen anderen Eigenarten seiner Kleidung. Nie sah man ihn mit einem hohen Stehkragen, und Schnürschuhe verachtete er gründlich. Er hatte als Soldat während seiner Dienstzeit Gummizugstiefel getragen, sie hatten ihm sehr zugesagt, und so trug er sie auch späterhin bis an sein Ende. Doch entsprang diese Beharrlichkeit nicht etwa irgendeiner Sucht nach Originalität, sondern sie lag in seinem Charakter begründet, der ihn zwang, sich das, was er einmal als richtig und zweckmäßig und kleidsam erkannt hatte, für immer zu eigen zu machen.

Hier, in der Niederstadt also, wuchs ich auf. Und wohl den Kindern, die hier wohnen, die hier leben und spielen durften. Hier gab es, im Gegensatz zur Rechtstadt und Altstadt mit ihren oft schmalen, krummen, winkligen und lichtlosen Gassen und Gäßchen, breite Straßen mit doppelten Baumreihen in der Mitte und Rasenstreifen, die von niedrigen Eisengeländern umsäumt waren. Sandhaufen lagen überall herum, von denen wir annahmen, sie seien besonders für uns Kinder angefahren worden. Da konnte man Burgen bauen und Festungen, man konnte seine Bleisoldaten sozusagen in natürlichem Gelände ihre Schlachten schlagen und ihre Märsche ausführen lassen – das war wahrlich etwas anderes, als wenn sie auf der blanken, glatten Tischplatte exerzieren mußten. Am Ende der Sperlingsgasse aber stand, mitten auf der Straße, ein Schuppen, schwarz geteert – noch heute kenne ich den Namen des Kaufmanns, dem er gehörte, Harder hieß er – und in diesem Schuppen standen und lagen allerhand geheimnisvolle Werkzeuge und Geräte, die der Besitzer darin abgestellt hatte. Manchmal gelang es, durch ein Astloch einen scheuen Blick auf all die Herrlichkeiten zu werfen. Einige besonders heldenhafte Jungen unter meinen Spielgefährten wagten sogar zuweilen bei sinkender Dunkelheit, mit Hilfe eines benachbarten Baumes auf das schadhafte Dach des Schuppens zu klettern. Wenn sie heil und gesund wieder auf der Erde standen, ergingen sie sich regelmäßig in seltsamen Andeutungen – was sie wirklich gesehen hatten, hat freilich nie jemand richtig erzählt, und ich glaubte schon damals, daß sie nur deshalb so erstaunlich verschwiegen waren, weil sie die soeben erlebte herbe Enttäuschung nicht verraten wollten.

Aber dies alles war natürlich nicht das Wichtigste und Schönste. Das Schönste waren – darüber bestand für mich niemals auch nur der geringste Zweifel – die Wälle, von uralten Kopfweiden begleitet und umsäumt, grünsamten im Sommer und von vielen bunten Blumen, dem knallgelben Hahnenfuß, dem zartlila Wiesenschaumkraut, dem Löwenzahn, dem bescheidenen Tausendschönchen und anderen, deren Namen ich nicht kannte, überwuchert. Das Schönste war das Wasser, der alte Stadtgraben, der an der Außenseite der Wälle entlang lief – aber nein, nicht lief, sondern geruhsam wie ein alter Mann dahinschlich, so behäbig, so aller Eile bar, als habe er unendlich viel Zeit. Hier gab es Binsen am Uferrand und Schilf und die stolzen, kühlen Schwertlilien, da brannte golden fast die große fünfblättrige Blüte der Sumpfdotterblume, die immer so schnell welkte, kaum daß man sie abgerissen hatte. Und Frösche gab es in Mengen, im Frühling füllten die gallertartigen Massen ihres Laiches jeden halbwegs geschützten Winkel; wenig später wimmelten dann die Kaulquappen überall herum, man konnte sie fangen, mühelos beinahe, und im Einmachglas nach Hause bringen, wo sie dann ihre herrlichen, beneidenswerten Schwimmkünste zeigten.

Eine Brücke führte über den Stadtgraben zu einer kleinen Siedlung, zu einem Dörfchen, das damals noch außerhalb der eigentlichen Stadt lag. Groß-Walddorf hieß es, und erst sehr viel später habe ich erfahren, daß es gar nicht weit davon entfernt auch ein Klein-Walddorf gab. Auf dieser Brücke standen sommers tagaus tagein Männer mit verwegenen Mützen; barfuß standen oder hockten sie am Brückenrand, mit aufgekrempelten Hosen. Sie angelten. Ich habe nie, wirklich niemals gesehen, daß einer von diesen Männern je etwas anderes aus dem Wasser herausfischte als seinen eigenen Köder. Möglich, daß ich nur Pech hatte, daß sie die dicksten, schwersten, silberglänzenden Fische an ihrer Angel hatten, mit ihnen ihre Körbe und Blecheimer füllten, kaum daß ich ihnen den Rücken gekehrt hatte. Aber vielleicht, – ja, dies erschien mir schon damals als das Wahrscheinlichere – standen diese Mützenmänner überhaupt gar nicht der Fische wegen da; war ihnen das Angeln längst zu einer Art Selbstzweck geworden.

Herrlich sinnlos lebten sie so dahin, von der lauen Luft umspielt, von der wärmenden Sonne überflutet, so wie Lilien auf dem Felde lebten sie, fern allen Gedanken über die Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit ihres Tuns und Daseins. Vielleicht waren sie arbeitslos. Aber sie waren es in einer Zeit, als Arbeitslosigkeit offenbar noch kein schwerer Schicksalsschlag war, und sie sahen nicht so aus, als ob sie mit ihrer Art der Lebensführung irgendwie nicht einverstanden wären. Ich habe sie oft beneidet, vor allem morgens, wenn ich ihnen, die oft schon früh dem gewohnten Angelplatz zustrebten, auf meinem Schulweg begegnete. Später lernte ich dann noch ihre Kameraden von der andern Fakultät kennen, die sogenannten Mottlauspucker, die sich längs der Langenbrücke, am Binnenhafen, aufbauten. Dort gab es nichts zu angeln, der lebhafte Verkehr mit Dampfern und Oderkähnen, mit Pinassen und Booten und Frachtern und all dem, verbot diesen Sport von selbst. Aber sie lehnten, stundenlang, an dem Geländer oberhalb der Gordungswände und Ufermauern, schauten auf den Fluß hinab und auf alles, was sich dort abspielte, spuckten auch ab und an in das dunkle, ölige, immer nach Teer und Fett und faulendem Holz riechende Wasser, und tauschten, in langen Zwischenräumen, ihre Beobachtungen miteinander aus. Aus ihrem Kreise schuf sich der Volksmund die beiden Figuren Bollermann und Welutzki, denen hunderte lustige, bissige und humorige Geschichten in den Mund gelegt wurden.

Noch etwas anderes gab es auf dem Wasser, auf jenem Stadtgraben, der zu dem nahen Bereich unserer kindlichen Spiele gehörte: Holzflöße, Traften, die von weither kamen, aus uns Jungens noch ganz unvorstellbaren Fernen. Aus Thorn wohl oder mindestens aus Kulm, vielleicht aber gar – wer mochte das wissen? – aus Russisch-Polen. Sie waren die Weichsel stromab geschwommen, sie waren in die Mottlau geraten, und nun lagen sie hier, auf einem Abstellgleis sozusagen, sorgsam vertäut und festgemacht, und warteten darauf, auseinander genommen und auf Schiffe verladen zu werden. Auf Schiffe, die nach England fuhren, nach Holland, nach Belgien und Gott weiß wohin.

Auf diesen Flößen haben wir Kinder gern gespielt. Leise schwankten die Stämme unter unseren Füßen, das war schön und erregend zugleich, sanft klatschte das Wasser an den Rand der Flöße, kühl war es hier, auch dann noch, wenn die Sonne am Lande unbarmherzig brannte, und dem bemoosten Holz entstieg ein Duft, der an ferne, tiefe und märchendunkle Wälder denken ließ.

Auch an jenem einen Tag unter vielen, von dem ich hier erzählen will, fand ich mich mit meinen Kameraden hier ein, um zu spielen. Wieder tobten wir, wie so oft schon, über die glitschigen Balken. Da löste sich plötzlich eines der hänfenen Taue, mit denen die Stämme verbunden waren, ein einziges nur – aber gerade unter meinen Füßen entstand eine Öffnung, ein Loch, aus dem dunkles, fast schwärzlich schimmerndes Wasser mich kühl und drohend anwehte. Und ehe ich noch mit einem kühnen Sprunge mich ans bergende Land retten, ehe ich auch nur einen Hilferuf ausstoßen konnte, hatte dieses Dunkle, Nasse und Drohende mich verschlungen. Vielleicht hätte ich, obwohl ich noch kein Schwimmer war, mit ein paar instinktiven, zappelnden Stößen und Armbewegungen das nahe Ufer erreichen können. Aber ich vermochte nicht hochzutauchen, ich stieß immer wieder von unten her gegen die Stämme des Floßes, die sich inzwischen wieder zusammengefügt und aneinander geschoben hatten. Und so hätte ich wohl sterben müssen, von Rechts wegen.

Daß es nicht geschah, verdankte ich einzig und allein einem Holzknecht, der vom Lande aus, ohne daß wir es bemerkt hatten, unser Spiel beobachtet hatte. Er zog mich unter dem Holz hervor, für ihn bedeutete das nichts, sehr böse sah er aus, aber er brummte doch nur wie ein großer, dickpelziger Bär, als er mich ans Land brachte.

Da saß ich denn … mein Spielkamerad war längst über alle Berge, vielleicht weil er es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen hatte, vielleicht – zu seiner Ehre will ich es annehmen – weil er Hilfe holen wollte. Der Knecht war auch fortgegangen, nach einigen polternden Vermahnungen, aber er brauchte keine Sorge zu haben meinetwegen, ich hatte meine Lehre weg und würde mich für mindestens acht Tage gründlich vorsehen. Ich saß da, in meinen nassen Kleidern, frierend und unglücklich und ganz bedeckt mit einem grünlich-bräunlichen Pflanzenzeug, wie ein wahrhaftiger Nock oder Wassermann. Ich hätte wohl nach Hause gehn sollen – es war ja nicht weit –, um andere, trockene Kleider anzuziehen. Statt dessen hockte ich hier, nur von dem einen, brennenden Wunsch beseelt, erst mal trocken zu werden, mich zu säubern, und niemanden merken zu lassen, was mir zugestoßen war. Es war aber keine Angst vor Zurechtweisung, vor einer Tracht Schläge, die mich hier so festhielt. Es war etwas ganz anderes, worüber ich mir erst später ganz klar wurde.

Als ich dann, nach geraumer Zeit, zitternd noch und mit blauen Lippen, denn mir war immer noch arg kalt, aufstand und heimging, konnte mir kaum jemand etwas anmerken. Denn die paar Sachen, die ein Junge im Sommer am Leibe trägt, die waren fast wieder wie vorher, und das grünliche Zeug hatte sich, erst einmal trocken geworden, fast mühelos abklopfen lassen.

Und dann … ja, dann wurde es wider Erwarten noch ein sehr schöner, ein wundervoller Abend. Ich hatte kaum den letzten Bissen unseres bescheidenen Abendbrotes in den Mund geschoben, als mein Vater, mit seiner tiefen, dunklen Stimme – die nur, wenn er böse war, sich zu einem wahren Donnergrollen steigern konnte – zu mir sagte: »Komm mit!«

Ich blickte ihn über den Tisch hin erschrocken an. Was wollte er von mir? Was hatte er mit mir vor? War ihm mein Abenteuer von vorhin doch etwa zu Ohren gekommen? Kannte vielleicht jener Mann, der mich unter dem Holz hervorgezogen hatte, meinen Vater und hatte ihm alles erzählt?

Aber das Gesicht meines Vaters war unbewegt und gar nicht zornig. Ja, als ich ihn eine kurze Zeit lang unentwegt anstarrte, schien es mir beinahe, als glitte der Schatten eines leichten Lächelns über seine schmalen Lippen. Sehr beruhigt erhob ich mich. Er griff nach seinem großen Schlapphut, setzte ihn auf, und gemeinsam tappten wir die schmale Wendeltreppe hinab.

Draußen auf der Straße war es schon dämmerig, aber noch sehr warm, fast schwül. Mit seinen geruhigen Schritten – er zitierte gern, obwohl er kein Humanist war, die irgendwo einmal gelesene Geschichte von der unanständigen Eile des Gerbers Kleon aus Athen und hielt nichts von Menschen, die sich immer hetzten – ging mein Vater dahin; ich hielt mich dicht an seiner Seite, und zuweilen schaute ich zu ihm empor. Ja, zu ihm empor, denn damals erschien er mir riesengroß. Später wuchs ich ihm wohl über den Kopf, aber ich denke, daß er, obwohl nur von guter Mittelgröße, jedem ungewöhnlich groß erschienen sein muß, weil er sich stets so aufrecht und kerzengrade hielt. Ein Mann, der vieles konnte, der vieles verstand, nur eben eines nicht, den Rücken zu beugen, den Rücken krumm zu machen.

Wir wanderten ziemlich lange schweigend dahin. Manchmal dachte ich: Wird er denn gar nicht sprechen? Aber er blieb beharrlich weiter stumm; seine Zeit zu reden war eben noch nicht gekommen.

Jetzt waren wir auf den Wällen, wir näherten uns der Brücke und damit eben jenen Flößen, auf denen ich am Nachmittag gespielt hatte. Wieder meldete sich in mir eine leise Unruhe. Aber da blieb mein Vater vor einer alten, halb vermorschten Weide plötzlich stehen und sagte dann ganz still: »Sieh dir das an …« Ich sah einige Schmetterlinge, Nachtfalter und Schwärmer, die im taumelnden Flug um den Baum herumschwirrten. Einer ließ sich plötzlich auf der rissigen Borke des Baumstammes nieder, faltete die Flügel zusammen. Ruhig, mit einer Sicherheit, die ich bewundern mußte, griff ihn mein Vater, sehr vorsichtig, die Flügel zart zusammendrängend, so daß der Schmetterling sich nicht bewegen konnte, nur seine Fühler gingen unruhig auf und ab. Mein Vater zeigte mir den drollig dick bepelzten Leib des Falters, er erzählte mir, wie er heiße – ich habe den Namen längst vergessen – und wie er lebe, denn er sammelte Schmetterlinge und Käfer, wie andere Menschen Briefmarken sammeln, und wußte um Nam' und Art und alle Lebensgewohnheiten dieser zartgeflügelten Gesellen gut Bescheid. »Wie schön«, sagte er dann, »daß wir so etwas haben, daß wir es sehen und bewundern dürfen, fast inmitten der Stadt.« Und dann ließ er den Falter sehr vorsichtig wieder fliegen, der nun schnell in der pfauenblauen Dämmerung verschwand.

Wir gingen über die Brücke, die jetzt völlig menschenleer war, wo sich kein einziger Angler sehen ließ, und als wir auf der anderen Seite des Wassers waren, blieben wir stehen, drehten uns um und sahen die Silhouette der Stadt, da und dort vom Schimmer der Straßenlaternen überhellt, weit gedehnt und bedeutend vor uns liegen.

»Von den Sternen weißt du wohl noch nicht viel, nicht wahr?« fragte mein Vater, während wir langsam den Weg zurückschlenderten, den wir eben gekommen waren. Und ich antwortete, etwas beschämt: »Nein« und schaute zugleich zum Himmel empor, dessen samtene Kuppel nun bereits ihre ersten Lichter angesteckt hatte. Da erzählte er mir von den Sternen; er wies mir den Polarstern und den großen Bären und so manches andere Sternbild, das leicht auffindbar und eben so leicht zu erkennen war. Mein Vater sprach jetzt ununterbrochen, ruhig und überzeugend, aber ohne je ins Lehrhafte zu verfallen. Er erzählte gewiß alles, was er von den Sternen wußte, von dem gestirnten Firmament, das sich eben so feierlich über uns wölbte, und vielleicht war es gar nicht so viel. Mir freilich, mir wollte es erscheinen, als könne es keinen Menschen auf Gottes Erdboden geben, der so viel wußte über diese unsagbar fernen Welten. Aufgeregt, fast gierig lauschte ich – es war wie ein Märchen. Nein, es war schöner, als das schönste Märchen es sein könnte. Ich hörte von den Planeten, von den Wundern der Milchstraße, vom Ring des Saturn, von den Kanälen des Mars, und mit einem Male sagte mein Vater – und vielleicht lächelte er dabei, nur daß ich dieses Lächeln in der zunehmenden Dunkelheit nicht sehen konnte –: »Manchmal kommt es mir vor, als wären wir alle ganz klein, ganz winzig. Und sicher bedeuten wir für das unermeßliche All nicht mehr, als die kleinen Urtierchen im Wassertropfen für den Ozean bedeuten. Ja, wir sollten doch wohl weniger laut, wir sollten auch weniger stolz sein, wir sollten vor dem Himmel so etwas wie Demut lernen. Aber das …« – und nun lächelte er, denke ich mir, fast verlegen – »das alles verstehst du ja wohl noch nicht.«

Natürlich, er hatte schon recht, ich begriff den Sinn seiner Worte nur halb. Aber ein anderes hat diese Unterhaltung zur Folge gehabt: daß ich späterhin nie mehr in nächtlicher Dunkelheit zu dem Sternenhimmel emporschauen konnte, ohne jener Wanderung zu gedenken und jenes ersten kleinen Blickes in die Geheimnisse des Alls …

Nun waren wir wieder in unserer vertrauten Straße, und plötzlich, als ich schon glaubte, wir würden jetzt heimgehen, verschwand mein Vater mit den Worten: »Na, warte mal ein bißchen!« in einer Kellerwirtschaft, einer kleinen, gemütlichen Kneipe, die er gelegentlich, in langen Zwischenräumen, aufzusuchen pflegte. Dort wurden auch allerlei bescheidene Süßigkeiten und Leckereien feilgeboten, und da ich nicht annehmen konnte, mein Vater würde sich an einem der weißgescheuerten Tische niederlassen und einen Krug von dem süßen Putziger Bier trinken, während ich oben seiner harren mußte, so sah ich seiner Rückkehr erwartungsvoll entgegen.

Er war auch sehr bald wieder oben. »Mit leeren Händen« stellte ich ernüchtert und leicht enttäuscht fest. Aber dann sah ich, im Schein der nächsten Straßenlaterne, wie sich seine Rocktasche so komisch bauschte, und das beruhigte mich sehr.

Mein Vater schritt ruhig weiter, und ich hütete mich sehr, ihn zu fragen oder gar Neugier merken zu lassen. Es hätte zu nichts geführt, und ich wußte ja, daß er es liebte, unsere Geduld auf die Probe zu stellen, uns dadurch zur Selbstbeherrschung zu erziehen. Also hieß es warten, und ich tat es unter Aufwand aller mir zur Verfügung stehenden kindlichen Willenskraft. Das war nicht gerade viel, und mein Vater mochte es mir anmerken. Denn als wir eine Weile gegangen waren, schien es ihm genug zu sein. Er holte zwei stattliche Tüten aus der Rocktasche heraus, öffnete sie und ließ mich hineingreifen. In der einen waren Malzbonbons, die ich damals, auch ohne Husten zu haben, besonders schätzte, in der anderen sogenanntes Studentenfutter, worunter wir eine köstliche Mischung aus Korinthen, süßen Mandeln, Haselnüssen, Walnußkernen und kleinen Stücken indischen Rohrzuckers – den es damals noch gab und der inzwischen völlig vom Markt verschwunden war – verstanden.

Ich befand mich in einem ziemlichen Dilemma. Nahm ich viel, so lief ich Gefahr, als gierig und unbescheiden von meinem Vater gescholten zu werden, als ein Junge, der kein Vertrauen verdient, weil er es sofort mißbraucht. Nahm ich wenig, so mochte es aussehen, als mache ich mir nicht allzu viel aus dem süßen Zeug, und es war dies nun wieder eine bedenkliche Schädigung meiner zukünftigen Aussichten. Trotzdem entschloß ich mich, den Bescheidenen zu spielen, und siehe, es war recht getan. Denn mein Vater, der meinen spärlichen Beutezug beobachtet hatte, lächelte gutmütig und meinte: »Na, greif nochmal hinein …« Ich ließ mich natürlich nicht zweimal bitten, aber ich war trotzdem ein bißchen verwirrt. Der Nachmittag mit dem feuchten Abschluß fiel mir ein, und ich dachte: »Womit habe ich das verdient?« und hatte so etwas wie ein schlechtes Gewissen.

Die Tüten verschwanden nun wieder in der Rocktasche. Und während wir nun gemächlich weitergingen, ergriff mein Vater meine Linke. Oh, wie klein meine Kinderhand in seiner mächtigen Pranke lag! Es war ein seltsames Gefühl für mich, so dahin zu gehen, meine Hand in der seinen, doppelt seltsam, weil er uns und vor allem mich nie mit Zärtlichkeiten verwöhnt hatte. Etwas sträubte sich ein wenig in mir, weil ich doch glaubte, gar so klein nicht mehr zu sein, weil es mir ein wenig unwürdig vorkam … so mochte man Drei- oder Vierjährige an der Hand führen. Aber es war auch wieder schön und beruhigend, ja es schien mir, als ströme etwas von der Kraft, der Ruhe und vollkommenen Sicherheit des Vaters nun in mich hinüber.

Wir hatten jetzt längst die Straßenzüge, in denen ich heimisch war, die ich kannte wie den bunten Inhalt meiner Hosentasche – in der sich Bindfadenstückchen und rostige Nägel, Murmeln und ein stark beschädigtes Taschenmesser ein fragwürdiges Stelldichein gaben – hinter uns gelassen. Sperlingsgasse und Weidengasse, Straußgasse, Hirschgasse und Große Schwalbengasse und wie die Straßen auch alle heißen mochten, lagen hinter uns, irgendwo im Wesenlosen. Wir bogen bei Langgarten nach links ab, wir überquerten Mattenbuden und gingen über die Brücke, die über die Neue Mottlau führte. Einen Augenblick lehnten wir am Brückengeländer, ich sah auf die Schiffe hinab, die vor der Schäferei festgemacht hatten, und auf die breit ausladenden Oderkähne, die ihre Positionslaternen ausgesetzt hatten. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in dem schwärzlichen Wasser, ab und zu klang ein Ruf, ein Schrei von den Schiffen herauf, ein Lachen oder ein Scheltwort, ein Fluch manchmal auch, den ich nicht richtig verstand.

Mein Vater schritt in tiefe Gedanken versunken dahin; und in der langen, nur dürftig erhellten Milchkannengasse war es doppelt schön, so geborgen an seiner Seite gehen zu dürfen. Mit einem Male schien es ihm einzufallen, daß er nicht allein war. »Und wie ist's in der Schule?« fragte er übergangslos. »Hat euer Fräulein Liß noch immer ihr langes, grünes Notizbuch?«

»Ja«, nickte ich eifrig, »sie sitzt immer noch damit auf dem Katheder, während der Stunde, und manchmal schaut sie hinein, um festzustellen, wen sie lange nicht abgefragt hat. Heute kam Hinckeldey dran, und er hat wieder nichts gewußt. Da wurde sie sehr böse.«

»Hinckeldey?« wiederholte mein Vater bedächtig. »Ein altes, ein sehr altes Geschlecht. Magst du ihn?«

Ich mochte ihn nicht sehr, aber ich wußte nicht, warum dies so war. Vielleicht weil seine Haut so zart und überempfindlich war, daß sie sich bei beginnendem Frühling sofort dicht mit Sommersprossen bedeckte. Aber das konnte nicht der eigentlich Grund sein, und vielleicht störten mich, viel mehr als diese Sommersprossen, seine Hände. Es waren Hände, wie sie meiner Meinung nach zur Not ein Mädchen haben durfte. Feingliedrig, langfingerig, und die Fingernägel immer so aufreizend sauber. Das war sicher nicht in Ordnung, das war mindestens nicht männlich. Und ich dachte dabei an meine eigenen Hände, die breit waren und kräftig, bäuerliche Hände, wie mein Vater einmal gesagt hatte, der selbst nie einen Hehl daraus machte, daß er vom Lande stammte. Ich wollte nicht solche Hände haben wie dieser Hinckeldey, und ich neidete sie ihm doch.

»Ein altes Geschlecht«, sagte mein Vater noch einmal, der gar nicht darauf geachtet hatte, daß ich ihm die Antwort auf seine Frage bislang schuldig geblieben war. »Ein alter Name. Namen verpflichten, mein Junge, und dein Schulkamerad wird es lernen müssen, früh genug. Wird erfahren müssen, daß jetzt eine Zeit herankommt, in der Namen nicht nur Rechte bedeuten, sondern vor allen Dingen Pflichten.«

»Ja«, nickte ich ziemlich gleichgültig. Schließlich: was ging mich dieser fremde Junge an, der durch Zufall auf der gleichen Bank saß wie ich? Er wohnte nicht in unserer Straße, und er hätte es sicher abgelehnt, mit jenen andern Jungens aus der Niederstadt zu spielen, mit denen ich gut Freund war, mit denen ich mich maß und wetteiferte beim Murmelspiel und beim Klippchen, beim Springen und beim Laufen und all unsern wilden und tollen Streichen.

»Mit dem Schreiben«, sagte mein Vater dann, und ich wußte, daß das kommen würde – ach, wie genau ich es wußte, immer, wenn je die Rede auf die Schule kam, fing er mit dem Schreiben an, vielleicht weil er selbst so sauber, so schwungvoll schrieb, daß es wie gestochen wirkte – »mit dem Schreiben wirst du dir noch viel Mühe geben müssen. Eine gute Handschrift ist die beste Empfehlung späterhin im Leben.«

»Ja«, nickte ich bekümmert und ganz ohne Hoffnung. Ach, ich habe ihm diese Freude, mir eine gute Handschrift anzueignen, nie bereiten können, und vielleicht war er späterhin noch oft erstaunt und überrascht, daß ich trotzdem im Leben nicht Schiffbruch litt. Daß ich sogar erfolgreich schrieb, ohne je schön schreiben zu können. Ja, es mag sein, daß es sein Weltbild einigermaßen in Unordnung gebracht hat, weil so etwas überhaupt möglich war. Viele, viele Jahre, ja Jahrzehnte später, als ich schon selbst ein ausgewachsener Mann war mit Frau und Kindern, fing er einmal, während wir gemeinsame Erinnerungen austauschten, wieder davon an. »Du hast eben Glück gehabt«, sagte er da, »weil gerade rechtzeitig für dich die Schreibmaschine erfunden wurde. Aber ich fürchte, sie wird bewirken, daß die Menschen bald völlig das Schreiben verlernen.« …

Wieder eine Brücke – die Grüne Brücke jetzt, die über die Alte Mottlau führte. Ich habe freilich nie weder an ihr noch an dem dazu gehörigen Grünen Tor irgendetwas Grünes erblicken können. Das war nun ein anderes Bild, hier war der eigentliche Binnenhafen Danzigs, hier lagen am rechtseitigen Ufer die großen Frachter, die von Schweden kamen und von Dänemark, über die Nordsee und von jenseits des Atlantik. In langer Kette, einer hinter dem anderen, lagen sie vor den alten, mächtigen und spitzgiebeligen Speichern. Sie hatten Erze gebracht und Kohlen, Kaffee und Öl und wertvolle Stückgüter, und sie würden wenige Tage später mit Korn und Fellen, mit Holz und mit Zucker in See gehen.

Jetzt waren wir auf der Langen Brücke. Es roch nach Öl und Teer, nach dem Rauch, der dünn den Schornsteinen der auf dieser Seite festgemachten kleinen Dampfer entstieg, es roch auch nach Obst und Gemüse, das unten, am Fischmarkt, tagsüber aus den Kähnen heraus verkauft wurde.

Wir bogen dann in die Frauengasse ein – diese Beischläge vor den Häusern kannten wir bei uns in der Niederstadt nicht, fremd und gespenstisch sahen sie aus im Schimmer des blassen Mondes, mit ihren mächtigen Granitkugeln, ihren den Rachen aufreißenden Löwen und Delphinen und merkwürdigen Fabeltieren. Doch hatte ich nicht Zeit, sie eingehender zu betrachten, denn plötzlich standen wir vor der Marienkirche.

Wir gingen ganz um sie herum bis zur Nordseite. Eben war es noch ganz windstill gewesen, jetzt aber tat sich ein Wirbelwind auf, hörbar harfte er über das Mauerwerk hinweg und raschelte im Laub der nahen Bäume. »Schau auf!« befahl mein Vater. Ich tat, was er mich hieß, und ich mußte den Kopf ganz weit in den Nacken zurückbiegen, um das stumpfe Ende des gewaltigen Turmes, der sich irgendwo oben im nächtlichen Firmament verlor, mehr zu ahnen als richtig zu sehen. Mein Blick kletterte an den ungeheuren Strebepfeilern, an den senkrechten Fluchten dieser Backsteinmauern empor, und obwohl ich fest auf der Erde stand, ergriff mich ein leises Gefühl des Schwindels. Zum erstenmal wohl in meinem Leben ahnte ich dumpf und dunkel, was in dem Begriff »erhaben« umschlossen liegt, und ein Schauer, ein kühler Schauer ging mir über den Rücken.

Mein Vater mühte sich, den Eindruck, den dieser Anblick bei mir hervorrief, von meinem Gesicht abzulesen. Er mußte wohl zufrieden sein.

»Ich möchte, daß du diesen Blick niemals vergißt«, meinte er. »Jahrzehnte – nein, was sage ich, Jahrhunderte haben an diesem Dom gebaut. Alles Große bedarf einer langen Zeit, um zu werden, um zu entstehen. Und ich denke, wer, wie du, in dieser Stadt geboren ist, der kann, und würde er hundert Jahre alt, nicht aufhören, dieses Bild zu lieben.«

Dann mochte ihm plötzlich einfallen, daß ich doch noch ein kleiner Junge war, daß ich nicht alles begreifen und verstehen konnte, was er sagte.

»Wir wollen nun nach Hause gehen«, schlug er vor, plötzlich ein bißchen ernüchtert, und er ließ meine Hand los. Aber nach ein paar Schritten faßte er sie doch wieder, und es ist dieser Abend das einzige Mal gewesen, daran ich mich entsinne, wo wir beide Hand in Hand nebeneinander hergingen. Wir sind dann später zuweilen sehr auseinander gekommen, und es mußten viele, viele Jahre vergehen, ehe wir beide wieder den Wunsch hatten, unsere Hände für länger als nur einen flüchtigen Gruß ineinander zu legen …

Als wir wieder die Wohnung betraten, kam meine Mutter uns aufgeregt entgegen. »Wo wart ihr nur all die Zeit?« sagte sie, und ihre Augen umfingen mich, als wäre ich der verlorene Sohn, der endlich wieder, nach Jahren, die heimatliche Scholle überschreitet.

»Wo sollen wir gewesen sein?« gab mein Vater zurück. »Wir wanderten durch die Stadt, ich mußte noch ein bißchen Luft schnappen, mit meinem Herzen ist wieder mal was nicht ganz in Ordnung. War es wenigstens schön?« wandte er sich dann an mich, mit einem Lächeln, als hätten wir miteinander ein Geheimnis.

»Sehr schön!« nickte ich begeistert und gähnte gleichzeitig herzhaft, denn ich war rechtschaffen müde.

Dann mußte ich sehr schnell ins Bett – meine Mutter paßte auf, daß ich mich wusch, daß ich die Zähne putzte und die Kleider ordentlich über den Stuhl legte. Plötzlich fiel ihr Auge auf zwei rote Ringe, die sich auf meinen Beinen, unterhalb der Knie, abzeichneten. Ich folgte ihrem Blick – nun sah ich selbst die verräterischen Spuren – die roten Strumpfbänder, naß geworden, hatten abgefärbt.

Ich fürchtete, es würde zu einem eingehenden Verhör kommen. Aber es geschah nichts. Meine Mutter sah mich bloß an und schwieg. Doch nie wohl wurde im Schweigen ernsthafter und drängender geredet zwischen Mutter und Kind als in diesen wenigen Sekunden.

Als sie mich in ihre Arme schloß, um mir gute Nacht zu sagen, fühlte ich, wie sie zitterte in nachträglicher Angst, und wie ihr Herz schlug. Und ihre Augen glitzerten feucht …

Büffelhorn und Nilpferdschädel

Meine frühen kindlichen Erinnerungen sind auf seltsame und innige Art mit dem Namen und dem – allerdings nur in meiner Vorstellung bestehenden – Bild eines Mannes verbunden, den ich lebend, mit meinen eigenen, leiblichen Augen nie gesehen habe. Und der doch damals, und für viele kommende Jahre, ja Jahrzehnte, für mein und unser aller Dasein von besonderer Bedeutung war, in unserm Leben eine ungewöhnliche Rolle spielte. Er hieß Max mit Vornamen, eigentlich, etwas feierlicher, Maximilian, und als »Dein Onkel Max« oder »Mein Bruder Max« – denn er war ein Bruder meines Vaters – kehrte er in den abendlichen Unterhaltungen und Gesprächen am Familientisch immer wieder.

Lange bevor es mir gelang, Näheres über diesen Mann zu erfahren, erhielt ich schon auf einem anderen und sehr einfachen Wege Kenntnis von seiner Existenz. Denn immer wieder, mindestens drei- oder viermal im Monat, brachte der Briefbote Nachrichten von diesem Onkel Max ins Haus. Es waren Briefe, die mein Vater, nachdem wir Kinder schlafen gegangen waren, seiner Frau vorlas, langsam, Wort für Wort, mit Nachdruck und erhobener Stimme, fast mit einer gewissen Feierlichkeit. »Hörst du auch gut zu, Tine?« unterbrach er sich ab und zu und hat in solchen Augenblicken gewiß meine Mutter mahnend oder gar drohend angeschaut. »Aber ja, natürlich«, erwiderte sie dann, fast verschüchtert, und erst wenn sie das ausdrücklich versichert hatte, fuhr mein Vater in seinem Vorlesen fort.

Was in den Briefen im Einzelnen stand, habe ich nie gewußt, es war mir auch nicht sehr wichtig, ich war dafür wohl noch zu klein. Viel mehr als die Briefe und ihr Inhalt bedeuteten mir natürlich die bunten, exotisch anmutenden Marken, mit denen sie frankiert waren. Seltsame Marken, auf denen Kamelkarawanen durch die Wüste wanderten, langhalsige Giraffen Früchte und Blätter von hohen Palmenbäumen herabzupften, kurz lauter ungewöhnliche und fremdartige Dinge sich abspielten. Selbst noch jene Marken, auf denen nur ein Kopf irgendeines Königs abgebildet war, unterschieden sich von unsern Postwertzeichen, wie ich sie kannte, denn dieser Kopf war nicht einfach im gewöhnlichen Druckverfahren hergestellt, sondern aufgeprägt, so daß man ihn wie bei einer Münze abtasten konnte.

Ich hätte gern einmal ein paar dieser Marken gehabt – was hätte ich damit für Eindruck machen können bei meinen Kameraden und Spielgefährten! Einmal wagte ich sogar, eine solche Bitte laut zu äußern. Aber mein Vater sah mich nur vernichtend und in einer Art an, als verlange ich den Mond von ihm oder sonst etwas ganz und gar Unmögliches.

Nein, diese Briefe gab er nicht her, und auch nicht ihre Umschläge. Sie durften nicht in die schmutzigen Pfoten eines dummen und unverständigen Jungen kommen. Er hatte sich von einem Tischler in seiner Fabrik einen besonderen Kasten herstellen lassen, mit einem Schloß, das nicht mit jedem beliebigen Schlüssel zu öffnen war, und dahinein tat er diese Briefe, nachdem er sie mindestens dreimal still für sich gelesen und dann noch meiner Mutter mindestens ebenso oft vorgelesen hatte. Er bewahrte sie so liebevoll auf, wie eine junge Braut die Liebesbriefe ihres Verlobten aufheben mag, und niemand von uns hätte je wagen dürfen, an diesen Kasten heranzugehen, ohne es für immer mit meinem Vater verdorben zu haben und für alle Zukunft von ihm verstoßen zu werden.

Aber es kamen nicht nur Briefe, es kamen, wenn auch in erheblich längeren Abständen, andere Dinge, die mit gehöriger Feierlichkeit empfangen, ausgepackt und bewundert wurden. Einmal kam ein Kästchen, eine Schatulle aus sehr zartem, lichtbraunem Holz, das so roch, wie es meiner Meinung nach in den Urwäldern unter dem Äquator, in der heißen Sonne der Tropen riechen mußte. Diese Schatulle wies außen eine Einlegearbeit auf, wie ich sie ähnlich noch nie gesehen hatte, eine Fülle von Ornamenten, die mosaikähnlich aus unzähligen Plättchen Silber und Glimmer, Ebenholz, Elfenbein und derlei zusammengesetzt waren. Oder es kam auch einmal, in einem hoch versicherten Wertbrief, eine kleine Papptafel, schwarz mit weißem Rand, und auf diese Tafel waren fünf oder sechs gelbe Metallstückchen aufgeklebt, krause, formlose Stücke, die erst dadurch ihren besonderen Sinn und ihren Wert erhielten für mich, daß darunter die Worte standen: »Gold aus Mozambique«. »So«, erzählte mein Vater, »wird das Gold drüben gefunden, wird es gewaschen, wie man das nennt«, und während er sich – wie ich glaube, ziemlich erfolglos – bemühte, mir den Arbeitsprozeß, die Art der Goldgewinnung, zu erklären, wurde ich nicht müde, mit vor Staunen offenem Mund darüber nachzudenken, daß es wirklich auf dieser unserer altgewohnten Erde noch ein Land gab – oder gar mehrere Länder? –, wo man das Gold einfach so fand: in den Bergen, am Flußufer und also gleichsam auf der Straße.

Einmal kam sogar ein Bild, ein Bild mittlerer Größe, in einem schweren und prunkvollen goldenen Rahmen. Es stellte einen phantastisch bunten Vogel mit langem Schweif dar, der auf einem sehr natürlich wirkenden, blütenübersäten Baumzweig saß. Aber wenn man näher hinschaute, so sah man, daß dies Bild nicht etwa wie üblich mit Farben gemalt-war, sondern daß der unbekannte Künstler es aus zahllosen bunten Vogelfedern geklebt hatte. Vogel, Blüten, Ast, alles bestand aus solchen Federn, und vielleicht war das Ganze, von einer höheren, besonderen Warte aus betrachtet, nur eine barbarische Spielerei. Ich selbst habe es sehr bewundert, und noch heute, wenn ich davor stehe – so viele meiner Jugenderinnerungen waren damit verbunden, daß ich es nie fertig bekam, mich davon zu trennen –, betrachte ich es gern und mit einer Art leiser Wehmut.

Von meiner Mutter, die immer bereit war, uns bei guter Gelegenheit das zu verraten und auszuplaudern, was der sehr viel schweigsamere Vater uns vorenthielt, erfuhr ich sehr früh schon und in lauter Bruchstücken, was es mit diesem Onkel Max eigentlich für eine Bewandtnis habe. Daß es der einzige »rechte« Bruder meines Vaters sei – ja, so drückte sich meine Mutter aus –, neben einem Halbbruder aus zweiter Ehe des Großvaters, und daß er, durch einen besonderen Glückszufall, in jungen Jahren eine sehr gute Ausbildung erfahren habe. Gerade die aber habe ihn in die Lage versetzt, ins Ausland zu gehen und zu versuchen, in der Fremde das Glück zu finden, das ihm die etwas engen Verhältnisse der Heimat gewiß versagt hätten.

»Er ist Kaufmann«, sagte meine Mutter noch. Sie merkte dabei aber wohl, daß dieses Wort mich an den Kaufmann Mack in der Schwalbengasse denken ließ, bei dem ich manchmal einholen ging, Zucker und Kerzen, Spiritus und grüne Seife und all den Kram, aber auch das süße Johannisbrot und Kandiszucker und saure Bonbons. Und an den Kaufmann Endrucks an der Ecke Weidengasse, wo es das wunderbare Kommißbrot gab, dessen Scheiben so groß waren wie ein Schreibheft und das, mit Schmalz dick bestrichen und mit Salz bestreut, für mich seit je einen Leckerbissen darstellte. Gleich mühte sie sich also, dieses falsche Bild zu berichtigen, und sie fügte belehrend hinzu: »Aber natürlich ist dein Onkel Max kein Kaufmann, wie du sie hier kennst. Er hat selbst Karawanen ausgerüstet, ist selbst durch die Urwälder Afrikas gezogen und hat die Stoßzähne der Elefanten und viele andere Dinge von den Eingeborenen aufgekauft und an die Küste bringen lassen, um sie nach Europa zu verfrachten.« Und um mir das zu beweisen, es mir recht klar zu machen, führte sie mich zu einem Bild, einer gerahmten Photographie, die über dem Bett meines Vaters hing. Da sah man nun einen Mann, einen Weißen, in einer Sänfte sitzend, die von vielen Negern getragen wurde, und vor ihnen und hinter ihnen gingen andere Schwarze in großer Zahl, die ungeheure Elfenbeinzähne und riesige Ballen schleppten, und so gingen sie mitten durch einen dichten, hohen Urwald.

Manchmal freilich wurde auch mein Vater gesprächiger und gab seine sonstige übliche Zurückhaltung auf. Dann gab es Abende, die wir lange im Gedächtnis behielten und die offenbar durch Briefe dieses Onkels mit besonders angenehmem Inhalt ausgelöst wurden. Dann fielen Namen, die klangen, als wären sie einem Märchenbuch entnommen: Quelimane und Madagaskar, Dar-es-salam und Puerto Rico, Goldküste und Liberia und andere, es wurde im Atlas die Karte von Afrika aufgeschlagen, und ich erfuhr allmählich, daß dieser Onkel mit zähester Energie, mit nie erlahmendem Fleiß sich mehrere fremde Sprachen angeeignet hatte, daß er nicht nur in Afrika gewesen war oder eben noch dort lebte, sondern vorher auch in Mexiko und Nordamerika, in Argentinien und auf den Philippinen. Aber erst in Afrika, so schien es, hatte er sein Glück gemacht.

»Mein Bruder«, sagte mein Vater dann wohl noch, und seine sonst so herrische, ans Befehlen gewöhnte Stimme wurde sanft und freundlich, beinahe zärtlich, »euer Onkel Max, der hat das nun alles gesehen, richtig gesehen, was ich euch hier auf der Landkarte zeigte. Er ist über diese Erde hinweggegangen, und er atmet diese fremde und heiße Luft.«

Wehmut schwang, selbst mir, dem kleinen Jungen, unverkennbar, unüberhörbar, mit, wenn mein Vater Ähnliches sagte. Es konnte dann geschehen, daß er plötzlich aufstand, ans Fenster trat, die Fensterflügel weit aufriß und sich, hörbar schnaufend, hinausbeugte. Aber da war draußen nun nichts als der altvertraute Weg, die so bekannte, die bis zum Überdruß bekannte Straße, die Häuser gegenüber. So sicher alles, so geborgen, aber auch so eng.

In meinem Vater aber lebte die Sehnsucht nach Weite, er mochte die Stadt nicht, er hätte lieber freie Horizonte und Felder und Wälder und die Unendlichkeit der Landschaft vor seinen Augen gehabt. Jahre später, als wir in der Schule Schillers »Wallenstein« lasen und zu der Stelle kamen, wo der Friedländer des gefallenen Max Piccolomini mit den Worten gedenkt: »Denn er stand neben mir wie meine Jugend, er machte mir das Wirkliche zum Traum, um die gemeine Deutlichkeit der Dinge den goldnen Duft der Morgenröte webend«, damals erst hatte ich ganz plötzlich das Gefühl: »So, genau so, hat mein Vater für seinen Bruder Max empfunden.« Das, wie gesagt, war später. Auf jener kindlicheren Stufe meines jungen Lebens waren mir derartige Gedanken noch sehr fern, ja, ich vermochte, trotz jener Photographie, mir kaum eine greifbare Vorstellung von meinem fernen, allzu fernen Onkel zu machen.

Aber einmal, plötzlich, hieß es: »Onkel Max kommt! Er ist schon in Hamburg. Er wird erst seinen Geburtsort Braunsberg in Ostpreußen aufsuchen und Elbing dann, wo er einige Jahre seiner Kindheit verlebte, zuletzt aber wird er zu uns kommen, wird er, hoffentlich für lange, lange Wochen, bei uns wohnen. Bis er wieder die Reise über das große Wasser antritt.«

Es gab nun alsbald ein geschäftiges Hin und Her, allerlei Bewegung und viel Kopfzerbrechen darüber, wie man einen Mann, der doch gewiß wohlhabend war und so weit gereist, in einer so kleinen Wohnung angemessen unterbringen könnte. So unterbringen, daß er sich wohl und gemütlich fühlte. Denn natürlich, so erklärte mein Vater unserer Mutter immer wieder, würde er gewisse Ansprüche stellen, und natürlich habe er auch ein Recht auf solche Ansprüche.

Und damit wir dem guten Onkel nicht etwa durch allzu dumme Fragen lästig fielen, damit er merkte, daß auch wir nicht hinter dem Monde lebten, las uns mein Vater, mehr zu unserer Belehrung als zu unserer Unterhaltung, am Abend dicke Bücher vor, vor allem über die Reisen Stanleys und Livingstones in Afrika, und wir erfuhren so in kürzester Zeit mehr über den schwarzen Erdteil, als wir späterhin im Laufe der ganzen Schulzeit haben zusammentragen können.

Doch kam mein Onkel nie! Statt dessen kam ein Tag, da lief meine Mutter mit verweinten Augen umher, da sah ich sogar in denen meines Vaters Tränen, und sein Gesicht war plötzlich verfallen und erschreckend grau. Nie vordem hätte ich geglaubt, daß mein Vater weinen könnte, und mein ganzes Weltbild geriet bei diesem Anblick in Unordnung. Ich wagte natürlich nicht, ihn zu fragen oder gar zu trösten, auf kindliche Art, es gab da unsichtbare Schranken, die zu überschreiten den Kindern jener Zeit völlig unmöglich gewesen wäre. Immerhin stammelte meine Mutter, als ich ihr gute Nacht bot – um meinen Vater, der mich nicht beachtete, der durch mich hindurch sah, als wäre ich Luft, war ich in scheuem Bogen herum gegangen –: »Euer Onkel Max ist gestorben, Kind. Ertrunken ist er. Bei einer Segelfahrt auf dem Frischen Haff ist sein Boot gekentert, und er ist nie zurückgekommen. Du mußt nun sehr still sein, sehr leise und artig und gut, damit deinem Vater das Schwere nicht noch doppelt schwer gemacht wird.«

Ich sah unruhig zu meinem Vater hinüber, der wie abwesend am Tisch hockte und vergrübelt vor sich hinstarrte. Er tat mir arg leid. Aber alles Mitleid wurde überwuchert von dem Verwundern darüber, daß ein Mensch, der so ferne und fremde Erdteile durchquert und gewiß fast täglich irgendwelche Gefahren glücklich überwunden hatte, in seine Heimat zurückkehren, nach Hause kommen und dort in einem Gewässer ertrinken konnte, das wir, an der Küste des Meeres geboren, doch immer nur mit halber Verachtung zu nennen pflegten. Von der Größe des Haffs und von seinen gefährlichen kurzen Wellen wußte ich damals ja noch nichts, und daß jemand, allen Fährnissen trotzend, alle Schwierigkeiten überwindend, den Montblanc besteigen konnte oder gar den Gaurisankar, um dann, später einmal, zu Hause die Treppe hinabzustürzen und sich dadurch das Genick zu brechen, diese Möglichkeit lag ganz außerhalb meines damaligen Erfahrungs- und Vorstellungsbereichs.

Mein Vater fuhr schon am nächsten Morgen hinüber nach Elbing und blieb eine Weile dort, weil das traurige und unvorhergesehene Ereignis besondere Maßnahmen bedingte. Die Leiche des Ertrunkenen wurde mehrere Tage vergeblich gesucht, und mein Vater setzte schließlich eine größere Belohnung für deren Auffinden aus, die den Eifer der Haff-Fischer anspornte und endlich zu dem erwarteten Erfolg führte. Auch beschäftigten sich die Zeitungen eingehend und des öfteren mit dem Fall, und das mochte mehrere Gründe haben. Zunächst einmal war es damals, um die Jahrhundertwende, eine politisch im allgemeinen sehr stille Zeit, die Ruhe vor dem Sturm, wie es sich später erwies, und die Berichterstatter der Zeitungen mußten eifrig nach Stoff suchen, um die Spalten ihrer Blätter zu füllen. In einer solchen stillen Saure-Gurkenzeit wird auch den privaten Tragödien gern ein breiter Platz in den Zeitungen eingeräumt. Dann aber: es war eben doch nicht bloß ein Fall unter vielen. Der Tote war aus Afrika gekommen, war aus einer sehr fernen Ecke der Erde in seine Heimat zurückgekehrt, und so hatte er Anspruch auf ein gewisses Interesse der Öffentlichkeit an seinem Schicksal. Ja, eine Zeitung brachte es sogar fertig, eine rührende und ergreifende Geschichte um den Vorfall zu schreiben und auszumalen, wie dieser Mann, der jahrelang draußen, im Ausland, gelebt hatte, plötzlich von einem ungeheuren Heimweh gepackt worden sei, wie er wahrscheinlich im Unterbewußtsein den ihm bestimmten nahen Tod vorausgespürt und sich entschlossen habe, ihn in der Heimat zu erleiden und dort zu sterben, wo er geboren war. Der Artikel kam also zu der Schlußfolgerung, daß mein Onkel zweifellos im Sambezi oder im Kongo ertrunken wäre, wenn er es nicht vorgezogen hätte, durch rechtzeitige Abreise diesen Tod in den ihm vertrauten Gewässern des Frischen Haffs zu finden. – Die Tatsache – ich habe nie erfahren, wie man nachträglich das hat feststellen können –, daß mein Onkel, ein vorzüglicher Schwimmer, wohl hauptsächlich deshalb ertrank, weil er versuchte, den als Hilfe mitgenommenen Lehrbuben eines Elbinger Schusters zu retten, trug das Ihre dazu bei, das Ereignis aus der Ebene des Häufigen zu dem Gipfel des Ungewöhnlichen emporzuheben.

Was mich selbst anbelangt, so erhielt dieses Vorkommnis für mein kleines persönliches Leben sehr bald eine besondere Bedeutung. Ich war natürlich traurig, aber nicht so sehr des Onkels wegen, den ich ja nicht kannte, den ich nie gesehen hatte, sondern unter dem Eindruck der Trauer und des Schmerzes meiner Eltern. Aber ich war in gewissem Sinne auch stolz; meine Stellung in der Schule und bei meinen Spielkameraden in der Straße hatte sich mächtig gehoben. Wenn ich auf dem Schulhof mein Brötchen verzehrte, so gingen die anderen mit einer Art scheuer Bewunderung um mich herum. Ich war doch der Neffe dieses Afrikaners, dieses ungewöhnlichen Mannes mit dem ungewöhnlichen Schicksal, und ein Abglanz seiner Abenteuer und unbekannten Taten fiel damit auch auf mich. Und die Zeitungen nannten immerhin mehrere Tage hindurch, bis neue Ereignisse das Interesse einschlafen ließen, einen Namen, der schließlich auch mein Name war. Zum ersten Mal erfuhr ich so ahnungsvoll die ungeheure Macht der Presse, die einen Menschen plötzlich, wenn sie es will, aus dem Dunkel der Anonymität herausheben und in den Blickpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit rücken konnte. Was Ruhm war – wenn in diesem Falle auch nur ein sehr kümmerlicher Ruhm auf Kosten eines Dritten und zudem schon Toten –, das habe ich damals sozusagen erstmalig gewittert.

Mit der endlichen Auffindung und feierlichen Beisetzung des Verunglückten war die ganze Angelegenheit, soweit es um unser persönliches Leben ging, freilich noch lange nicht abgeschlossen. Es kamen zunächst einmal viele, viele Briefe von Banken und Vereinen und Behörden und unbekannten Leuten, die wohl zu dem großen Kreis der Freunde meines verstorbenen Onkels gehörten. Die gingen mich nichts an und ich fragte auch nie, was in ihnen stand. Mein Vater hätte eine solche Frage ohnehin als Ungehörigkeit gegeißelt und niemals beantwortet. Aber es kamen dann auch, aus Hamburg und aus Elbing und sogar aus Übersee, in unregelmäßigen Zwischenräumen Kisten und Kasten und Koffer, die alles Hab und Gut meines Onkels bargen. Weiße Tropenanzüge waren darin und Tropenhelme, Bücher und Wäsche und Zeitschriften, dann allerhand seltsamer Schmuck, Armbänder aus den Schwanzhaaren von Elefanten mit goldenen Verschlüssen, wunderhübsch in zarte Goldfiligranarbeit gefaßte Löwen- und Tigerkrallen, die als Krawattennadeln, als Anhänger an der Uhrkette und weiß der Himmel als was noch dienen konnten – ich fand sie jedenfalls sehr schön und herrlich, denn so etwas sah man hier nicht. Große, halbmannshohe Pfeile waren in der einen Kiste, mit Stahl- oder Feuersteinspitzen, die anzurühren uns strengstens verboten wurde. »Sicher sind sie mit irgendeinem Schlangengift oder Pflanzengift getränkt!« erklärte mein Vater, »und wer sie anrührt, muß damit rechnen, sofort tot umzufallen.« Das wollte ich nicht gern, und ich beachtete anfänglich dieses scharfe Verbot mit erstaunlicher Gewissenhaftigkeit. Später siegte dann doch die Neugier über die Angst, soweit sogar, daß ich mich nicht damit begnügte, diese Pfeilspitzen anzurühren, sondern mich auch mit einer absichtlich ritzte, bis Blut lief. Dann bekam ich natürlich Furcht vor meinem eigenen Mut und sah mich schon tot daliegen, das Opfer eines seltenen und bisher in Europa völlig unbekannten Giftes irgendwelcher wilder Eingeborenenstämme. Ich sagte am Abend besonders innig und bedeutungsvoll gute Nacht und dachte dabei: Sie werden sich sehr wundern, wenn ich am Morgen tot bin. Ich wälzte mich dann auch noch eine gute Stunde lang recht unruhig im Bett, aber schließlich schlief ich doch ein. Als ich am Morgen danach zur üblichen Stunde geweckt wurde, fiel mir alles sofort ein. Und meine Hochachtung vor den geheimnisvollen Künsten der Schwarzen erlitt durch die Feststellung, daß ich noch quicklebendig sei, erhebliche Einbuße. Bedauerlich war nur, daß ich, in Erwartung meines nahen Endes, am Tag vorher davon abgesehen hatte, meine Hausaufgaben zu erledigen, was mir jetzt einen dicken Tadel im Klassenbuch eintrug. Doch schien mir das weitere Leben und Dasein in Licht und Sonne mit diesem Tadel nicht zu teuer erkauft zu sein, und ich war gewiß, bis zur Zeugnisverteilung schon eine gute Entschuldigung oder doch mindestens Erklärung zu finden.

Zu den Pfeilen gehörte auch ein Bogen, dessen Sehne eine richtige Sehne war und kein schlichter Bindfaden wie bei unsern kindlichen Flitzbogen. Aber meine Begeisterung über diese Waffe war eigentlich nicht recht begründet, denn als ich einmal, in einem unbeobachteten Augenblick, ihn an mich nahm und damit auf die Straße lief, immer in Angst, mein Vater könnte mich erwischen, ergab sich sehr schnell, daß ich wohl damit vor den andern paradieren und Eindruck schinden konnte, daß aber unsere Kräfte nicht ausreichten, ihn zu spannen. So war er eigentlich ein durchaus unnützes Möbel, und meine Hoffnung, mit seiner Hilfe unsere selbst geschnittenen Pfeile weit über das Dächermeer der Stadt hinauszusenden, mußte ich alsbald bekümmert zu Grabe tragen. Schließlich aber landeten bei uns, in zwei gewaltigen Kisten, noch einige Jagdtrophäen meines Onkels: ein mächtiger Büffelschädel und der noch riesigere Schädel eines Nilpferdes. Nicht nur ich, sondern anscheinend auch mein Vater hielten diese beiden Beutestücke für den erfreulichsten Teil aus dem ganzen Besitztum meines Onkels, und ich persönlich war überzeugt, daß mein Onkel diese Bestien unter ungeheuren Gefahren als Großwildjäger mit der Elefantenbüchse selbst erlegt habe. Den Brief einer Firma an meinen Onkel, in dem diese beiden Schädel in Rechnung gestellt wurden, hatte ich damals noch nicht in die Hände bekommen.

Mein Vater war sehr stolz auf diese Bereicherung seines Besitzes, mit der er vor seinen Freunden und Bekannten prunken konnte. Von ihnen konnte niemand mit etwas auch nur halbwegs Ähnlichem aufwarten, und es versteht sich, daß die beiden Schädel an möglichst auffallenden Stellen in der kleinen Wohnung ihren Platz fanden.

Der Büffelkopf hing also über dem Sofa, und wenn weibliche Besucher kamen, Nachbarinnen oder Verwandte und Bekannte, und den Ehrenplatz auf dem Sofa zugewiesen erhielten, dann ergab es sich meist zu meiner innigen Freude, daß der über ihren Köpfen schwebende mächtige Schädel eine beunruhigende Wirkung ausströmte. Sicher fürchteten sie, daß das Ding ihnen früher oder später auf den Kopf fallen würde, denn sie konnten ja nicht wissen, daß das, was mein Vater irgendwo befestigte, sozusagen für die Ewigkeit hielt. Immer wieder warfen sie halbe, verstohlene Blicke nach oben, und der Unterhaltung vermochten sie nur mit sehr geteilter Aufmerksamkeit und halbem Ohr zu folgen.

Bekam aber mein Vater einmal Besuch – was nicht eben häufig geschah –, so war das für ihn ein einziger Triumph. Er, der sonst ziemlich schweigsam und wortkarg war, vermochte jetzt, äußerst beredt und mit fast dichterischem Schwung, auszumalen, wie sein verstorbener Bruder diese Bestie erlegt hatte. Es klang alles sehr plausibel und strotzte von Sachkenntnis, und mit »Donnerwetter noch mal!« und »Ist ja wirklich toll!« und ähnlichen Interjektionen folgten die Zuhörer dieser spannenden Erzählung, die man heute Tatsachenbericht nennen würde, und die auch genau so wahr und wirklichkeitsgetreu war, wie es bei den heutigen Tatsachenberichten der Fall ist. Manchmal durfte ich dabei sitzen, und ich bewunderte das gute Gedächtnis meines Vaters sehr, denn in einem der Reiseberichte, die wir vor ein paar Monaten gelesen hatten, war eine Büffeljagd ganz ähnlich und mit fast den gleichen Worten erzählt worden. Trotzdem bin ich übrigens davon überzeugt, daß mein Vater keine Spur von schlechtem Gewissen hatte, wenn er so erzählte – er hatte das mählich so oft getan, daß er zuletzt zweifellos selbst an die Wahrheit des Berichteten glaubte.

Auch den Nilpferdschädel in einem der Zimmer unterzubringen, erwies sich sofort – und sehr zum Leidwesen meines Vaters – als völlig unmöglich. Aber mein Vater meinte, daß im Korridor ein sehr geeigneter Platz sei – meine Mutter allerdings war genau der gegenteiligen Ansicht, doch gelang es ihr nie, ihre Überzeugung durchzusetzen –, und er ließ sich zunächst aus Buchenholz, das schwarz gebeizt wurde, ein Gestell anfertigen, auf dem der Nilpferdschädel aufgebaut wurde. Aber das war noch nicht die vollkommene Lösung des Problems, die ihm vorschwebte.

»So sieht das eigentlich aus wie ein Haufen Knochen«, sagte er zu meiner Mutter, und sie gab ihm eifrig recht, in der Hoffnung, der Schädel würde nun bald verschwinden. Denn sie konnte sich mit ihm nicht befreunden und hat es auch später nie gekonnt, und vor allem ärgerte sie sich, daß sie dieses zackige, unförmige und mit unendlich vielen Vorsprüngen und Einbuchtungen versehene Ding abstauben mußte, was immer mindestens zehn Minuten ihrer kostbaren Zeit fraß.

Aber mein Vater dachte nicht im Traum daran, sich von dem Schädel zu trennen. Er hing an ihm, als hätte er das Tier, zu dem er einst gehört hatte, selbst erlegt, und nachdem er lange nachgedacht hatte, kam er eines Abends mit einem dreieckigen, triangelförmigen Stabeisen zurück, an dessen drei Enden kleine, halbkreisförmige Backen oder Krampen angebracht waren. Dies Gebilde steckte er zwischen Ober- und Unterkiefer des Schädels, und nun sah der aufgerissene Rachen wahrhaft furchterregend aus. Gerade das aber war es, was mein Vater wollte.

Was mich anbelangt, so war ich mit diesem Ergebnis restlos einverstanden. Sehr schnell nämlich stellte es sich heraus, daß ich in diesem aufgerissenen Rachen herrlich mit meinen Indianern spielen konnte. Die bald sanft gebogenen, bald scharfkantigen Knochenwülste ergaben ein sehr natürliches Gelände für kriegerische Handlungen in Wildwest, sie stellten Berge und Hügel und Täler dar, zwischen ihnen konnte man sich vor den anrückenden Feinden verbergen und den geeigneten Augenblick abwarten, über die nichtsahnenden Gegner herzufallen und unter ihnen ein blutiges Massaker anzurichten. Man konnte aber auch in diesem Rachen Dinge verstecken, die man sowohl griffbereit als auch verborgen vor den Blicken der anderen aufbewahren wollte, denn so ordentlich und peinlich sauber meine Mutter war, nie hätte sie es gewagt, mit ihrem Staublappen ins Innere des Schädels hineinzufahren. Immer beherrschte sie die bange Sorge, das Eisengestell könne einmal umkippen oder nachgeben, dann würden die mächtigen Kiefer zusammenschlagen und sie gräßlich zerfleischen.

Bei diesen Spielen machte ich übrigens sehr schnell noch eine andere, ganz unerwartete Entdeckung: daß nämlich die dicken, höckrigen Backenzähne, die meisten wenigstens, nur ganz locker in den Kieferknochen saßen, trotz ihrer drei oder wohl gar vier Wurzeln. Man konnte sie also ohne allzu viel Anstrengung einzeln herausziehen und späterhin, bei einiger Geschicklichkeit, wieder in die zugehörigen Löcher einsetzen. Kaum hatte ich das festgestellt, wurde ich tagelang nicht müde, mich als tropischer Tierarzt zu betätigen. Ich steckte die Zähne in meine Hosentaschen, die davon ordentlich anschwollen und mich richtig herunterzogen mit ihrem nicht unerheblichen Gewicht, als hätte ich Blei in den Taschen, und nahm sie mit auf die Straße, um sie meinen Spielkameraden zu zeigen und mit dieser Beute zu protzen.

Einmal aber kam mein Vater unerwartet früh nach Hause, und als ich kurz vor dem Abendbrot die Wohnung betrat, stand er mit vor Empörung blassem, unheilverkündendem Gesicht im Korridor, wartete meinen Gruß gar nicht erst ab, sondern fragte nur, mit drohender Stimme, auf den so traurig verstümmelten Schädel zeigend: »Wo sind die Zähne?«

»Die Zähne?« stammelte ich und wurde rot. Dann aber glaubte ich, die Zuflucht zu einem Witz nehmen zu können und meinte: »Das Biest ist langsam alt geworden und hat seine Zähne verloren.«

»So?« sagte mein Vater, und seine Hand zuckte schon. Er war nicht ohne Humor, aber was die Hinterlassenschaft seines Bruders anbelangte, so verstand er in diesen Dingen keinen Spaß. »Wenn das Nilpferd zu alt ist, um seine Zähne zu behalten, so bist du immerhin jung genug, um dich gründlich zu verhauen. Und ich werde das besorgen, da kannst du Gift drauf nehmen, wenn diese Zähne nicht in zehn Minuten genau dort sind, wo sie hingehören.«

Nie habe ich fleißiger und schneller gearbeitet, als während der folgenden Minuten … schwitzend, keuchend bemühte ich mich, die Zähne richtig einzusetzen, und zu meinem Glück gelang es, ehe mein Vater erneut aus dem Zimmer kam und den Schädel prüfend betrachtete. Er war nun einigermaßen versöhnt, aber er verbot es mir mit allem Nachdruck, mich noch einmal in dieser Art tierärztlich zu betätigen.

All die erwähnten Dinge waren aber eigentlich nur der unwichtigere und bescheidenste Teil der meinem Vater zugefallenen Erbschaft. Die Hauptsache war das Geld, das Vermögen meines verunglückten Onkels. Ich weiß nicht, wie viel es war, aber es muß, für unsere damaligen Verhältnisse, eine sehr große Summe gewesen sein, die sich teils aus Bargeld, teils aus Wertpapieren aller Art zusammensetzte.

Vielleicht bildeten die Wertpapiere überhaupt den größeren Teil des ererbten Vermögens. Jedenfalls fanden sich jetzt auf dem Nachttisch meines Vaters des öfteren Bücher und Broschüren mit ebenso langweiligen wie fremdartigen Titeln, etwa »Leitfaden durch das Börsenrecht« oder »Was der Laie von Wertpapieren und Kursen wissen muß«. Und oft und oft saß mein Vater, nach dem Essen, über der Zeitung und studierte die Börsennachrichten, manchmal fröhlich und zuversichtlich, manchmal mit gerunzelter Stirn, mit gramzerfurchtem Gesicht, und dann murmelte er etwa, daß die und die Papiere oder Kuxe – unvorstellbare Dinge, die irgendetwas mit Bergwerken zu tun haben mußten – gefallen seien und daß man sie am besten verkaufte. Er brummte und fluchte leise vor sich hin, zuweilen aber auch überwältigte ihn der Zorn, er stand dann auf und hielt meiner Mutter zürnende Anklagereden über die Gemeinheit der Menschen im allgemeinen und die Verworfenheit der gesamten Handelswelt im besonderen.

Die Bücher bildeten mit einem Haufen spanischer und portugiesischer Zeitschriften, die ebenfalls aus dem Nachlaß des Onkels stammten, ein eigenartiges Stilleben. Und wenn mein Vater sich genug geärgert oder gefreut hatte, legte er sich ins Bett und blätterte in diesen Zeitschriften. Er behauptete hartnäckig, er lese sie, aber in Wahrheit verstand er natürlich kein Wort, sondern er begnügte sich, die Bilder anzuschauen, die meist sehr mangelhaft bekleidete Damen in unverständlichen und komischen Situationen darstellten. »Tolle Burschen, diese Spanier«, pflegte er dann vor sich hinzusagen, mit einer Stimme, die aus Tadel und Bewunderung gemischt war. Worauf meine Mutter prompt erklärte, er solle doch dieses verworfene Zeug lieber wegschmeißen, und es wäre eine Schande, daß er das so offen und vor den Augen der Kinder herumliegen lasse. Dann packte er den ganzen Haufen Druckschriften beschämt in seinen Schreibtisch – aber zwei Tage später lagen sie schon wieder greifbar auf dem gewohnten Platz.

Die richtige Verwaltung des Geldes, in dessen Besitz mein Vater so plötzlich gekommen war, machte ihm viel Sorgen. Und er war erst wieder ruhig, als er es angelegt hatte … wie, das mag einem späteren Kapitel vorbehalten bleiben.

Assowaum, die Flußpiraten und die Kanäle des Mars

Es gibt Eltern, und besonders Väter, die, sobald sich erst einmal herausstellt, daß ihre Kinder nach Büchern greifen, deren Lektüre nach einem weise überdachten Plan und mit großer Vorsicht auswählen. Sie denken etwa: Meine Kinder, die sollen nur mit dem wirklich Guten, Großen und dichterisch Vollendeten in Berührung kommen – geschieht das, dann werde ich dadurch ihren Geschmack von Anfang an formen und bilden, und sie werden späterhin schlechte, belanglose und nachteilige Bücher von sich aus und sozusagen instinktiv ablehnen.

Aber nach meinen Beobachtungen entspricht meist der Erfolg nicht den aus solchen Überlegungen erwachsenen Erwartungen. Der Weg zur reinen Kunst und wirklichen Dichtung ist schwer, mühsam und steinig, und diejenigen, die ihn schon in jungen Jahren finden, sind seltene Ausnahmen. Ein richtiger Junge in bestimmtem Alter wird, wenn ihm die Wahl gelassen wird zwischen ein paar noch so schönen Novellen von Storm und Heyse – in denen doch oft genug auch viel Spannendes und Aufregendes sich zuträgt – und Ferrys Waldläufer oder Coopers Lederstrumpf, immer die letzteren vorziehen. Denn sein Maßstab ist nicht der der Erwachsenen, und seine Interessen sind nur selten die ihren.

Mein Vater hat sich in dieser Beziehung weder Sorgen noch irgendwelche Gewissensbisse gemacht. Und so manches »Buch für die reifere Jugend«, das ich gelangweilt aus der Hand legte, und das er dann flüchtig durchblätterte, entlockte auch ihm nur ein leises und verstohlenes Gähnen oder gar gründliche Abneigung. Ganz besonders dann, wenn in diesem Buch besonders edle und gutartige Knaben die führende Rolle spielten, die von allen denkbaren Tugenden nur so trieften. Einmal hörte ich ihn über diese Frage zu meiner Mutter sagen: »Ist ja alles Unsinn. Solche Kinder gibt es nicht, und wenn es sie wirklich gibt, täten sie mir leid. Ich kenne doch Jungens – sie sind nicht edel, sondern meist scheußliche Rauhbeine, und von den menschlichen Tugenden halten sie nicht gerade viel.« Ich weiß nicht, was meine ??? ganz seiner Meinung.

Mein Vater selbst las nicht allzu viel – dazu ließ ihm auch sein Beruf, seine harte und anstrengende Arbeit, kaum die erforderliche Zeit übrig. Es mag also wohl sein, daß er gerade aus diesem Grunde zeitlebens Bücher jener Art besonders geliebt hat, die ihm schon als Junge gefallen hatten. Was er vom Buche verlangte, war, daß es ihn aus der heimatlichen Enge und Beschränktheit hinausführte in eine große und weite Welt, daß es ihn Dinge schauen und Abenteuer erleben oder wenigstens doch nacherleben ließ, die sein eigenes und genau umzirkeltes Dasein ihm nicht in den Weg führte. Wenn er also selten und eigentlich nur in den Abendstunden zum Lesen kam, dann mußten es schon Bücher sein, die ganz seinem Geschmack entsprachen – alle anderen hätte er, als lächerliche Zeitverschwendung, verworfen.

Durch irgendeinen Zufall geriet er an Friedrich Gerstäcker. Vielleicht hatte ihm ein Buchhändler diesen Schriftsteller empfohlen, als er gehört hatte, worauf mein Vater aus war. Vielleicht auch hatte irgendeiner seiner Bekannten, von ähnlichen Neigungen erfüllt, Gerstäckers Werke gelobt. Kurz und gut: eines schönen Tages oder besser Abends kam mein Vater mit einem Gerstäcker unter dem Arm nach Hause, den er nach dem Abendbrot nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit auspackte und zunächst einmal sehr gründlich betrachtete, ich möchte beinahe sagen beroch. Es war eine neue Ausgabe von Gerstäckers Werken, in leuchtend roten Leineneinbänden, mit einer reichverzierten, bunten Randleiste, auf der man alles mögliche sah: ein Blockhaus, ein paar ausländische Bäume, eine Flinte, die gegen die Wand des Blockhauses lehnte, Waffen und Patronengürtel und eine Axt oder ein Tomahawk, kurz alles, was in einer naiven Vorstellung zur Ausrüstung von Menschen gehörte, die in der Prärie oder am Rande des Urwalds, auf alle Fälle sehr weit von hier, ihr abenteuerliches, kampferfülltes und ganz auf sich gestelltes Leben führten.

Mein Vater also beschaute mit liebevoller Andacht diesen beziehungsreichen Bucheinband, und er gefiel ihm sehr. Mir auch. Und wenn hier schon das Äußere einen ungefähren Vorgeschmack vom Inhalt vermittelte, dann durfte man auf das Buch selbst mit Recht gespannt sein.

Es hieß »Die Regulatoren in Arkansas«, und es war der erste Band einer langen Reihe von Büchern aus der Feder Friedrich Gerstäckers, die allmählich das Bücherregal meines Vaters füllten und schließlich zu der stattlichen Zahl von zwölf oder gar dreizehn Bänden anwuchsen. Ich wußte mir zwar unter diesem Titel nichts vorzustellen – denn ein Regulator, das war nach dem damaligen Sprachgebrauch ja doch eine Wanduhr –, aber das störte mich nicht, Titel sagten ja selten etwas Vernünftiges aus. Und meinen Vater störte es auch nicht.

Mein Vater zog sich früh zurück und las im Bett zunächst zehn oder zwanzig Seiten. Diese Neigung, im Bett zu lesen, habe ich gewiß von ihm geerbt. Aber als er so weit war, kam er zu der Überzeugung, daß es sich hier um ein Buch handele, das der gesamten Familie zugänglich gemacht werden müsse. Er beredete die Sache mit meiner Mutter, und sicher war sie sogleich Feuer und Flamme für diesen Vorschlag. Sie hatte es ziemlich schwer in ihrer Wirtschaft, leidend wie sie seit Jahren schon war, und ohne jegliche Hilfe. Sie kam deshalb auch wenig zum Lesen, und bestenfalls studierte sie abends den Anzeigenteil unserer Tageszeitung und den Roman. Dabei mochte sie Zeitungsromane eigentlich gar nicht sehr. Entweder gefielen sie ihr nicht, dann meinte sie, sie zu lesen sei die reinste Zeitverschwendung, und es wäre sicher richtiger, statt dessen lieber Strümpfe zu stopfen oder Wäsche zu flicken; freilich brachte sie es nie fertig, etwas einmal Angefangenes unerledigt aus der Hand zu legen, und da selbst der schlechteste aller denkbaren Romane seine Mängel erst nach der vierten oder fünften Fortsetzung aufwies, so hielt sie sich für verpflichtet, sich nun tapfer bis zum Ende durchzubeißen. Oder aber ein Roman gefiel ihr – dann schimpfte und brummelte sie allabendlich vor sich hin, weil sie, eben im besten Zuge, aufhören und sich bis zum Erscheinen der Fortsetzung am nächsten Tage gedulden mußte.

Sie war also hell begeistert, daß sie nun, nach weiß der liebe Himmel wievielen Jahren, endlich einmal dazu kommen würde, ein ganzes, dickes Buch zu lesen – nein, sogar vorgelesen zu bekommen, denn natürlich erklärte sie meinem Vater sofort, daß sie selbst sich zum lauten Vorlesen gar nicht eigne und daß also diese Arbeit leider ihm vorbehalten bleibe.

Von diesem Augenblick an begann nun ein durch mehrere Winter währendes abendliches Idyll, das ich nie vergessen werde. Wir Kinder hatten unsere Betten in einem dem elterlichen Schlafzimmer angrenzenden kleinen Raum, und nie vorher hatten wir so schnell in sie hinein gefunden. Die Verbindungstüre blieb nun offen, und Abend für Abend las mein Vater mit seiner schönen, lebhaften und tiefen Stimme einige Dutzend Seiten aus dem stattlichen Bande vor. Und ich möchte meinen, er hat nie leichter zu lenkende Kinder gehabt als in jener Zeit, denn jede Ungezogenheit, die schwerer ins Gewicht fiel, wurde dadurch bestraft, daß das abendliche Vorlesen fortfiel. Aber wie jener Vater aus der Anekdote, der seinen ungezogenen Sohn verprügelte und ihn, als der immer heftiger weinte und schrie, schließlich anherrschte: »Heule nicht! Mir tut es mehr weh als dir, daß ich dich so hauen muß!«, so war auch die von unserm Vater angewandte Strafe ein sehr zweischneidiges Schwert. Denn natürlich wollte er, daß uns nichts von diesem seiner Ansicht nach – und auch nach unserer Überzeugung – vortrefflichen Buch verloren ging, und wenn er seine angedrohten Strafmaßnahmen einmal in die Tat umzusetzen sich gezwungen sah, war er auch selbst verurteilt, auf die Fortsetzung der Lektüre an diesem Abend zu verzichten.

Und während uns Kinder die Dunkelheit, die Wärme des Bettes sanft und tröstlich umhüllten, während wir in das Licht der Petroleumlampe starrten, das gedämpft und milde durch die halb geöffnete Tür hereinströmte, begann mein Vater zu lesen. Bunt und mitreißend baute sich vor unsern Augen das Bild einer fernen und fremden Welt auf, einer Welt, die wir noch nie gesehen hatten und aller Wahrscheinlichkeit nach niemals sehen würden. Ganze Sätze, ganze Bilder brannten sich mir unverlierbar in Herz und Hirn: »Dort, wo der Wabasch die beiden Bruderstaaten Illinois und Indiana voneinander scheidet und seine klaren Fluten dem Osten zuführt, wo er sich bald zwischen steilen Felsufern, bald zwischen blühenden Matten und blumigen Prärien murmelnd und plätschernd durch tausend stille Buchten drängt …«, ach ja, wann habe ich diesen Satz nur gehört? Und ist es wirklich mehr als ein Menschenalter her, seit diese Worte erstmals an mein damals noch kindliches Ohr drangen, um fortan nie, nie wieder dem Gedächtnis zu entschwinden? – Ich wurde in eine Welt geführt, in der es Steppen gab und Prärien und Urwälder, Kampf und Sieg, Jäger und Trapper und Abenteurer. Und immer fortan, wenn je der Name Gerstäcker an mein Ohr schlägt, dann sehe ich dieses ferne, ferne, noch unberührte und jungfräuliche Land vor mir, das mit dem Amerika von heute und seinen Bewohnern wahrlich nicht mehr als die Namen gemein hat. Und das vielleicht nicht einmal das wirkliche Amerika von gestern war. Cotton und der Methodistenprediger Rowson, Kapitän Kelly und die geschwätzige Miß Louise Breidelford, Georgine und Sander und all die vielen, vielen andern Männer und Frauen und Mädchen, Feige und Tapfere, Helden und Schurken und Mörder, Räuber und Diebe, Pflanzer und Jäger und Indianer – sie sind in meine Träume eingegangen, sie gehörten alsbald ganz zu meinem Dasein und haben mich, all den vielen, vielen Büchern zum Trotz, die ich seitdem teils leidenschaftlich verschlungen, teils gewissenhaft studiert oder mit Andacht in mich aufgenommen habe, nie mehr verlassen.

Mit den »Regulatoren in Arkansas« fingen wir an, es folgten »Die Flußpiraten des Mississippi« und »General Franco«, »Die Blauen und die Gelben« und die »Südseegeschichten«, »Im Busch« und »Die Silbermine im Ozarkgebirge« und viele andere noch. Es hatte wohl jedes Buch gut seine vierhundert oder vielleicht gar fünfhundert Seiten, und leicht kann sich auch ein schlechter Mathematiker ausrechnen, daß wir zuletzt auf diese Art gut und gern vier- bis fünftausend Seiten in uns hineingefressen haben. Sie vorzulesen erscheint mir auch heute, rückschauend, noch als eine ganz ungewöhnliche Leistung – allerdings verteilte sie sich auf mehrere Winter und auf eine Reihe von Monaten.

Endlich freilich hatten wir alles geschafft, was von Gerstäcker überhaupt nur aufzutreiben war.

»Uff«, sagte mein Vater, als er die letzte Seite des letzten Buches abgeschlossen hatte, mit einer förmlich erlösten Miene, so als hätte er ein übermenschliches Werk vollendet. Und in gewissem Sinne war das ja wohl auch der Fall.

Man hätte annehmen müssen, daß er nun für lange Zeit des Vorlesens gründlich satt sei. In Wahrheit aber hatte er schon nach wenigen Tagen, während deren er abends nur die gewohnte Zeitung las und sonst nichts, das Gefühl, es fehle ihm irgendetwas, es sei sein Tag irgendeines Inhalts beraubt worden, auf den er nur schwer verzichten mochte.

Er sah sich also flugs nach etwas anderem um, und da er, vielleicht nicht mit Unrecht, annahm, daß wir an Jägern, Rothäuten und Trappern einstweilen gesättigt seien, wechselte er das Thema sehr gründlich und machte gleichsam eine Kehrtwendung von hundertachtzig Grad. Das Buch, das er nun anbrachte, stammte von einem gewissen Peterson oder Kinberg oder Peterson-Kinberg, genau weiß ich es nicht mehr. Aber an den Titel erinnere ich mich genau. Es hieß: »Wie entstanden Weltall und Menschheit?« und schilderte in Form eines Gesprächs, das ein großer Gelehrter allabendlich mit seinem Sohn Axel und seiner Schwiegertochter Sigrid führte, die vermutliche Entstehung der Fixsterne und der Planeten, die einzelnen Entwicklungsphasen der Erde und den Weg des Lebens auf dieser unserer Erde von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart. Dieses mit vielen Tafeln, Karten und Bildern ausgestattete Buch, das zu Beginn dieses Jahrhunderts sehr schnell große Verbreitung fand, weil es gleichsam ein Vorläufer der Schriften Bölsches war und moderne Naturerkenntnisse in einer auch dem Laien verständlichen Form vermittelte, war wohl nur knappe dreihundert Seiten stark. Doch nahm es uns länger in Anspruch als drei oder vier Gerstäcker-Romane, aus ihm schöpfte ich meine ersten Vorstellungen einer Landschaft etwa aus der archäischen Formationsperiode und der Steinkohlenzeit und so weiter, über das Aussehen eines Archäopterix und fliegenden Pterodaktylos, eines Mastodon und Atlantosaurus.

Tanz der Gestirne und Kometenbahnen, Lichtjahre und Ätherwellen, der Weg vom Wurm zum Wirbeltier, Stammbaum der Tiere und Menschen und die Stammtafel der Völker, all das wurde mir auf diesem Wege in vielen, vielen abendlichen Stunden nahe gebracht, nach dem Stande einer Wissenschaft von damals, die sich überwiegend auf die Theorien und Erkenntnisse eines Darwin, Häckel, Weismantel, Neumeyer und anderer stützte.

Dies Buch also wurde nicht wie andere gelesen, das heißt, es wurde nicht nur gelesen. Jede Seite beinahe gab Anlaß zu unendlich vielen wißbegierigen Fragen und langen Erörterungen. Ich glaube, daß mein Vater sehr unbeschwert und ohne mehr als ein sehr durchschnittliches Wissen von diesen Dingen an das Buch heranging, und ich kann mir gut vorstellen, wie oft ich ihn mit meinen Fragen in ziemliche Verlegenheit versetzte. Doch wußte er auf alles eine Antwort, und wenn sie falsch war, und wenn jeder Fachmann sie vielleicht belächelt hätte, so war ich doch kein Fachmann und konnte keinen kritischen Maßstab an die mir erteilten Antworten legen. Mir genügte es, eine Erklärung zu erhalten. Und so wuchs das Ansehen meines Vaters immer aufs neue, vor allem, weil er nicht in den Fehler vieler Eltern verfiel, seine Ausflucht zu dem beliebten »Das verstehst du ja doch noch nicht, dazu bist du noch viel zu klein« zu nehmen. Er suchte alles zu erklären, allem mit Vernunft und Überlegung nahezukommen, und das war es, was ich brauchte.

Die Sterne, seien es Fixsterne und also Sonnen oder bescheidene Planeten, sie waren uns noch ferner als die Pampas, das Felsengebirge, die Urwälder am Orinoco und die Steppen von Deutsch-Südwest, und man maß ihren Abstand von unserer bescheidenen Erde nach Lichtjahren. Und erst als ich später einmal, ein längst erwachsener Mensch, tiefer in die Geschichte und den Weg unseres Blutes eindrang, lernte ich und begriff ich genau, was ich als Junge nur dunkel ahnte. Da war einer gewesen, der hatte nur als kleiner Bauer zeitlebens auf seinem winzigen Hof gesessen. Von dessen Söhnen einer wieder war schon in die Nähe einer größeren Stadt in Ostpreußen gezogen und war Gärtner geworden. Und dessen Sohn wieder, der hatte sich gar schon Kunstgärtner – Landschaftsgärtner würde man heute wohl sagen – genannt, und er hatte einem adligen Herrn im Baltikum, irgendwo bei Dorpat, Park und Garten hergerichtet. Einer von seinen Nachkommen war dann wieder nach Deutschland zurückgezogen, und er war meines Vaters Vater geworden und auch Gärtner gewesen. Einen zweiten aber hatte nichts in die Heimat getrieben, er war immer tiefer hineingedrungen in die unendliche Weite des russischen Riesenreiches und dann irgendwo namenlos verschollen, verdorben, gestorben.

An diesen trocken anmutenden Daten und nüchternen Feststellungen entzündete sich mir da endlich das Licht einer neuen Erkenntnis. Ich erkannte das Erbe des Blutes, dem sowohl mein Vater als auch mein so tragisch verunglückter Onkel verhaftet waren. Den einen trieb es hinaus in immer weitere Fernen, aber immer blieb ein Heimweh in seinem Herzen wach und lebendig – als er ihm endlich nachgab, mußte er sterben. Der andere kam nie fort aus seiner Heimatverbundenheit, und nur durch seine Träume wehte die süße Lockung der großen, schönen, wilden Welt, die Lockung auch der Unendlichkeit, die allnächtlich vom gestirnten Himmel her mit Rätselaugen auf ihn niederstrahlte. Um dieses Gegensatzes willen, der im letzten doch keiner war, mußten diese beiden sich lieben, wie Brüder es selten tun …

Ich weiß nicht, worauf mein Vater als nächstes verfallen wäre, als das Buch von Weltall und Menschheit ganz durchgearbeitet worden war. Ich kann und konnte es nicht einmal vermuten. Es kam nicht zu einer Fortsetzung dieses Unternehmens, denn mit einem Male verließen wir unsere altvertraute, kleine Wohnung in der Sperlingsgasse und kamen nie mehr dorthin zurück. Damit nahm aber auch das winterliche Idyll ein plötzliches Ende.

Freilich: ehe dieses geschah, unternahmen meine Eltern ihre einzige größere Reise, an die ich mich entsinne. Sie führte sie nach heutigen Begriffen nicht allzu weit, nur bis Berlin. Aber damals und für meinen Vater war das schon etwas Besonderes, für meine Mutter aber war es eine richtige Expedition, die mit zahllosen Aufregungen, die der Fahrt vorangingen, verknüpft war.

Daß wir sie aber, wenigstens auf einem Teil der Strecke, bis Schneidemühl, begleiten durften, war das Ungewöhnlichste an diesem ungewöhnlichen Ereignis.

Das Traumschiff

Dieses Ereignis warf, wie alle großen kommenden Dinge, seine Schatten weit voraus, und man darf nicht wähnen, daß es dem Entschluß eines Augenblicks entsprang und sozusagen von heute auf morgen geboren wurde. Das hätte schon der ganzen Art meines Vaters nicht entsprochen, der alle Pläne sehr lange und sehr ernsthaft zu überlegen und nach allen Seiten hin und her zu wenden pflegte, ehe er sie endlich in die Tat umsetzte. Wenn er erst soweit war, dann hielt er allerdings auch mit großer Zähigkeit, ja mit einer Verbissenheit, die manchmal schon zu eigensinniger Dickköpfigkeit ausarten konnte, daran fest.

Von dem Geld, das mein Vater geerbt hatte, haben wir alle lange Zeit kaum etwas gemerkt. Unsere Lebenshaltung verbesserte sich kaum, höchstens daß ab und zu einmal mitten in der Woche etwas Gutes gekauft wurde, was es sonst höchstens am Sonntag und auch dann nicht immer gab. Oder daß die hartnäckigen Kämpfe zwischen meiner Mutter und meinem Vater, die irgendeiner dringend notwendigen Anschaffung vorausgingen, immer wieder vorausgingen, denn ohne sie wurde nichts herausgerückt, schneller zum Abschluß gelangten und mit einem vollständigen Sieg meiner Mutter endeten. Einem wahrhaften Pyrrhussieg, kann man wohl sagen, aus dem sie erschöpft und aufgerieben herauskam, mit dem Gefühl – ohne daß sie von klassischen Anekdoten allzu viel wußte –: »Noch ein solcher Sieg, und ich bin verloren.« …

Erst sagte mein Vater »Im Sommer« und dieser Sommer lag fern irgendwo, man durfte gar nicht darüber nachdenken, wie weit. Aber dann hieß es: bald, und dann: morgen, und: »Wie werde ich die Zeit verbringen bis morgen?« fragte ich mich wohl an die tausendmal. Weil mir plötzlich nichts mehr von alledem Freude machte, was ich sonst zu tun liebte, so sehr verzehrte mich Neugier und Erlebnishunger und Ungeduld. Hundert Spiele, kaum angefangen, wurden vor der Zeit als tödlich langweilig abgebrochen. Und ich war nur allzu glücklich, wenn ich unten, in der Gasse, auf einen Jungen stieß, den ich in geschickter Art darauf bringen konnte, vom nächsten Tag zu erzählen, für die Spiele des nächsten Tages irgendwelche Vorschläge zu machen.

Das war dann mein Stichwort. Darauf hatte ich nur gewartet. Ich lehnte mich an die Hauswand, sah die Straße hinauf und hinab, als müsse ich mir ihr Aussehen genau einprägen, als müsse ich aber auch gleichzeitig irgend etwas sehr gründlich überlegen, und sagte dann mit gut gespielter Gleichgültigkeit, mit leerem und eben darum unendlich hochmütigem Gesicht: »Morgen? Ach nein – morgen geht's nimmer. Morgen verreisen wir nämlich.« Woraufhin ich dem andern die Hand gab und gemessenen Schrittes – diese Art zu gehen hatte ich meinem Vater abgeguckt – im Hause verschwand.

Aber vor mir selbst, und wenn der andere mich nicht mehr sehen konnte, da verzichtete ich gern auf dieses wundervolle Theaterspiel. Morgen, dachte ich dann wieder, und ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte mich. Eine ungeheure Freude rührte mich an. Ich hatte natürlich, als Städter, schon oft genug in der Eisenbahn gesessen, man fuhr mit ihr zu all den kleinen Vororten und Ortschaften hinaus, die die Stadt wie ein schöner, bunter Kranz umrahmten. Aber es waren Fahrten von lächerlich kurzer Dauer, und die D-Züge, die vom Hauptbahnhof aus, aus einem Stadtviertel also, zu dem ich von der Niederstadt her nur selten kam, der Weite und der Mitte des Reiches zustrebten, über Stettin die einen, über Dirschau-Marienburg die anderen, die sah ich nur gelegentlich, wenn uns Jungens das Spiel bis nach Norden verschlug, zu den erst vor kurzem niedergelegten Wällen, auf denen jetzt prunkvolle und große Gebäude im Entstehen begriffen waren, zu den steilen und winkeligen Straßen unterhalb des Bischofsberges und zu den Brücken über den Radaunekanal. Eine überquerte auch den Bahnkörper, sie führte nach dem Schwarzen Meer – ja, seltsame Namen gab es in Danzig, über die man sich nicht genug wundern konnte –, und auf dieser Brücke zu stehen, während unter mir der lange D-Zug, der nach Berlin oder noch weiter fuhr, hinwegbrauste, war ein immer neues Vergnügen, dessen ich nie satt wurde, und das seinen Gipfelpunkt in dem Augenblick erreichte, da die weißen Dampfwolken bis zur Höhe des Brückengeländers emporquollen und mich in ihren warmen, feuchten Nebel einhüllten.

Und nun: Morgen, dachte ich, da werden wir, da werde ich selbst in einem solchen prächtigen Zuge sitzen, und das dampfende, rauchende, Funken speiende und stahlglänzende Ungetüm vorn, die Lokomotive, wird mich hinwegtragen in eine unvorstellbare Weite. Nicht nach Berlin gleich, leider, aber doch immerhin in eine Stadt, deren Namen ich bisher kaum kannte, deren Name schon klingt wie ein Märchen. Zu Menschen, die ich noch nie gesehen habe, und die ich doch Onkel nennen darf und Tante, und die das ungeheure Glück haben, immer in jener Märchenstadt wohnen zu dürfen, in die ich jetzt nur als ein flüchtiger Besucher komme.

Die Tante: Amalie hieß sie, und uns wurde aufgegeben, sie Tante Malchen zu nennen – ich wußte natürlich nicht, wie sie aussah, ob sie alt war oder jung. Ein- oder zweimal waren Pakete angekommen, Pakete nur für mich, die ich ganz allein aufmachen durfte, die mir ganz allein gehörten. Wundervolle Dinge waren darin. Honig, der duftete … oh, ich hatte diesen Ruch noch jetzt in der Nase, wenn ich nur daran dachte. Und einmal ein Kuchen, wie ich ihn ähnlich noch nie gegessen hatte. Einmal sogar eine Wurst, hart, als wäre sie aus Stein, und mit einer Haut, die schwarz war von Ruß, eine Landwurst, wie man sie in der Fleischerei hier in der Stadt nicht zu sehen bekam. Einmal hatte einem solchen Paket sogar ein Brief beigelegen, ein paar Zeilen in sehr krakeliger Schrift, die meine Mutter mir vorlesen mußte, da ich sie nicht zu entziffern vermochte. Der Brief umschloß aber auch noch eine Mark, eine runde, blitzende Silbermark, sie war für mich bestimmt, und ausdrücklich war angegeben worden, ich könne mir dafür kaufen, was ich wolle.

Ich hatte sie sehr lange unentschlossen in meiner blechernen Sparbüchse, die eine Kirche mit hohem, spitzem Turm darstellte, liegen lassen. Es gab ja so viel, was man sich kaufen konnte für einen solchen riesigen Betrag, so viel auch, nach dem mein Herz stand. Und ich hatte die Qual der Wahl und der Unentschlossenheit lange durchlitten – es war eine süße Qual gewesen. Endlich aber hatte ich Schluß gemacht mit allen Überlegungen und mir bei Kuhnert, wo es all die vielen verlockenden Dinge zu sehen gab im Schaufenster, Handwerkskästen und Laubsägen, Ketten und Schlüsselringe und kleine Bohrmaschinen und manches andere mehr, ein Taschenmesser gekauft. Ein Taschenmesser mit zwei Klingen, einer Feile und einem Korkenzieher. Dieser Korkenzieher hatte es mir besonders angetan, obwohl ich kaum je in die Verlegenheit kommen würde, einen Korken aus einem Flaschenhals zu ziehen. Hinterher tat es mir einen Augenblick leid, daß ich nun meine Mark endgültig los geworden war. Aber ich begriff auch, daß es richtig war, gerade ein Taschenmesser zu kaufen. Es hob mein Ansehen bei meinen Spielkameraden gewaltig; denn es war wohl klar, daß jeder richtige Junge eines haben mußte. Nur: nicht jeder Junge besaß eines, und so gehörte ich mit einem Male zu den Wenigen, zu den Auserwählten, deren Umgang, deren Freundschaft von den andern gesucht wurde, denen jeder mit Hochachtung begegnete.

Um eben dieses Markstückes willen hatte ich ganz bestimmte Vorstellungen von unserer Tante Malchen. Eine ältere Frau mußte sie sein, natürlich – nur alte Menschen haben das Glück, so reich zu sein, daß sie reuelos Markstücke verschenken können –, aber eine Frau mit einem gutmütigen, fröhlichen und immer lächelnden Gesicht. Oder nein: sie mußte mit den Augen lachen können. So wie meine Mutter es verstand, deren Gesicht dabei ganz ernst blieb, so daß man wohl meinen konnte, zunächst, sie sei traurig oder gar böse. Bis man endlich an den kleinen Fältchen in den Augenwinkeln, an einem sonderbaren Aufblitzen dieser Augen selbst, merkte, daß sie alles andere war als traurig und erst recht nicht böse. Sondern daß ihr ein Lachen ganz, ganz oben saß, das sie nur mühsam unterdrückte.

Mit der Tante Malchen also, mit der würde ich schon klar kommen. Aber was ihren Mann, den Onkel Gustav, anbelangte, so war das eine sehr undurchsichtige Geschichte. Es war ein Mann, den ich mir nicht recht vorstellen konnte – da fehlten alle Anhaltspunkte. Gewiß hatte ich ab und zu einige Gesprächsfetzen aufgeschnappt, die sich mit ihm beschäftigten. Und ich wußte also, daß er einmal selbst solch ein schnaubendes Dampfroß gelenkt hatte, wie es uns morgen hinwegtragen würde, daß er Lokomotivführer gewesen war und irgendwann einmal ein schreckliches Unglück gehabt hatte. Seitdem saß er zu Hause. Er sei gelähmt, hieß es. Aber ich wußte nicht, was dieses Wort in sich umschloß, was es bedeutete. Wie sah ein Mann aus, der gelähmt war? »Er kann nicht mehr gehen«, hatte meine Mutter auf meine Frage kurz geantwortet. Aber war das eine Erklärung? Warum konnte er nicht mehr gehen? Waren ihm vielleicht die Beine abgefahren worden? Und wie … ja, wie kann ein Mensch leben, der nicht mehr gehen kann?

Alles dies werde ich jetzt erfahren, dachte ich, als ich abends im Bett lag. Zum letzten Male für viele, viele Tage in meinem eigenen Bett. Ich konnte nicht einschlafen. Es war so vieles, worüber ich noch ganz dringend nachdenken mußte.

Einmal schaute meine Mutter kurz herein. Sah mich wohl, mit großen, weit aufgerissenen Augen und heißen Wangen, zwischen meinen Kissen liegen.

»Was?« fragte sie überrascht und ein bißchen ärgerlich. »Du schläfst noch nicht?«

»Och … ich kann doch nicht«, stammelte ich, Verständnis heischend.

»So, so«, sagte meine Mutter. »Das ist ja sehr schade. Wenn du nämlich nicht schläfst, dann bist du morgen ganz furchtbar müde, und wenn du so müde bist, dann können wir dich natürlich nicht mitnehmen. Dann müssen wir allein fahren und dich hier lassen, unten, bei unserer Hauswirtin, oder bei irgendwem andern.«

Weiter sagte sie nichts. Sah mich nur noch einmal strafend an und ging hinaus, mit ganz bösem Gesicht, so wollte es mir erscheinen. Vergeblich hatte ich nach jenen zuckenden Fältchen, nach jenem beruhigenden Schelm in ihren Augen Ausschau gehalten.

»Wenn sie wieder hereinkommt«, nahm ich mir verstört vor, »dann mach ich die Augen einfach ganz fest zu, damit sie glaubt, ich schlafe nun endlich.«

Aber ich brauchte mich gar nicht zu bemühen. Mit einem Male fiel ich in den Brunnenschacht des Schlafes, wo er am tiefsten ist, und als ich die Augen wieder aufschlug, da war aus dem »Morgen« nun wirklich das »Heute« geworden, mein Vater ging pfeifend und lustig im Zimmer nebenan auf und ab – sicherlich freute auch er sich auf diese Reise – und wie ein Blitz fuhr ich aus meinem Bett. Das Waschen bedeutete heute für mich gar nichts, willig ließ ich alles mit mir geschehen, und als ich die neuen Strümpfe anzog, verbiß ich mannhaft alle unangenehmen Empfindungen. »Na, kratzen sie heute nicht?« fragte meine Mutter und tat, als wäre sie maßlos erstaunt. Aber diesmal sah ich den Schalk in ihren Augen, den ich am Abend vorher vergeblich gesucht hatte, und sagte »Nein, gar nicht« und grinste breit. Dabei schämte ich mich eigentlich ein wenig, weil mit einem Male alles so glatt ging und mir so gar nichts ausmachte, was sonst oft genug ein heftiges und störrisches Gebrülle ausgelöst hatte.

Es dauerte gar nicht lange, da waren wir alle aufbruchsbereit. »Hast du auch deinen Rucksack?« fragte mein Vater noch. »Ja«, nickte ich und wunderte mich sehr über die Frage, denn diesen Rucksack hatte ich ja sofort umgehängt, kaum daß ich mit dem Anziehen fertig geworden war, und ihn auch während des Frühstücks nicht abgelegt, obwohl es furchtbar unbequem war, mit dem Ding auf dem Rücken zu essen, und man dabei immer auf der Stuhlkante schweben mußte, weil man hinter sich keinen Platz hatte mit einer solchen Last auf dem Rücken. Dann freilich war dies und alles vergessen. Wir waren mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof gefahren, wir waren sogar in den richtigen Zug gestiegen, obgleich meine Mutter mit großer Hartnäckigkeit und ganz rot vor Erregung durchaus in einen andern hatte steigen wollen und noch lange in Unruhe war und voller Besorgnis, wir hätten einen falschen erwischt und würden bald irgendwo in einer vollkommen fremden Gegend und weit weg von dem Ziel unserer Reise landen. Mein Vater hatte es endlich achselzuckend aufgegeben, sie zu beruhigen, er saß da, zufrieden und entspannt, und las die Zeitung. Dabei machte er ein Gesicht, als stünden lauter angenehme Dinge in den breit auseinander gefalteten Blättern, und das mochte wohl seine Wirkung auf meine Mutter auf die Dauer nicht verfehlen. Seine ruhige Sicherheit steckte sie an, sie sprach nun nicht mehr viel, sie redete nicht viel auf der stundenlangen Fahrt. Sie lächelte nur, und es war ein hübsches Lächeln. Sie betrachtete abwechselnd bald das eine, bald das andere ihrer Kinder, sehr nachdenklich und sehr zufrieden. Und manchmal streichelte sie meine Haare, das mochte ich gern, manchmal auch tastete sie nach meiner Hand und drückte sie ein bißchen. Aber natürlich immer so, daß mein Vater es nicht bemerken konnte. Weil doch Väter, seit eh und je, eine ganz bestimmte Vorstellung haben von dem, was sich schickt für einen Jungen, in dem sie schon früh den Mann suchen und die Tugenden, die einen Mann auszeichnen.

Ich hatte mir einen Fensterplatz erobert, und nun glitt die Landschaft an mir vorbei wie ein ungeheurer Bilderbogen. Bald war da ein Waldstück, durch das der Zug dahinraste, wie eine Wand standen die Tannen, dicht und groß und dunkel. Von ihren Stämmen, von ihren Zweigen hingen graue und silberweiße Flechten herab, wie die mächtigen Rauschebärte ganz alter Männer. Sicher waren auch diese Tannen ur-, uralt. »Das sind Flechten«, sagte mein Vater, aber das war mir keine Erklärung und Deutung, das war nur ein Wort wie viele, unter dem ich mir nichts vorzustellen vermochte.

Neben dem dahinbrausenden Zuge standen diese Tannen wie eine Mauer, die den Lärm der ratternden Räder als Echo dumpf und dröhnend zurückwarf. Ein großes und nimmer endendes Echo.

Oder es war da ein Bahnwärterhäuschen mit einem lustigen, kleinen Gärtchen daneben, aus dem die bunten Blüten der Feuerbohnen, die großen, gelb- und orangefarbenen Kelche von Jungfer-kiek-über-den-Zaun herüberwinkten und -leuchteten. Der Schrankenwärter stand da, in seiner dunkelblauen Uniform, er hielt einen Stab in der Hand, den er grüßend hob, und er sah beinahe aus wie ein Soldat. Aber dicht neben ihm war ein kleines Mädchen, das lachte dem Zuge entgegen. Ich beneidete das kleine Ding, weil es dort stehen durfte, wo es gewiß jedem andern verboten war, und weil es einen Vater hatte, dem allein schon seine Uniform Bedeutung und Gewicht verlieh. Ob der nicht vielleicht sogar seinem Kinde gelegentlich erlaubte, selbst die Schranke heraufzuziehen oder herunterzulassen? Aber gleich tat sie mir auch leid, weil sie bestimmt hier, so weit von jedem Dorf, von jeder Stadt entfernt, keinen Spielgefährten hatte, und weil es doch furchtbar langweilig sein mußte, immer auf die Erwachsenen und auf deren guten Willen angewiesen zu sein.

Aber Wald und Bahnwärterhäuschen und die nickende Ackerwinde am Bahndamm, wie schnell, wie furchtbar schnell glitt das alles vorüber. Was blieb, das waren die Telegraphendrähte längs der Schienen. Ich wurde nicht müde, sie zu betrachten. Eben sah es noch aus, als wollten sie hoch hinaufsteigen, bis in die Wolken, mit einem Male kam ein Mast, der diesem Streben Einhalt bot, sie senkten sich wieder der Erde entgegen, die sie zu verschlucken drohte. Doch immer, im letzten Augenblick, riß ein anderer Mast mit vielen weißen Porzellanknöpfen sie wieder empor.

Ich wurde nicht müde, das Spiel der Drähte zu verfolgen. So viel hatte ich zu sehen, so viel zu fragen auch, daß die Stunden vergingen wie eben so viele Minuten.

Wie aus einem Traum erwachte ich, als mein Vater plötzlich sagte: »Nun sind wir gleich da«, und meine Mutter geschäftige Vorbereitungen traf, alles zusammentat, was sie im Laufe der langen Fahrt dem Koffer und dem Rucksack entnommen hatte.

Eine Stadt kam sehr schnell näher, mit kleinen Gärten und Lauben zunächst, aus denen bald große Häuser wurden, zwei- oder gar dreistöckige, und richtige Straßen. Es war nur eine kleine Stadt, aber so, aus der Weite der Landschaft in sie hineingleitend, erschien sie mir riesig.

Gellender Pfiff der Lokomotive, der Bahnhof und Hast des Aufbruchs. Da stand man nun, noch etwas steif, auf dem Bahnsteig, suchend sah meine Mutter sich um und »Da ist ja Tante Malchen!« schrie ich plötzlich und deutete auf eine rundliche Frau mit einem frischen Gesicht und silberweißen Haaren.

Es war tatsächlich Tante Malchen, und nun lachte sie über das ganze Gesicht vor Freude, daß der Neffe, den sie doch nie gesehen, sie gleich entdeckt hatte. »Woher wußtest du?« fragte mein Vater erstaunt, und ich wurde rot vor lauter Verlegenheit. Denn natürlich, woher wußte ich?

Wir hatten nicht weit zu gehen – dann waren wir vor einem netten, kleinen, gepflegten Häuschen, das fast verschwand in einem großen Garten mit alten, hohen Bäumen. Ich ging an meiner Tante Seite, und jetzt klopfte mein Herz vor Freude. Ich sah verlangend zu den Bäumen empor, aus deren sommermüdem Laub rotbäckige Äpfel herniederleuchteten. Die Tante verstand mich ohne Worte, sie nickte mir lächelnd zu. »Es soll dein Reich sein«, sagte sie. »Auf alle Bäume darfst du klettern. Nur herunterfallen, das darfst du nicht.« Da entfuhr mir ein ganz, ganz tiefer, lustvoller Seufzer – das Glück, das hier meiner wartete, war kaum zu fassen.

Wir traten ins Haus, und die Tante zeigte uns das Zimmer, das wir bewohnen sollten. Ein lichtes Zimmer mit einer lustigen, hellen Tapete. Die weißen Mullvorhänge vor den Fenstern blähten sich im leisen Hauch des Windes, die schräge Sonne lugte hinein, und alles sah so friedlich und warm und strahlend aus.

»Wasch dich ein bissel«, sagte die Tante. »Dann kannst du zu Onkel Gustav gehen und ihm sagen, daß ihr hier seid. Er ist in seiner Werkstätte«, setzte sie noch erklärend hinzu und dann, zu meinem Vater gewandt: »Er hat eben immer was zu basteln. Schließlich, was soll er auch tun so den ganzen, langen Tag? Ich bin schon froh, daß er sich zu beschäftigen weiß – wo er doch so hilflos ist.«

Ein Schatten flog über ihr Gesicht – er verging so schnell, wie er gekommen war. Und sie war schon wieder ganz heiter, als sie mir den Weg beschrieb zu dem kleinen langgestreckten Stall am hinteren Ende des Gartens, der in einem besonderen Raum die sogenannte Werkstätte barg.

Der Weg war nicht schwer zu finden; denn auch ein großer Garten ist nicht die Welt, und selbst ein kleiner Junge kann sich kaum darin verirren.

Da saß nun, in einem gar nicht so kleinen Raum, der vielerlei Handwerkszeug barg, wo Sägen an den Wänden hingen und Feilen, ein Beil, eine Axt, in einem Raum, dessen eine Hälfte fast ganz durch eine Hobelbank und einen Schraubstock ausgefüllt war – also da saß ein Mann, der wohl niemand anders sein konnte als Onkel Gustav. In einem schwarzen Stuhl mit Rückenlehne saß er, einem Stuhl auf hohen Rädern, und schrecklich fiel es mir mit einem Male ins Bewußtsein: »Er ist ja gelähmt! Er kann nicht gehen – gar nicht gehen kann er.« Erst jetzt, da ich meinen Onkel so sah, ganz dicht, ganz nah, griff diese Erkenntnis mit einem kühlen Schauer an mein Herz. Ich blickte an mir herab, auf meine strammen, braungebrannten Beine, die nackt aus den kurzen Strümpfen herauswuchsen, und ich schämte mich. Meiner Gesundheit schämte ich mich, und daß ich laufen konnte, wohin ich wollte, wohin meine Füße mich trugen, während der andere … Eine warme, braune Decke hüllte dessen Füße bis hinauf über's Knie, und es war gar nicht auszudenken, was sich unter dieser Decke barg. Wo man doch immer noch nicht genau wußte, was das bedeutete, was das auf sich hatte: gelähmt sein.

Eine große Hummel schwirrte brummend durch den beinahe dämmerigen, von dem Laubwerk der Bäume draußen überschatteten Raum. Neugierig verfolgte ich den Flug des Tieres. Aber gleich kehrte mein Blick wieder zu dem Mann zurück, der mein Onkel war, und der meinen Eintritt noch nicht bemerkt hatte.

»Onkel«, sagte ich ganz leise und schüchtern und schob mich langsam näher. »Onkel Gustav.«

Da wandte der Mann sein Gesicht – sehr blaß war dieses Antlitz, und es wurde noch bleicher durch den langen, dunklen Bart, der ihm bis auf die Brust herabreichte. Und wenn ich älter gewesen wäre und verständiger, dann hätte ich es wohl begriffen: dies war das Gesicht eines Menschen, den die Hand des Todes bereits gezeichnet hatte. Doch ich war ein Kind, und so spürte ich nur eines: daß dies Gesicht trotz der blassen Stirn, trotz des dunklen Bartes, nichts Finsteres ausstrahlte, nichts Drohendes. Vielmehr nur Güte war und nur Güte kannte.

»Du also bist Wolfgang, nicht wahr?« meinte mein Onkel, und seine Augen brachen auf in einem Glanz, der alle Schüchternheit aus meinem Herzen hinwegschwemmte. Tapfer ging ich näher, nickte ernsthaft, gab dem Mann im Rollstuhl meine Hand.

»Ich freue mich, daß du gekommen bist«, sagte der Onkel. »Wir werden gute Freunde werden, denke ich. Gewiß sollst du mich jetzt zum Essen rufen, nicht wahr?«

»Ja«, nickte ich. – »Aber es hat wohl noch ein bißchen Zeit, denke ich.«

»Denkst du, so?« lächelte der Onkel. »Magst dich wohl nicht so rasch trennen, was, von meinem kleinen Reich hier?«

Ich antwortete nicht – ich brauchte nicht zu antworten. Dieser Mann hier, mein Onkel, der verstand alles, alles. Ohne Worte.

Er langte mit der Rechten, sich mühsam vorbeugend, unter den Werktisch. »Immer«, sagt er, »seit ich erfuhr, daß du wirklich kommen würdest, mein Kleiner, du und deine Eltern, habe ich darüber nachgedacht, wie ich dir eine kleine Freude machen könnte. Schließlich habe ich hier was zusammengebaut, und ich würde froh sein, wenn es dir gefällt.«

Im nächsten Augenblick hielt ich ein Schiff in der Hand. Ein Schiff, holzgeschnitzt, mit allem, aber auch wirklich allem, was dazu gehörte: mit Schornsteinen und Masten und Hebevorrichtungen, mit Steuer und Trossen und Anker und Kommandobrücke und Kompaßhäuschen. Ein Schiff, so vollkommen, so naturgetreu, wie man es sicher in keinem Spielzeuggeschäft der Welt bekam.

Ich hielt es in zitternden Händen, ich betrachtete es mit wortloser Bewunderung. Angestrengt dachte ich nach, was wohl fehlen könnte – aber nichts von dem, was meiner Meinung nach zu einem Schiff gehörte, fehlte.

Und es war statt dessen vieles da, unendlich vieles, dessen Sinn und Bedeutung ich noch gar nicht kannte.

»Es schwimmt auch richtig, das darfst du mir glauben«, lächelte mein Onkel. »Ich habe es selbst ausprobiert.«

»Danke«, stammelte ich, und eine heiße Welle jungen Blutes schoß in meine Wangen.

»Wenn du willst«, sagte mein Onkel. »Es ist wohl noch ein wenig Zeit bis zum Essen – du sagtest es selbst –, also auf der anderen Seite, da fließt ein Bach durch den Garten. Da kannst du ja mal einen Versuch machen. Aber fall nicht ins Wasser dabei; es ist ziemlich tief. Und ich möchte es nicht mit deiner Mutter zu tun bekommen, wenn ihr Einziger naß wird und sich einen Schnupfen holt, kaum daß er hier angekommen ist.«

Ich lief fort, nach einem zögernden Blick, nach einem fröhlich-zustimmenden Kopfnicken des Onkels. Da war denn auch der Bach, und so klein, so schmal er vielleicht war in Wirklichkeit, so mächtig erschien er mir, dem kleinen Jungen, der die Dinge noch mit anderen Augen sah, als die Erwachsenen es tun.

Tief hatte sich das lustig dahinmurmelnde, schmatzende, plätschernde Wässerlein eingegraben in die weiche Erde. Die Böschung, mit Gras überwachsen, ging zwei, drei Schritte steil bergab, und Gestrüpp von allerlei Sträuchern war da, große Blätter vom Huflattich und Schilf und die kleinen des Wegerichs, die ich gut kannte. An deren weißen Fäden, die aus dem abgerissenen Blattstiel herausgingen, man die Jahre abzählen konnte, die man noch zu leben hatte. Ich hatte es oft und oft gemacht, und anfangs war ich einmal sehr traurig gewesen, weil ich offenbar jung sterben sollte. Aber dann hatte sich gezeigt, daß jedesmal etwas anderes herauskam, und seitdem traute ich der Zuverlässigkeit dieses Orakels nicht, nahm es nicht mehr ganz ernst.

Allerdings dachte ich an all dies nur flüchtig, wo ich doch auch wirklich Wichtigeres zu tun hatte. Ich hielt mein Schiff in der einen heißen Hand, und mit der anderen hielt ich mich bald da, bald dort an einem Lattichblatt, an einem Haselnußzweig fest, während ich die etwas glitschige, feuchte Böschung hinabkletterte. Schon war ich auch am Rande des Wassers, und ich zögerte nicht, dieses schöngeschnitzte Schiff dem Element anzuvertrauen, für das es bestimmt war.

»Ah«, sagte ich, und ein lustvoller Seufzer hob meine Brust. Denn gar herrlich glitt das Schiff dahin, obgleich seine Masten und Rahen noch keine Segel trugen, obgleich keine Dampfmaschine es antrieb. Vielleicht der einzige Mangel war, daß es zwei sauber gedrehte Schornsteine gab, aber im Innern des Rumpfes, da war nichts, weil man doch Dampfmaschinen und derlei wirklich nicht aus Holz herstellen konnte.

Jedoch: wozu brauchte man eine Dampfmaschine oder auch nur ein Uhrwerk, wozu Segel, wo doch das Wasser, geschwind dahinströmend, das Schifflein eilig hinwegtrug, durch den ganzen, großen, langgedehnten Garten dahin?

Ich begleitete das Schiff längs des Ufers. Ich konnte gemächlich gehen, anfangs. Aber siehe da: bald wurde die Geschwindigkeit des Fahrzeugs immer größer, und das lag natürlich am Bach, der mit einem Male mächtig dahinzuschießen begann, daß das Wasser quirlende Blasen bekam und kleine, rasch vergehende Trichter, und daß gelblicher Schaum sich zwischen dem Röhricht und Blattwerk am Ufer absetzte.

Ja, es ging nun schon so schnell, daß ich bereits ein bißchen laufen mußte. Und ganz plötzlich packte eine kalte Angst mich an, eine gewaltige Sorge, das Schifflein könnte mir entgleiten auf Nimmerwiedersehen. Ich beugte mich vor, zwei-, dreimal, um es zu packen, zu halten. Aber es war viel rascher als meine greifende Hand.

Und da war nun auch der Garten zu Ende. Er stieß direkt an die Straße, mit seiner schmalen Seite. Unter dieser Straße aber floß der Bach dahin, man hatte ihn kanalisiert, ihn in eine steinerne Röhre gefaßt, und ehe ich mich dessen noch recht versah, hatte die Röhre das lustig-bunte Schifflein eingeschluckt. Es verschwand in einer grauenhaften Finsternis.

Ich wollte schreien. Nur daß mir so etwas Würgendes im Halse saß, das meine Kehle zuschnürte und mir die Stimme nahm. Ich lief am Zaun entlang, schweißgebadet, fand die Pforte, rannte auf der anderen Seite wieder zurück – aber wie ich mich auch umsah, da war keine Stelle zu entdecken, wo der Bach wieder sichtbar wurde, wo er wieder ans Tageslicht trat. Keine Röhre war zu sehen, die das Wasser ausspie und das Schifflein mit ihm, und vielleicht floß der Bach unter der ganzen Stadt hindurch und kam erst jenseits zum Vorschein, in einer unvorstellbaren Ferne.

Gebückt, mit hängenden Schultern, langsam und Schritt für Schritt schlich ich zurück in den Garten, zu der Stelle, wo das Schiff mir so jäh entführt worden war. Dort saß ich lange. Viele, viele Ewigkeiten lang. Starrte in das Wasser, starrte in die Dunkelheit der steinernen Röhre. Einmal fror ich, gleich wurde mir wieder warm, ja, ich fühlte, wie ich glühte. Mir war nicht gut, und ich dachte, es müsse schön sein, jetzt in dies Wasser zu fallen. Zu ertrinken. Zu sterben. Womit all diese Qual ein Ende hätte.

Dabei war es jetzt gar nicht mehr so sehr der Verlust des Spielzeugs, der mich bedrückte. Schlimmer, viel schlimmer war das andere: daß ich an meinen Onkel denken mußte, den Mann im Rollstuhl, mit dem bleichen und gütigen Gesicht, der gewiß viele Stunden, nein, Tage oder gar Wochen, an diesem Schiff gearbeitet hatte, und vor den ich jetzt hintreten mußte, um ihm zu gestehen, daß das Schiff weg sei, verlorengegangen. Durch meine Dummheit und Unaufmerksamkeit und wohl auch Feigheit. Weil ich nicht gewagt hatte, ins Wasser zu springen und das Schiff zu retten, in einem Augenblick, wo dies gewiß noch möglich gewesen wäre.

Ja, das war schlimmer als alles andere. Und viel hätte ich darum gegeben, wenn ich mir diesen Augenblick hätte ersparen können. Freilich – es ging nicht, es mußte nun wohl gesagt werden, und so erhob ich mich, mit weichen Knien, und schlich hinunter zur Werkstatt.

Da saß der Onkel noch immer, an irgendeinem Ding bastelnd, und er hatte mich wohl schon erwartet, denn sein Gesicht war der Tür zugewandt. Auch die Hummel war noch da, mit ihrem gemütlichen Brummen. Aber sie machte mir jetzt gar keinen Spaß. Ich stand in der Tür, ich druckste herum, ein feuchter Schleier lag über meinen Augen, so daß ich gar nichts richtig erkennen konnte.

»Na?« fragte der Onkel mit seiner warmen, tiefen Stimme. »Wie ist's denn gegangen? Ist es fein geschwommen, ja?«

Hilflos starrte ich ihn an. öffnete den Mund, schloß ihn wieder, öffnete ihn zum zweiten Male. »Schelten wird er nicht«, dachte ich. »Und nicht zornig werden. Nur traurig. Und das … das ist das Schlimmste.«

Nun mußte ich sprechen. Aber da gerade – da geschah das Wunder. Wirbelte jemand an mir vorbei, in die Werkstatt hinein. Ein Mädchen in einem lichten, sommerlichen Kleid. Ein Mädchen gewiß, aber kein Kind mehr. Sie war beinahe erwachsen, so schien es mir, trotz des knappen Röckchens, das die Waden frei ließ.

Wirbelte herein, ja, und pflanzte sich vor dem Onkel auf. Irgendetwas hielt sie hinter dem Rücken verborgen, dann lachte sie – nie hätte ich geglaubt, daß ein Lachen so schön klingen konnte, ganz hell war es mit einem Male in der Werkstatt, und die Hummel, wie lustig es aussah, wenn sie mit ihrem dicken Kopf gegen die verstaubte Fensterscheibe bautzte – und »Raten Sie mal, was ich gefunden habe, Herr Brauer«, sagte sie zu dem Onkel. Aber natürlich konnte der nicht raten, gab sich gewiß auch gar keine rechte Mühe dazu, lächelte nur still vor sich hin. Das Mädchen allerdings, das hatte auch nicht die Geduld, auf Antwort zu warten, sie streckte die Hand vor, und da war nun das Schiff, völlig unversehrt, und wie im Traum hörte ich noch die Erklärung: »Es ist auf unserer Wiese unten angespült worden, Mutter fand es, als sie Wäsche reinholte, und ich habe doch gesehen, neulich, wie Sie daran arbeiteten, Herr Brauer, nicht?«

Dann wandte sie sich um zu mir, der ich noch immer zwischen Tür und Angel stand. »Und das also ist der ersehnte Herr Neffe, gelt?« zwitscherte das Mädchen. Ich schaute sie an, und rings um mich war nur Glanz. Nicht wegen des wiedergefundenen Schiffes allein. Aber daß dieses Mädchen es gefunden und gebracht hatte – oh, Gott war gut.

Sie beugte sich zu mir herab, tief mußte sie sich bücken, denn sie war gewiß groß über ihre Jahre und beinahe erwachsen. Sie küßte mich, und ich schloß die Augen, atmete den Duft ihres Haares, öffnete die Augen – wie sanft ihre Lippen waren, diese schwellenden Lippen, wie warm –, ein süßes Glücksgefühl durchrann mein Blut, sie zog mich an ihre Brust, die weich war und mütterlich und doch anders.

Und doch anders! …

Wir haben ein Haus

Irgendein Geheimnis schattete in unser Leben hinein. Ich spürte es auf Schritt und Tritt. Gewisper der Eltern und Getuschel am Abend, irgendein unbedachtes Wort über Mittag, von meiner Mutter so hingesagt, ein warnender Blick des Vaters, ich hatte alles wohl aufgenommen und meine etwas zu großen Ohren wurden noch größer. Doch schnell genug fing meine Mutter sich ein, wurde ein bißchen rot und wechselte das Thema – aber sie war nie eine große Schauspielerin gewesen, und die Gabe der meisten Frauen, eine Rolle zu spielen im privaten, in ihrem Alltagsleben, und diese Rolle voll auszufüllen, diese Gabe war ihr fremd.

Ich wurde stutzig, ich suchte mir aus halben und viertel Andeutungen einen Vers zu machen, aber es gelang mir nicht. Ich tappte weiter im Dunkeln, tausend Mutmaßungen hingegeben, und nur das heimliche Lächeln meiner Mutter, der unterstrichene und eben darum nicht ganz glaubhafte Ernst meines Vaters sagten mir – zu meinem Trost in all der Ungewißheit –, daß dieses Geheimnis, wenn es schon ein solches gab, kein dunkles, kein unfreundliches sein könne.

Es muß meine Eltern ungeheure Überwindung gekostet haben, durch eine wahrscheinlich lange Zeit dieses Geheimnis für sich zu behalten, lediglich um der großen Überraschung willen, die sie uns Kindern und vielleicht auch ihren Bekannten bereiten wollten. Zu tausend Ausreden und kleinen Schwindeleien mußten sie ihre Zuflucht nehmen und nichts, was ihren großen, großen Plan betraf, durften sie in aller Ruhe und unbeschwert miteinander erörtern.

Schließlich waren sie wohl am Rande ihrer Kraft, auch der vielen Fragen müde, mit denen wir sie immer wieder überfielen, und die nicht so einfach mit irgendeiner Ausflucht abzutun waren. Es ist ja wohl auch das vorbestimmte Los eines jeden Geheimnisses, daß es einmal ausgeplaudert und verraten und preisgegeben wird – seliger Augenblick der Entspannung für den, der es bislang so treu hütete und bewahrte, dem allerdings eine kleine Ernüchterung meist auf dem Fuße zu folgen pflegt.

An irgendeinem ganz gewöhnlichen Nachmittag in irgendeiner nicht minder gewöhnlichen Woche geschah es. Mein Vater blieb nach dem Essen zu Hause, das wunderte mich schon sehr, obwohl es in der letzten Zeit öfter vorgekommen war. Und dann, plötzlich, fragte er mich: »Und deine Schularbeiten – hast du die alle gemacht, ordentlich gemacht?«

»Ja«, sagte ich ganz verwirrt, »natürlich.« Mein Vater pflegte doch sonst nicht nach meinen Schularbeiten zu fragen, es galt ihm als selbstverständlich, daß ich das erledigte, was meine Pflicht war. Was also sollte diese Frage bedeuten?

»Ich fahre jetzt nach Oliva«, sagte mein Vater. »Willst du mit?«

Ich konnte vor lauter Begeisterung nicht antworten, und sicher erwartete er eine solche Antwort auch nicht.

Viel schneller als er war ich angezogen und bereit, stand nun herum und wartete ungeduldig, daß er sich fertig machen möge. Aber da war immer noch etwas zu bereden und zu besprechen, er ließ sich Zeit, furchtbar viel Zeit ließ er sich, und ich begann bereits richtig zornig zu werden. Er sah es wohl, und ich denke, gerade deshalb trödelte er mit Bedacht. Auch damit verfolgte er einen bestimmten Sinn und Zweck.

Endlich also war es soweit, und wir fuhren hinaus nach Oliva, dem hübschen Vorort nordwestlich der Stadt, den ich bisher nur aus gelegentlichen Sonntagsausflügen kannte. Dann hatten wir meist den nahen Wald aufgesucht, waren – viel zu gemächlich für den heißen, kindlichen Betätigungsdrang – über die grünbekränzten, sanft auf- und niederschwingenden Höhen gewandert, die alle, obwohl die meisten nicht die Hundert-Meter-Grenze erreichten, die stolze Bezeichnung »Berg« führten, hatten die stillen, friedvollen Täler durchstreift und waren schließlich in der Schweizerei Schwabental bei Kaffee und Schmandwaffeln gelandet. Nach einem Weg, der nicht nur den kleinen Kinderfüßen, sondern auch der von Erwartung auf kommende Genüsse beflügelten Phantasie als recht, recht weit erschienen war und den doch ein guter Fußgänger, wenn er unsere Umwege und Abwege vermied, mühelos in einer reichlichen halben Stunde oder gar in noch kürzerer Zeit zurücklegen konnte.

Freilich: wir waren auch niemals geradezu auf dieses Ziel losgepilgert. Wir hatten jeder Lockung eines besonders reizvollen Fleckchens, einer schönen Aussicht oder eines viel geschlängelten Waldweges mit Lust nachgegeben, allen winkenden Genüssen zum Trotz. Und vor allem einen Platz hatten wir nie versäumt aufzusuchen. Es war da eine Schlucht, sehr tief erschien sie mir, deren steile Abhänge dicht bewachsen waren mit Gebüsch und Strauchwerk und Brombeeren mit langen und bösartigen Dornen. Auch Brennesseln gab es dort in Fülle, und man durfte es sich nicht gelüsten lassen, mit nackten Waden, mit kurzen Strümpfen in diese Wildnis, in dieses grün-dunkle Gewirr einzudringen. Doch fand man auch Taubnesseln, weiße und zartgelbe, allzu ansehnlich sahen sie nicht aus, aber aus ihren Blütenkelchen konnte man den herrlichsten, aromatischsten Honig saugen, der sich nur denken ließ. In kleinen, in kleinsten Tröpfchen, wie Bienen oder Hummeln oder Schmetterlinge es tun. Für die Schmetterlinge mußte diese Stelle wohl so etwas wie ein Paradies sein, in Mengen gaukelten sie hier herum, und sie erschienen mir wie beflügelte Blumen. Kohlweißlinge vor allem und die knallgelben Zitronenfalter, die zu häufig waren, als daß man sich veranlaßt sah, ihnen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Anders war es schon mit den Pfauenaugen und den Füchsen, mit den in vielen Farben protzenden Kaisermänteln und Admirälen, und die adligsten, die vornehmsten dieser selig dahinschaukelnden Sippe schienen mir doch die Schwalbenschwänze zu sein und vor allem die Trauermäntel mit dem sammetschwarzen Band quer über den Flügel.

In dieser Schlucht, die man die Kesselkaule nannte, und die es mir so besonders angetan hatte, seit jeher, konnte man als Kind die herrlichsten Abenteuer erleben. Man konnte an der steilsten Stelle ihrer Abhänge herunterklettern, und wenn man unten am Grunde war, dann sah die Welt mit einem Male ganz, ganz anders aus. Dann war es ringsum still, bezaubernd still oder auch beängstigend still, und das dumpfe, dunkle Brummen einer dicken, bepelzten Hummel war fast das einzige, was man hörte. Einmal war dicht neben mir aus der Erde ein Maulwurf herausgekommen, das war wundervoll aufregend gewesen – aber des Tieres ungefüger, walzenförmiger Körper war verschwunden, ehe ich noch die andern hatte herbeirufen können, so rasch war es ihm gelungen, sich wieder in die Erde einzugraben. Und an einem anderen Tage hatte ich, gerade als ich wieder aus der Schlucht herauskletterte, auf der gegenüberliegenden Lichtung einen Hasen gesehen, einen richtigen Hasen, der Männchen machte, mich schnurrig anguckte und plötzlich was hast du, was kannst du davonhoppelte. Aber heute, wie gesagt, schlugen wir nicht den schon gewohnten Weg zum Walde ein. Wir nahmen auch nicht die Straßenbahn, sondern den Vorortzug und gingen, nach der Ankunft, alsbald über den Bahndamm ostwärts, wo von weit her uns die See, die Bucht in einem kühlen, klaren Blau entgegenglänzte.

Es war ein ziemlich breiter und damals noch baumloser Weg, der gleich hinter der Bahnböschung beiderseits von grünen Feldern begleitet wurde.

»Wohin führt er mich nur?« dachte ich, etwas verzagt, denn ich hatte mich natürlich auf den Wald gefreut, Oliva und Wald, das war für mich damals noch ein gemeinsamer Begriff.

Die Antwort ergab sich dann sehr schnell und gleichsam von selbst. Da war ein Zaun, ein ziemlich hoher Bretterzaun, der aus den grünen Feldern ein Stück Land herausschnitt. Ganz neu war der Zaun, man sah es dem frischen Holz an, und vorn bestand er, zwischen braungebeizten Streben, aus Maschengitter, und ein breites, zweiflügeliges Tor bildete den Zugang.

Vor diesem Eingang, der weit offen stand, mitten auf der arg zerfahrenen und zerwühlten Straße, blieb mein Vater stehen und wies auf die im vorderen Teil des eingezäunten Geländes sichtbaren, bereits aus dem Boden herauswachsenden Mauern eines werdenden Hauses.

»Das wird nun unser Haus«, sagte er mit einer Stimme, als säße ihm irgendetwas in der Kehle. Und dann setzte er noch hinzu: »Und das hier, das wird unser Garten.« Wobei er eine große, weit ausholende und besitzergreifende, eine wahrhaft königlich anmutende Bewegung machte.

»Ach …«, sagte ich nur, denn ich fand weiter keine Worte, so sehr war ich überrascht und aus dem Gleichgewicht gebracht.

Später, als mein Vater sich mit dem Maurerpolier unterhielt und mit einem sehr behenden, sehr fein gekleideten Herrn, der sich Architekt nannte – was das war, wußte ich noch nicht, doch erklärte es mir mein Vater noch am gleichen Abend – und der immer, wenn mein Vater etwas sagte, nickte und fast diensteifrig erwiderte: »Jawohl – natürlich – aber ganz wie Sie es wünschen«, ja, da ging ich nahe an die noch niedrigen Mauern des zukünftigen Hauses heran, streichelte die kalten, rauhen Ziegelsteine und flüsterte: »Unser Haus … unser Haus …«

Es war ein Gefühl, das mir bisher fremd gewesen war. Wir hatten ja mancherlei Dinge, die unser waren, die uns gehörten, Möbel und Wäsche und Kleidung, und wir Kinder unser Spielzeug und manches andere auch. Aber schon mit der Wohnung war es eine eigene Sache. Sie gehörte uns, sie war unsere Wohnung, und doch wieder war sie nicht richtig unser eigen. Doch war da einer, der Besitzer des Miethauses, der konnte uns kündigen, der konnte uns zwingen, sie zu räumen, wenn es ihm paßte.

Nun jedoch war alles ganz anders. Die Erde, darauf ich stand, diese eben noch nackte und zerrissene Erde, sie schien mir mit einem Male wundervolle und geheimnisvolle Kräfte auszuströmen. Daß ich sie nehmen durfte, fassen durfte, daß sie mein und unser war und uns fortan dienen und ganz und gar gehören würde, das war etwas Schönes und beinahe Berauschendes. Und daß hier so viele Männer im Schweiße ihres Angesichts werkten und arbeiteten, um das Haus wachsen zu lassen, unser Haus, das machte mich stolz.

Es war wie ein erstes Ahnen von der Macht des Geldes. Nie, so wurde es mir bewußt, hätte dieses Märchen Wahrheit werden können, wenn meinem Vater nicht die Hinterlassenschaft jenes Onkel Max zugefallen wäre. Sie erst setzte ihn instand, mitten aus der nackten Erde sozusagen, ein Haus, eine bleibende Wohnstätte für die Seinen hervorzuzaubern, einen Garten, von dem ich schon jetzt zu wissen wähnte, daß er alles, was sich sonst Garten nannte, weit, weit in den Schatten stellen würde. Der für mich und für uns ein kleines Paradies bedeuten würde. Dieses Geld erst bewirkte, daß jener so fein gekleidete und also gewiß nicht arme Herr, der sich Architekt nannte, sich mit bestrickender Liebenswürdigkeit jedem Wunsch meines Vaters beugte und alles versprach, was man von ihm verlangte.

Wir gingen langsam um das werdende Haus herum. Der Architekt hatte meinem Vater einen großen, zusammengerollten Plan gegeben, und wie mein Vater ihn auseinander rollte, wie er ab und zu einen Blick auf die noch niedrigen Mauern warf, einen zweiten, vergleichenden dann auf die Bauzeichnung, erschien er mir wie ein Heerführer auf dem Feldherrnhügel. Wir hatten zu Hause einen Kupferstich, irgendeine historische Szene, hinter Glas und Rahmen, die einen solchen Feldherrn bei der Lenkung einer Schlacht darstellte, die sich unten irgendwo, in der Ebene, abspielte. Mein Vater hatte keinen ordengeschmückten Waffenrock an und keine hohen Reiterstiefel. Aber mit seinem schwarzblauen Kalabreser, mit seinem klaren und wirklich herrischen Blick, der das Gelände überflog, das nun seines war, mit seiner straff aufgerichteten Gestalt hatte er etwas durchaus Imponierendes an sich. Und er hatte ja auch zu befehlen hier, vom Polier über den Gesellen und Handlanger bis zum kleinsten Lehrling hinab, ja eigentlich auch – ich sah das ganz richtig – dem Architekten, wenn sich auch hier das Befehlen in einer etwas anderen, geschliffeneren Form abspielte. Es konnte eben auch die Höflichkeit all der Reden und Antworten das Abhängigkeitsverhältnis von dem allmächtigen Willen des Bauherrn nicht vertuschen.

Jetzt standen wir an der Nordseite des Baues, und mit einem Male wies mein Vater, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt, nach oben, irgendwo in die Luft, in den leeren Raum schräg über uns, und sagte ganz gemächlich: »Und da also … ja, da sollst du wohnen. Da soll dein Stübchen sein. Bist du's zufrieden?«

Entgeistert starrte ich in sein Gesicht und wieder in die Luft, dahin er deutete. Er sah meine Verwirrung und lächelte ein bißchen und half mir dann, indem er mir die Bauzeichnung wies und ihre Einzelheiten mit großer Geduld erklärte. Ich sah nun Grundriß und Aufriß des Hauses und der einzelnen Stockwerke, und ich sah vor allem das Haus selbst, wie es sich, erst einmal fertig, von den verschiedenen Seiten aus darbieten würde. Ein sehr hohes, durch Dachreiter und vorspringende Giebel vielgegliedertes Satteldach verhieß einen großen Bodenraum mit allerlei geheimnisvollen Ecken und Winkeln, es gab, nach der Straßenseite zu, eine Veranda und zwei Balkons und einen Doppelgiebel in Fachwerk – Fachwerk hatte es mir seit je angetan –, und nach der Seeseite zu sprang ein turmartiger Erker aus dem Dach heraus; kurz, alles, was ich sah und was mir meine schnell arbeitende Phantasie als schon seiend aufwies, erschien mir über die Maßen schön. Und daß der Architekt – aus seinem Stempelaufdruck ersah ich, daß er sogar ein Professor aus Karlsruhe war, was meine Hochachtung nicht vor ihm, sondern vor meinem Vater vermehrte, der einen Professor in Bewegung setzen konnte – daß also der Architekt es sich nicht hatte nehmen lassen, der Natur und ihren Gesetzen des Werdens und Wachsens vorzugreifen und schon bei einer Totalansicht des Hauses die Wände mit echtem Wein bewachsen darstellte, mit Wein, der sich an einem sauberen Spalier hochrankte, daß er im Vorgarten, vor der Fassade, ein paar schöne Bäume ihre vollen Laubkronen himmelwärts strecken ließ, das fand ich äußerst lobenswert und sehr ordentlich.

Wir fuhren dann, bei sinkender Dämmerung, wieder nach Hause … zum ersten Male war ich in Oliva gewesen, ohne den Wald gesehen und durchstreift zu haben. Aber ich bedauerte das nicht. Ich hatte etwas anderes erlebt und geschaut, was mir mehr geschenkt hatte und mehr bedeutete als der herrlichste und schönste Wald.

Ich wußte damals noch nicht viel von Architektur und von den Gesetzen der Baukunst oder gar von Stilen und all dem. Und ich bin heute gewiß, daß dieses »Landhaus«, wie mein Vater es konsequent nannte, einem geschulten Geschmack der heutigen Generation nicht sehr zusagen würde. Aber damals und für alle folgenden Jahre war es mir doch das schönste überhaupt denkbare Haus, und es ist das geblieben, allem späteren Wissen und allen späteren Erkenntnissen zum Trotz. Es ging in mein Bewußtsein ein, als wäre es ein Teil von mir, als wären seine roten Backsteine nicht mit Mörtel, sondern mit meinem eigenen warmen Blut zusammengefügt worden.

Wir sind dann, den ganzen folgenden Sommer über, noch viele, viele Male hinausgefahren, Vater und Sohn, wie sich das schickt, und ich sah das Haus wachsen wie etwas Lebendiges, wie eine Pflanze oder gar wie einen Menschen. Ich sah – und erlebte – es in jedem einzelnen Stadium, und ich lernte Dinge, die ich anders nie gelernt hätte: wie man eine Decke zieht und Dielen legt, wie man die Wände verkleidet und wie ein Dach gebaut, die Pfannen darauf gelegt werden. Alles wurde mir wundersam vertraut, und nicht erst seitdem ich in die Grube mit dem zum Glück schon abgelöschten Kalk fiel.

Ich bin, fürchte ich – oder nein, hoffe ich, – nie das gewesen, was man ein artiges Kind nennt. Damals aber muß ich, einen Sommer lang, ein vorbildlicher Junge gewesen sein, den man ohne weiteres als Musterknaben in jedes Schullesebuch aufnehmen konnte. Denn jeder dumme Streich hatte ja die entsetzliche Folge, daß ich zu dem nachmittäglichen oder – als die Tage länger wurden – abendlichen Ausflug nach Oliva nicht mitgenommen wurde. Und wie hätte ich das ertragen sollen? …

Wenn wir aber jetzt, schon im Sommer, hinausfuhren, dann hatte mein Vater nicht nur die Bauzeichnung bei der Hand, sondern auch einen sehr viel größeren Plan des zukünftigen Gartens. Einen Plan, wo auf bräunlichgelb aquarelliertem Grund jeder Baum und jeder Strauch, jeder Weg und jedes Beet in saftigem Grün aufgemalt waren, so wie sie später einmal dastehen sollten. Rasen und Blumenrabatten des Vorgartens, die Reihen mit Stachelbeersträuchern und Johannisbeersträuchern längs der Wege, die Schmuckgruppe aus Edeltannen hinter dem Hause, die auf einem künstlichen, aus dem ausgeschachteten Baugrund gewonnenen kleinen Hügel sich entwickeln sollte, die Lauben aus Haselnuß und Jasmin, aus Linden und Blutbuchen; Küchengarten und Erdbeerbeete und Spargelfeld, alles war bis ins einzelne angegeben. Und da es sich um einen ungewöhnlich großen Garten mit weit mehr als sechstausend Quadratmetern Flächeninhalt handelte, auf dem später allein fast hundertachtzig Obstbäume standen und verschwenderisch Frucht trugen, so kann man sich vorstellen, wie bunt dieser sauber auf Leinwand gezogene Plan aussah. Auf dem auch nicht der Stall fehlte mit den Hühnerausläufen, der angebauten Werkstätte und Waschküche und dem allen – denn natürlich würden wir Hühner halten und Gänse und Tauben, Ziegen sogar und ein paar Schweine –, und sogar die Hundehütte säuberlich aufgemalt war sowie das große, aus Zement gebaute Bassin, darin sich später die Enten tummeln sollten, und noch so manches andere.

Jetzt wurde an den Abenden zu Hause – ach, nicht mehr sehr lange, zum Glück, würde unsere kleine Stadtwohnung unser Zuhause sein – keine Reisebeschreibung mehr gelesen, jetzt waren Sterne und Entwicklungszeiten der Erde mit einem Male ganz unwichtig geworden. Kein Abenteurerbuch lag mehr auf dem Nachttisch meines Vaters, keine Detektivgeschichte, wie er sie zuweilen – aber heimlich und gleichsam mit schlechtem Gewissen – verschlang. Statt dessen türmten sich jetzt auf eben diesem Nachttisch die Kataloge der verschiedensten Baumschulen, der berühmten Blumenfirma Schmidt/Erfurt mit ihren bunten Umschlägen, auf denen man die herrlichsten, prunkendsten Blüten sah, Rosen aller Arten und Gattungen und Glyzinien und Tuberosen und Nelken, aber auch bescheidenere, auch Stiefmütterchen und Reseda, Rittersporn und Studentenliebchen, Gartenwicke, Stockmalve, Petunie und Zinnie. Und noch Frucht und Blüte der einfachsten Nutzpflanzen, Erbse und Bohne, Radieschen, Kürbis und Mohrrübe, sahen auf diesen Katalogdeckeln aus, als entstammten sie paradiesischen Gefilden. Das wichtigste aber war ein dickleibiges Werk, »Gresserts Obstbau« hieß es, glaube ich, und mein Vater hat über ihm allabendlich viele, viele Stunden verbracht, er hat theoretisch mit wahrem Bienenfleiß sich alles angeeignet, was er späterhin fast mühelos in die Praxis umsetzte. Und oft und oft geschah es, daß der allzu müde über den trockenen Beschreibungen, über den vielen Zeichnungen, die darstellten, wie man Beete abschnürt und Rasenflächen anwalzt oder Bäume veredelt, einschlief und dann noch der Schlummernde das dicke Buch fest umklammert hielt, als dürfe er es auf keinen Fall aus den Händen lassen.

Mit dem fortschreitenden Jahr wurde mein Vater immer unruhiger und ungeduldiger. Ja, es sah aus, als könnte er, der doch seit eh und je Mäßigung und Selbstzucht und Bedächtigkeit mit Worten und Taten lehrte, die Zeit nun nicht mehr abwarten. Die Stadt, die er doch durch Jahrzehnte ertragen und kaum als Last empfunden hatte, wurde ihm immer mehr zuwider, und er war eigentlich erst dann zufrieden und ganz er selbst, wenn er draußen war, auf seinem Besitztum.

Im Herbst war es dann soweit – ich glaube, es wurden noch im letzten Augenblick ein halbes Dutzend mehr Handwerker und Arbeiter angenommen, daß nur alles rasch, rasch vorwärts gehen möge. Vielleicht wurde es auch notwendig, alles so zu beschleunigen, weil wir schon unsere bisherige Wohnung gekündigt hatten und der neue Mieter darauf wartete, am ersten Oktober, dem großen Ziehtermin, hineinzukommen.

Ich hatte es mir nicht nehmen lassen, auf dem Kutschbock des großen Möbelwagens, der all unsere fahrbare Habe barg, hinauszufahren – dies erschien mir als eine besonders feierliche und fast majestätische Form der Umsiedlung und des Auszugs. Sehr hoch thronte ich da oben neben dem Kutscher und sah auf die vier Gäule herab, die sich mit ihrer schweren Last abplagen mußten, auf die Straße und die Menschen, die mit einem Male, von solcher Warte aus, viel von ihrem sonstigen Gewicht verloren hatten. Dem alten Haus, in dem bislang unser Daheim gewesen war, der Bäckerei des Hauswirts unten, in der ich so oft ein paar Zuckerschnecken und anderes süßes Backwerk mir erstanden hatte, dem allen widmete ich kaum einen Blick. Mein Herz schlug so ganz dem Kommenden entgegen, daß das Gewesene keinen Teil mehr hatte an meinen Gefühlen und Empfindungen.

Aber da waren auch ein paar meiner Alters- und Schulkameraden, meiner Spielgefährten aus vielen glücklichen Tagen und Jahren. Sie schrien mir einen letzten Gruß zu, und ich lachte ein wenig und wurde gleich wieder ernst und winkte majestätisch zu ihnen hinab. Es wurde mir dann sehr schnell ganz bewußt, daß ich so manchen von ihnen, die dieser Straße verhaftet waren und nicht die gleiche Schule besuchten wie ich – damals wohl schon ein stolzer Quartaner –, daß ich die wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde. Und während der nun folgenden langen Fahrt durch die Stadt und die Große Allee über Langfuhr hinaus und dann durch die weiten, weiten Felder und Triften bis Oliva mußte ich immer wieder daran denken: daß sie am heutigen Tage für immer meinem Gesichtskreis entschwunden seien, daß ich sie nicht mehr wiedersehen würde und daß ich deswegen nicht traurig war. Nein, traurig war ich nicht. Es war gewesen, und es war schön gewesen: die Spiele der Kindheit mit Murmeln und Klippchen und Brummkreisel, die aufregenderen Ritter- und Räuberspiele und das alles. Doch lag es jetzt hinter mir, etwas Neues und Besseres begann, und ich kam mir nicht einmal treulos vor, daß ich mit all dem so mühelos fertig wurde.

Es war bereits später Nachmittag, ehe wir an unserm Hause ankamen, vor dem mein Vater schon aufgeregt auf- und ablief, offenbar von der Furcht erfüllt, es könnte dem Wagen irgendetwas zugestoßen sein unterwegs, oder gar mir selbst, der ich so gefährlich hoch auf dem Bock thronte, der wie ein winzig-kleines Nest an der Vorderwand des Wagens klebte. Die Männer hatten viel zu tun, um mit mancherlei anfeuernden Worten und Flüchen den Inhalt des Wagens ins Haus zu schaffen, ehe die Dunkelheit vollkommen übers Land fiel. Dann erst, nach getaner Arbeit, hatten sie ihren Imbiß bekommen und ihr Bier, sie waren wieder fortgefahren, und nun endlich waren wir allein.

Während in dem großen Küchenherd schon ein lustiges Feuer flackerte, mit dessen Hilfe meine Mutter sich bemühte, ein verspätetes und etwas improvisiertes Mittagessen herzustellen, durchstreifte ich, eine Kerze in der Hand – damals gab es in dem Hause weder Gas noch elektrisches Licht, es hätte allzu viel Geld gekostet, sich an die Gas- oder Stromleitung anschließen zu lassen, so weit außerhalb der eigentlichen Ortschaft –, das Haus, mir ja eigentlich nun schon seit Monaten vertraut, vom Keller bis zum Boden. Ich wurde nicht müde, alle Ecken und Winkel abzuleuchten und zu untersuchen, mir gleichzeitig auch auszumalen, was man hier oder dort aufstellen, unterbringen oder gar verstecken könnte. Natürlich, so im matten Licht einer mageren Stearinkerze war das ein ziemlich fruchtloses Bemühen, doch schöpfte ich aus ihm viel Freude. Es war mir so, als nähme ich mit diesem Erkundungsgang in feierlicher Form von diesem unserem neuen Heim Besitz.

»Endlich einmal«, dachte ich, »hat jeder von uns sein kleines Reich für sich. Endlich haben wir Raum in Fülle, und ich kann laut sein und tun und lassen, was ich mag, ohne daß sich gleich jemand erbost, weil er dadurch gestört wird …«

In dieser fröhlichen Gewißheit fand ich mich, nach geraumer Zeit, wieder in der Küche ein, wo wir heute unsere Mahlzeit einnehmen sollten. Aber da war weiter niemand von meinen Geschwistern und auch mein Vater nicht – der Himmel mochte wissen, wo sie geblieben waren. Nur meine Mutter saß da, ganz allein, eine der blauen Wirtschaftsschürzen vorgebunden, die sie sich für ihr zukünftiges Leben als halbe Landfrau angeschafft hatte; still saß sie am Küchentisch, und erst als ich langsam näher trat, merkte ich, daß ihr Körper wie von unterdrücktem Schluchzen zitterte, und daß sie weinte.

Unaufhörlich liefen die Tränen aus ihren blauen, freundlichen Augen über ihr gutes, liebes Gesicht. Ganz ergriffen und auch völlig verständnislos drückte ich mich an sie heran. Wie kann man nur weinen an einem solchen Tag? dachte ich und war gewiß, daß sie irgendeinen Ärger oder Zank mit meinem Vater gehabt hatte. Ich hätte sie gern getröstet, ich war gerade heute der ganzen Welt sehr, sehr gut, und es tat mir deshalb doppelt weh, sie weinen zu sehen. Aber wie trösten, wenn man den Grund ihres Kummers nicht kannte?

»Warum weinst du denn bloß?« war deshalb alles, was ich vorbringen konnte, und es mochte sogar etwas vorwurfsvoll und empört klingen.

Sie blickte starr geradeaus, ohne mich anzusehen. Nur ihre Hand hob sich leise, und mit dieser Hand streichelte sie sehr sanft, immer wieder, mein wirres, nie recht zu bändigendes und zur Ordnung zu bringendes Haar. »Ach«, sagte sie endlich, immer noch still vor sich hinschluchzend, »es ist … ja, es ist alles so groß …«

Ich muß wohl ein furchtbar dummes Gesicht gemacht haben in diesem Augenblick. So dumm, daß meine Mutter nicht umhin konnte zu lächeln – und merkwürdig genug sah es nun aus, wie in ihrem vertrauten Antlitz Schmerz und Freude, Lächeln und Tränen miteinander kämpften.

»Aber das verstehst du noch nicht«, sagte sie ganz einfach und begann eilig, die letzten Tränenspuren abzutupfen. Weil man doch schon die schweren, hallenden Schritte meines Vaters im Treppenhaus hörte und sie es ihm gewiß ersparen wollte, an dem Tage, der die Erfüllung seiner heimlichsten Wünsche bedeutete, ihm eine traurige Miene zu zeigen.

»Und nun«, sagte sie deshalb, mit einem Male wieder ganz ruhig und entschlossen, »nun hole die andern. Es ist alles fertig, und wir wollen endlich, endlich essen. Ich bin todmüde und sehne mich ins Bett …«

Der Zahltag

Ein so großes Stück Erde, wie wir es nun unser eigen nannten, aus einer Wüste in einen blühenden Garten zu verwandeln, ließ sich ohne fremde Hilfskräfte natürlich nicht schaffen. Trotz aller Begeisterung und Hingabe meines Vaters, trotz des unermüdlichen Fleißes meiner Mutter nicht. Von der Hilfeleistung der Kinder gar nicht zu reden; denn unser guter Wille erlahmte sehr schnell, sobald erst einmal das anfängliche Vergnügen, die Freude am Neuen und Ungewohnten, sich zu richtiger Arbeit auswuchs.

»Es ist so«, erklärte mein Vater mir an einem der ersten Tage, als wir nebeneinander über das noch wüste, leere und wundgerissene Land schritten, und er sprach zu mir, als wäre ich kein Kind mehr, sondern erwachsen und ganz seinesgleichen, »daß man nie etwas herausholen kann aus der Erde, wenn man nicht auch etwas hineinsteckt: Geld und Arbeit und Schweiß. Eine uralte Erfahrung, jeder Bauer, jeder Landmann wird sie dir bestätigen. Aber all die Mühe und all die Liebe, die wir der Erde schenken, die ist nie vergeudet und verschwendet, die Erde vergilt sie gern und hundertfach; sie ist nicht kleinlich, sie rechnet nicht, sie ist kein Krämer. Nur etwas dran wenden muß man eben, sonst zeigt sie sich störrisch und geizig.«

Es wurden also Männer angenommen, Arbeiter, die erst einmal das Gröbste schaffen sollten. Fünf waren es anfangs, später wurden es mählich immer weniger, zuletzt blieb nur einer übrig, Albrecht hieß er, und er kam getreulich jedes Frühjahr für ein paar Wochen und in jedem Herbst, wie nach dem Kalender.

Die fünf fingen sogleich an zu arbeiten, zu hacken und zu graben, ein Teil von ihnen im hinteren Teil des Gartens, einer oder wohl auch zwei vorn, vor dem Hause, wo später der Ziergarten hinkommen sollte. Noch merkte man davon freilich nicht viel, von den Bäumen und Sträuchern abgesehen, die da und dort in sorgsam vorbereitete kreisrunde Löcher eingepflanzt wurden, und die jetzt noch sehr karg und bettelhaft ausschauten.

Das Graben war eine schwere Arbeit, die Männer taten sie redlich und mühten sich und schwitzten heftig, obwohl es doch schon kühl war. Ab und zu mußte ich ihnen ein paar Flaschen Bier heraustragen, ich tat es gern, es war ein ehrenvoller Auftrag.

An einem Montag hatten sie begonnen und der Freitag war also der Zahltag, hier wie überall, an dem sie den wohlverdienten Lohn in Empfang nehmen sollten. Sie waren, als die Sonne sank, fortgegangen, sie wohnten ja alle nicht allzu weit von unserm Hause, und um acht Uhr, nachdem mein Vater heimgekommen war und alles richtig vorbereitet hatte, sollten sie wiederkommen und in Empfang nehmen, was ihnen gebührte. So war es verabredet.

Als mein Vater kam, war es schon dunkel, denn der Sommer mit seinen langen Tagen war längst vorüber. Mein Vater gönnte sich kaum Zeit für das Essen, denn es war noch allerhand zu tun; man mußte ja nicht nur ausrechnen, was dem Einzelnen an Lohn zustand, sondern es galt auch festzustellen, was für die Invalidenversicherung und was für die Krankenkasse abzuziehen war und all das. Lauter Dinge jedenfalls, von denen ich damals zum ersten Male hörte und die mir zu erweisen schienen, daß das Leben eine ziemlich verwickelte Angelegenheit sei.

Als alles mit viel Geseufze und Geschimpfe fertiggebracht worden war, schleppte mein Vater einen kleinen Tisch und einen Stuhl in die Diele, baute beides in der Nähe der Haustür auf und ließ sich dann nieder. Er sah müde und abgespannt aus, und ich stand herum und wartete recht neugierig auf die Dinge, die nun kommen sollten. Was zunächst kam, waren – wenig später – die fünf Arbeiter. Sie waren äußerst pünktlich, viel pünktlicher als am Morgen, wenn es galt, die Arbeit in Angriff zu nehmen. Aber man konnte es ihnen ja nicht verargen, sie brauchten ihr bißchen Geld dringend, sie waren arme Leute.

Als der letzte schwerfällig und trampelnd eingetreten war, schaute mein Vater, der bisher starr vor sich hingesehen und die Lippen nicht auseinander gebracht hatte, es sei denn zu einem kargen »Guten Abend«, auf und fragte: »Sind Sie jetzt alle da?« Die Leute brummten nur, sie müssen diese Frage als ziemlich überflüssig angesehen haben.

Mein Vater nahm das Gebrumme, denke ich, für eine Antwort. Jedenfalls nickte er befriedigt, dann stand er auf, ging hinüber in sein Zimmer und kam stracks zurück, mit einer kleinen eisernen Kassette in der einen und einer Pistole in der anderen Hand.

Diese Pistole war nun freilich nicht das, was man sich gemeinhin unter einem solchen Ding vorstellt. Sie war ein Trommelrevolver von wahrhaft vorsintflutlichem Ausmaß, der Lauf hatte den Durchmesser einer Jagdflinte – einer Elefantenbüchse, dachte ich sogar, denn von einer solchen Schußwaffe hatten wir oft genug gelesen –, der Kolben war schwer mit Eisen beschlagen und hatte an seinem Ende einen großen metallenen Ring, der darauf hinwies, daß diese Waffe dazu bestimmt war, am Sattelgurt eines Pferdes aufgehängt zu werden.

Die Arbeiter guckten völlig entgeistert erst meinen Vater an, dann die Pistole. Worauf sie, wie auf ein unhörbares Kommando hin, zu grinsen begannen. Schließlich öffnete einer den Mund und sagte laut und vernehmlich, im besten Danziger Jargon: »Mui! …«

Das Wort umschloß vielerlei: Staunen und Spott und Sarkasmus und … nun, es läßt sich gar nicht alles aufzählen, was in den drei Buchstaben einbegriffen war.

Mein Vater hörte es und er begriff gewiß, was damit gemeint war. Er hob den Kopf und blickte den Arbeiter strafend an. Aber dann muß ihm sein Gebaren selbst etwas merkwürdig vorgekommen sein – ich sah, daß er ein bißchen rot wurde. Er fing auch gleich an, dem ersten der fünf mit seiner sonoren Stimme klar zu machen, was er an Lohn zu beanspruchen habe, und während er ihm mit der Rechten Geld vorzählte, tastete er mit der Linken nach der Mordwaffe und schob sie ganz, ganz langsam und möglichst unauffällig, gleichsam so nebenbei, in die geöffnete Schublade des kleinen Tisches. Später, als die Leute verschwunden waren und ich meinem Vater half beim Hineintragen von Tisch und Stuhl, sagte er plötzlich, und es klang beinahe wie eine Entschuldigung: »Wir wohnen hier ziemlich außerhalb des Ortes, und es passiert mancherlei in der Welt. Da muß man den Menschen beizeiten klar machen, daß man nicht waffenlos ist und daß man jederzeit bereit ist, sich und sein Hab und Gut zu verteidigen. Das nächste Mal ist das nicht mehr nötig – sie wissen jetzt Bescheid.«

»Würdest du denn wirklich schießen, wenn irgendeiner eine verdächtige Bewegung machte?« wollte ich wissen.

Da ging ein drolliges Lächeln über meines Vaters Lippen. »Schießen?« meinte er. »Nein – das geht nicht gut. Das könnte ich auch gar nicht, es gibt gar keine Kugeln mehr, die für ein derartiges Kaliber passen. Aber man kann damit werfen!«

Das schien mir eine gute Erklärung zu sein. Aber es gibt wohl noch eine andere: daß die große Vorliebe meines Vaters für Abenteuer – und Reisegeschichten ihn dazu verführte, dieses Stück zu spielen. Daß er sich für eine Art Farmer, für so etwas wie einen Pionier hielt, den das Schicksal dazu berufen hatte, wildes und unbesiedeltes Land zu bebauen und die Kultur und Zivilisation voranzutragen in menschenarme und unerschlossene Gegenden.

Denn er kam aus der Stadt, er hatte viele, viele Jahre seines Lebens in der Stadt verbracht, und jetzt … jetzt waren die nächsten Häuser fast durchweg ein paar hundert Meter von dem Seinen entfernt! …

Wir machen Geschäfte

»Es wird sich schon rentieren – man muß nur Geduld haben und warten können«, pflegte mein Vater beruhigend zu sagen, wenn meine Mutter verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlug wegen all des vielen schönen Geldes, das er in den Garten hineinsteckte.

Denn es verging bald keine Woche, in der nicht irgendein Paket ankam oder eine Kiste oder ein Gebinde mit jungen Bäumchen, mit Weidengeflecht umhüllt, mit gelben Holzbrettchen an jedem mageren Stamm, darauf stand fein säuberlich, wes Nam' und Art das unansehnliche Ding war und was daraus einmal, wenn alles gut ausging, werden sollte. Und es kamen auch große Ballen mit Torfmull, der sowohl zur Auflockerung des Bodens als auch zur Streu für die Hühner und sonstiges Geflügel benötigt wurde, es kamen Säcke mit Thomasmehl – »Sie kriegen doch immer so furchtbar viel Mehl, ganze Säcke Mehl«, wurde meine Mutter einmal von einer Frau aus der Nachbarschaft gefragt, »was machen Sie nur damit, das können Sie doch gar nicht verbacken!« – und phosphorsaurem Kalk und anderen Düngemitteln, es kamen allerlei Gerätschaften zum Bearbeiten des Bodens, kurz, der Spediteur hatte reichlich zu tun, alles heranzuschaffen. Manchmal mußten wir Kinder auch mit einem Handwagen die Stücke, sofern sie nicht gar zu schwer waren, selbst abholen, und dann gab es Nachnahmen einzulösen, fast also hatte es in der ersten Zeit den Anschein, als wäre solch ein Besitz ein unergründliches Loch, in das mählich und auf Nimmerwiedersehen alles hineinströmte, was man an Geld besaß.

Doch verlor, wie schon gesagt, mein Vater nicht den Mut. Er zahlte, knurrend, widerstrebend und zornig, zahlte alles, was man von ihm forderte, und schimpfte dabei weidlich. Obwohl eigentlich kein Grund zum Schimpfen vorhanden war, denn alles, was kam, hatte er ja selbst bestellt, und er mußte deshalb wissen, daß es etwas kostete und sogar wieviel es kostete.

Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Freilich: das Gemüse wuchs schnell heran, schon im ersten Jahr gab es davon genug. Aber gerade mit Gemüse war eigentlich nicht viel zu machen, wie sich rasch genug herausstellte. Wer sollte schon dafür Interesse haben hier in Oliva, wo fast jedes Haus von einem mehr oder minder großen Garten umgeben war? Außerdem war es sehr billig, und für ein ganzes großes Marktnetz voll bekam man nur ein paar Pfennige, es lohnte fast die Arbeit nicht, die ganze dahinein gesteckte Mühe.

Unsere Eltern faßten deshalb den Entschluß, beim Gemüsebau sich auf die Mengen zu beschränken, die im eigenen Haushalt benötigt wurden. Aber wieviel das war, haben wir nie genau vorausberechnen können. Vielleicht lag das an der Fruchtbarkeit des so reichlich gedüngten Bodens, vielleicht daran, daß die Sämereien, die wir von weit her bezogen, alle noch so hochgespannten Erwartungen jedesmal weit übertrafen. Jedenfalls hatten wir regelmäßig weit mehr, als wir beim besten Willen verzehren konnten, und mein Vater wurde nicht müde, Güte und Erlesenheit seiner Erzeugnisse bei seinen Bekannten und Kollegen rühmend hervorzuheben. Mit dem Ergebnis, daß zwar sehr viele Leute uns besuchten, uns stundenlang aufhielten und mit vollen Körben und Taschen loszogen, aber klingende Münze kaum je hinterließen. Weil es sich ja, nach meines Vaters Meinung, nicht recht lohnte, der paar Groschen wegen noch ein Wort zu sagen, und die meisten vergaßen, nach dem Preise zu fragen. Von jenen anderen ganz zu schweigen, die sich so benahmen, als täten sie uns noch einen Gefallen, wenn sie uns von unserem Überfluß befreiten.

Mit dem Gemüse also war es nichts. Aber da war nun der Vordergarten, der eigentliche Ziergarten, mit seinem in verhältnismäßig kurzer Zeit üppig heranwachsenden Blumenflor. Besonders die hochstämmigen Edelrosen hatten es meinem Vater sehr angetan, und im Juni, dem eigentlichen Rosenmonat, aber auch noch bis tief in den August hinein, gaben sie dem ganzen Garten mit ihrem Duft und ihrer Farbenpracht sein besonderes Gepräge. Kletternd umrahmten sie als Crimson Rambler und Noisette-Rose den Hauseingang bis zur Höhe des oberen Stockwerks, die halbgefüllte rosa Monatsrose umgab als breites, duftendes Band die Beete, und vorn, hinter dem Zaun aus Maschendraht, leuchteten die vornehmsten und edelsten dieser Blüten, das Dijon-Röschen, die schon zur Zeit der Kreuzritter in Deutschland heimisch gewordene Zentifolie, die Teerose und die Souvenir de Malmaison, die Teehybride und die rahmfarbene Gloire de Dijon, die zartrosa La France und die gelbe Maréchal Niel. Dieses bunte, farbenprächtige und reiche Bild sah man in Privatgärten nur selten. So konnte es natürlich nicht ausbleiben, daß besonders am Sonntag die Vorübergehenden vor dem Zaun stehenblieben und bei dem entzückenden Anblick in nicht minder entzückte Lobpreisungen ausbrachen.

Mein Vater, der sich an den Sonntag-Nachmittagen gern ein bißchen Erholung gönnte nach einer langen und arbeitsamen Woche und, den Menschen draußen verborgen, im Schutz der immer dichter werdenden Lindenlaube in der vorderen Ecke des Gartens sein Bier trank, hörte mit Befriedigung diese bewundernden Ausrufe.

Zuweilen faßte einer Mut und kam herein und fragte, ob er nicht ein paar Rosen kaufen könne. Zuerst sagte mein Vater meist weder Ja noch Nein, sondern verwickelte den Besucher so ganz nebenbei in ein kleines Gespräch. Wenn er dann merkte, daß der Fremde richtig überströmte vor Begeisterung oder – besser noch – etwas verstand von Gärten und Blumen und dem allen, dann wurde er langsam warm und begann mit dem allzeit bereiten Taschenmesser ein paar der kostbaren Blüten abzuschneiden. Vier oder fünf oder auch sechs zunächst. Sprach der andere aber dabei immer weiter, wies er bald auf die entzückende Farbe dieser und bald auf den berauschenden Duft jener Rose hin, so hatte er schon gewonnenes Spiel. Immer größer wurde der Strauß, den mein Vater schließlich dem Fremden mit einer kleinen, rührend ungeschickten Verbeugung überreichte. »Und was bin ich schuldig, bitte?« wurde er darauf gefragt. »Ach«, sagte mein Vater abwehrend, »fünfzig Pfennig.« Oder auch er sagte, wenn's hoch kam: »Eine Mark«, und der andere beeilte sich, mit vor Aufregung zitternden Händen zu bezahlen, wohl immer fürchtend, meinen Vater könne im letzten Augenblick der genannte so mäßige Preis reuen. Dankend und grüßend zog er los. Mein Vater aber kam triumphierend ins Haus, klimperte vor meiner Mutter mit den wenigen Groschen und sagte überzeugt: »Nun, habe ich dir's nicht immer gesagt? Er fängt schon an, sich zu rentieren, der Garten.«

Meine Mutter lächelte dann nur – ein stilles und weises Lächeln. Sie hatte von der Wohnstube aus, hinter ihrem Nähtischchen sitzend, den Vorgang draußen genau genug beobachtet, und nur manchmal konnte sie nicht umhin, mit leisem Spott zu sagen: »Eine Mark hast du für die paar Rosen genommen? War das nicht eigentlich etwas viel Geld dafür?«

»Aber erlaube mal!« wehrte sich dann mein Vater. »Es war doch ein großer, ein sehr großer Strauß sogar.«

Aber er wurde doch nachdenklich und grübelte wohl eine Viertelstunde darüber nach, ob meine Mutter es im Ernst gemeint habe. Bis ein neuer Besucher erschien, der daraufhin einen kaum minder großen Strauß für die Hälfte dieser Summe erhielt. Womit die Gerechtigkeit und Ordnung in der Welt nach Ansicht meines Vaters wieder hergestellt war …

Wenn demnach, so fürchte ich, die Blumen für uns ebenso wenig ein Geschäft waren wie das Gemüse, so verdankte mein Vater ihnen doch seinen größten und schönsten Triumph.

Das war an jenem Tage, als der Direktor einer großen öffentlichen Parkanlage, ein Botaniker von europäischem Ruf, zu ihm kam und in irgendeiner Sache seinen Rat erbat. Seite an Seite durchwanderten sie den Garten, und zum Schluß, als der Fremde sich verabschiedete, sagte er leise, fast ergriffen: »Sie haben gesegnete Hände. Sie sind wie der liebe Gott. Sie sehen irgendein armseliges Würzlein, irgendeinen Zweig, nur an und sagen: Werde … und alles wird, genau so wie Sie es wünschen und wollen.«

Dennoch: als die Zeit gekommen war, daß auch die Obststräucher und die Obstbäume und der Spargel und das alles genügend angewachsen waren, da kam endlich auch das Geschäft. Wie konnte es auch anders sein? Gerade meinem Vater würde sich doch die Erde, an die er so unendlich viel Liebe und auch Geld verwandt hatte, nicht undankbar erweisen!

Das Geschäft begann mit den Erdbeeren, den Johannisbeeren und den Stachelbeeren. Mit den Erdbeeren zunächst. Mehr als ein Dutzend langgestreckter Beete waren mit diesen köstlichen Stauden bedeckt, sie hatten so vornehme Namen wie die Rosen, Laxtons Nobel war noch der bescheidenste von ihnen. Gerade auf die Erdbeeren hatte mein Vater besonders große Hoffnungen gesetzt.

Er hätte es machen können wie die anderen Gartenbesitzer auch: er hätte ein Schild anbringen können vorn im Garten und darauf schreiben können: Erdbeeren – Pfund so und soviel Pfennig. Das tat er natürlich auch. Aber es war ihm lange nicht genug. »Sieh mal«, sagte er zu meiner Mutter, »die meisten der Leute, die, von der Bahn kommend, bei uns vorübergehen, die wollen zum Strand, das ist doch klar. Und da haben sie nun noch eine gute halbe Stunde oder gar länger zu gehen, und wenn wir ihnen die Erdbeeren in die Tüte tun, dann drücken sie sich und werden weich, der Saft tropft heraus, schließlich geht gar noch die Tüte entzwei und die Menschen beschmutzen sich ihre Kleider. Darauf muß man Rücksicht nehmen, nicht wahr?«

»Was also«, fragte meine Mutter besorgt, »willst du tun?«

»Ich werde unsern künftigen Kunden entgegenkommen«, erklärte mein Vater. »Ich habe da einen Katalog gelesen von irgendeiner Firma, die bietet viereckige, sauber geflochtene Bastkörbchen an zum Verpacken von Beerenobst. In die hinein werden wir die Erdbeeren tun, und du sollst sehen, was das für ein Geschäft wird, wenn die Leute erst sehen, wie wir das alles schön und zweckmäßig machen.«

»Hoffentlich«, nickte meine Mutter etwas skeptisch. »Aber sie kosten natürlich auch Geld, diese Körbchen, und …«

»Die Verpackungskosten werden selbstverständlich in den Preis einkalkuliert«, mühte sich mein Vater eifrig, die aufkommenden Bedenken zu zerstreuen, »das ist ja klar. Du wirst sehen, daß ich recht behalte.«

Meine Mutter verzichtete auf weitere Widerrede. Sie wußte aus unendlich vielen vorangegangenen Erfahrungen, daß mein Vater sicher schon diese Körbchen bestellt hatte, längst ehe er die Angelegenheit mit ihr besprach; daß er überhaupt nur deshalb davon sprach, damit sie sich nicht wundern sollte, wenn nachher die Körbe mit einer dicken Nachnahme ankamen.

Sie behielten beide recht. Mein Vater mit der Zuversicht, daß diese nette und reizvolle Verpackung – jedes Körbchen enthielt genau ein Pfund, und die saftigen, roten Früchte wurden oben mit einem großen, grünleuchtenden Erdbeerblatt zugedeckt – den Absatz erheblich erleichtern würde. Und meine Mutter behielt mit ihrer Vermutung recht, daß wir die Körbchen sicher wieder draufgeben würden. Ein paar Mal kalkulierte mein Vater den Preis wirklich ein, aber da jeder Korb sechs Pfennige kostete oder acht, so gab es natürlich einen krummen Betrag, und er fürchtete, das könnte kleinlich und pfennigfuchserisch aussehen.

Um jedoch Erdbeeren und Johannisbeeren und Stachelbeeren und alle sonstige Früchte verkaufen zu können, müssen sie vorerst gepflückt werden. Das ist keine reine Freude, denn wenn auch ein Pfund Erdbeeren zu pflücken ein Spaß ist und ein Pfund Stachelbeeren nicht der Rede wert – sobald es sich darum handelt, zwanzig oder dreißig und noch mehr Pfunde zu ernten, wird aus dem Vergnügen eine Arbeit.

Zu ihr wurden nun wir Kinder, besonders während der Ferien, herangezogen, und um unsern Fleiß und unsern Eifer anzustacheln, erhielten wir eine Art Prämie, oder besser gesagt, wir arbeiteten im Akkord, wir bekamen fünf Pfennig für jedes Pfund Johannisbeeren und etwa eben so viel für die anderen Beerensorten.

Anfänglich waren wir sehr fleißig, wir sahen uns im Besitz eines Taschengeldes, das wir in ähnlicher Höhe vordem, als wir mit ein paar Groschen monatlich abgespeist wurden, nie zu erhoffen gewagt hätten. Aber das Bild wandelte sich mit der Zeit, und es wandelte sich ziemlich schnell. Während wir in traurig gebückter Haltung über den Erdbeerrabatten hockten, während wir uns die Hände zwischen Stachelbeersträuchern wund rissen, dachten wir daran, wieviel schöner es wäre, jetzt etwa mit Phylax, dem Hund, zu spielen, oder zum Strand zu laufen und ein Seebad zu nehmen oder schließlich sich irgendwo auf dem Rasen im Schatten eines Strauchs oder Baumes zu räkeln, ein gutes, aufregendes Buch zu lesen und den Herrgott einen guten Mann sein zu lassen. Aber das waren Freuden, die uns erst blühten, wenn wir genug Obst gepflückt hatten, und mit dieser Pflückerei ging oft der halbe Ferienvormittag vorüber.

Das Geld, so sauer verdient, verlor deshalb immer mehr seine Lockung. Andererseits wollten wir auch nicht darauf verzichten, konnten es nicht, weil wir, einmal reich geworden, nach kindlichen Begriffen jedenfalls reich, Bedürfnisse kennengelernt hatten, die wir nicht mehr so einfach preisgeben mochten.

Ich fand endlich einen Ausweg, der gewiß nicht moralisch war, für den ich aber, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, hundertundeine Rechtfertigungen und Entschuldigungen an den Haaren heranzog. Wenn ich besonders unlustig war bei Beginn meiner Pflückarbeit, wenn Sonne und blauer Himmel besonders strahlend lachten und lockten, wenn gar ein Kamerad mir zugesagt hatte, mich zu irgendeiner abenteuerlichen Unternehmung abzuholen oder mit mir schwimmen zu gehen, dann machte ich mein Geschäft auf besondere Art. Dann pflückte ich erst mal, zum Beweis meines guten Willens, eine Schüssel Johannisbeeren und brachte sie ins Haus, anschließend aber packte ich eines der kleinen Körbchen säuberlich mit möglichst großen Erdbeeren voll, die ich in der Laube vorn unter das Gesträuch stellte. Jetzt hieß es warten, bis jemand den Garten betrat, um nach Obst zu fragen, warten, wie die Spinne in ihrem Netz auf die Fliege wartet. Aber es dauerte nie lange, und dann war es nur Sache der persönlichen Geschicklichkeit, dem Kunden zu suggerieren, daß er Erdbeeren haben wollte – auch wenn er eigentlich wegen Stachelbeeren vorsprach –, ihm das fertige Körbchen in die Hand zu drücken und den Preis zu kassieren.

Recht war das natürlich nicht, das war mir auch damals durchaus bewußt. Aber ich wollte es immer dadurch gut machen, daß ich bei schlechtem Wetter einmal einen mächtigen Korb oder eine Riesenschüssel Obst ganz umsonst pflückte. Leider kam es nie dazu, vor allem wohl, weil auch das schlechteste Wetter nicht so schlimm sein kann, daß es nicht noch für einen Jungen seinen Reiz hat. So wurde die Sühne für diese gelegentlichen Missetaten immer wieder auf einen späteren Termin verschoben.

Auf jeden Fall aber wurde der Garten mählich zu einem Geschäft. Jeder profitierte davon. Mein Vater, der die leidige Angewohnheit hatte, das jeweils erforderliche Wirtschaftsgeld meiner Mutter täglich zuzuzählen – was mit ebenso täglichen kleinen Kämpfen und Reibereien verbunden war –, wurde diesen Ärger los, während der sommerlichen Monate wenigstens. Er brauchte nichts mehr zu zahlen, sondern er erhielt im Gegenteil Abend für Abend ein Häuflein blanker Münzen, die er einsäckeln konnte, und es war selbstverständlich, daß seine Laune dadurch erheblich verbessert wurde. Kein Ärger am Morgen und Freude am Abend, das ließ sich gut genug an.

Meine Mutter wieder konnte etwas großzügiger wirtschaften. Niemand konnte ihr nachrechnen, wieviel sie täglich eingenommen hatte als Erlös für die Gartenfrüchte, und wenn sie einmal für ihren Haushalt mehr ausgeben mußte, als der Norm entsprach, so wurde eben entsprechend weniger abgeliefert. Auch sie hatte es also besser, und das war ihr Geschäft.

Von dem der Kinder sprach ich schon. Das beste Geschäft aber für uns alle war, daß der Garten reichlich und in Fülle bot, was wir uns früher nur verhältnismäßig selten leisten konnten. War das Mittagessen ein bißchen schmal gewesen oder schmeckte es mir nicht besonders, so daß ich mit langen Zähnen kaute, nun, so rannte ich hinterher in den Garten und aß mich an Beeren und Kirschen und sonstigem Obst satt. Fehlte ein Nachtisch, nun, es lief schnell jemand in den Garten und in wenig mehr als fünf oder zehn Minuten kam er mit einer Schüssel schönster Früchte wieder zurück. Scheute man den Gang ins Dorf zum Fleischer, so wurden ein paar Pfund Spargel gestochen, Spargel mit brauner Butter und einem Teller Rührei – aus den frisch gelegten Eiern unserer eigenen Hühner –, das war ein Essen, das auch dem verwöhntesten Gaumen zusagen würde.

Wir lernten so, was es heißt, wenn einer Familie alles gleichsam zuwächst, wenn nicht alles erst eingekauft und geholt und jedes Stückchen Fleisch, jedes Bündchen Mohrrüben oder Suppengrün bezahlt werden muß. Wir waren auf vielen Gebieten Selbstversorger geworden, und das gab uns eine gewisse Unabhängigkeit und einen Vorrang vor den Städtern, auf die wir fortan nur noch mit Mitleid und fast mit Verachtung herabsahen. Wir hatten nur einen Garten – einen sehr großen Garten, gewiß –, doch fühlten wir uns wie halbe Bauern, und wenn wir noch ein Pferd gehabt hätten zu all dem andern Viehzeug, so hätte ich für meinen Teil mich jedem Rittergutsbesitzer als ebenbürtig angesehen.

Schwabenstreiche

Vielleicht ist die Schöpferkraft unserer Phantasie niemals größer, gewaltiger und fruchtbarer, als in den Jahren unseres Kindseins, unserer Jugend.

Da lagen, an dem Weg längs der Gemüsebeete, lange, gerade, saubere Stangen. Sie sollen früher oder später ihrem vorbedachten Zweck dienen, die Bohnen werden sich liebevoll um das dürre, tote Holz ranken. Aber noch ist es nicht soweit, noch liegen da eben nur die Stangen und harren ihrer späteren, nutzbringenden Verwendung.

Für mich waren sie freilich mehr und anderes. Für mich waren sie lange, wundervolle Lanzen, mit denen man prächtig und siegreich einen eingebildeten Feind bekämpfen konnte. Man mochte, mit eingelegter Lanze, gegen diesen Feind anstürmen – man konnte aber auch die Lanze flugs in einen Wurfspeer verwandeln, der in weitem Bogen durch die Luft schwirrte und sich in das Ziel bohrte. Wohl mir, wenn sich der Speer mit diesem Ziel begnügte – ach, oft genug verfehlte er es oder er riß anderes mit und ins Verderben, an das ich nicht gedacht hatte: ein paar fruchtbedeckte Zweige eines Busches oder einen Ast von irgendeinem jungen Obstbaum. Dann gab es am Abend eine lange Strafpredigt, die ich mit hängenden Ohren anhörte und mit dem lauten oder auch nur leise vor mich hingehauchten Gelöbnis, in Zukunft achtsamer und vorsichtiger zu Werke zu gehen. Da waren die Sonnenblumen, in weitem Umkreis umgaben sie den Bienenstand, ihre hohen, mächtigen Stengel, ihre riesigen Blätter, ihre Blütenkörbe, die wahrhaftig aussahen wie kleine Nachbildungen der flammenden Sonne, hatten es mir seit je angetan. Ich liebte sie sehr, ich liebte sie im hohen Sommer, wenn die Blütenblätter in ihrem leuchtenden Gelb wie lodernde Flammen den sammetdunklen, sammetweichen Fruchtkorb umrahmten. Und ich liebte sie nicht weniger zur Zeit der Reife, wenn man die Sonnenblumensamen einzeln herauslösen und wie winzige Nüsse zwischen den Zähnen zerbeißen, den süßen Inhalt essen, die Schalen mit allmählich wachsender Kunstfertigkeit ausspucken konnte. Doch vermochte all meine Vorliebe für diese Korbblütler nicht zu verhindern, daß die Sonnenblumen zeitweise auch etwas anderes für mich darstellten, daß sie jene harten und blutgierigen Gegner waren, die es mit allen Mitteln zu vernichten und zu bekämpfen galt. Mit Speer und Lanze ging ich sie an, unverdrossen, und sicherlich blitzten meine Augen vor freudigem Triumph, wenn ein solcher Speer die großen Blüten durchbohrte, wenn die mächtigen Stengel wie todwunde Ritter zu Boden sanken. Und erst zu Ende eines solchen Spieles, wenn ich das von Blumenleichen bedeckte Schlachtfeld verließ, kam die große Ernüchterung und ein peinigendes Gefühl der Trauer und des Schmerzes über das so sinnlos – ja, jetzt erschien es auch mir sinnlos und barbarisch – zerstörte Pflanzenleben.

Ich war in meinen Spielen viel auf mich selbst angewiesen, denn hier war es ja nicht wie früher in der Stadt, wo ich nur auf die Straße hinunterzugehen brauchte, um gleich in einem Schwarm von Altersgefährten und Klassenkameraden Aufnahme zu finden. Ich besuchte nach wie vor die Schule in Danzig, aber niemand aus meiner Klasse wohnte in Oliva.

Trotzdem war ich nicht immer allein. Und zu manchen Spielen und Kinderstreichen fand ich in meiner jüngeren, mir im Alter am nächsten stehenden Schwester eine willige Teilnehmerin. Immerhin: sie war ein Mädchen, und die Neigungen der Mädchen sind anders geartet als die der Jungens. Mit Hilfe einer Leiter auf das langgestreckte, geteerte Pappdach des Stallgebäudes zu klettern, war auch für sie Lockung und Erlebnis, hier oben fühlte man sich groß und sehr erhaben über die kleine Welt unten, und der leise Schwindel, der einen zuweilen anrührte, wenn man dicht an die äußerste Kante des Daches herantrat und an der senkrechten, fünf Meter hohen Mauer herunter schaute, vermittelte ein süßes, aufregendes Gefühl. Handwagen und Karren dienten nicht nur den nüchternen Aufgaben, um derentwillen sie angeschafft worden waren, sondern sie waren uns auch Gefährt und Streitwagen, wir jagten damit über Stock und Stein dahin, mit lautem Jubelgeschrei, bis die Gefahr eines Achsenbruches nahe rückte, und wir erschöpft und ausgepumpt innehielten. Wundervoll war es dann, mit einer Hand voll dunkelroter, lackglänzender Kirschen auf den hohen Zaun zu klettern, die Beine herunterbaumeln zu lassen und über das weite, langsam reifende Kornfeld zu blicken, das unser Grundstück damals noch eng umrahmte und sich bis zu dem Bahndamm hinten hinzog.

Der laue, zärtliche Wind ging über das goldene Feld dahin, demütig beugten sich die Ähren, wenn der Wind sie anrührte, gleich aber richteten sie sich auch wieder auf; unaufhörlich auf- und niederwogend vermittelte das weitgedehnte Feld so den Eindruck eines aufgewühlten Meeres, dessen Wellen lautlos oder besten Falles mit einem leise sirrenden, zarten Harfenton gegen die Küste – unsern hohen Gartenzaun – schlugen. Dabei wechselten, je nachdem wie das Licht dieses Millionenheer der Ähren traf, die Farben: von schimmerndem Goldgelb gingen sie über in ein heiteres Grün oder ein stumpfes Rostrot, ja zuweilen sogar in ein bläuliches Violett …

Für meine Kämpfe mit Speer und Lanze entwickelte meine Schwester freilich wenig Neigung und noch weniger Geschick. Hier war ich nach wie vor ganz auf mich selbst angewiesen, und es war klar, daß ich mich früher oder später nach einem neuen Betätigungsfeld würde umsehen müssen.

Ich fand es schnell und mühelos. Standen nicht im Wohnzimmer, auf einem besonderen Gestell, das an der Wand angebracht war, all die schönen Gewehre, die schon in unserer früheren Wohnung mein Interesse immer wieder auf sich gelenkt haben? Sie waren selbstverständlich nicht geladen, und ebenso selbstverständlich hatte mein Vater immer wieder und mit allem nur denkbaren Nachdruck, unter Androhung der schlimmsten Strafen, mir verboten, je eines dieser Gewehre, dieser Karabiner und Jagdflinten und Teschings, zu berühren oder gar in die Hand zu nehmen.

Aber es ging mir wie Adam mit den Äpfeln vom Baum der Erkenntnis, die Verlockung war größer als die Sorge um die etwaigen Folgen, und eines schönen Tages, als ich entdeckte, daß das kleine, schöngeschnitzte Wandschränkchen, das die Munition enthielt, zufällig offen geblieben war, entwendete ich mit zitternder Hand und eingeschläfertem Gewissen einen ganzen Haufen Teschingkugeln.

Ich hatte mir erst vorgenommen, den Nachmittag über fleißig Spatzen zu schießen, aber dies schien mir doch als ein zu gefährliches Unterfangen, weil ich nicht wußte, wie weit der Tesching trug, und weil ich immer fürchten mußte, daß ich vielleicht meine Mutter damit träfe, die irgendwo im Garten Unkraut jätete, oder sonst jemanden, den ich inmitten der grünen, fruchtbaren Fülle nicht erspähen konnte.

So entschloß ich mich, es zunächst mit einem unbelebten Ziel zu versuchen. Ein ausrangierter kupferner Teekessel war bald gefunden, ich stellte ihn auf einen Pfahl, der zum Anknüpfen der Wäscheleine bestimmt war, und begann meine Übungen. Sie waren von erfreulichem Erfolg begleitet. Nicht nur, daß der Kessel, sobald er getroffen wurde, jeweils sein labiles Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, er zeigte auch den Treffer durch ein schönes, metallisches Klingen an.

Doch gerade als ich im besten Zuge war, sah ich, zufällig und zu meinem Glück, daß meine Mutter das Feld ihrer fleißigen Tätigkeit räumte und sich der Stelle näherte, wo ich so eifrig meiner verbotenen Beschäftigung nachging.

Ich mußte also nun meinerseits einen Stellungswechsel vornehmen, und ich fand, daß das Gelände am Ende des langen Stallgebäudes mich gegen unerwünschte Überraschungen am besten schützte. Hier war der Komposthaufen mit den mächtig schwellenden Kürbissen, der Dunghaufen, das Bassin für die Enten mit der kleinen, aus Feldsteinen auf gemauerten Insel inmitten – übrigens hatten wir immer Enten, die sich aus diesem Bassin herzlich wenig zu machen schienen und das Herumwatscheln auf dem Komposthaufen und im Garten vorzogen –, hier war, auch dem Stall angebaut, das kleine Holzhäuschen mit dem eingeschnittenen Herzen in der Tür, das von der Mühe befreite, jeweils immer das Haus und seine fast städtisch anmutende »Bequemlichkeit« aufsuchen zu müssen.

Was freilich fehlte, war der passende Ersatz für den Wäschepfahl. Aber konnte man nicht den Kessel mit einem Stückchen Bindfaden an einem glücklicherweise aus der Tür jenes Häuschens herausragenden rostigen Nagel aufhängen? Natürlich konnte man das, und wenn der Kessel nun auch nicht herunterfiel, sobald er getroffen wurde, so gab es doch weiterhin jenen deutlichen, unüberhörbaren Klang, der meinen Erfolg anzeigte.

Ich stellte mich also in angemessener Entfernung von meinem Ziele auf und übte fleißig weiter Hand und Auge. Manchmal schien es mir dabei, als höre ich jemanden mit heller, sich überschlagender Stimme schreien und schimpfen, das mochte meine Schwester sein, wer weiß, was die wieder hatte und worüber sie sich so ärgerte. Es war mir, bei meiner augenblicklichen Beschäftigung, auch nicht besonders wichtig, und ich würde es später ohnehin zu hören bekommen.

So schoß ich weiter, bis die letzte Teschingkugel den Lauf verlassen hatte – da öffnete sich plötzlich die Tür mit dem herzförmigen Loch, und meine Schwester kam zornrot und wütend und empört herausgeschossen.

Sie hatte dieses Häuschen gerade eine Minute vor Beginn meiner Übungen aufgesucht, und sie war klug genug gewesen zu erraten, welcher verbotenen Beschäftigung ich nachging, und sich die Gefahr auszumalen, der sie sich aussetzte, wenn sie vor der Zeit ihren Aufenthaltsort verließ. Die dicken Holzplanken boten, das hatte sie gleich herausbekommen, einen ausreichenden Schutz, durch sie konnte eine kleine Teschingkugel nicht durchschlagen. Mich aber überrieselte es kalt, und ich dachte daran, was hätte geschehen können, wenn ich statt des Teschings eine großkalibrige Jagdflinte genommen hätte.

Nun, ich hatte Glück gehabt, und es war wieder einmal alles noch gut ausgegangen. Aber ich hielt es doch für ratsam, einstweilen von derartigen lebensgefährlichen Übungen abzusehen, um so mehr, als ich mir die Verschwiegenheit meiner Schwester durch allerlei Gaben und Versprechungen teuer genug erkaufen mußte.

»Das Maisfeld unten an der Mühle, neben dem Bach, das müßte jetzt eigentlich auch geschnitten werden«, sagte mein Vater eines Abends im späten Sommer, während wir Abendbrot aßen. »Aber der dicke Janzen, der läßt sich Zeit – mit allem läßt er sich Zeit, finde ich. Und dabei ist es nicht nur Grünfutter diesmal, sondern der Mais hat schöne, goldgelbe Kolben, dank diesem langen, heißen Sommer.«

Er sagte es zu meiner Mutter, er sagte es gleichsam nebenbei, es ging ihn ja schließlich auch nichts an, es war nicht sein Feld, und er hatte seine eigenen Sorgen und Aufgaben und Pläne. Sein Garten brachte ihm deren genug.

Das Maisfeld? dachte ich und spitzte die Ohren, wie ich es immer tat bei Tisch, um dies oder jenes aufzuschnappen, was eigentlich allein für die Eltern gedacht war.

Das Maisfeld? überlegte ich. Ja, lieber Gott, gab es denn so etwas, hier, im rauhen Nordosten Deutschlands, im Land zwischen Weichsel und Pregel? Ich hatte immer geglaubt, Mais wüchse nur in tropischen Gegenden oder in Übersee, jedenfalls sehr, sehr weit fort von hier.

In Mexiko etwa, natürlich, das wußte ich aus meinen Abenteuerbüchern und Reisebeschreibungen, da buk man aus dem Mais die Maisfladen oder -kuchen, die Tortillas, und in den Staaten, in Arkansas und Texas und da herum, machte man es ebenso, mein so geliebter Gerstäcker hatte oft und oft davon erzählt.

»Ein richtiges Maisfeld?« fragte ich schließlich, um mich gründlich zu vergewissern.

»Ja, natürlich«, nickte mein Vater. »Man züchtet ihn jetzt schon ziemlich widerstandsfähig, so daß er richtige Kolben und reife Körner gibt, also nicht nur als Grünfutter verwendet werden kann, sondern auch als Kraftfutter.«

Und nach dieser nüchternen, sachlichen Erklärung stand er auf, weil doch der Garten draußen schon wartete mit all seiner nie abreißenden Arbeit.

Ich selbst blieb noch eine gute Weile am inzwischen abgeräumten Tisch sitzen, heftig nachdenkend.

Es wird schon so sein, dachte ich. Natürlich ist es so – mein Vater, der lügt doch nicht. Und … ja, ich bin lange nicht unten gewesen, an der Mühle, eigentlich den ganzen Sommer über nicht, darum ist es mir entgangen.

»Ich muß hin«, entschloß ich mich endlich. Ich hatte ein richtiges Maisfeld noch nie gesehen, und es war mir ganz klar, daß ich nicht würde schlafen können, ohne es vorher gründlich in Augenschein genommen zu haben.

Die Sonne stand schon tief am Horizont, als ich in den Garten kam. Mein Vater arbeitete jetzt hinten am Zaun herum, wo die Weintrauben, die guten Pariser Gutedel, säuberlich am Spalier hochgebunden, langsam vor der geteerten Bretterwand reiften.

Ich vermied es mit Bedacht, mich bemerkbar zu machen – die Gefahr war immer sehr groß, daß mein Vater, kaum daß er meiner ansichtig wurde, irgendeine Arbeit oder irgendeinen Auftrag für mich hatte. Und gerade dem mußte ich aus dem Wege gehen.

Unauffällig drückte ich mich durch die hintere Pforte, umging die angrenzende Gärtnerei und setzte mich alsbald in einen leichten Trab. Ich vergaß dabei allerdings nicht, in der Tasche nachzufühlen, ob ich auch mein inzwischen etwas sehr schartig und rostig gewordenes Messer bei der Hand habe. Es war da, und das beruhigte mich sehr.

Ich kannte den Weg gut und hätte ihn gewiß auch in der Dunkelheit gefunden, obwohl ich, wie gesagt, lange nicht unten, an der Mühle, gewesen war. Während ich so dahinschlenderte, sah ich meinen Schatten vor mir über den Boden tanzen. Er wurde länger und länger und mit einem Male verschwand er ganz.

Ohne stehen zu bleiben, drehte ich mich um. Der Himmel im Westen schwamm in roten und violetten Tönen, und die Sonne war eben hinter den bewaldeten Hügelkämmen verschwunden.

Ich kam zu dem bereits seit einiger Zeit abgeernteten Roggenfeld, das auch dem dicken Janzen gehörte, und dann zu dem schmalen Triftweg, der unmittelbar auf den Stau zuführte. Ich hielt beim Laufen immer die Augen fest auf den Boden geheftet, mit Absicht, denn ich war entschlossen, mich überraschen zu lassen. Man denke doch: ein Maisfeld! …

Als ich, meiner Berechnung nach, dicht an der Mühle sein mußte, sah ich endlich auf. Und wirklich – da war nun die Überraschung, auf die ich so sehr gehofft hatte. Ja, da erhob sich, genau abgesetzt von dem anliegenden Feld, ein Dickicht, ein richtiger Urwald. Ein Urwald, jawohl – es gab kein anderes Wort, das so gut paßte. Weit über Mannshöhe, bis über drei Meter hoch nach meiner Schätzung, reckten sich unendlich dicht die dicken, fleischigen Stengel, schlank hoben sich die breiten, lanzettförmig endenden, mächtigen und fremdartig anmutenden Blätter, im Abendwind zitternde Rispen krönten die Spitzen der Pflanzenschäfte, weiter unten sah ich riesige Fruchtkolben. Sie waren meist von einer lichtgrünen oder weißgelben Hülle schützend umgeben, doch wo sie geplatzt oder in irgendeiner Art beschädigt war, sah man darunter die Körner, bräunlich golden und herrlich geordnet.

»Ah …«, staunte ich. Und ohne mich zu besinnen drang ich, nach einem sichernden Blick ringsum, ob auch niemand mich beobachte bei meinem sicher verbotenen Tun, tief hinein in diese grüne, phantastische, märchenhafte Wirrnis. Und kaum hatte sich die Pflanzendecke über mir geschlossen, da umfing mich auch sofort eine tiefe, schwere Dämmerung.

Je weiter ich in das Feld hineintauchte, desto dunkler wurde es um mich herum. Überall, so kam es mir vor, bauten sich plötzlich Hindernisse auf, und wenn ich dann und wann, tief Atem schöpfend, stehenblieb, dann wähnte ich seltsame und unerklärliche Geräusche zu hören.

Zwischen Lust und Unruhe hin- und herschwankend, suchte ich einen Weg dort, wo es doch einen solchen nicht gab und nicht geben konnte. »Nun muß ich wohl nach Hause«, sagte ich mir immer wieder. Aber als ich mich bereits fest entschlossen hatte umzukehren, mußte ich plötzlich feststellen, daß ich nicht die geringste Vorstellung davon hatte, nach welcher Richtung ich gehen müßte, um aus dem Feld herauszukommen.

Ich ging tief in die Kniebeuge und machte dann einen hohen Schlußsprung. Den Augenblick, da mein Kopf über das Blättermeer hinauskam, den wollte ich dazu benutzen, ganz schnell festzustellen, wo ich mich eigentlich befand.

Ich hatte mich immer für einen guten Springer gehalten – aber die Höhe dieser Maisstauden hatte ich gründlich unterschätzt. So viel Mühe ich mir auch gab, ich erreichte nie die Höhe, die nötig gewesen wäre, um Umschau halten zu können.

»Ich werde einfach immer geradeaus gehen«, sagte ich mir da nach eingehender Überlegung. »Das Feld ist ja schließlich kein Wald, es kann allzu riesig nicht sein, und so muß man bald aus ihm heraus kommen.«

Ich marschierte fleißig los in dieser vollkommenen Schwärze und Dunkelheit, indem ich mir mit vorgestreckten Armen den Weg zwischen den wie Soldaten dicht bei dicht stehenden Maisstengeln bahnte. Immer geradeaus … immer geradeaus.

So glaubte ich es wenigstens. Bis mir mit einem Male und zu meinem großen Schrecken einfiel, was uns unser Mathematiklehrer in der Schule vor ganz kurzer Zeit so beiläufig erzählt hatte: daß ein blinder Mensch, vor allem ein plötzlich erblindeter und an seinen neuen Zustand noch nicht gewöhnter Mensch, im Kreise herumzugehen pflegt, wenn er meint, geradeaus zu marschieren. Und war ich nicht blind, sozusagen, inmitten dieser jetzt schon erschreckenden Finsternis?

Ich lief so weit und so lange mich meine Füße trugen. Wie lange das war, weiß ich freilich nicht. Aber endlich mußte ich ausruhen, endlich versagten meine Kräfte.

Hatte ich Angst? Vielleicht doch – aber ich bemühte mich, sie zu bekämpfen. Sagte mir immer wieder, daß es doch nicht weit sei von zuhause, daß ich doch nicht aus der Welt gefallen sei. Betete mir das vor wie ein Evangelium. Dennoch war es nur ein schwacher Trost für einen doch noch kleinen Jungen von vielleicht zwölf Jahren.

Ich wollte nur ausruhen. Aber die Müdigkeit war größer als alle Sorge und Angst und Unruhe, sie besiegte auch meinen Willen, mich weiter durchzukämpfen …

Alles andere hat mir dann, sehr viel später, meine Mutter einmal erzählt.

Etwa um jene Stunde, als ich ermattet hingesunken und eingeschlafen war, starrten meine Eltern sich angstvoll und in ratloser Erregung an.

»Er ist noch nie so lange fortgeblieben«, schluchzte meine Mutter. »Und es ist doch schon pechrabenschwarze Nacht draußen.«

Mühsam unterdrückte mein Vater seine wachsende Unruhe.

»Was mag nur über ihn gekommen sein?« überlegte er. Und dann, plötzlich, fiel ihm wohl das Gespräch während des Abendbrotes und mein dabei zur Schau getragenes Interesse ein. Sollte ich etwa …

»Komm!« befahl er meiner Mutter. »Ich habe da eine leise Ahnung … na, jedenfalls, wenn wir ihn jetzt nach Hause bringen, dann soll er mich kennenlernen!«

Sie nahmen unsern großen deutschen Schäferhund mit, der sehr an mir hing. Er würde vielleicht gute Dienste leisten können. Und eine flackernde Laterne – elektrische Taschenlampen gab es damals wohl noch nicht.

Als sie kaum in Sichtweite des Maisfeldes waren, das dunkel und mächtig und drohend vor dem nachtschwarzen Himmel stand, gab der Hund Laut und gebärdete sich wie ein Irrsinniger.

Sie fanden mich ganz schnell. Drei, vier Schritte vom Feldrand entfernt, lag ich unter dem grünen Blätterdach. Ganz ruhig lag ich da, und in der einen sicherlich reichlich schmutzigen Faust hielt ich mein altes, rostiges Taschenmesser fest umklammert.

»Du lächeltest im Schlaf«, erzählte meine Mutter. »Und das sah so seltsam aus. So als wärst du wieder mein ganz, ganz kleiner Junge geworden. Darum bat ich denn auch, dein Vater möge dich nicht strafen. Ich dachte: Vielleicht träumt er eben den schönsten Traum, den seligsten Traum seines jungen Lebens.«

Vielleicht habe ich ihn wirklich geträumt. Ich wußte es damals nicht und weiß es heute nicht. Jedenfalls ging alles sehr gut ab. Mein Vater weckte mich, schlaftrunken trat ich aus dem Schatten dieses märchenhaften Urwaldes und ging langsam, Schritt für Schritt, an der Seite meiner Eltern nach Hause.

Von Bäumen und Menschen

Als ich zuerst das Wort »Baumschule« hörte, wußte ich mit diesem mir bisher neuen Begriff nichts Rechtes anzufangen. Was hatten Bäume in einer Schule zu tun? Sollten sie dort lernen, wie man vernünftig, gerade und anständig wächst oder wie man angemessen, und die Erwartungen des Besitzers erfüllend, Früchte trägt? Und was geschah mit einem Baum, der sich als widerspenstig erwies und den Anforderungen seiner Lehrer nicht gerecht wurde? Wurde er etwa in die nächsthöhere Klasse nicht versetzt, und wieviel Klassen überhaupt hatte eine solche Baumschule? Nach welchem Lehrplan wurden die Bäume unterrichtet und auf welche Art wurde man Baumschullehrer? War das etwas ähnliches wie ein Volksschullehrer oder ein Gymnasiallehrer und derlei?

Natürlich hütete ich mich wohl, derartige Gedankenspielereien vor den anderen laut werden zu lassen, die mit Recht darüber gelacht hätten. Doch machte es mir Spaß, mir das alles auszumalen und erst, als ich einmal selbst mit meinem Vater nach Praust hinausfuhr und die berühmte und bekannte, mindestens in unserer Gegend berühmte und bekannte Baumschule von Rathke & Sohn besuchte, konnte ich mir von den Aufgaben und Zielen eines solchen Unternehmens eine einigermaßen deutliche Vorstellung machen.

In unserem Garten sah es anfänglich aus wie in einer Baumschule im kleinen. Denn es war ja ein neu angelegter Garten, und was später mit weit ausstrahlenden schattenden Kronen früchteschwer sich breiten sollte, das waren heute nur zage, schüchterne Stämmchen mit wenigen kargen Zweigen und bescheidenem Blätterwerk. Einen großen und mächtigen, einen »richtigen« Baum gab es allerdings trotzdem, d. h. wir betrachteten ihn als unser Eigentum, obwohl er uns nicht gehörte und nicht in unserem Garten stand. Er wuchs vielmehr unmittelbar neben der hinteren Ecke unseres Gartens, auf dem Gelände der angrenzenden Gärtnerei. Es war eine uralte, mächtige Ulme, die ihre starken, gewaltigen Äste weit über unseren Garten hinausdehnte. Der Wipfel dieser Ulme bildete das Dach einer Haselnußlaube, die wir in eben dieser Gartenecke angepflanzt hatten, und so dicht, so schirmend war das schützende Blattwerk, daß wir selbst bei starken Regenfällen oft noch lange nach Einsetzen des Regenwetters trocken und gesichert in der Laube sitzen konnten, ehe das himmlische Naß endlich langsam von den Blättern niedertropfte und zu Boden fiel.

In einer Astgabel dieser Ulme hatten wir Kinder uns eine schöne breite Bank gezimmert, auf der wir viel bequemer, als auf dem Zaun des Gartens sitzen und von oben her mit weitem umfassenden Blick das angrenzende Kornfeld bis zum Bahndamm überschauen konnten. Hier war mein liebster Ruheplatz, hier war auch die Stelle, wo ich völlig ungestört, ganz mir selbst überlassen, behaglich die dicken Schmöker durchackern konnte, die ich mir da und dort, zu Beginn der Schulferien, als Zeitvertreib für lange müßige Stunden besorgt hatte.

Ich weiß nicht, wie viele Jahre wir von dem schirmenden Obdach, das diese Ulme bot, Gebrauch machen durften. Aber ich erinnere mich deutlich eines Tages, eines frühen herbstlichen Morgens, als mich das Gekreisch einer Bandsäge nach hinten in den Garten lockte und ich zu meinem größten Schrecken entdeckte, wie zwei Männer im Nachbargrundstück damit beschäftigt waren, den riesigen, starken Stamm der Ulme abzusägen.

»Halt!« schrie ich von der Höhe des Zaunes her den Männern zu, und so schnell ich eben konnte, rannte ich durch die im Zaun eingelassene Pforte zu dem Gärtner hinüber und fragte ihn, hochrot vor Erregung und mit fliegendem Atem, ob er befohlen habe, den Baum abzusägen. Er sah mich an mit der ruhigen Überlegenheit eines erwachsenen Mannes, der weiß, was er will, und sich von seinen Plänen und Absichten durch irgendwelche kindlichen Wünsche und Bitten nicht abbringen läßt. »Ja«, entgegnete er ganz ruhig, »der Baum muß weg.«

»Aber warum denn?« fragte ich, und dieser Gärtner, der mir bisher immer als ein netter, ruhiger und angenehmer Mann erschienen war, mit dem man gut Freund sein konnte, kam mir plötzlich böse und häßlich und fragwürdig vor. »Nun ja«, meinte er und gab sich Mühe, mir alles recht klar zu machen, »er muß weg, weil er den anderen Gewächsen, insbesondere den neu angepflanzten Buschobstbäumen und Sträuchern, die du da hinten siehst, Luft und Licht und Kraft und Nahrung wegnimmt. Außerdem stellt so ein Baum mit seinem vielen gesunden Holz eine ganz erhebliche Summe Geldes dar, die ich gut gebrauchen kann.«

Ich wollte noch irgendetwas sagen, ich wollte erklären, daß dies doch ganz unmöglich wäre, und daß man den Baum lassen sollte, und daß mein Vater sicher bereit sein würde, dem Gärtner das zu bezahlen, was der Baum an Holz Wert habe. Aber dann schaute ich zum zweitenmal in das Gesicht des immer etwas ernsten, dunkelhaarigen Mannes, und ich erkannte, daß alles Reden und alles Bitten, alles Betteln und Fragen keinen Sinn hatte. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern trottete ich in unseren Garten zurück, und ich suchte mir eine Stelle aus, ganz weit entfernt von der, wo jene Ulme eben noch stand und bald nicht mehr stehen würde, eine Stelle, bis zu der das Kreischen der Säge und das Geschwätz der Männer nicht mehr dringen konnte, und selbst dort noch bohrte ich beide Finger in die Ohren, um nur nichts zu hören, und war traurig, wie ich es lange nicht gewesen war.

Ich hatte jenen Gärtner eigentlich immer gern gemocht. Er war ein ernster Mann, wie ich schon sagte, aber manchmal konnte er auf eine nette Art lächeln, und er verstand es, mit mir zu plaudern und auf meine Fragen einzugehen. Seit diesem Tage aber begann ich ihn zu hassen, und ich habe dann Jahre hindurch jede sich bietende Gelegenheit wahrgenommen, ihm irgendeinen kindlichen Streich zu spielen, nur um mich für etwas zu rächen, was ich als einen Eingriff in meinen persönlichsten Besitz hielt …

Von den vielen Obstbäumen, die unseren eigenen Garten füllten, sind mir zwei vor allem in Erinnerung geblieben.

Da war die Sache mit meinem Beet. Ich hatte natürlich auch ein Beet in unserem großen Garten. – Jedes Kindes Wunsch, und insbesondere jedes in einer Stadt geborenen Kindes Wunsch ist es ja wohl, wenn die Gelegenheit sich bietet, ein eigenes Beet pflegen und besitzen zu dürfen. Doch wenn dieses mir gehörige Beet nicht einer verlorenen Wildnis ähnlich sah, so lag dies durchaus nur an meiner Mutter, die es betreute und mit Krokus und Margueriten, mit Veilchen, Narzissen und anderen Blumen bepflanzte. Nicht so sehr um mir, als vor allem um meinem Vater eine Freude zu machen, der, an meinem Beet vorbeiwandernd, dann ab und zu freudig und anerkennend sagte: »Es scheint, daß meine Liebe zur Gartenarbeit sich auf den Jungen übertragen hat. Würde sonst dieses Beet so nett und zierlich angelegt und gepflegt sein?«

Ich selbst … ach, die erste Begeisterung war sehr rasch verflogen, und bald zog ich es vor, statt mühselig in gebückter Stellung mich mit meinem großen Blumenbeet zu beschäftigen, unseren Hund loszubinden und mit ihm herumzutollen oder irgendwelche Spiele zu treiben, die mehr Abwechselung verhießen als die mühselige Gartenarbeit. Ich jagte nach unseren Katzen, ich übte mich weiter mit dem Tesching, manchmal aber auch, und das hing viel von den Büchern ab, die ich gerade las, fühlte ich mich wohl in der Rolle eines Indianers, der mit Lasso und Tomahawk auf dem Kriegspfad einem eingebildeten Gegner zu Leibe rückte. Mein Tomahawk war ein kurzes Handbeil, das ich aus der Werkstatt geholt hatte und nun, so weit und so hoch es meine kindlichen Kräfte vermochten, schleudernd warf, bis es den unsichtbaren Feind erreichte.

Einmal aber verfehlte dies Beil in seinem Fluge das eigentliche Ziel und knirschend fuhr es mit der Schärfe seiner Schneide tief in den Boden meines eigenen Beetes und köpfte dabei einen darauf stehenden Baum unmittelbar über der Wurzel.

Das Bäumchen gehörte mir nicht. Das Bäumchen gehörte meinem Vater. Es war ein Buschbaum, kaum drei Jahre alt, und im nächsten sollte er erstmals tragen. Eine besonders edle Birne war es, deren fremdländischen Namen ich nie behalten konnte, auf deren Früchte aber, auf deren Tragfähigkeit mein Vater ganz besonders neugierig war. Eine sehr seltene Birne würde es geben, weil dieser Baum das rauhe Klima unseres Nordostens kaum je vertrug. Mein Vater war stolz darauf, daß es ihm offenbar gelungen war, diesen Baum hier heimisch gemacht zu haben. Er war, um es mit einem Wort zu sagen, sein Lieblingsbaum. Wie ja die etwas schwierigen, die etwas fremdartigen Kinder dem Herzen der Eltern oft am nächsten stehen.

Ich sah den kleinen Baum langsam, zögernd beinahe, zu Boden sinken, und mein Herz stand still. Nicht aus Angst vor dem, was kommen würde, auch nicht eigentlich aus Angst vor meinem Vater. Aber ich begriff, daß dieses Vorkommnis ihm einen schwer zu verwindenden Schmerz bereiten würde, und es betrübte mich, ungewollt und lediglich im unbesonnenen Eifer meiner Spiele der Urheber eines solchen Schmerzes sein zu müssen.

In tiefes, erregendes Nachdenken versunken, blieb ich lange Zeit ganz still stehen. Ich überlegte: wenn sich nun schon Geschehenes nicht wieder gutmachen ließ, so würde es besser für beide Teile sein, wenn nicht ich als der Schuldige an diesem Unheil gelten müsse, sondern wenn man diese Schuld auf irgendwelche Naturkräfte abwälzen konnte, die man dafür verantwortlich machen durfte.

Vielleicht waren es nur Sekunden, bestenfalls einige wenige Minuten, die es währte, ehe ich zu einem Entschluß kam. Dann lief ich in die Werkzeugkammer, holte einen starken Nagel, dem ich den Kopf mit der Kneifzange abkniff, holte mir Bohrer und Hammer. Ich war im allgemeinen wenig geschickt in handwerklichen Dingen, diesmal aber brachte ich es im Verlaufe weniger Minuten fertig, den durch das Beil säuberlich abgeschnittenen Baum mit Hilfe des Nagels derart an den im Erdboden verbliebenen kurzen Wurzelstamm zu befestigen, daß der Stamm wieder gerade und fest stand, so als wäre gar nichts geschehen. Ein bald darauf einsetzender gleichmäßiger warmer Regen kam mir zu Hilfe und verwischte alle Spuren meiner Arbeit.

Drei, vier oder vielleicht gar fünf Tage, von Unruhe beschwerte Tage, dauerte es, ehe mein Vater bei einem Gang durch den Garten über dem merkwürdig veränderten Aussehen dieses geliebten Birnbaumes stutzig wurde, denn inzwischen hatte der Baum, aller Säftezufuhr beraubt, trotz des feuchten Sommers die Blätter welk und traurig herabhängen lassen. Ich entsinne mich noch, welch ein langes und erregtes Gespräch zwischen meinen Eltern am Abendbrottisch diese Feststellung bewirkte. Mein Vater, immer wieder verzagt mit dem Kopf schüttelnd, fühlte sich in seiner gärtnerischen Ehre getroffen, und sein Entschluß stand alsbald felsenfest, nunmehr mit aller Kraft um die Erhaltung dieses Baumes zu kämpfen.

Er konnte nicht ahnen, daß dieser wahrhaft heroische Kampf von Anbeginn zur Ergebnislosigkeit verurteilt war. Er hob einen weiten kreisförmigen Graben um den Baum herum aus, er goß ihn regelmäßig und ausgiebig, er düngte ihn, er streute Kalk, er mengte Thomasmehl in die Erde. Aber es half nichts.

Ich allein wußte, daß es nichts helfen konnte. Verzagt, mit besorgtem Gesicht, aber mit zäher Energie, setzte mein Vater den einmal aufgenommenen Kampf um das Leben des Baumes fort. Es kam der Herbst, und es kam damit die Zeit, wo auch die anderen Bäume ihre Blätter verloren. Aber dieser und nur dieser eine wurde vorsorglich in eine dicke Schicht wärmenden Strohs gehüllt, um ihn gegen alle Unbill des Winters und den scharfen Biß des Frostes zu schützen.

Im nächsten Jahr, als der Frühling kam, stand er nackt und bloß. Nackt und bloß, wie ein neugeborenes Kind, kein Blatt, kein noch so winziges Knöspchen deutete auf vorhandenes und wiedererwachendes Leben. Unermüdlich erneuerte mein Vater seine Sorgfalt und mit wachsender Trauer beobachtete ich diesen unnötigen Kampf. Jetzt konnte ich nicht mehr gestehen, ohne Gefahr zu laufen, das Herz und die Liebe meines Vaters zu verlieren. Er holte aus dem weiten Kreise seiner Bekanntschaft alle Sachverständigen heran, beratend umstanden sie in kleinen Gruppen den Baum und untersuchten den Tatbestand. »Eingegangen«, meinten sie nüchtern. Aber mein Vater mochte es nicht glauben. So wie eine Mutter nicht an den Tod ihres Kindes glauben will, auch wenn es vielleicht schon im Sarge liegt.

Ein neuer Herbst, ein neuer Frühling, der Baum blieb kahl, aber er wahrte sein Geheimnis.

»Im kommenden Herbst werde ich ihn nun wohl doch ausgraben«, seufzte mein Vater. Er war sehr traurig. Ich war es auch. Ich bebte vor dem Augenblick, da meine Tat offenbar werden würde.

Seltsamerweise konnte sich mein Vater nie dazu entschließen, den unnütz gewordenen, vertrockneten Baum tatsächlich auszugraben. Die Jahre gingen hin, der Baum blieb stehen; als sollte er für mich ein ewiges dauerndes Mahnmal sein. Dann verließ ich die Heimat, es kam der Krieg. Unser Grundstück wurde später verkauft, und als ich Jahre danach in dem Katalog einer Baumschule blätterte, fand ich dort auch den Namen jener Birne, den ich als Kind so oft gehört hatte und nie behalten konnte. Dahinter stand, sauber in Klammern gedruckt: »Im Nordosten Deutschlands aus klimatischen Gründen nicht anbaufähig. Mitteilung des …« und dann kam der Name meines Vaters.

Ich habe die Geschichte dieses Baumes und den Kampf meines Vaters um die Erhaltung dieses Baumes später einmal in Form einer kleinen Erzählung in einer Zeitung veröffentlicht. Diese Zeitung fiel auch meinem Vater in die Hand, und er las die Geschichte mit Eifer. Bald darauf begegnete ich ihm auf der Straße. Wir begrüßten uns, er hielt mich an und sagte lächelnd: »Du hast wirklich eine blühende Phantasie.« Er war damals schon sehr alt, und ich dachte, jetzt ist es Zeit, die Sache endlich ins Reine zu bringen, es wird ihm jetzt nicht mehr wehtun. »Aber es hat sich doch ganz so begeben, wie ich es in der Geschichte geschildert habe«, sagte ich und war neugierig, wie er diese Erklärung aufnehmen würde. Doch schwand das Lächeln nicht von seinen Lippen. Schon bereit weiterzugehen, sagte er nur noch: »Solch einen Bären kannst du mir nicht aufbinden, mein Junge, das glaubst du wohl selbst nicht, daß ich es nicht gemerkt hätte, wenn es wirklich so gewesen wäre.« Mit einem gewiß etwas törichten Gesicht schaute ich dem langsam sich Entfernenden nach. Aber noch heute weiß ich nicht, ob er wirklich meinte, was er sagte, oder ob er inzwischen sich soweit durchgerungen hatte, daß er mir, seinem erwachsenen Sohn, die späte nochmalige Beschämung wegen jenes Streiches ersparen wollte.

Noch einem anderen Baum unter all den vielen, die in jedem frühen Mai, bedeckt mit dem schneeigen, schimmernden Weiß ihres Blütenmantels, prunkten, die in jedem Herbst ihre Äste, je älter die Bäume wurden, immer schwerer von reifen goldenen Früchte der Erde entgegenbogen, gehörte die besondere Liebe meines Vaters. Es war ein Apfelbaum, der vorne im sogenannten Ziergarten stand, und den er sich von weit her – »aus Kalifornien« pflegte er mit Stolz seinen Bekannten zu erklären – hatte schicken lassen.

Zwei Jahre hindurch hatte dieser Baum sich Liebe und Pflege danklos gefallen lassen, und nur die Blätter, die er zu jedem neuen Frühling in immer wachsender Fülle entfaltete, zeugten für sein Leben. Im dritten Jahr aber schmückte er sich mit einigen wenigen rosenfarbenen Blüten, und als die Stunde gekommen war, entdeckte mein Vater einen einzigen winzigen Fruchtansatz.

So kam es, daß ihm fortan all die reichen, fruchtverheißenden anderen Bäume vorübergehend nichts mehr galten gegenüber diesem einen mit seiner kümmerlichen Frucht. Seine ganzen Gedanken richtete er auf den einen Punkt und die einzige Frage: Wird der Apfel nicht vor der Zeit durch Sturm, Dürre oder sonstige Unbilden der Witterung vom nährenden Stamm fallen? Wird er hier, in dem so viel rauheren Klima Nordostdeutschlands, jenen Duft, jenen Wohlgeschmack, jenes Aroma aufweisen, von dem die Gärtner im fernen Kalifornien nicht genug Lobenswertes und Erstaunliches zu erzählen wissen?

Ja, immer dachte er daran, und sprach er davon bei den gemeinsamen Mahlzeiten, so daß keinem von uns verborgen bleiben konnte, mit welcher Leidenschaft und mit welcher Innigkeit er sein Herz an diesen einen, armseligen Apfel gehängt hatte.

Grenzenlos und wahrhaft unbeschreiblich war daher seine Trauer und Erbitterung, als er an einem lauen Septemberabend, aus der Fabrik nach Hause kommend, entdecken mußte, daß dieser Baum seiner einzigen Frucht beraubt war. Er kniete in sinkender Dämmerung am Boden und suchte, fiebernd und erregt, auf der Erde, im schon taufeuchten Gras des sauber geschnittenen Rasens, nach dem Apfel.

Als er sah, daß seine Suche ergebnislos geblieben war, stand er schwerfällig auf. Er ging ins Haus und stieg, ohne meiner Mutter nur die Tageszeit zu bieten, zu mir hinauf in meine Kammer.

Ich saß an meinem Tisch und bastelte gerade an irgendeinem Spielzeug herum. Ich war ein wenig erschrocken und überlegte schnell, was ich etwa inzwischen wieder angestellt haben konnte. Denn es gehörte nicht zu den Gewohnheiten meines Vaters, mich in meinem eigensten Reich zu stören und bei mir einzudringen.

Mein Vater sah mich lange und schweigend an. Ich wußte nicht, was in diesem Augenblick in seinem Innern vorging. Plötzlich fragte er und ließ mich dabei nicht aus den Augen: »Sag mal – hast du den Apfel gestohlen? Den einen Apfel von dem Baum vorn? … Du weißt ja schon.«

Mich durchfuhr ein richtiger heißer Schreck. Ich wußte ja genau, wie sehr mein Vater gerade auf das Reifen dieses Apfels gewartet hatte. Ich schaute in sein Gesicht und sah den zurückgehaltenen Zorn und die ungeheure Empörung, die ihn erfüllten, und ich bekam Angst.

»Nein«, sagte ich stotternd, und als ich mich sprechen hörte, empfand ich im gleichen Augenblick: Das kann er mir nicht glauben, dieser angstbeladenen Stimme kann er nicht glauben.

Meines Vaters Augen schossen Blitze. »Junge«, sagte er gefaßt, »wenn du mich belügst …, wenn sich herausstellt, daß du mich belogen hast …, dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken.« Er sagte nichts weiter, stampfte mit schweren Schritten wieder hinaus. Auch bei Tisch blieb er schweigsam und verschlossen, von ein paar Andeutungen abgesehen, die er meiner Mutter machte. Schließlich, wen sollte er auch fragen? Meine beiden Schwestern, deren eine so viele Jahre älter war als ich, standen außer Verdacht, und wenn ein Fremder ungesehen eingedrungen sein sollte in den Garten, würde es schwer möglich sein, den Diebstahl nachzuweisen.

In der Nacht hörte ich dann, in dem Zimmer nebenan, ein leises Schluchzen. Dort schlief meine jüngste Schwester, und durch die Tür fragte ich, warum sie weine. Nach einigem Zögern kam es heraus. »Ich habe den Apfel genommen«, gestand sie, als ich zu ihr hinüberging, und ihre Augen waren groß und dunkel vor Angst.

Irgendwie wollte ich sie trösten. »Nun, nun«, murmelte ich nur, »es wird schon alles werden, du brauchst keine Angst zu haben.« Und redete ihr solange zu, bis sie endlich beruhigt einschlief. Ich lag dann noch lange wach und überlegte, was zu tun sein. Sie tat mir sehr leid. Ich glaubte, daß es nun meine Pflicht und meine Aufgabe sei, sie irgendwie zu retten. Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, ging ich hinunter in das Zimmer meines Vaters.

»Na«, fragte er und sah mich ernsthaft, ja grimmig an. Ich hatte deutlich das Gefühl, daß er auf mein Kommen gewartet habe.

»Ich habe den Apfel genommen«, sagte ich da ganz still und nun, da ich bewußt log, war meine Stimme klar und rein und klang ganz anders und viel überzeugender als am Tage vorher.

Über das Gesicht meines Vaters lief eine rote Welle vor Zorn, aber das war nur ein Augenblick. Im nächsten muß es ihm irgendwie klar geworden sein, wie alles zusammenhing. Seine Stirn glättete sich, seine Augen bekamen einen sanfteren Glanz.

»Du lügst ja, Junge«, sagte er ganz leise. So weich und liebevoll, wie ich es eigentlich noch nie von ihm gehört hatte. Ganz langsam ging er auf mich zu und legte mir seine schwere Hand auf die Schulter. »Komm«, sagte er, »komm mit.«

Seite an Seite gingen wir aus dem Hause in den Garten. Mit maßloser Verwunderung blickte meine Mutter uns beiden nach. Mein Vater ging zum Schuppen und holte eine Axt. Wenig später standen wir vor dem Apfelbaum. Ein einziger scharfer Hieb und dann lag das Bäumchen am Boden. Ich schrie leise auf vor Entsetzen. »Was tust du da?« fragte ich. »Es ist gut so«, lächelte mein Vater. »Schließlich, was brauchen wir kalifornische Äpfel – sind unsere deutschen nicht schön genug?«

»Ja«, flüsterte ich, und es wurde dann ein sehr schöner, friedlicher und wundervoller Sonntag.

Der Sturz in den Teich

An irgendeinem Morgen, als draußen der Nebel wie ein dünner, hauchzarter und grauer Schleier vorüberwehte, sagte mein Vater: »Na, jetzt ist also bald Martini.« Er sprach die wenigen Worte gleichmütig vor sich hin, es war eine Feststellung und weiter nichts. Höchstens noch, daß er einen flüchtigen Blick auf den Kalender warf, um sich wegen des Datums zu vergewissern. Dann aß er ruhig weiter, die Zeitung neben der Kaffeetasse, und man sah es seinem abwesenden Gesichtsausdruck an, daß er mit seinen Gedanken eigentlich schon bei seiner Arbeit war.

Für mich aber hatte dieser Tag einen ganz bestimmten Sinn. Er war mit einem Ereignis verbunden, das so regelmäßig wiederkehrte wie das Amen in der Kirche. An diesem Tage nämlich erschien, am Vormittag, Tante Marie, und wenn ich heimkam, dann saß sie bereits auf dem Sofa in der Wohnstube, mein Vater hatte sich für den Nachmittag beurlauben lassen, und während meine Mutter klappernd und geräuschvoll in der Küche herumhantierte, saß er neben Tante Marie und ließ sich von ihr erzählen.

Ich habe nie den Eindruck gehabt, damals, daß es eine sehr lebhafte Unterhaltung sei, die sich zwischen den beiden abspielte. Aber ich war auch noch zu jung und zu unerfahren, um zu wissen, daß die Menschen vom Lande einen anderen, natürlicheren Lebensrhythmus haben als die Städter; daß sie, dem Atem der Erde verhaftet und an ein schweres, körperliches Tagwerk gebunden, karger im Wort sind als die hastigen, nervösen Städter.

Das also wußte ich nicht. Und ich verstand auch kaum etwas von dem, was Tante Marie erzählte, denn sie sprach Platt, und höchstens wenn sie mal lebhaft mit dem Kopf nickte und »Jau, jau«, sagte, dann wußte ich, oder ahnte es, daß es »Ja, ja« heißen sollte.

Unter den mahnenden Blicken meines Vaters begrüßte ich die Besucherin höflich, setzte mich still und artig auf einen Stuhl in der Nähe, zerbrach mir zum hundertsten Male darüber den Kopf, wie wir mit dieser Frau verwandt seien, und hörte dabei nicht auf, sie aufmerksam und ein bißchen verwirrt zu betrachten.

Sie schien mir nämlich, je länger ich sie beschaute, in allem anders zu sein als die Menschen, mit denen wir gemeinhin zusammenkamen.

Da war zunächst ihr Gesicht. Ein Altfrauengesicht besonderer Art, herb und faltig, mit einem fast zahnlosen Mund, aber mit seltsam frischen, roten Bäckchen. Ihre Augen waren von einem blassen Blau wie Wasser. Zuweilen streifte sie mich mit einem kurzen Blick, und dann erschrak ich. Denn es schien mir dann mit einem Male, als sehe sie ganz durch mich hindurch; als wäre ich für sie wie Glas, und sie könne bis tief in mein Inneres blicken.

Ihre Haare waren grau und stellenweise silberweiß. Dünn waren sie und strähnig, und auf ihnen thronte ein kleines, violettes Häubchen. Wie alt mochte sie sein? Siebzig Jahre? Oder gar hundert? Ich hätte es nicht sagen können. Auf alle Fälle erschien sie mir ur-uralt.

Von ihrem Gesicht wanderten meine Blicke zu ihren Händen. Es waren rissige, verarbeitete Hände mit Gichtknoten an den Gelenken, und sie lagen auf der Tischplatte wie zwei selbständige belebte Wesen, die nichts mit der Frau zu tun hatten.

Wenn ich mit meinen Beobachtungen fertig war, ging ich leise und unauffällig hinaus in die Küche. Ich tat, als wollte ich helfen, irgendeine Handreichung machen. Aber meine Augen gingen wie Wiesel hin und her, bis sie entdeckt hatten, was sie suchten: die schöngerupfte, fette, weiße, wohl mehr als zwölfpfündige Gans, die Tante Marie mitzubringen pflegte. Die Martinsgans! Sie wurde natürlich immer erst am darauffolgenden Sonntag gegessen, aber um dieser Gans willen begrüßte ich den einmal jährlichen Besuch von Tante Marie. Sonst wußte ich nichts rechtes mit ihr anzufangen.

Sie kam natürlich nicht nur wegen der Gans. Sie brachte meinem Vater in einem schwarzseidenen, zerschlissenen, mit roten Blumen bestickten Beutel Geld, das sie ihm sorgfältig auf dem Tisch vorzählte. Eine ganze Reihe blanker Dreimarkstücke. »Es sind Zinsen«, hatte mir meine Mutter einmal auf meine Frage erklärt, und so viel verstand ich schon, daß also mein Vater ihr wohl Geld hergeliehen hatte. »Wieso bringt sie es dann selbst? Warum schickt sie es nicht mit der Post?« hatte ich wissen wollen, ohne auf diese Frage mehr als ein stilles Lächeln meiner Mutter und die Erklärung zu ernten: »Du mußt wissen, sie ist schon sehr alt. Und an vieles, das dir und uns allen heute als selbstverständlich erscheint, hat sie sich niemals richtig gewöhnen können. Daß man das Geld auf der Post einzahlen kann, das würde sie nie verstehen. Denn wer beweist ihr dann, daß das richtige Geld auch in die richtigen Hände kommt?«

Regelmäßig schrieb, nach Beendigung dieses fast feierlichen Aktes der Geldaufzählung, mein Vater ihr, trotz vielen Kopfschüttelns und abwehrender Handbewegungen der Tante, mit seiner wundervoll sauberen, schönen und schwungvollen Schrift eine Quittung aus und schob sie ihr zu. »Nö, nö«, sagte sie dann und zerriß das Blatt ebenso regelmäßig in lauter kleine Fetzen. Bei ihr war alles auf Treu und Glauben gegründet, und sicher wollte sie nicht, daß sich zwischen sie und meinem Vater ein Stück Papier drängte. Und wenn ich sie auch in vielem sehr komisch fand, dies gefiel mir an ihr und in einem solchen Augenblick hatte ich sie fast gern.

Sie blieb nie lange. Schon am frühen Nachmittag rüstete sie sich zum Aufbruch, und mein Vater begleitete sie zum Bahnhof, oft auch bis in die Stadt und zu dem Dampferanlegeplatz an der Langen Brücke, von wo aus sie mit einem der kleinen Marktdampfer ihre Rückfahrt zu dem heimatlichen Dorf antrat.

Dieses Mal aber hatte mein Vater aus irgendeinem Grunde keine Zeit, und so erhielt ich den Auftrag, Tante Marie zum Bahnhof zu bringen.

Ich erschrak sehr. Ich dachte an den merkwürdigen Kapotthut, den Tante Marie trug, mit den unter dem Kinn zusammengebundenen seidenen Schleifen, an ihre altertümliche und ungewöhnliche Kleidung, und ich suchte und fand hundert Ausflüchte und Entschuldigungen.

»Hei schämt sich!« sagte da Tante Marie, und wieder schaute sie mich mit einem Blick an, der bis in die verborgensten Tiefen meines Herzens zu dringen schien.

Ich wurde sehr rot. Und als mein Vater, seinen Jähzorn mühsam unterdrückend, nur sagte: »Mach dich also fertig!«, konnte ich nichts tun, als gehorsam mit dem Kopf zu nicken.

Der Weg an der Seite dieser bäurischen Frau wurde mir zu einer Tortur. Ich glaubte, jeder würde mit spöttischem Grinsen auf uns beide schauen, ich war viel zu einfältig, um mir klar zu machen, daß eine solche Frau in diesem Vorort, der doch noch viel von der Landbevölkerung aufgesucht wurde, gar nichts Auffallendes an sich habe. Geflissentlich ging ich immer einen oder zwei Schritte voraus, damit nur ja niemand mich mit meiner Begleiterin in Verbindung bringen könnte. Ja, einen Augenblick lang haßte ich diese Tante Marie gründlich, und ich atmete erst froh und befreit auf, als sie glücklich in der Bahn saß.

Aber im Sommer darauf hieß es plötzlich, ich sei von Tante Marie eingeladen worden, einige Wochen auf ihrem kleinen Besitztum zu verbringen. Und wenn ich auch zunächst Hemmungen hatte und die Erinnerung an jenen einsamen Weg mir auf peinliche Art lebendig wurde, so überwog doch sehr bald die Freude an diesem mir bevorstehenden ungewohnten Abenteuer.

Dann wurde alles über Erwarten schön. Das Dorf – Bärwalde – war klein, und klein war das Besitztum der Tante Marie. Ein mehr als bescheidener Bauernhof mit zwei, drei Kühen, mit zwei Arbeitspferden, ein paar Schweinen und dem dazugehörigen Kleinvieh: Ziegen, Gänsen, Enten und Hühnern. Ich durfte mit dem großen Hofhund spielen und mit Peter, dem schwarzen, seidenhaarigen Kater. Ich konnte, unter der wohlwollenden Aufsicht eines betagten Knechtes, auf den Ackergäulen hinausreiten aufs Feld, und das war wirklich etwas Besonderes, zu Pferden hatten wir es noch nicht gebracht und würden es nie bringen. Ich durfte mit der Magd auf die Weide gehen, beim Melken zuschauen, wie die Milch schäumend in den Eimer floß, kurz und gut: ich sah und erlebte eine neue Welt, die sich mir lächelnd und gütig darbot: den bäuerlichen Alltag.

Und Tante Marie? Ja – das war nun das Merkwürdigste von allem. Hier draußen, auf dem Lande, in ihrem Reich, auf ihrem gewiß bescheidenen Besitztum, wirkte sie auf mich völlig anders als bei ihren seltenen Besuchen in der Stadt. Hier stand sie inmitten des ihr ureigenen Lebenskreises, und sie war nun eine zwar sehr alte, aber erstaunlich rüstige, einfache Bauernfrau, die ihre wasserklaren Augen überall hatte, die unermüdlich, trotz ihrer Jahre, schaffte und wirkte. Sehr vereinsamt, des Mannes seit langem und auch der Kinder und Enkel vor der Zeit durch den Tod beraubt, stand sie dennoch fest mit beiden Füßen auf der Erde. Und nichts von dem, was sie sagte – soweit ich es verstand –, war dumm oder töricht. Im Gegenteil: zuweilen, am Abend, saßen wir auf der Bank vor dem Hause. Und wenn wir, ruhig und angenehm müde, hinausblickten über die weitgedehnte, sanft auf- und niederschwingende Erde, dann erzählte sie mir dies und jenes aus dem reichen Schatz von in ganzen Geschlechterfolgen angesammelter Bauernweisheit, darüber ich noch lange nachher ernsthaft nachdenken mußte. »Tante Marie«, sagte ich dann leise und beinahe zärtlich und tastete nach ihrer harten, von Arbeit und Mühe geformten, knotigen Hand. Sie ließ sie mir gern, eine kleine Weile, bis sie endlich, fast verschämt, meinte: »Lat man … lat man, min Jong« und ein bißchen schnaufte, ehe sie aufstand und zurückging in die dämmerungsdunkle Stube.

Und dann … ja, an diesem Tage, als das Bewußtsein, nun bald wieder zurückzumüssen, schon wie ein leichter Schatten über die Lust des Augenblicks fiel, stand ich wieder einmal an jenem kleinen Teich, der den Baumgarten hinter dem Hause von dem anstoßenden Brachland mit Moor und Sumpf und sauren Gräsern abgrenzte. Es war ein seltsames Wasser: am Rande dicht bedeckt mit grünen Wasserlinsen, und nach der Mitte zu klar und dunkel, wie ein Auge, mit dem die Erde sehnsüchtig und geheimnisvoll zugleich gen Himmel schaut.

Ich hatte anfänglich auf diesen bescheidenen Teich mit einer Art lächelnder Verachtung geschaut. Aber einmal hatte der Knecht mir gesagt, warnend und mit großem Ernst: »Er ist sehr tief – den hat noch niemand ausgemessen.« Und seitdem besaß er für mich eine besondere Lockung.

Heute also stand ich wieder davor. Ich war unruhig und gedachte halb mit Unlust, halb mit etwas Heimweh der nahen Abreise. Ich mochte mich nicht einfach hier ins Gras legen und träumen, wie ich es so oft getan hatte. Statt dessen turnte ich auf dem schmalen Steg herum, der in den Teich hineinführte, und von dem aus man Wasser zu schöpfen pflegte, wenn es galt, die auf der Wiese zum Bleichen ausgebreitete Wäsche zu begießen.

Ich wippte und schaukelte und sprang auf dem elastisch federnden Steg, bis ich plötzlich abglitt und wie ein Stein in das Wasser stürzte.

Ob ich geschrien habe? Ich weiß es nicht. Aber es muß wohl so gewesen sein, und die alte Frau, die ich Tante Marie nannte, und die oben, im Gemüsegarten, Wachsbohnen pflückte, muß diesen meinen kleinen Kinderschrei gehört haben. Die Magd hat mir später alles erzählt: wie meine Tante hochfuhr, wie sie mit gellender Stimme nach Knecht und Mädchen schrie »Johann! Anna!«, aber gleichzeitig, ohne zu zaudern, nach dem Teich herunterlief, gerade noch einmal meinen Kopf auftauchen sah, bedenkenlos fünf, sechs Schritte ins Wasser hineinlief, das ihr sehr bald bis an die Brust reichte, und mich bei den Haaren zu packen bekam.

Da freilich waren auch schon die andern zur Stelle und beendeten das Rettungswerk, das sie so tapfer begonnen hatte.

Ich kam mit dem Schreck davon, und so war dies, alles in allem, für mich nicht mehr als ein unvorhergesehenes kaltes Bad. Für die alte Frau aber war es Schlimmeres. Sie mußte sich bald darauf niederlegen, mit einer bösen Lungenentzündung, und hat sich nie wieder ganz erholt.

Ich habe später oft und in brennender Scham gedacht: Kommt sie nochmals zu uns nach Hause, dann gehe ich mit ihr spazieren, mitten durch die belebtesten Straßen. Und Arm in Arm, trotz ihres Kapotthutes.

Aber es kam nicht dazu. Ich habe sie nie mehr gesehen, denn sie starb ein Jahr danach oder zwei. Doch da war ihr Gesicht, das ich immer noch deutlich vor mir sah: wissend, weise, mit einem kleinen, gütigen Lächeln ob aller meiner kindlichen Einfalt und Eitelkeit.

Schulgeschichten

Wie es komplementäre Farben gibt, so gibt es auch komplementäre Begriffe, die für Zeit und Ewigkeit miteinander zusammengeschweißt zu sein scheinen. Topf und Deckel, Katz und Maus, Schloß und Hütte sind einige wenige aus einer fast endlos langen Reihe. Auch Kind und Kegel gehören dazu – aber ich habe erst sehr spät erfahren, was Kind und Kegel eigentlich miteinander zu tun haben, und daß diese Kegel nicht aus Holz sind und kein Spielzeug.

Kind und Schule, Jugend und Schule gehören in gleicher Weise zusammen, und ich fürchte, ein Ausflug in das Märchenland der Kindheit muß als unvollkommen gelten, wenn nicht dabei auch von dem Verhältnis des Kindes zu einer Schule irgendwo die Rede ist.

Hatte ich ein solches Verhältnis? Und welcher Art war es?

Ach, damals, als ich dieser Einrichtung noch, leidend und handelnd, so ganz verhaftet war, als sowohl unser Lateinlehrer als auch unser Direktor nicht müde wurden, uns bei jeder passenden – und leider auch unpassenden – Gelegenheit das lateinische Sprichwort zu zitieren: Non scholae, sed vitae discimus, nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir (womit vielfach erreicht wurde, daß die Jugend mit einer Art Sorge und Beunruhigung dem späteren, so drohend ausgemalten wirklichen Leben entgegensah), damals habe ich über dieses Verhältnis nie nachgedacht.

Aus den drei sogenannten Vorschuljahren hatte ich nur einige wenige, sehr schnell immer nebeliger werdende Erinnerungen hinübergenommen in meine spätere Kindheit. Da war die Leiterin der kleinen Schule, Fräulein Liß hieß sie, sie war rundlich und wohl auch gutmütig, wie es die wohlbeleibten Frauen des öfteren sind. Auch ihre Art, mit uns umzugehen, hatte etwas Mütterliches. Für mich blieb sie unlösbar verbunden mit einem ungewöhnlich langen, grün eingebundenen Notizbuch, das sie immer bei sich hatte, wie man heutigentags die Handtasche mit sich führt. Ich hatte sie damals und habe sie heute noch in dem Verdacht, daß sie sich dieses, zu Beginn jedes Schuljahres erneuerte Buch besonders anfertigen ließ, denn etwas Ähnliches sah ich sonst nirgend. Sicher war es sehr praktisch, man konnte darin auf einer Seite hintereinander die Namen all der vielen, vielen Schüler einer Klasse aufschreiben, und man konnte mit dem zugeklappten Buch auch recht spürbare Schläge austeilen. Manchmal schlug sie uns damit hinter die Ohren, das war unangenehm. Aber oft auch schlug sie uns mit der scharfen Kante des Buches auf die Handknöchel, und das war schlimmer.

Sie gab uns Religion – oder Biblische Geschichte, wie man es in den Vorschulklassen nannte –, und sie hatte sich wahrscheinlich dieses Fach vorbehalten, weil es am bequemsten war und keine großen Vorbereitungen brauchte.

»Ich erzähle euch jetzt die Geschichte von David, Absalom und Joab«, sagte sie etwa. Und flugs hatte sie ein auf Leinwand gezogenes großes Bild entrollt. Da sah man Absalom, König Davids Sohn, mit langen und erstaunlicher Weise gelbblonden Haaren am dicken Aste einer Eiche hängend, und unter ihm stand Joab, des Königs treuer Feldherr, und durchbohrte den Wehrlosen mit drei mächtigen Spießen, so daß das rote Blut in breitem Strom aus der Brust rann. Ich erschrak beim Anblick dieses Bildes und träumte manche Nacht davon, ich fand die ganzen Geschichten, die uns erzählt wurden, seltsam und abstoßend und dachte mit Sehnsucht an die Märchen, die uns unsere Mutter zuweilen abends vor dem Schlafengehen mit halblauter Stimme zu erzählen pflegte. Nie begriff ich die wirklichen Zusammenhänge dieser Geschichten: warum Absalom sich gegen David empört hatte, warum er auf so schauerliche Art sterben mußte, warum David nachher so betrübt war.

In unserm Schulbuch gab es ähnliche, verwirrende Bilder, und einmal war ich so empört darüber, daß ich das ganze schmale Buch in zorniger Aufwallung in den brennenden Ofen warf. Jäh ernüchtert, wollte ich es wieder herausreißen, aber da war es schon zu spät. Da überfiel es mich, was ich getan hatte, das wäre eine große und völlig unverzeihliche Sünde, die sich nie wieder gut machen ließe. Das quälte mich so lange und so heftig, daß ich mich endlich bangend meiner Mutter offenbarte.

»Das ist nun wahrlich sehr schlimm«, sagte sie, indem sie meinen Bericht, stockend herausgestammelt, aufmerksam angehört hatte, und sie hatte wieder jenes versteckte, kaum sichtbare Lächeln, das ich schon an ihr kannte. »Sehr schlimm ist das, wirklich, denn deinem Vater darfst du davon nichts sagen, und nun müssen wir ein neues Buch kaufen, und das kostet viel Geld. Aber sonst: nun, der liebe Gott wird es dir schon verzeihen, er muß uns Menschen – leider – immer wieder schlimmere Dinge verzeihen, als du sie getan hast. Und du hast ja nicht ihn verbrannt, im Ofen nicht und nicht in deinem Herzen, sondern nur ein Buch.« Ich atmete tief und befreit auf. Ich wußte jetzt: wir hatten nun ein Geheimnis miteinander, wir zwei, und dies zu wissen war köstlich. Sehr getröstet machte ich mich an mein Spiel … Dann war da noch das Fräulein Haberkant. Ich bin diesem Namen später des öfteren begegnet, und immer war er für mich mit der Vorstellung einer hageren, scharfkantigen, strengen und unfreundlichen Person verbunden. Nomen est omen – es schien mir so, daß der Name allein schon zu solcher Art und solchem Aussehen verpflichtete. Sie hatte kein grüngebundenes Notizbuch, statt dessen aber einen langen Zeigestock, ebenso dürr und hart, wie sie selbst es war, der sich als ein grausames Züchtigungswerkzeug erwies. »Ordnung ist das halbe Leben«, sagte sie, zwischen den Bankreihen entlang gehend und scharfäugig all unsere Schulsachen überprüfend. Wehe dem armen Sünder, der nicht alle seine Hefte fein säuberlich in blaues Papier eingeschlagen hatte, wehe dem, dessen grüne, rote oder orangefarbene Löschblätter nicht hübsch mit kleinen runden Oblaten und weißen Fäden an die Hefte gebunden waren. Dann begann jener Zeigestock zu tanzen, und es gab viel unterdrückte Tränen und viel Geschluchze.

Die Schule befand sich am Poggenpfuhl, und Poggen nannte man bei uns die Frösche und die Kröten. Aber man hätte sie in dieser Straße vergeblich gesucht. Statt dessen gab es hinter der Schule einen hübschen kleinen Garten, in dem wir die Pausen verbringen durften, immer sorgsam überwacht, daß wir nicht auf die Beete und auf den Rasen liefen. Von einem bestimmten Zeitpunkt an freilich mußten wir vorübergehend den Garten mit dem angrenzenden, erheblich kleineren, steingepflasterten Hof vertauschen. Das geschah immer dann, wenn die Birnen an dem einzigen größeren Baum im Garten langsam zu reifen begannen – sicher überlegte sich das Fräulein Liß, daß bei dieser Horde kleiner Jungen nicht viel übrig bleiben würde von ihrer Obsternte, der sie so erwartungsfroh entgegensah. Aber etwas bedachte sie nicht: daß für Gaumen und Magen eines Sieben- oder Achtjährigen auch grüne, unreife und harte Birnen noch eine Verlockung bedeuten. So erfolgte die Übersiedlung nach dem Hof immer zu spät, und nie hörte Fräulein Liß auf, sich kopfschüttelnd darüber zu wundern, daß der Baum, der doch so reichlich geblüht und so schön angesetzt hatte, zum Schluß nur eine so spärliche Ernte trug. »Sie müssen alle im Laufe der letzten Wochen, und noch ehe sie richtig reif waren, abgefallen sein«, hörte ich sie einmal zu Fräulein Haberkant sagen. »Merkwürdig nur, daß man die abgefallenen Früchte niemals auf dem Rasen findet.«

Vielleicht haben sich spätere Generationen kleiner Jungen anständiger und moralischer jenem Birnbaum und seiner Besitzerin gegenüber benommen, als wir es waren. Ich kam nie dazu, das festzustellen, denn an irgendeinem Tage öffneten sich mir die Pforten einer anderen Schule, und es dauerte neun Jahre und mehr, ehe sie mich wieder entließen – ins Leben entließen.

Nicht ohne das Fegefeuer einer Prüfung wurde uns der Weg zu den Weihen der höheren Weisheit und Wissenschaft freigegeben. Es galt dabei neben anderem, eine Geschichte nachzuerzählen, die von einem Hasen handelte, der in einer Badewanne saß. Es war mir gar nicht recht klar, wie der Hase in die Badewanne hineingekommen war, und noch weniger, was er darin zu suchen hatte. So sah ich mit äußerster Besorgnis und mit klopfendem Herzen dem Ergebnis der Prüfung entgegen. Als es verkündet wurde, hörte ich meinen Namen nicht, und mit hängenden Ohren schlich ich nach Hause.

»Du siehst gar nicht so aus wie ein richtiger stolzer Sextaner«, erklärte meine Mutter, kaum daß sie mich erblickt hatte.

»Ich bin wohl durchgefallen«, erwiderte ich weinerlich. Aber dann stellte sich durch eine kleine Rückfrage heraus, daß alles in Ordnung und damit mein weiterer Lebensweg für die nächste Zukunft gesichert war.

Die Schule war ein Realgymnasium, und meines Vaters Wahl war darauf gefallen, weil er nur auf diese Art aus dem Dilemma herauszukommen glaubte, in das ihn die vielen Ratschläge all seiner Freunde und Bekannten versetzt hatten. »Humanistische Bildung«, hatte einer gesagt – ach, was war das, humanistisch?, ich hatte davon noch nie gehört –, »ist das einzig Wahre. Sie ist die Grundlage aller wirklichen Bildung überhaupt, und ein Wort Griechisch oder Latein zur rechten Zeit hebt das Ansehen des ganzen Menschen.« »Wir leben in einem Zeitalter der Technik und der Naturwissenschaft, mit Mathematik und Chemie und Physik, mit vielen lebenden Sprachen meistert man die Welt und sein Leben«, war die Ansicht eines anderen gewesen. Das Realgymnasium, das sein Schwergewicht auf neue Sprachen, Naturwissenschaften und Mathematik legte, aber von den alten Sprachen wenigstens Latein mit Andacht pflegte, schien meinem Vater der ideale Mittler zwischen diesen beiden Gegensätzen zu sein.

Ich wurde also Schüler von Sankt Johann, und wir alle waren stolz darauf, uns Johanniter nennen zu dürfen, denn irgendwie war uns dunkel bewußt, daß das etwas besonders Vornehmes sein müsse. Gab es nicht einen Johanniterorden, und waren seine Ritter nicht durchweg hochgestellte Persönlichkeiten mit altem, angesehenem Namen?

Unsere Schule war in dem ehemaligen Franziskanerkloster in der Fleischergasse untergebracht. Die Aula war der sogenannte Kleine Remter, dessen wundervolles, sternförmiges Gewölbe auf einer einzigen schmalen Säule ruhte. Ich wurde nicht müde, während der Schulandacht, die den Wochenbeginn einleitete und am Sonnabend früh die Arbeitswoche abschloß, mit zurückgelehntem Kopf die schmalen Rippen des Gewölbes, diese wundervollen, steingefügten, schwingenden Linien zu betrachten oder unauffällig durch die hohen, spitzbogigen Fenster mit dem eigenartigen Maßwerk und der Fensterrose hinauszuschauen – durch diese Fenster, die das Sonnenlicht nur gedämpft hereinließen und dem ganzen Raum ein feierliches Gepräge verliehen. Ich hatte noch keine Ahnung von Bauformen und Baustilen, aber ich nahm die prunkende Schönheit der Gotik, diese himmelstürmende Betonung der Vertikalen sozusagen instinktiv auf. Und weil viele Stunden jedes Werktages, jedes Schultages umgeben waren von Kapitellen und Strebepfeilern, von Spitzbogen und Türmen, von Kreuzblumen, Wimpergen, Krabben und Fialen, weil der Korridor, der den Zugang zu den Klassenräumen bildete, nichts anderes war als der Kreuzgang eines alten Klosters, die Wasserleitung ihr erquickendes Naß auf dem Umweg über ein uraltes brunnenähnliches Becken spendete, berührte mich für alle Zukunft jedes gotische Bauwerk heimisch und vertraut.

Es war trotzdem nicht so, daß ich gern in die Schule ging. Ich fand mich mit ihr ab wie mit einem notwendigen Übel, und ich unterschied mich mit einer solchen Einstellung also in nichts von meinen Kameraden. Nie fraß mich der Ehrgeiz, mich besonders auszuzeichnen, aber ich hatte es bald weg, daß man seine Freiheit am besten sicherte und wahrte, wenn man seinen Lehrern möglichst wenig Veranlassung gab, sich intensiver mit einem zu beschäftigen. Der Weg der Mitte schien also hier durchaus der goldene Weg zu sein. Dem Primus war keine Ruhe vergönnt, er mußte immer darauf gefaßt sein, gefragt und herausgestellt zu werden, er hatte es nicht leicht. Und die Letzten der damals noch bestehenden Klassenrangordnung, nun, sie mochten sich ab und an einen faulen Nachmittag machen, aber sie bezahlten ihn bestimmt mit ebenso vielen und mehr Stunden, die sie an herrlichen Sommertagen in den dumpfen, kühlen Klassenzimmern nachsitzen oder daheim hinter einer Strafarbeit verbringen mußten.

Ein gutes Gedächtnis kam mir zu Hilfe, wenn es galt, mir das Leben leicht und bequem zu machen. Ich lernte schnell, und oft genügte eine knappe halbe Stunde, mir das Pensum für den nächsten Schultag einzupauken. Daß ich vieles nur gedächtnismäßig aufnahm und nicht verstandesmäßig erarbeitete und deshalb ebenso schnell vergaß, wie ich es gelernt hatte, machte mir nie Kummer und Sorge. So weit pflegte man in solch jugendlichem Alter nicht zu denken.

Aber wenn die Schule ein Übel war, und wenn ich sie als ein solches besonders an schönen, sonnenüberfluteten Sommertagen empfand oder auch im Winter, sobald erst der Schnee draußen alles weiß und sauber bedeckte und schimmernde, duftige Hauben jedem Mauervorsprung, jedem First und jedem Pfeiler aufsetzte – gehaßt habe ich die Schule nicht. Sie tat mir nicht weh, und ich glaube, das lag nicht so sehr an mir, als vielmehr an unsern Lehrern, unter denen sich gewiß viele seltsame Originale und schnurrige Käuze befanden, aber doch keiner, der seine Freude daran hatte, die ihm anvertraute Jugend zu peinigen und zu quälen. Die einen galten als streng, und sie waren es gewiß auch, aber sie mühten sich, gerecht zu sein, und ein strenger und gleichzeitig gerechter Lehrer wird immer mit seinen Schülern gut auskommen. Es gab andere, von bestem Willen beseelt, zweifellos, aber von erstaunlich geringem pädagogischem Talent – ein bißchen versponnen, ein wenig hilflos, wurden sie oft genug die Opfer unserer kindlichen Streiche, denn die Jugend ist ja immer grausam, und besonders dort, wo sie sich ihrem Feind – und in einem gewissen Alter empfindet man jeden Erwachsenen und vor allem jeden Lehrer als Feind, der einen mit seiner Moral, seinem drohend erhobenen Zeigefinger, seinen guten Lehren die Daseinsfreude verkümmern will – überlegen glaubt. Überlegen durch ihre Masse und durch ihre Einheit. Nicht sie haben uns, sondern wir haben sie gequält, aber tief im Herzen liebten wir sie auch. Vielleicht freilich nur deshalb, weil sie sich quälen ließen.

In diese Gemeinschaft angeblich wißbegieriger Jungens aufgenommen – ach, mit unserer Wißbegier war es schlecht bestellt, fürchte ich –, einer unter fast vierhundert Schülern, einer unter mehr als dreißig Klassengefährten, warf ich ab, was kindlich war. Sah ich nur noch mit Verachtung auf jene kleinen Jungen herab, die noch in die Vorschule gingen und also noch ausgeschlossen waren von den höheren Weihen gymnasialer Bildung. Sie mühten sich noch hart mit Rechtschreibung, Nacherzählen und einfachsten Rechenaufgaben, ich aber lernte bereits französisch, ich konnte schon la petite souris deklinieren, und statt Naturkunde trieb ich Botanik und Zoologie, was doch bestimmt etwas ganz anderes war.

Seltsamer Weise wurde mein Vater das erste Opfer meines Übergangs auf die höhere Schule. Mir selbst wurde dieser Wechsel nicht allzu sehr bewußt, in der ersten Zeit, er bewirkte nicht halbwegs jene Aufregung, mit der ich drei Jahre vorher meinen ersten Schulweg überhaupt, noch von der mütterlich-tröstenden Hand geführt, angetreten hatte. Es war eben nur ein Übergang aus einer Gemeinschaft in die andere, und die neuen Gefährten, die neue Umgebung machten ihn mir leicht.

Fröhlich und unbeschwert also verließ ich am ersten Schultag nach den Osterferien das Schulgebäude, in meinem Tornister eine lange Liste, auf der alle jene Bücher aufgeführt waren, die ich während des eben beginnenden Schuljahres benötigen würde. Mein Vater, an die Fabrik gebunden, hatte sich nicht frei machen können, und so ging meine Mutter mit mir aus, um zu kaufen, was leider Gottes gekauft werden mußte. Es war ein schöner Stapel Bücher, und als mein Vater am frühen Abend nach Hause kam, da fand er ihn schon, säuberlich aufgebaut und jedes einzelne Buch vorsorglich in schwarzes Glanzpapier gebunden, auf seinem Schreibtisch vor.

»Die waren aber schön teuer!« schrie ich ihm fast triumphierend entgegen. Alsbald umwölkte sich seine Stirn, und als er einen Blick auf den Kassenzettel warf, sah er so sorgenvoll aus, daß er mir fast leid tat.

»Das hätte ich nicht gedacht«, sagte er leise und bekümmert, »daß die Bücher so viel Geld kosten würden.«

Aber gleich fing er sich wieder – es hatte ja auch keinen Zweck, sich gegen etwas Unabänderliches zu sträuben. Und außerdem: diese sauberen, blitzblanken Bücher waren verführerisch, denn gleich vielen anderen Menschen konnte mein Vater Gedrucktes nicht einfach weglegen, es übte auf ihn immer, wenn es ihm in die Hände fiel, einen unwiderstehlichen Zauber aus.

Er saß also, kaum daß er sein Abendbrot gegessen hatte, vor dem hellen, heiteren birkenen Schreibtisch und begann, die Bücher, eines nach dem andern, langsam, hingegeben, ja fast andächtig durchzublättern.

»Ich will doch wissen, was man erworben hat, für all das viele Geld«, sagte er fast entschuldigend zu meiner Mutter, die, über eine Flickarbeit gebeugt, in der Sofaecke saß. »Und auch, was nun der Junge wird lernen müssen in diesem Schuljahr.«

Das dicke, stattliche Lesebuch hatte es ihm besonders angetan. »Hopf und Paulsieck?« brummte er vor sich hin. »Weißt du, unseres hieß anders, der Kinderfreund, glaube ich, oder so ähnlich. Aber wenn ich es recht bedenke, ist dieses hier fast netter, so hübsch groß und sauber gedruckt, es fehlen eigentlich nur noch Bilder zu den einzelnen Geschichten, dann wäre es wunderbar. Ich halte viel von Illustrationen, wenn sie gut sind, heißt es, sie prägen sich so besonders gut ein, und Zeichnungen wie die von Ludwig Richter und Moritz von Schwind, die werde ich niemals vergessen.«

Er lächelte nun schon ein wenig, das viele Geld, das er hatte hergeben müssen, jetzt quälte es ihn nicht mehr, er hatte sich bereits damit abgefunden. Es waren meine Bücher, natürlich, für mich waren sie bestimmt. Doch er tat ganz so, als habe er sie für sich gekauft, als habe er sich selbst damit beschenkt. Und ich wurde schon richtig ein bißchen ungeduldig und böse – allzu gern hätte ich sie mir selbst noch einmal genauer angeguckt, doch wagte ich nicht, diesen Wunsch laut werden zu lassen.

Ein paar Gedichte fielen ihm auf, die hatte er selbst einmal lernen müssen, als Junge, so »Muttersprache, Mutterlaut«, und auch »Das Riesenspielzeug« von Chamisso. »Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor«, zitierte er auch gleich mit schönem Pathos und sah mich stolz an und protzte so ein bißchen vor seinem Sprößling mit seinem Wissen und seinem guten Gedächtnis.

Das Gesangbuch, das er nun entblätterte, interessierte ihn nicht sehr, er sang gern und sang sehr schön, er hatte eine wundervolle tiefe Stimme, einen herrlichen Baß. Aber was er sang, das stand nicht in solchen Gesangbüchern, weder Flotows Martha noch »Auch ich war ein Jüngling in lockigem Haar« noch schließlich »Mein Herr Marquis …«. Von den Schlagern jener Zeit, etwa »Auf der grünen Wiese hab' ich sie gefragt: ›Liebst du mich, Luise?‹ ›Ja‹, hat sie gesagt« gar nicht erst zu reden. Und außerdem kannte er die Noten kaum, bei ihm war alles natürlich, Gehör, innere Musikalität.

Das Geographiebuch reizte ihn offenbar schon mehr. Sehr gefesselt las er gleich das erste Kapitel, das auch ich schon am Nachmittag durchflogen hatte, über die Himmelsrichtungen und die Möglichkeit, sich im Freien zu orientieren. Mit dem Kompaß, mit der Uhr, nach den Sternen, nach der Art, wie die Baumstämme im Walde bemoost sind.

»Das alles habe ich einmal ganz genau gewußt«, sagte er und schaute mich streng an, als erwarte er, bei mir einen Zweifel aufkommen zu sehen. Dabei war ich damals noch durchaus davon überzeugt, daß er, wenn nicht alles, so doch ungeheuer viel mehr wußte als irgendein anderer Mensch aus unserm Bekanntenkreis.

Das Lehrbuch für Botanik nannte er etwas trocken, und das Lehrbuch der französischen Sprache für Anfänger legte er so schnell aus der Hand, als fürchte er, sich daran zu verbrennen. Und dann kam, als letztes, das Rechenbuch. Er durchforschte es mit tiefen Falten in der Stirn. »Komisch«, sagte er endlich, sich zu meiner Mutter wendend, »was man da für seltsame Aufgaben hat. Nicht bloß so gewöhnliche Multiplikationen und Divisionen, sondern andere, die man offenbar aus dem wirklichen Leben genommen hat. Sehr schön, sehr schön und lehrsam. Aber da ist sogar ein Etat, ein richtiger Etat der Stadt Rheydt – kannst du dir denken, daß ein Neunjähriger etwas von einem solchen Etat versteht?«

Nein, meine Mutter konnte sich das nicht denken. Unumwunden gab sie zu, daß sie selbst auch nichts davon verstehe und nicht einmal wisse, was ein Etat sei. Ich wußte es auch nicht, aber ich bewunderte sie wegen ihrer Aufrichtigkeit.

Mit einem kleinen Schauer wandte sich mein Vater mir zu. »Na«, sagte er, »dann nimm dir die Bücher und halte sie sauber und lerne fleißig – denk immer dran, daß es für mich ein Opfer bedeutet, dich auf die höhere Schule zu schicken, dich und euch alle. Das ist nicht so leicht.«

Er erhob sich, streckte sich, gähnte ein bißchen und ging hinüber in sein Schlafzimmer. Er war weidlich müde nach einem langen, harten Arbeitstag.

Mitten in der Nacht wachte ich denn plötzlich auf. Jemand hatte geschrien, ganz laut, und ich wußte gleich, daß es mein Vater war, und ich erschrak sehr.

»Mein Gott«, dachte ich, »was ist ihm? Ob er plötzlich krank geworden ist?«

Meine Mutter war natürlich auch aufgewacht. Durch die angelehnte Kammertür hörte ich beide miteinander sprechen. Wir hatten damals ja noch nicht unser eigenes Haus und in unserer kleinen Stadtwohnung war ich manchmal Ohrenzeuge von Unterhaltungen, die nicht für mich bestimmt waren.

»Was hast du denn?« hörten ich meine Mutter aufgeregt fragen.

»Ach«, sagte mein Vater, und wenn er auch nur langsam, zögernd sprach, es war doch nicht die Stimme eines Schwerkranken, und das beruhigte mich sehr. »Weißt du, ich habe so schrecklich geträumt. Ich habe geträumt, ich wäre wieder selbst ein kleiner Bengel, so wie unser Junge es jetzt ist, und ich säße in seiner Klasse, in der Sexta. Wir hatten eine Klassenarbeit zu schreiben, Rechnen, jawohl, und eine schlimme Aufgabe. Ich habe sie … ja, wart' mal, ich habe sie ganz genau behalten, obwohl es doch nur ein Traum war. Es ging … ja, also da war angegeben, wieviel Gaslampen Berlin hat, und wieviel Liter Gas eine Lampe stündlich verbraucht, und daß jede Lampe täglich durchschnittlich sechs Stunden brennt. So ungefähr war es, und wir sollten ausrechnen, wieviel Kubikmeter im Jahr verbrannt werden, wie teuer die Straßenbeleuchtung Berlins ist und wieviel jeder Einwohner dafür aufwenden muß. Na, und so weiter. Ich habe mich sehr damit abgequält, aber ich bekam es nicht heraus. Und dann kam der Lehrer, ein großer Mann mit einem schwarzen Spitzbart, langsam auf mich zu, er nahm das Heft und sah an, was ich da hingekritzelt hatte, seine Augen wurden ganz böse. ›Du, mein Junge‹, sagte er, ›wirst das Ziel dieser Klasse nie erreichen.‹ Woraufhin er das Heft hochhob, als wollte er es mir um die Ohren schlagen. Da muß ich wohl geschrien haben, vor Angst, und von diesem Schreien wachte ich auf. Ich denke, der ganze Traum ist nur gekommen, weil ich vorhin, vor dem Einschlafen, mir die neuen Schulbücher so genau beguckt habe.«

»Und ich«, sagte da meine Mutter nach einer kleinen Pause, » ich glaube, du hast wieder mal zu viel Käse gegessen zu Abend. Das ist so schwer verdaulich, und davon kommen dann diese dummen Träume.«

Und damit legte sie sich auf die andere Seite, und die Unterhaltung war für diese Nacht beendet.

Ich wunderte mich sehr über diesen Traum, und ich wunderte mich noch mehr darüber, daß mein Vater eine solche Aufgabe bis in alle Einzelheiten geträumt haben konnte. Doch fand ich am nächsten Tage beim Durchblättern des Rechenbuches die gleiche Aufgabe darin abgedruckt, und nun kam mir das Ganze längst nicht mehr so geheimnisvoll und wunderbar vor.

Aber Jahre danach hatte ich ein Erlebnis, das mich an diesen belanglosen Vorgang erinnerte. Ich saß damals schon in der Untersekunda, wir standen dicht vor dem »Einjährigen«, also vor der Versetzung nach Obersekunda, und jeder neue Tag brachte irgendeine neue Klassenarbeit. Auch in Mathematik, und als ich an einem frühen Morgen vor meinem Heft saß, ziemlich verzagt, und die Aufgabe betrachtete, die man uns eben diktiert hatte, überfiel es mich mit einem Male: »Die kennst du doch? Genau diese Aufgabe hast du doch eben erst, vor ganz kurzer Zeit, gelöst, und richtig gelöst?«

Aber: vor ganz kurzer Zeit? Es war die erste Stunde am Morgen, und dann – ja, nun mit einem Male wußte ich es ganz genau: ich hatte in der vorvergangenen Nacht die Aufgabe im Traume gelöst. Und ich brauchte jetzt nur die Augen fest zuzumachen, dann sah ich die im Traum niedergeschriebene Lösung vor mir, ich hatte nichts anderes nötig, als sie Zeile für Zeile genau und äußerst gewissenhaft abzuschreiben.

Das tat ich denn auch, und ich erntete großen Ruhm, weil ich der einzige in der Klasse war, der gerade diese Aufgabe fehlerlos gelöst hatte. Ich wurde rot, als das verkündet wurde, ich hörte mein Lob mit etwas schlechtem Gewissen an, denn eigentlich, so kam es mir vor, hatte ich nichts getan, um zu verdienen.

Aber vielleicht gab es auch hier eine sehr einfache und sehr natürliche Erklärung. Vielleicht hatte ich diese Aufgabe doch vor langer Zeit schon einmal gelöst, und das war mir nun plötzlich wieder gegenwärtig geworden.

Ich wußte das nicht und weiß es auch heute nicht. Aber viele Dinge, die uns geheimnisvoll und wunderbar vorkommen, erklären sich oft ganz einfach. Durch ein Stückchen Käse, das man zuviel gegessen hat, oder auf andere Art.

An dem langen, vielgekrümmten Weg, der durch das Schülerleben führte – das gewißlich kein Paradies für mich war, aber auch niemals eine Hölle oder auch nur ein Fegefeuer –, an diesem Weg gab es einige bunte Meilensteine. Ein paar Geschehnisse, die mich besonders anrührten, und die ich nicht zu vergessen vermochte.

Sie hingen nicht mit dem zusammen, was ich lernte, was man mir an Wissen und an Kenntnis vermittelte. Die Saat, die ein Lehrer ausstreut, keimt und wächst langsam, und sehr viel später erst ergibt es sich, ob und welche Früchte sie trägt. Es ist ja für den werdenden Menschen auch nicht das Entscheidende, ob er seine französischen Vokabeln fleißig, gewissenhaft und schnell lernt, oder ob er mühelos einen komplizierteren mathematischen Beweis liefern kann. Neun lange Jahre bemüht man sich, Kenntnisse anzusammeln, auf vielen Gebieten, und man hat dann, später, je nach der Länge, Dauer Und Art seines Lebens, viel damit zu tun, das Unnötige, das Unwichtige und Gleichgültige wieder Stück für Stück über Bord zu werfen, die Fracht seines Lebensschiffleins auszutauschen, das Belanglose herzugeben, um das Wünschenswerte zu erlangen. Entscheidend also ist die innere Einstellung, die einem die Schule vermittelt, die Moral, die wir unsern Lehrern verdanken.

Aber darüber denkt man als Schüler, als Kind oder Halbwüchsiger, kaum jemals nach. Und was für mich – und wohl für alle meine Kameraden – sich darbot wie grüne Oasen in der Dürre des alltäglichen Schulablaufs, das waren nicht die dicht aufeinander folgenden Stunden mit ihren einzelnen Aufgaben und Gefahren, nicht die Sorge wegen einer verhauenen oder die Freude wegen einer gut zensierten Arbeit, sondern jene Vorkommnisse, die als sogenannte Dummejungenstreiche im Letzten das Salz des ganzen Schullebens bildeten.

Wir waren eine besonders fröhliche und übermütige, von strotzender Daseinsfreude erfüllte Klasse; es war kaum einer unter uns, der sich als kalter und nackter Streber aus der Gemeinschaft, zu der wir zusammenwuchsen, ausschloß. Vielleicht lag es im Ratschluß einer unbekannten Macht, uns dieses unser Jungsein besonders leidenschaftlich genießen zu lassen, weil vielen, allzu vielen der spätere Weltkrieg die Möglichkeit nehmen würde, auch des Lebens andere Stationen geruhsam zu durchlaufen, weil sie ausgelöscht werden würden von dem großen, blutigen Geschehen, ehe ihnen die Süße der Reife zufallen konnte. Natürlich wußte keiner und ahnte keiner, welches Schicksal ihm bevorstand, niemand trug das Signum eines allzu frühen Todes auf der Stirn. Doch lebten wir so bewußt und so beglückt, als wäre jeder unserer Tage der letzte, und wir müßten ihn voll auskosten.

Wir haben viele Dummheiten gemacht – ich fürchte, wir waren verschrien als eine Klasse, die zu allerhand gemeinsamen Streichen aufgelegt war, als eine alberne und dem sogenannten »Ernst des Lebens« allzu ferne Klasse. Daß unsere Streiche, unsere Gemeinschaftsleistungen, kaum je den Charakter von Bosheiten oder gar Gemeinheiten annahmen, sprach für den Geist, der unter uns herrschte. Sprach aber mehr noch für die Lehrer, die sich mit uns befaßten. Sie waren – nach unsern damaligen Begriffen – zumeist ziemlich alt, die Jungen waren jedenfalls sehr in der Minderzahl, nur selten wurden wir einem Probekandidaten anvertraut. Doch so knurrig, so kauzig manch einer auch sein mochte, alle hatten das verstehende Wissen, jene Weisheit des Herzens, die sie unsere Streiche als das bewerten und beurteilen ließ, was sie waren.

Da war einer unter uns, Karsten hieß er und sein Vater war Organist an einer der alten Danziger Kirchen, Organist und Gesanglehrer an dem Städtischen, dem Humanistischen Gymnasium. Er wurde mit mir zugleich in die Sexta aufgenommen, lang war er und dürr und hatte eine feine, mädchenhaft helle Stimme. »Lesen!« befahl der Französisch-Lehrer – damals hießen sie alle »Professor«, die Amtsbezeichnung »Studienrat« kam erst sehr viel später auf. Und Karsten las: »Une petite souris voulait quitter la cave obscure, ou elle était avec sa mère …«

»Lauter!« sagte der Professor und hielt die rechte Hand hinter die Ohrmuschel. Karsten las zum zweiten Mal, mit erhobener Stimme. »Lauter!« hieß es wieder. Karsten schrie. »Sitzen!« befahl unser Lehrer. »Gelernt hast du ja, aber du mußt viel, viel lauter sprechen. Oder glaubst du, wenn du nur flüsterst, dann höre ich die Fehler nicht, die du machst?« Nein, das glaubte Karsten nicht. Und er bemühte sich, den Ansprüchen unseres Lehrers gerecht zu werden. Doch war der nicht leicht zu befriedigen, und wenn er Karsten sagte, dann sagte er auch gleich im selben Atemzuge »Lauter«, noch ehe Karsten seinen Mund aufgetan hatte. Mit dem Ergebnis, daß Karsten nun in jeder Stunde, nicht nur im Französischen, sobald er aufgerufen wurde, schrie, als stäke er am Spieß. Mit dem weiteren Ergebnis, daß, Jahre danach, als wir zur Entlassung kamen, unser Direktor auf dem Abiturientenkommers zu ihm sagte: »Was Sie anbelangt, Karsten, so warne ich Sie davor, zu denken, Sie könnten sich allein durch die Stärke Ihrer Stimme im Leben durchsetzen. Merken Sie sich: Wer schreit, hat meistens Unrecht, und es ist immer das Leise und Unaufdringliche, was sich zum Schluß leise und unaufdringlich durchsetzt. Sie waren immer ein anständiger Kerl und fleißiger Schüler, Karsten, alles was recht ist. Und trotzdem sehen wir Sie nicht ungern scheiden – Sie haben manchmal harte Zumutungen an unser Trommelfell gestellt. Und wir alle …«

»Mit Ausnahme von Herrn Professor Freudenthal«, wagte Karsten mit einem bescheidenen Lächeln zu unterbrechen. Professor Freudenthal, das war eben jener Französisch-Lehrer.

Unser Direktor zog staunend die Augenbrauen hoch.

»Herr Professor Freudenthal«, sagte er, »hat sich besonders darüber beklagt, daß Sie immer so brüllen, als meinten Sie, das gesamte Lehrerkollegium wäre taub.«

Karsten, mit seinem roten Abiturientenstürmer auf dem schmalen, langschädeligen Kopf, blickte sich um, als wäre er plötzlicher Geistesverwirrung verfallen. Er verstand die Welt nicht mehr.

Ein paar Jahre vorher freilich – wir mögen damals die Bänke der Untersekunda gedrückt haben – hatte er bewirkt, daß die Herren Lehrer die Welt nicht mehr verstanden. Oder wenigstens vorübergehend nicht verstanden.

Er war sehr musikalisch, das war bei ihm, als Sohn eines Organisten, sozusagen erbliche Belastung. Und er kannte nicht nur die Noten, sondern er verstand auch Bau und Technik der meisten Musikinstrumente. An einem Freitagnachmittag nun hatte er sich heimlich, nach einer Unterrichtsstunde, in die Aula geschlichen, mit zwei oder drei handwerklich geschickten Kameraden, und an dem dort stehenden Harmonium die einzelnen Stimmen und Register säuberlich ausgetauscht. Am Sonnabend früh strömten wir alle, Sexta bis Prima, vor Beginn der ersten Stunde in die Aula hinunter, zur Morgenandacht. Die Abhaltung der Andacht fiel abwechselnd einem der Lehrer zu, und »Wir singen zur Einleitung Strophe eins, zwei und vier von ›O daß ich tausend Zungen hätte‹« verkündete unser Mathematiker mit seiner trockenen, brüchigen Stimme.

Unser Gesanglehrer saß schon am Harmonium, nun traten seine Füße die Pedale, seine Hände glitten über die Tasten. Das Ergebnis war eine gräßliche, ohrenbeleidigende Kakophonie.

Eine Welle von Unruhe, Füßescharren, Geflüster und Gelächter ging durch die mehr als dreihundert angeblich andächtig dasitzenden Schüler. Mit blassem Gesicht sprang unser Direktor auf, näherte sich dem Spielenden. Sicher glaubte er, daß der Gesanglehrer betrunken war.

Der wischte sich die schweißnasse Stirn. »Ich weiß nicht, was mit dem Ding los ist«, stammelte er und wies mit einer hilflosen Bewegung auf das aufsässige Instrument.

»So?« fragte unser Direktor, und in seiner Stimme grollte schon der nahende Donner. »Merkwürdig! Sie wissen das nicht?«

»Wenn ich einmal versuchen darf«, bat darauf ein junger Kandidat, der sich damals an unserer Schule die Sporen verdienen sollte und von dem die Sage ging, daß er ungewöhnlich musikalisch sei.

»Ja«, nickte unser Direktor, und ein Stirnrunzeln scheuchte den unglücklichen Gesanglehrer von seinem angestammten Platz. Mit hängenden Schultern, ein wahrhaft erbarmungswürdiger Anblick, stellte er sich neben dem Kandidaten auf.

»Also, Jungs«, sagte der, auf unsere endlosen Reihen herunterblickend, und ein schönes Siegesbewußtsein strahlte aus seinen unschuldigen blauen Augen, »nun wollen wir singen. Zunächst das Vorspiel …«

Aber kaum hatte er die ersten Tasten gegriffen, als er mit einem wahren Wehelaut hochfuhr, so als hätte ihn jemand von unten her mit einer spitzen Nadel durch den Stuhlsitz hindurch gepiekt.

Mit dem Singen an diesem Vormittag wurde es nichts. Und unser Mathematiker hatte Mühe, sein Sprüchlein einigermaßen zusammenhängend herzusagen, eine allgemeine Aufregung und Verwirrung hatte unter Lehrern und Schülern Platz gegriffen.

Es wurde dann sofort eine bekannte Danziger Instrumentenfabrik unterrichtet, sie möge einen sachkundigen Mann am nächsten Tag – dem Sonntag also – hinschicken und das Harmonium einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Damit ja am Montag zu der Andacht bei Wochenbeginn alles wieder in Ordnung sei.

Der Mann kam auch, aber er fand nichts zu tun. Denn lange vor ihm hatte Karsten schon zum zweiten Mal sich in die leere Aula geschlichen und mit seinen Komplizen alles wieder aufs beste in Ordnung gebracht.

Ich weiß nicht, was sich unser Direktor dachte, als die Firma ihm mitteilen ließ, das Instrument weise keine Mängel und Störungen auf. Sicher ist nur, daß er seitdem und lange Zeit danach sowohl unsern Gesanglehrer als auch den unglücklichen Probekandidaten stets mit mißtrauischen Blicken betrachtete und manchmal sich dicht an die beiden heranschob, als hege er den Verdacht, die beiden könnten wiederum heimlich dem Alkohol zugesprochen haben – denn für ihn gab es keine andere Erklärung jenes merkwürdigen Geschehnisses.

Unsern größten und wahrlich unvergeßlichen Triumph aber erlebten wir einige Zeit später. Einen Triumph, auf den wir um so stolzer waren, weil wir es fertig gebracht hatten, dem lieben Gott selbst ins Handwerk zu pfuschen, aus dem Nichts heraus einen Menschen zu schaffen – eine Leistung, auf die sogar der selige Doktor Faust mit seinem fragwürdigen Homunculus hätte neidisch werden müssen.

Einer von uns, der besonders einfallsreich war, fertigte in den Weihnachtsferien eine lebensgroße Puppe – das Gesicht natürlich nur ganz roh angedeutet – und baute sie in der ersten Lateinstunde zu Beginn des letzten Quartals auf dem zufällig leeren Platz neben sich, in der hintersten Bankreihe, auf.

Wir hatten damals als Lateinlehrer einen alten, weißlockigen Herrn, der aussah wie der große Komponist Liszt und vergeßlich war wie die Witzblattprofessoren, ziemlich kurzsichtig und etwas schwerhörig. Er war Junggeselle, und eine alte Haushälterin sorgte, wie er behauptete, gut für sein leibliches Wohlergehen, jedoch offensichtlich schlecht für seinen äußeren Menschen. Daß er mit zwei verschiedenfarbigen Socken in der Klasse auftauchte, daß er meist mit nur halb zugeknöpfter Weste herumlief und oft genug wohl seinen Kragen umgebunden, aber den dazu gehörigen Schlips zu Hause gelassen hatte, daran waren wir alle seit langem gewöhnt. Daß er für die mancherlei kleinen Streiche, die wir ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit spielten, Trost suchte und fand in dem von ihm sehr verehrten Livius und vor allem in den Oden des Horaz, rechneten wir ihm als Verdienst an. Aber es hielt uns nicht ab, seine oft rührende Hilflosigkeit gegenüber einem Schwarm von zwanzig und mehr wilden und aufsässigen Jungens weidlich und immer wieder auszunutzen.

Der Professor hatte kaum den Klassenraum betreten, als unser Kamerad aufstand und mit todernstem Gesicht verkündete:

»Herr Professor – wir haben einen neuen Schüler!«

Er wies dabei auf die neben ihm sitzende Figur.

»So, so«, sagte unser biederer Lateiner. »Stehen Sie mal auf.«

Unser Kamerad, ich glaube, Neubert war sein Name, hob die Figur in die Höhe. Der Professor tat, als ob er den Neuen mit seinen Blicken durchbohre. Wir aber wußten, und nur zu gut, daß er von seinem Katheder aus ihn nur als einen verschwommenen Schatten wahrnahm. »Wie heißen Sie?« fragte er. Er war mit uns übereingekommen, daß wegen seiner argen Schwerhörigkeit die Antworten derjenigen, die sich nicht an lautes Schreien gewöhnen konnten, von einem Nachbarn oder einem Dritten mit durchdringenderem Organ verdeutlicht wurden.

»Er sagt, er heißt Benno Wiederanders«, schrie Neubert, schmetterte die Antwort förmlich in die Klasse hinein.

»Und wo sind Sie geboren?« wollte der Professor wissen.

»Er sagt, er ist in Halle geboren!« lautete die Antwort Neuberts. Unser Professor machte sich seine Notizen.

»Gut – Sie können sich setzen«, sagte er schließlich. Neubert drückte die Figur wieder auf ihren Platz zurück. Setzte sich dann gleichfalls … Ein volles Vierteljahr haben wir diesen künstlichen Schüler durch alle Lateinstunden mitgeschleppt. Wenn es mal ein bißchen gefährlich war, ließen wir ihn krank werden und verbargen ihn in einem kleinen Verschlag, wie es deren viele gab in dem alten Klostergemäuer. Er bekam ein besonderes Heft, in dem alle Arbeiten mit verstellter Handschrift niedergeschrieben wurden, und mordsmäßig schlecht fielen sie meist aus, so daß der Professor mit diesem »Neuen« seine liebe Not hatte.

Endlich kam die Versetzungskonferenz. Einer von uns war der Sohn des Mathematikers, und von ihm haben wir später einiges darüber gehört, wie es auf dieser Konferenz zuging.

Man war schon fast zu Ende, als unser Lateiner sich erhob und in edler Entrüstung, unter reichlicher Verwendung lateinischer Zitate, verkündete:

»Wir haben wohl bisher ganz vergessen, über den zu Weihnachten in die Obersekunda aufgenommenen neuen Schüler Benno Wiederanders unser Urteil zu fällen. Und da muß ich doch sagen, daß ich seit langer Zeit keinen so trägen und kenntnisarmen Schüler gehabt habe. Außerdem ist es offenbar mit seiner Gesundheit nicht zu best bestellt, sonst könnte er nicht so häufig krank sein. Jedenfalls kann ich dem Wiederanders in Latein nur die Note Ungenügend geben, und ich will mich freuen, wenn das Urteil der Herren Kollegen, was die andern Schulfächer anbelangt, günstiger ausfällt, und sie mit diesem jungen Mann bessere Erfahrungen gemacht haben.«

Die Lehrer sahen einander erstaunt an. Dieser Benno Wiederanders war für sie wirklich ein ganz »Neuer«, sie hatten noch nichts von ihm gehört.

Es folgte eine peinliche Stille.

Dann nahm unser Direktor den unglücklichen Professor in sein Zimmer, und es verlautete, er habe ihm aus diesem Anlaß erstmalig nahegelegt, ein Gesuch auf Versetzung in den Ruhestand einzureichen.

Prost!

Es ging eine dunkle Sage bei uns, mein Vater wäre einmal, vor langer, langer Zeit, sehr krank gewesen. Es wäre auf Leben und Sterben gegangen, und als er nachher das Schlimmste überstanden hätte, da wäre er so schwach geworden, daß man noch lange um ihn habe besorgt sein müssen.

»Er hat schon damals für ein paar Wochen in Oliva gewohnt!« pflegte meine Mutter zu erzählen. »Im Schloß. Das ja auch ein Königliches Schloß ist, ganz wie die Fabrik eine Königliche Gewehrfabrik. Dort bekam er ein Stübchen und Verpflegung und das alles, dort durfte er in dem großen, wundervollen Park spazieren gehen, so oft und so lange er es wollte, und ihr könnt euch nicht denken, wie gut es ihm getan hat. Wo ihn doch die Ärzte vordem schon fast aufgegeben hatten, wo sie mir vertraulich gesagt hatten, ich müsse, selbst wenn er diesmal durchkommen sollte, mit seinem frühzeitigen Ableben rechnen. Er habe es mit dem Herzen, ein organischer Fehler, demgegenüber alle Kunst der Ärzte versagen müsse.«

Nun, zu dem frühzeitigen Ableben kam es nicht. Damals nicht und überhaupt nicht. Mein Vater wurde achtzig Jahre alt, und er starb ein paar Wochen nach seinem achtzigsten Geburtstag an Angina pectoris, an jener selben Krankheit, an der er nach dem Urteil der Medizinmänner schon mehr als vierzig Jahre vorher hätte sterben müssen, wenn alles nach der Regel gegangen wäre. Aber es ging eben nicht nach der Regel, und ich habe meinen Vater immer in dem Verdacht gehabt, daß er sich einfach vorgenommen hatte, den Ärzten ein Schnippchen zu schlagen, und daß es sein besonderer Triumph war, diesen Vorsatz so vollkommen in die Tat umsetzen zu können.

Er selbst sprach nie von jener so lange zurückliegenden und so ernsten Erkrankung. Nicht einmal von der späteren Erholungszeit im Schloß, obwohl er sicher sehr stolz darauf gewesen war, ein paar Wochen oder gar Monate als seine Briefanschrift angeben zu können: »Königliches Schloß, Oliva«. Das war doch etwas, womit er alle Möglichkeiten seiner Kollegen, Freunde und Bekannten weit in den Schatten stellte.

Er haßte alles, was mit Krankheit zusammenhing, er nahm bei sich selbst darauf keine Rücksicht, und bei den Seinen ebenso wenig. Wurde einer wirklich krank, so machte er sich deswegen wohl Sorgen, aber gleichzeitig empfand er das auch als eine Art persönlicher Beleidigung. Und jeder Entschuldigungszettel, den zu schreiben er je einmal gezwungen war, verursachte immer viele, verächtliche Anmerkungen über unsere Hinfälligkeit, über unsere Bereitschaft, bei der geringsten Gelegenheit »aus den Pantinen zu kippen«, wie er sich ausdrückte. Oder aber er unterstellte – wobei er freilich oft genug der Wahrheit sehr nahe kam –, daß ich faul sei, mindestens mich nicht richtig für die Schule vorbereitet habe.

Er mochte gut so daherreden – ihm konnten offenbar weder Wind noch Wetter etwas anhaben. Es mochten Schlossen vom Himmel fallen, ihn bekümmerte das nicht, er ging, nach der Heimkehr vom Dienst, hinaus in den Garten und werkte unverdrossen zwischen seinen Bäumen und Büschen und Saaten herum. Keine Kälte, kein Schnee, kein stiebender Wind hielten ihn im Hause zurück, und das einzige, was er scheute, war die brennende Sonne des Hochsommers. Dann trug er draußen einen ungeheuren, breitrandigen Strohhut, keinen Panama natürlich, er war alles andere als ein Snob, und im Garten sah er oft genug aus wie ein abgerissener Vagabund und herumstrolchender arbeitsloser Handwerksgeselle. Es war ein Hut aus derbem, grobem Stroh, der sich mit der Zeit aus einem fröhlichen Gelb zu einem rostigen Braun verfärbte, der ihm aber immer Jahre hindurch dienen mußte, bis er schließlich sich in seine Bestandteile auflöste und nun wohl oder übel gegen ein neues Stück vertauscht werden mußte.

Trotzdem wurde er, all seiner eisernen Gesundheit zum Trotz, einmal krank, und gerade weil niemand von uns auf ein solches Ereignis auch nur im geringsten gefaßt war, traf es uns wie ein Schicksalsschlag.

An irgendeinem Tage, als ich lärmend und lebhaft wie meist nach Hause kam, erst einmal einen kleinen Erkundungslauf durch den Garten gemacht hatte und dann von der Küchenseite aus das Haus betrat, legte das Mädchen, das seit langem meiner kränkelnden Mutter an die Hand gehen mußte, den Finger warnend auf den Mund. »Psst …«, machte sie, und als ich, mehr überrascht als erschreckt, fragte, was denn los sei, erfuhr ich, daß mein Vater krank wäre und in seinem Zimmer läge.

»Auch der Arzt ist schon gekommen«, sagte sie noch. »Aber was ihm eigentlich fehlt, das weiß ich nicht. Geh nur hinauf in dein Zimmer und sei möglichst still, mach keinen Krach, wie du es sonst tust – wir werden eben etwas später essen, heute.«

Ich ging auf Zehenspitzen die Treppe hinauf – da war nun mein Zimmer, mein Reich, ich fand sonst dort immer genug zu tun und zu schaffen, und wenn mir gerade einmal gar nichts einfiel, dann konnte ich ja lesen.

Doch heute – wie konnte ich lesen in einem solchen Augenblick? Wie konnte ich dazu die Ruhe finden, wenn alles so ganz anders war als gewöhnlich, wenn es sogar schon im Treppenhaus nach Medikamenten roch? Ich dröselte ein wenig im Zimmer und auf der Treppe herum, bis mir plötzlich ein Einfall kam.

»Wenn alle so beschäftigt sind, das Mädchen und wohl auch meine Mutter«, überlegte ich, »dann könnte ich doch eigentlich …« Und schon zog ich mir die Schuhe aus und schlich auf Strümpfen, um nur ja keinen Krach zu machen, hinunter, schob mich leise durch die nur angelehnte Tür in das elterliche Schlafzimmer.

Die Vorhänge an dem großen, nach der Seeseite gehenden Fenster waren zugezogen, es fiel nur ein mildes und gedämpftes Licht von außen her in den Raum. Dann stand ich dicht vor dem Bett – und da lag nun mein Vater. Tief vergraben in den Kissen war sein plötzlich ganz verfallen wirkendes Gesicht, er atmete ganz leise, kaum hörbar, nur seine Schnurrbartspitzen zitterten ein wenig bei jedem Atemzug. Die Hände hatte er auf der Bettdecke gefaltet und – einen Augenblick durchfuhr mich ein kalter Schreck – sah aus, als wäre er tot.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie das wäre, dieses: tot sein. Und wie es mit uns werden würde, wenn mein Vater nicht mehr gesund werden sollte. Es waren bedrückende Gedanken, und etwas Feuchtes, Heißes schoß mir in die Augen, drückte mir die Kehle zu. Ich konnte meine Augen nicht von dem Gesicht des Kranken wenden, diesem so gelblich, so spitzig gewordenen und mich plötzlich fast fremd anmutenden Gesicht.

Behutsam ließ ich mich am Rande des Bettes nieder. Fuhr auch einmal leise und sehr scheu mit der Rechten über die gefalteten, heißen Hände des Kranken. Immer bangend, er könnte vielleicht aufwachen aus seinem leichten Schlummer, der ihm doch gewiß not war und ihm, vielleicht, die erhoffte Heilung bringen würde.

Aber ich war ein Kind, und man wird verstehen, daß ich nicht sehr lange in dieser Art dazusitzen vermochte. Meine neugierigen Jungensaugen gingen auf die Wanderschaft, da lagen ein paar Röhren mit Tabletten auf dem Nachttisch, ich kostete von der einen, die lose auf einem Tellerchen lag, behutsam berührte ich sie mit der Zungenspitze. »Brr« machte ich, sie schmeckte sehr bitter und war alles andere als ein Genuß.

Aber dann sah ich eine große Flasche, die mir einen besseren Inhalt zu bergen schien. »Alter Portwein« stand auf dem Etikett, und als ich vorsichtig den Korken abhob – die Flasche war noch zu gut drei Viertel voll –, strömte mir ein süßer, aromatischer Duft entgegen.

Ich konnte der Verlockung nicht widerstehen. Ich goß ein paar Tropfen in einen der vielen Löffel, die da herumlagen, und als ich kostete, glaubte ich, noch nie etwas derart Schönes geschmeckt zu haben. Dann warf ich einen vorsichtigen, spähenden Blick auf den Kranken. Noch immer lag er unbewegt da, nur wollte es mir scheinen, als hätten sich seine Augen ein wenig geöffnet. Aber das war natürlich ein Irrtum – ich entdeckte es sofort. Die Augen waren fest geschlossen, wie all die Zeit vorher, und, kühner geworden, nahm ich jetzt ein Wasserglas und füllte es randvoll mit dem ölig-funkelnden Wein, stürzte es mit einem Schwung hinunter.

»Prost!« klang es da mit geisterhaft-tiefer Stimme vom Bett her, und als ich entsetzt, kreidebleich und zu Tode erschrocken mich umdrehte, lag da mein Vater, er hatte jetzt die Augen ganz auf und sah mich ruhig an.

Ich wollte irgendeine Entschuldigung stammeln, aber er wehrte mit einer kleinen Handbewegung ab, ja mir schien es sogar, als ob er ein wenig lächelte. Alles, was mich eben noch fremd angemutet hatte in seinem Gesicht, war plötzlich wie fortgewischt.

Er hob ein wenig das Kinn, winkte mich dichter heran.

»Weißt du«, flüsterte er mit einer etwas heiseren, belegten Stimme, »diese Pillen dort, die taugen wirklich nichts. Ich bin da ganz deiner Meinung. Aber der Wein, der ist gut. Gib mir auch ein Glas, ja?«

Ich gab es ihm und wußte dabei nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Dann schob ich mich, weil ich glaubte, er wolle nun wohl wieder allein sein, aus dem Zimmer heraus.

Später, bei dem etwas improvisierten Essen, sagte meine Mutter: »Er sieht jetzt sehr viel besser aus, als noch vor einer oder zwei Stunden. Diese Pillen, die ihm der Doktor verschrieben hat, müssen ihm doch sehr gut getan haben. Ich bin neugierig, was der Arzt morgen sagen wird, er wollte um neun Uhr früh wieder vorsprechen.«

Nun, der gute Onkel Doktor konnte gar nichts sagen. Denn um neun Uhr früh, am nächsten Tage, war mein Vater schon längst wieder in der Fabrik und sein Bett war leer. Und der Arzt wußte nicht recht, sollte er sich freuen, daß der Kranke – durch des Doktors Hilfe doch natürlich! – so schnell wieder gesund geworden war, oder sollte er sich ärgern, weil er ihm doch ein längeres Krankenlager vorausgesagt und größte Schonung empfohlen hatte.

Alle Tiere meiner Jugend

Sommers standen über Nacht die Fenster meines kleinen Stübchens, von dem aus ich einen weiten Blick hatte über die ganze Länge des Gartens und hinüber bis Zoppot, immer groß offen. Im Herbst oder gar im Winter wäre das nicht sehr zweckmäßig gewesen. Denn die Winter hier oben, im Nordosten, waren bitter kalt, und wenn gar ein scharfer Nordost wehte, von der Bucht her, der die See zu schaumgekrönten Wellenbergen aufpeitschte und ihr Brüllen bis in die Tiefe des so frei daliegenden Hauses hörbar machte, dann tat man gut, die Fenster sogar möglichst fest zu schließen. Es kam immer noch genügend, ja zuviel frische Luft hinein, und manchmal froren wir in den gar nicht mehr zu erwärmenden Räumen erbärmlich.

Aber wie es damals noch richtige, ausgewachsene Winter gab, so gab es auch ebensolche Sommer, warme, ja glutheiße Sommer, wo die Sonne oft durch viele, viele Wochen von einem azurblauen, wolkenlosen Himmel auf die dürstende Erde niederstrahlte. Und an den Sonntagen, wenn mich die wartende Schule nicht allzu früh aus den Federn jagte, lag ich gegen Morgen oft in einem süßen, wohltuenden Halbschlaf, mich ab und an behaglich räkelnd, bis ich auf eine ländliche und sehr natürliche Art geweckt wurde.

Ein Hahn krähte, laut, durchdringend, mit einer sehr bewußten, wahrhaft schmetternden Stimme, und machte mich alsbald hellwach. Andere fielen ein in diesen fröhlichen, nicht überhörbaren Morgenruf, Lebensruf – aber der große blaue Andalusier mit seinem herrlichen, stolzen, edel geformten Schweif, der schöner war als die bunte Federschleppe eines Pfauen, der fing immer an. Er war offensichtlich der Anführer unter dem Federvolk, und alle anderen nur seine willigen Trabanten.

Da lag ich denn in meinem schmalen Bett, selig des neuen Tages bewußt, und zwischen dem lärmenden Gekrähe hörte ich, durch das geöffnete Fenster, unten, im Garten hinter der Küche, meinen Vater und meine Mutter sprechen. Ganz leise redeten sie miteinander, murmelten beinahe nur; was sie sagten, das verstand ich im einzelnen natürlich nicht, doch war es schön und wundervoll beruhigend, sie sprechen zu hören. Das zeigte mir, daß die Welt nun wieder in gewohnter Weise weiter ging, daß nach der Nacht ein neuer Tag begann. Und mit ihm das Leben, das liebe, geliebte Leben, das für den Knaben von damals noch alles Glück, alle Möglichkeit und alle Erfüllungen lächelnd bereit hielt.

Fast von dem Augenblick an, da wir unser Haus hatten, wurde ich auf eine neue und bisher nicht gekannte Art in das Leben der Tierwelt einbezogen. Denn da war ja an der Ostseite, der Langseite des Gartens, der Stall, weit hingestreckt unter einem flachen, geteerten Pappdach, durch eine Reihe von Wänden in wohl zehn oder gar zwölf Einzelställe geteilt. Wie eine leere Arche Noah stand er anfänglich da – aber er sollte nicht lange leer bleiben. Von vorn herein hatte es in der Absicht meines Vaters gelegen, sich nicht auf seinen Garten, auf seine Bäume, Blumen und Sträucher zu beschränken. Sein Ziel war sehr viel weiter gespannt, und draußen, außerhalb der Stadt zu wohnen und keine Haustiere zu haben, das hätte ihn irgendwie unbefriedigt gelassen.

Als erstes beschaffte er sich Hühner. Er hätte sie in der nächsten Umgebung kaufen können, Landhühner, Bauernhühner jedenfalls, denn es gab niemanden, der ein Haus oder ein Stück Land sein eigen nannte und keine Hühner hatte. Aber eine solche billige und einfache Lösung hätte nicht dem Wesen meines Vaters entsprochen. Wie er sich planmäßig, durch intensives Studium der Fachliteratur und der Kataloge, auf den Gartenbau vorbereitet hatte, längst ehe wir in das neue Haus übersiedeln konnten, so hatte er sich auch sorgfältig über alles unterrichtet, was mit Kleintierzucht zusammenhing, und wußte sehr genau, was er wollte. Aufmerksam verfolgte er in Zeitschriften und Tageszeitungen die verschiedenen Angebote und Anpreisungen, und mählich kam, was er fleißig bestellt hatte. Aus allen Gebieten des Reiches ließ er sich seine Tiere, sein Geflügel schicken, edelste Stämme mit besonderen, ungewöhnlichen Eigenschaften. Blaue Andalusier und Orpingtons, Island Reds und Perlhühner und wie diese gefiederten Gesellen auch nur heißen mochten. Sie waren, wie ich aus den elterlichen Gesprächen aufschnappte, meist sehr teuer, aber mein Vater hatte die sichere Hoffnung, daß sie sich gut rentieren würden, was ihre Besitzer und Züchter versprachen, denn die Hühner selbst lehnten es konsequent ab, irgendwelche Zusicherungen zu machen. Da war ein Stamm, der sich als besonders fleißige Eierleger auszeichnen sollte, hundertachtzig Eier und mehr je Henne im Jahr, die Eier eines andern sollten besonders groß sein, die eines dritten ungewöhnlich wohlschmeckend. Na, und so weiter. Und da mein Vater nie nach dem ersten Schritt innehielt, so ging er auch hier gleich weiter. Ihm sollten die Hühner nicht nur so viel Eier legen, wie wir sie für unsern privaten Bedarf brauchten, sondern auch noch einen mächtigen Überschuß zum Verkaufen. Und da Bruteier erheblich höher im Preise lagen als die zum bloßen Verzehr bestimmten, so wurde darauf gesehen, daß sich die einzelnen Stämme nicht miteinander vermischten, daß sie sich rassenrein hielten. Es wurden auch Glucken angesetzt und Kücken aus dem Ei gezogen, um später als Junghühner verkauft zu werden, als Zuchthühner natürlich. Es wurden besondere Kisten mit eingebauten Gestellen angeschafft, für die ungefährdete Versendung von Bruteiern, es wurden Fallnester angelegt, damit man genau feststellen konnte, wie sich jedes einzelne Legehuhn bewährte, und die faulen Eierleger wanderten erbarmungslos in den Kochtopf. Jedes Huhn bekam einen silberglänzenden Fußring umgelegt, mit eingestanzter Nummer, und auch da erwies sich mein Vater als ein leidenschaftlicher Anhänger der großen Zahlen. Wir hatten in der besten Zeit annähernd hundert Hühner – mit den dazu gehörigen Hähnen natürlich –, aber wir hatten noch in der schlechtesten Zeit, das heißt in jenen Jahren, als wir den Bestand an Hühnern aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen stark verminderten, mindestens fünfhundert derartige Aluminiumringe, die schön gebündelt, aber völlig überflüssig irgendwo herumlagen.

Ich vermochte es nicht zu beurteilen, ob unsere Hühnerzucht den an sie geknüpften Erwartungen entsprach. Daß wir jederzeit so viel Eier für die Küche und für die Bratpfanne hatten, wie wir nur irgend benötigten, war ja kein Beweis. Eines aber wußte und merkte ich: daß dieses Federvolk nicht nur sehr viel Arbeit machte, sondern daß es auch unser Haus und unsern Stall mit einem wahrhaft wimmelnden Leben erfüllte. Ungezählte Dutzende von Kücken wurden wochenlang mit hingebender Arbeit auf dem Küchentisch gleichsam großgezogen, mit in Milch aufgeweichter Semmel gefüttert, überall im Garten liefen im Frühling die Glucken mit ihrer Schar von Sprößlingen umher, in den sieben oder acht nebeneinander liegenden, großen Ausläufen mit ihren Umzäunungen aus Maschendraht in doppelter Mannshöhe herrschte verwirrendes Leben. Diese Ausläufe waren auch oberhalb mit Draht gesichert, und als ich einmal meinte: »Na, so hoch werden sie ja nicht fliegen, die Hühner«, meinte mein Vater mit Nachdruck: »Sie haben doch Flügel, nicht wahr? Und wer kann wissen, wie stark diese Flügel sind und wie hoch die Hühner zu fliegen vermögen. Sicher ist jedenfalls sicher.«

Und weil sicher sicher ist, warf er auch immer, beim Arbeiten im Garten, besorgte Blicke nach dem Himmel empor, ob da nicht etwa ein rüttelnder Habicht stünde, bereit, auf die außerhalb des Gitters herumlaufenden jungen, unerfahrenen Hühnchen niederzustoßen. Manchmal erwies sich seine Sorge als begründet, aber die Glucken merkten es eher als wir und sicherten ihre Brut schnell genug.

Die kaum erst ausgeschlüpften Kücken in ihrem gelben, flaumigen, weichen Gewande fand ich, wenn sie bei der Fütterung so hilflos herumtaumelten, drollig und niedlich. Die Hühner in ihren Ausläufen, so stolz und bunt und farbenprächtig sie einherstolzieren mochten, imponierten mir eigentlich nur durch ihre Menge. Darüber hinaus vermochten sie mir großes Interesse nicht abzugewinnen, und von den watschelnden Enten, die so hartnäckig vermieden, das besonders für sie eingerichtete Bassin zu benutzen und in dem langsam trüb werdenden Wasser umherzuschwimmen, galt dasselbe. Einmal hatte ich in irgendeinem Buch gelesen, wenn man einen Hahn auf den Fußboden eines Zimmers setze und um ihn herum einen Kreis ziehe, so werde das Tier gleichsam hypnotisiert, und es würde nie und unter keinen Umständen über diesen Kreidekreis hinaustreten. Es müsse also, wenn man es nicht selbst daraus entferne, früher oder später auf tragische Art verhungern und umkommen. Selbstverständlich war ich sofort entschlossen, die Richtigkeit dieser Behauptung nachzuprüfen, und bemächtigte mich zu diesem Zweck des schon erwähnten blauen Andalusiers, der mir für solche Experimente als besonders geeignet erschien. Aber ich hatte ihn kaum in mein Zimmer gebracht und, während er, noch etwas verwirrt, ruhig dastand, den Kreidekreis um ihn gezogen, als er hochmütig und überaus gleichgültig davonschritt und vor der weißen Linie nicht im geringsten zögerte, sondern der Tür zustrebte. Durch diese Erfahrung wurde mein bisheriger kindlicher Glaube an die unbedingte Wahrheit des Gedruckten erheblich erschüttert und hat sich auch späterhin nie wieder eingestellt.

Trotzdem waren die Hähne unter dem bunten, gefiederten Volk noch diejenigen Vertreter ihrer Gattung, mit denen man am meisten anfangen konnte. Natürlich war es mir verboten worden, etwa einen Hahn des einen Stammes in den Auslauf des anderen hinüberzusetzen, aber gerade dieses Verbot gab mir den Anlaß, es zu übertreten. Dann kam es sehr schnell zu äußerst lebhaften, mit viel Gekrähe verbundenen Kämpfen, denen die rundlichen Hühner aus einer sicheren Ecke gierig und erwartungsvoll zuschauten. Einmal jedoch gelang es mir nicht, die kämpfenden, lang bespornten Ritter rechtzeitig und ehe sie sich völlig zerzaust hatten, auseinanderzubringen, und als es schließlich doch so weit war, da lag ein Orpington-Hahn auf der Erde, bewegungslos, hilflos, hatte den Kopf im Sande und streckte die Beine nach oben. Gutes Zureden vermochte nicht, ihn zu einem Aufgeben dieser unnatürlichen Haltung zu veranlassen. Seine Augen blickten starr und leblos, und ich verließ sehr besorgt den Schauplatz dieses Kampfes. Später, am Abend, als mein Vater, im Begriff, seiner Gartenarbeit nachzugehen, an den Hühnerausläufen vorbeiging, entdeckte er den Hahn, der noch immer so dalag, wie ich ihn vor zwei Stunden verlassen hatte. Ohne den Auslauf selbst zu betreten, holte mein Vater den Nachbar, der ebenfalls eine größere Hühnerzucht sein eigen nannte und dem nun den so bewegungslos Daliegenden vorwies. »Komisch«, sagte mein Vater, »nicht wahr? Was mag mit dem Tier nur sein?«

»Ach«, erwiderte der Nachbar ganz ruhig, mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen, »dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung: das Tier ist tot.«

Der Hahn war wirklich tot, und es ließ sich nicht verbergen, daß er von einem Artgenossen, also von einem Hahn aus dem anderen Auslauf, getötet worden war. »Es muß eben wieder jemand die Verbindungstür aufgelassen haben«, schalt mein Vater, sich zornig umblickend. Aber da war niemand, der dieses Vergehen zugeben wollte, und das Ergebnis des Kampfes war, daß wir am nächsten Tag, und mitten in der Woche also, Huhn im Topf zum Mittagessen bekamen. Hahn im Topf eigentlich, und ich stellte fest, daß dieser Hahn, so gut er lebend ausgesehen hatte, zäh und hart war, als wir ihn vertilgen wollten. Auch hier trog also wieder einmal, wie so oft im Leben, der schöne Schein.

Unsere Hühnerzucht war aber nur der Anfang und gleichsam der erste Schritt auf dem Wege zu größeren Zielen, die sich mein Vater gesteckt hatte. Sich lediglich mit Hühnern oder bestenfalls Enten, Gänsen und Tauben abzugeben, wäre ihm zweifellos als eines richtigen Mannes unwürdig erschienen. Pferde und Rinder konnten wir natürlich in unserem Besitztum, das ja kein Bauernhof war, nicht halten. Aber zwischen Hühnern und Pferden und zwischen Gänsen und Rindern gibt es ja im großen Tierreich noch andere Vertreter, und das nächste, was wir uns anschafften, waren einige Ziegen, sogenannte Schweizer Saanenziegen. Ich habe immer geglaubt, damals, sie wären so benannt, weil sie Sahne statt Milch geben oder mindestens doch sehr sahnehaltige Milch. Daß sie so hießen nach irgendeiner Landschaft oder irgendeinem Ort, erfuhr ich erst in einer Zeit, als wir längst schon keine Ziegen mehr unser eigen nannten, und dieses Wissen hatte dann für mich nur noch einen theoretischen, einen rein akademischen Wert.

Mit den Ziegen im Stall ließ sich schon erheblich mehr anfangen als mit den Hühnern. Sie hatten Hörner, und sie gingen mutig jeden an, der es sich einfallen ließ, sie zu necken oder zu ärgern. Aber ich war natürlich gewandter und auch kräftiger als die stärkste und gefährlichste dieser Ziegen, und immer gelang es mir, die Tiere bei den Hörnern zu packen und umzulegen, ehe sie richtig zu einem Stoß ansetzen konnten.

Die Ziegen erwiesen sich sehr schnell als besonders interessant, weil sie, wie gewißlich kein anderes Tier, jederzeit bereit waren, sich die Produkte des menschlichen Geistes restlos, allerdings auf einem ungewöhnlichen Wege, anzueignen. Einmal, als ich im Stall zwischen ihnen stand, holte eine mir ein Stück Zeitungspapier, das ich in der Tasche trug, heimlich heraus und fraß es zu meiner staunenden Verwunderung frisch-fröhlich und mit besonderem Behagen auf. Diese Beobachtung veranlaßte mich dann nachzuprüfen, wie weit die geistige Aufnahmefähigkeit der Ziegen überhaupt ging. Es ergab sich, daß eine normale Tageszeitung von 8 bis 10 Seiten Umfang ohne irgendwelche Schwierigkeiten von ihnen verdaut wurde, daß ein Vokabelheft mit dickem Pappdeckel auch noch fast mühelos den Weg in ihren Magen fand, und ich hoffte, fleißiges Training würde die Ziegen schließlich dazu bringen können, auch umfangreichere Werke, vor allem Ostermanns lateinische Grammatik und einige andere mir unerfreuliche Bücher, zu verschlingen.

Von dem allgemeinen Gesetz der Natur, das die belebten Wesen veranlaßt, sich, soweit irgend angängig, zu vermehren und Junge zu bekommen, machen auch die Ziegen keine Ausnahme. Irgendwann im Frühling des zweiten Jahres, glaube ich, seit wir uns als glückliche Besitzer zweier solcher Kühe »des armen Mannes« erfreuen durften, wurde ich morgens, noch vor dem Weg zur Schule, von meiner Mutter veranlaßt, in den Stall zu kommen. Es gäbe dort etwas besonders Drolliges und Hübsches zu sehen, versicherte sie. Sie hatte nicht zu viel versprochen. Da lagen, auf trockenem, sauberen Heu und Stroh, zwei blütenweiße Ziegenlämmchen, die von dem Muttertier unermüdlich und mit hingebender Sorgfalt immer wieder geleckt und gereinigt wurden. Die Jungen sahen aus wie richtige Osterlämmchen und »sie sollen auch welche werden«, sagte meine Mutter bedeutungsvoll.

Ich wußte in jenem Augenblick noch nicht, was damit gemeint war. Ich freute mich nur, schon nach wenigen Tagen entdecken zu können, daß sich in den Ziegenlämmchen zwei neue Spielgefährten herausgebildet hatten, die auf überaus putzige Art mit starr vorgestreckten, hölzern wirkenden Beinchen herumsprangen, beim Springen immer alle Viere gleichzeitig vom Boden abstießen und oft genug wohl, weil sie noch etwas schwächlich waren, umfielen und dann ein dünnes, drolliges und hilfloses Blöken ausstießen. Doch acht Tage später standen sie bereits fester auf ihren Beinen und begannen, da beide Böcklein waren, mit gesenkten Köpfchen sich lebhaft zu bekämpfen.

Ihr Lebensweg fand leider ein sehr schnelles Ende, denn nach vielleicht sechs Wochen wurden sie geschlachtet. Das war gerade zu Ostern, und es hatte sich die dunkle Voraussage meiner Mutter erfüllt. Am ersten Feiertage gab es dann Lammbraten. Den ganzen Vormittag über duftete es herrlich aus der Küche heraus. Aber ich war unsagbar traurig, weil ich die Erinnerung an die drolligen und komischen Tiere noch nicht hatte loswerden können. Beim Mittagessen saß ich dann mit tränenden Augen vor einem goldbraunen Bratenstück.

»Du brauchst davon nicht zu essen«, sagte meine Mutter verständnisvoll und mitleidig »wenn du nicht magst. Ich mache dir gern etwas anderes, etwa Rührei, wenn du willst. Ich kann es gut verstehen, daß du das Lämmchen nicht essen willst.«

»Es schmeckt aber so gut«, protestierte ich stürmisch und schnitt mir tapfer einen großen Happen von dem goldbraunen Braten ab, während eine Träne auf den Teller fiel.

Ich habe dann auch meine Portion restlos und mit wachsendem Genuß vertilgt, und erst später überfiel mich wieder eine gewisse Traurigkeit, und ich fand, daß wir Menschen eigentlich sehr schlecht seien, weil wir es fertig brachten, etwas mit Appetit aufzuessen, was wir noch vor kurzer Zeit mit Liebe und Freude bewundert hatten, als es lebte.

Von der Ziege zum Schwein war nun ein weiterer und gleichsam der letzte Schritt, und mein Vater zögerte nicht, ihn zu gehen. Eines Tages lagen zwei dieser noch rosigen Tiere in dem von Anbeginn für sie vorgesehenen Stallraum und begrüßten meinen Eintritt mit Grunzen und Quietschen. Sie waren keine eigentlichen Ferkel mehr, aber auch noch keine richtigen Schweine, dies sollten sie erst werden, und ich war fast stolz auf diesen neuen Zuwachs unseres Tierparks. Stolzer als ich war mein Vater, wenn er in der Eisenbahn Bekannten gegenüber, mit denen er durch Zufall zusammentraf, auf irgendwelche Fragen hin aufzählen konnte, was er an nützlichen Tieren in seinen Besitz gebracht hatte. Das ergab eine Steigerung, deren Wirkung ihm wohl tat. Wenn er von den Hühnern sprach, so wurde das von den Zuhörern als selbstverständlich angenommen. Erwähnte er die Ziegen, so las er von den Gesichtern der anderen bereits lebhaftes Staunen und Überraschung ab. Sprach er aber als letztes gar von den Schweinen, so wurde aus dem Staunen Bewunderung, die er wie einen ihm gebührenden Tribut einstrich.

Mein Verhältnis zu diesen neuen Stallinsassen war von Anbeginn lediglich von Vernunft und Zweckmäßigkeit bestimmt. Daß man die jungen Zicklein schlachten und essen konnte, hatte ich als tragisch und erschütternd empfunden, und es hatte mir Tränen entlockt. Daß man mit Schweinen, wenn sie das gehörige Gewicht erreicht haben, je etwas anderes tun könnte, als sie zu schlachten und aufzuessen, wäre mir nie auch nur im Entferntesten in den Sinn gekommen. Es war das vorbestimmte Schicksal dieser Tiere, so schien es mir, geschlachtet und verzehrt zu werden, und das einzige, worüber ich mich wunderte, war, daß sich im Laufe der Zeit bei den Schweinen das jedem Einzelnen blühende Schicksal nicht allmählich herumgesprochen hatte. Sie fraßen, was sie bekamen und vorgesetzt erhielten, sie hatten eigentlich immer Hunger, und sie zögerten nicht, ihr Fressen in wachsende Fettschichten umzusetzen. »Wenn«, dachte ich, »bei diesen Tieren auch nur eine Spur von Verstand vorhanden wäre, dann müßten sie so schlau sein, ihren ewigen Hunger und ihre Freßgier zu zügeln und müßten sich hüten, fett und rund zu werden. Denn jeder schlecht oder halb geleerte Trog verlängerte doch mittelbar ihr Leben.«

Die Schweine dachten darüber nicht nach; sie taten, was alle Schweine seit jeher getan haben, und so blühte ihnen zum Schluß des Jahres das Schicksal, das allen ausgewachsenen fetten Schweinen seit jeher vorbestimmt ist. In Form von Würsten und geräucherten Schinken, von Schmalz und anderen angenehmen Dingen wanderten sie in den Keller und in die Speisekammer, und mit der Tatsache, daß ihr Stall vorübergehend bis zur Anschaffung neuer Tiere leer war, wurde ich mehr als reichlich durch den anderen Umstand versöhnt, daß statt dessen Küche und Keller voll waren.

Alle diese Tiere waren aus bestimmten Zweckmäßigkeitsgründen angeschafft worden. Wir erwarteten, daß sie die angewandten Kosten und die aufgebrachte Mühe, jedes auf seine Art, früher oder später reichlich entgalten.

Unser Hund – denn natürlich hatten wir auch einen Hund – sprach mich auf andere Art an. Im Gegensatz zu allen anderen Haustieren war dieser Hund, ein deutscher Schäferhund reinster Rasse, ein Wesen, das mir mit einem gewissen Maß von Vernunft begabt zu sein schien und mit dem ich sehr schnell verwuchs, als wäre es ein Mensch. Auch er war nicht aus bloßem Luxusbedürfnis angeschafft worden, auch er hatte eine ihm zugewiesene Aufgabe. Er sollte Haus und Garten bewachen und dunkle Elemente dem Grundstück fernhalten. Aber an diese seine Aufgabe habe ich nie gedacht. Ich betrachtete ihn als ein mir persönlich gehörendes Geschenk, als meinen Spielgefährten, der mir jene Alters- und Schulkameraden ersetzen sollte, die ich hier draußen, außerhalb der Stadt, nur selten zu sehen bekam. Treu, klug, stark und tapfer, war er mein ständiger Begleiter und auch mein Spießgeselle bei allerlei dummen und lustigen Streichen. Er lief mit mir im Sommer zum Strande hinunter und zeigte mir, wie man schwimmen kann, in einer Zeit, als ich mich eben noch um die Anfangsgründe dieser Kunst bemühte, und im Winter, wenn der Schnee alle Wege und Felder bedeckte, gab es für mich und vielleicht auch für ihn kein größeres Vergnügen, als mit einem leichten Schlitten, auf dem ich es mir bequem gemacht hatte, und den er mühelos hinter sich herzog, durch die frostklirrende, weiße Landschaft dahinzustieben.

Ich habe es dann trotzdem mit ihm verdorben, nach einer Reihe von Jahren, in denen wir wie Freunde miteinander umgingen. Ich glaubte unseren Hund bis auf den Grund seiner Seele zu kennen, aber ich vergaß, daß er trotz allem ein Tier war, und daß er als Tier manches nicht verstehen konnte, was für Menschen klar und durchsichtig ist.

An irgendeinem Tag brachte ich ihm wie üblich nach dem Essen seine Schüssel mit dem ihm zugeteilten Fressen und stellte sie vor seine Hütte. Ich schaute zu, wie er sich behaglich und schmatzend über seine Mahlzeit hermachte, und reichte ihm dann, als er fertig war, einen bisher hinter dem Rücken vorsichtig verborgenen Kalbsknochen. Mit der Rute wedelnd, riß er ihn an sich und begann ihn zu benagen. Er lag, dicht am Boden hingekauert, auf der Erde und hatte den Knochen zwischen seinen Vorderpfoten. Da überkam es mich, festzustellen, was er wohl tun würde, wenn man ihn ein wenig ärgerte und so tat, als wolle man ihm den Knochen wieder entreißen. Langsam ging ich näher zu ihm heran, sprach ihm gut zu, wunderte mich aber bereits, daß er auf alle meine Worte nur mit einem immer böseren und lauteren Knurren antwortete. Schließlich faßte ich langsam nach dem Knochen, in den er fest seine Zähne vergraben hatte, um mit ihm gleichsam ein lustiges Tauziehen zu veranstalten. Aber ich hatte kaum den Knochen berührt, als der Hund selbst ihn losließ, mit einem wütenden Bellen auf mich zufuhr und seine weißen, scharfen Zähne tief in meinen Arm grub. Er ließ freilich sofort von mir ab, als ich mit einem Schmerzensgeschrei zurückwich, würdigte den eben noch so gierig verteidigten Knochen nicht eines einzigen Blickes und trollte sich mit gesenktem Kopf und hängendem Schwanz in seine Hütte zurück. Aber vom gleichen Augenblick an war jede Brücke zwischen uns beiden zerbrochen. Wenn ich auch nur in die Nähe seiner Hütte kam, so bellte er mich an, als wäre ich ein fremder Mensch und ein Eindringling. Nie mehr durfte ich es wagen, ihn zu füttern, nie mehr war er bereit, mit mir in alter Weise zu spielen und herumzutollen. Es schien fast, als ob er mich hasse, aber manchmal, wenn ich in meinem Zimmer saß und einen flüchtigen Blick hinaus in den Garten warf, konnte ich beobachten, wie er mit traurigen Augen zu den Fenstern meines Zimmers emporstarrte, als klage er um etwas, das einmal gewesen war und nie mehr wiederkommen würde. Ein paar Monate später wurde er krank, und es war bald gewiß, daß er sterben mußte. Vielleicht war auch ihm auf irgendeine dunkle Art klar geworden, daß es mit ihm zu Ende gehe. Am letzten Tag seines Lebens lag er, warm in Decken eingewickelt, apathisch und bewegungslos in der Küche. Plötzlich packte ihn eine Unruhe. Mühsam stand er auf und kletterte ganz langsam, Schritt für Schritt, die Treppe empor, die zu meinem Zimmer führte. Ich hörte ihn durch die geschlossene Tür ein- oder zweimal leise und heiser bellen. Als ich die Tür öffnete, kam er ohne Zögern herein, rieb sich an meinen Beinen, leckte meine herunterhängende Hand, fiel dann plötzlich um und war tot …

In einer solchen Umgebung gewann ich von Jahr zu Jahr eine innigere und selbstverständlichere Beziehung zur Natur, zu Bäumen und Blumen und Tieren, als sie dem Stadtkind, das in der steinernen Wüste der Straßen aufwächst, je zuteil werden kann. Erfahrungen und Kenntnisse, die andere sich mühselig auf dem Umwege über das Buch aneignen mußten oder die ihnen gar für immer verschlossen blieben, fielen mir wie reife Früchte in den Schoß. Da standen etwa inmitten des Gartens, sauber aufgereiht, die Bienenhäuser, und ich wurde nicht müde, den Flug der Honigträger zu beobachten, ich wurde nicht müde, am Abend, zusammen mit meinem Vater, und geschützt durch eine Drahtmaske, diese Häuser zu öffnen und durch die hinteren Glasscheiben das emsige Treiben der Bienen, den wundervollen Bau der Waben, die Mühe, mit der die Larven gepflegt und gefüttert wurden, in Augenschein zu nehmen, Das große Gesetz der Gemeinsamkeit ging mir so auf die einfachste Art auf, ich verstand den Sinn der Staatenbildung, der Arbeitsteilung und all jener anderen Lebensformen, in denen die Biene sich auszeichnete. Lag ich an irgendeinem warmen, stillen Sommernachmittag faul und verträumt auf dem Rasen und schaute zu dem blauen Himmel empor, blickte mit einer Art Sehnsucht den leise dahinziehenden Wolkenschiffen nach, so sah ich wenige Augenblicke später, den Kopf zur Seite wendend, inmitten der Grashalme die bunte Welt der Kleintiere, der Insekten und Käfer und Larven und Raupen und Ameisen, die in dem hohen Gras, das ihnen wie ein Urwald erscheinen mußte, ihr Wesen trieben. Ich beobachtete die auf Beute lauernden Spinnen, den Ameisenbären in seinem Sandtrichter, den Laubfrosch im Moos. Und ich verstand, was Darwin gemeint hatte, als er von dem Kampf ums Dasein sprach, ja, so manche Fabel, so manche volkstümliche Weisheit, die mir bisher nur durch unsere Schulbücher nahegebracht worden waren, erhielten nun aus der unmittelbaren Anschauung heraus erst so recht ihre Bestätigung.

Es kam bald so, daß ich alles, was in der Natur vorging, wohl als selbstverständlich, gleichzeitig aber auch als wunderbar aufnahm. Es war selbstverständlich, daß die Spinne auf Fliegen oder andere beflügelte Insekten Jagd machte, denn sie wollte leben, es war ihr Gesetz, leben zu wollen, und um dieses Gesetz zu erfüllen, mußte sie töten. Der Weg aber, auf dem sie ihr Ziel erreichte, dieses kunstvoll in den lauen Sommerabend hineingehängte, schwebende Silbernetz war wunderbar und entschuldigte in meinen Augen ihr mörderisches Tun. Es war selbstverständlich, daß die schnatternden Enten den Froschlaich im Teich gierig in sich hineinschlangen. Aber es war wunderbar, daß trotz allem noch so viel Froscheier übrig blieben, daß im späten Frühling hunderte von Kaulquappen im Wasser herumspielten und also bis zu diesem Augenblick wenigstens dem Schicksal des Gefressenwerdens entgangen waren. Ich verstand es durchaus, wenn mein Vater, zornerfüllt über die aufgewühlten Maulwurfshügel, auf diese walzenförmigen Gesellen in ihrem sammetweichen, blauschwarzen Pelzkleid erbitterte Jagd machte. Und wenn es ihm gelang, einen solchen Maulwurf aus seinem Gang herauszuwerfen und ihn mit einem raschen Spatenschlag zu erschlagen, so begriff ich seine Freude und teilte beinahe seinen Triumph. Aber eben so sehr freute ich mich, wenn dieser Maulwurf schneller und geschickter war als sein Jäger und mit einer für den plumpen Burschen erstaunlich wirkenden Gewandtheit kaum, daß er hilflos auf der Erdoberfläche lag, schon in dem nächsten Augenblick sich erneut in die Erde eingegraben hatte und verschwunden war, ehe der tötende Spatenschlag ihn zu treffen vermochte.

Auf eine unaufdringliche Weise lernte ich, daß es auf dieser Welt nichts Fesselnderes, nichts Schöneres und Interessanteres gibt, als die Wirklichkeit, wie sie sich mir auf Schritt und Tritt in meinem einfachen, kindlichen Alltag darbot. Und ich lernte mehr: ich lernte, in jedem Geschöpf in gewissem Sinne meinen Bruder zu sehen, seine Triebe und Neigungen, seine Leidenschaften und seine Notwendigkeiten zu verstehen. Vieles, wovon ich früher nichts oder fast nichts gewußt hatte, wurde mir nun sehr vertraut. Zu meinem eigenen Erstaunen aber durfte ich feststellen, daß es mir dadurch nicht weniger geheimnisvoll und vor allem nicht weniger wunderbar geworden war.

Ganz gewiß besaß ich nicht das, was man einen philosophischen Kopf nennt. Ich machte mir kein System von der Welt, und ich konnte die Vorgänge des Daseins nicht kritisch werten. Aber daß Begriffe wie schön und häßlich, gut und böse allzu billig und primitiv waren, um mit ihnen dem großen Geheimnis des Lebens gerecht zu werden, spürte ich dunkel, in einem Alter, in dem mir die unregelmäßigen lateinischen Verben noch erhebliche Schwierigkeiten bereiteten und der Lehrsatz des Pythagoras nicht minder.

»Pfuiiii!« schrie einmal meine Schwester und fuhr erschrocken von dem Lager auf, das sie sich aus eben gemähtem Gras auf dem grünen Rasen gemacht hatte.

Ich sah einen langbeinigen, spinnenbeinigen Weberknecht sehr eilig davonlaufen. Behutsam brachte ich ihn in Sicherheit.

»Ein Weberknecht«, stellte ich sachlich fest und sah meine Schwester verwundert und strafend an. »Also: warum pfui …?«

Es scheint mir heute, als läge in diesem kurzen Wortwechsel der Unterschied umschlossen zwischen den beiden Arten, wie man den Erscheinungen der Welt gegenübertreten kann.

Wir haben Gäste

So lange wir noch in der Stadt wohnten, lebten wir sehr zurückgezogen und ganz in unserm engsten, kleinen Kreise. Die bescheidene Größe unserer Wohnung, die engen Raumverhältnisse und die beschränkten Mittel, die meinem Vater zur Verfügung standen, verboten einen ausgedehnteren Verkehr von selbst. Das Geld wurde zu schwer und zu hart verdient, als daß man es nicht sorgsam gehütet und jede unnütze oder auch nur nicht unbedingt notwendige Ausgabe vermieden hätte.

Als wir später unser Haus hatten und unsern Garten, war nach dieser Richtung hin zunächst eine besondere Änderung nicht zu merken. Eine kurze Zeit hindurch hatte mein Vater mehr Geld in seinem Besitz, als er je zu erhoffen gewagt hatte. Viel Geld nach unsern bescheidenen Begriffen. Aber da er vom ersten Augenblick an seinen Plan hatte, so ließ er sich durch seinen kleinen Wohlstand nicht zu irgendwelcher Üppigkeit verlocken.

Dann war das Haus da, und es verlangte, daß man ihm diente. Da waren Hypothekenzinsen, die bezahlt werden wollten, da galt es Möbel zu kaufen, um die vielen leeren und großen Zimmer zu füllen, in denen sich unser bisheriger Hausrat anfänglich fast verlor, da mußten Bäume und Sträucher gekauft werden, Blumen und Saat und Gartenwerkzeug, da waren Leute, die nun von meinem Vater ihren Lohn für die geleistete Arbeit verlangten, all unser Kleinvieh mußte zunächst doch erst einmal gekauft werden, und das Futter dazu, Stroh und Torfmull für die Streu und Häuser für die Bienen und so unendlich vieles.

So konnte es nicht ausbleiben, daß anderes dafür zurückgestellt wurde, daß wir unsere Kleider so lange auftragen mußten, wie es nur irgend ging, daß der Kauf von etwas Bettwäsche oder von Schuhen und Wintersachen langwierige, geschickte und diplomatische Verhandlungen, das erregende Warten auf den günstigsten Augenblick notwendig machte. Nicht: »Wie sage ich's meinem Kinde?«, sondern »Wie sagen wir's dem Vater?« war die Überlegung, die bei uns im »Kleinen Rat«, wenn der Vater noch abwesend und in der Fabrik war, immer wieder angestellt wurde.

Trotzdem machte sich da und dort, sehr schüchtern meist und nur in Kleinigkeiten sich zeigend, ein leiser Wandel bemerkbar. So hatte sich mein Vater ein besonderes System der Finanzierung der Hauswirtschaft, soweit sie von meiner Mutter bestritten wurde, ausgedacht. Sie bekam das sogenannte große und außerdem das kleine Wirtschaftsgeld. Es war eine äußerst verwickelte Angelegenheit, die mir damals, nur um hinter ihren tieferen Sinn zu kommen, mindestens eben so viel Kopfzerbrechen bereitete wie meiner Mutter, mit dem Geld auszukommen. Das große Wirtschaftsgeld nämlich wurde am Sonnabend früh ausgezahlt, und es sollte dazu dienen, die Bedürfnisse des Haushalts, soweit meine Mutter dafür aufkam, über Sonntag bis Montag einschließlich zu decken und jene Lieferanten zu bezahlen, die ihre Leistungen wöchentlich kassierten, so den Bäcker für seine tägliche Brötchensendung, die Molkerei für die Milch und derlei. Von Dienstag ab gab es dann täglich das kleine Wirtschaftsgeld, für die täglichen Einkäufe bestimmt, und es war so schmal bemessen, daß meine Mutter oft lange grübeln mußte, um alles Notwendige damit bestreiten zu können.

Tatsache ist jedenfalls, daß meine Mutter auf diese Art fast nie größere Summen zur Verfügung hatte. Vielleicht fürchtete mein Vater, daß sie damit nicht wirtschaftlich umgehen könnte, daß eine größere Zahlung sie zu leichtsinnigen und unverantwortlichen Käufen verführen würde. Vielleicht hatte er auch zu oft den Anzeigenteil unserer Zeitung durchflogen und war dabei über die häufigen Warnungen »Warne hiermit jedermann, meiner Frau auf meinen Namen etwas zu borgen, da ich für nichts aufkomme« gestolpert. Wenn es so war, tat er seiner Frau damit jedenfalls bitteres Unrecht, denn sparsamer, gewissenhafter und ängstlicher im Geldausgeben als sie konnte so leicht niemand sein. Für sich selbst beanspruchte sie fast nie etwas, und auch für uns Kinder nur, wenn es sich absolut nicht länger vermeiden ließ. Trat aber einmal dieser Augenblick ein, so war sie freilich von unglaublicher Zähigkeit und kämpfte für uns wie eine Löwin für ihre Jungen. Ließ sich auch durch noch so harte und jähzornige Worte unseres Vaters nicht von ihrem Ziel abbringen, schwieg zwar verschüchtert still, wenn sie gar zu sehr gescholten wurde, fing aber todsicher am nächsten Abend von neuem an, bis mein Vater endlich müde wurde, die Waffen streckte und mit bitterem Knurren am nächsten Morgen das Geld hinlegte, das man brauchte. Oder doch nicht ganz – immer versuchte er, im letzten Augenblick noch etwas für sich herauszuschlagen, sozusagen noch mit uns ein kleines Geschäft zu machen. Wenn man ihm sagte, eine Sache koste zehn oder zwanzig oder gar dreißig Mark, so legte er statt der zehn vielleicht nur acht, statt der zwanzig und dreißig fünfzehn oder fünfundzwanzig Mark auf den Tisch.

Man konnte ihn dann nicht an das Fehlende erinnern, denn er stand früher auf und verließ das Haus früher als irgendeiner von uns. Wenn wir dann, eine oder zwei Stunden später, uns an den Frühstückstisch setzen wollten, dann sahen wir die Bescherung, und ich malte mir aus, wie er in der Fabrik in seinem Büro saß und sich schmunzelnd die Hände rieb, fest davon überzeugt, fünf oder doch mindestens zwei Mark gespart zu haben.

Es war ein Irrtum, den aufzuklären für uns andere eine Art Selbstmord bedeutet hätte; denn da meine Mutter aus jahrelanger, vielleicht jahrzehntelanger Erfahrung genau wußte, wie sie mit ihm dran war, hatte sie sich ein System angeeignet wie etwa ein orientalischer Teppichhändler. Sie erkundigte sich erst einmal genau, was ein bestimmtes Kleidungsstück oder Wäschestück, wie sie es brauchte, kostete. Waren es dreißig Mark, die sie benötigte, so sagte sie natürlich fünfunddreißig Mark. Und da sie nach siegreich durchgestandenem Kampf dreißig erhielt, war alles in bester Ordnung.

Ich war ziemlich schnell hinter dieses Geheimnis gekommen, und einmal, als ich mit meiner Mutter allein war, fragte ich sie ein bißchen aus, stellte sie gleichsam zur Rede. Sie streichelte meinen Schopf, lächelte ihr sanftestes und klügstes Mutterlächeln und meinte, mit einem ganz leisen Erröten, das ihr trotz ihrer schon grauen Haare etwas fast Jungmädchenhaftes gab: »Sicher denkst du nun, es sei unmoralisch, was ich da tue, und es sei eine Lüge und nicht zu rechtfertigen. Aber, sieh mal: wenn ich erreiche, was ich um euretwillen erreichen muß, und wenn ich dabei deinem Vater Ärger erspare, ja ihm noch ein bißchen Freude mache, da er doch denkt, etwas Geld gespart zu haben … meinst du da nicht auch, daß mir diese kleine Lüge verziehen werden wird? Immer wieder verziehen wird?«

Darauf war nun freilich nichts zu entgegnen, und jetzt war es an mir, rot zu werden. Dies um so mehr, als meine Mutter äußerst konsequent war und von ihren kleinen Tricks keinen Gebrauch machte, wenn es um ihre eigene Person ging. Mit der betrüblichen Folge freilich, daß sie selbst immer schlechter fuhr als wir und ihr »Schwarzseidenes«, ihr Staatskleid, jahrelang tragen mußte, ehe ihr nach erbittertem Widerstand schließlich Stoff und Arbeitslohn für ein neues bewilligt wurden.

Aber, wie gesagt, seit wir Grundbesitzer und Hausbesitzer waren und der Garten heranwuchs und etwas abwarf, auch die Tierzucht sich zu rentieren begann, änderte sich einiges. Der Wandel äußerte sich vor allem an den Sonnabenden, gelegentlich der Auszahlung des »großen« Wirtschaftsgeldes.

»Du brauchst mir heute nicht soviel zu geben wie sonst; du kannst mir fünf Mark abziehen« – so, oder doch so ähnlich, sagte meine Mutter immer häufiger. Es war Musik in den Ohren meines Vater. Aber es machte ihn auch mißtrauisch. Wenigstens in der ersten Zeit.

»Wie kommt das denn?« forschte er mit nachdenklich umwölkter Stirn. Woraufhin er erfuhr, daß eben doch schon manches aus dem Garten für die Wirtschaft abfalle, an Gemüse und Spargel und Obst und Eiern und dem allen, und das mache sich natürlich bemerkbar.

Mein Vater verstand – die Erklärung war plausibel, und er wunderte sich, daß er erst hatte fragen müssen –, aber er verstand zu gut. Er gab prompt noch etwas weniger, als er geben sollte, und meine Mutter fand sich mit nachsichtigem, verzeihendem Lächeln darein.

Derartige kleine Ersparnisse machten meinen Vater großzügiger und beweglicher. Nun geschah es immer öfter, daß er am Samstagabend mit einem hübschen, ansehnlichen Päckchen nach Hause kam, in dem sich verschiedene Leckerbissen und Süßigkeiten fanden, von einer Art und Güte und Menge, wie wir sie früher kaum je gesehen und gekostet hatten.

Trotzdem waren wir eigentlich nur mittelbar die Nutznießer dieser zum Besseren geänderten wirtschaftlichen Lage. Schon damals war es ja so, daß der Besitz von Haus und Garten Bekannte und Freunde anzulocken pflegte wie der Honigseim die Bienen. Uns ging es da nicht anders. Es kam so mancher, mit dem uns früher nur sehr lockere Bindungen verknüpft hatten, und es kamen andere, die meine Eltern gern hatten, und denen man nun in stolzer Freude die Blumenpracht und die reifenden Früchte vorwies. Sie wurden nicht müde, zu bewundern, was des Bewunderns wert war, und mein Vater heimste das Lob ein wie einen schuldigen Tribut, meine Mutter wurde rot wie immer, wenn man aus ihrer Arbeit und ihrer Leistung etwas hermachte. Lob und Anerkennung waren sicher ehrlich gemeint, auch selbstlos, aber sie trugen trotzdem für die Lobenden ihren Lohn in sich. Denn wie konnte man seine Freunde von seinen gärtnerischen Fähigkeiten und von der ungewöhnlichen Güte der selbstgezogenen Früchte, Blumen und Gemüsearten besser überzeugen, als indem man ihnen von allem reiche Kostproben mitgab? So ging es also den Besuchern mit meinem Vater, wie den armen Hirten unseres Friedrich Schiller mit dem Mädchen aus der Fremde.

»Er teilte jedem seine Gabe,
dem Früchte, jenem Blumen aus;
der Jüngling und der Greis am Stabe,
ein jeder ging beschenkt nach Haus.«

Nun, Jünglinge und Greise am Stabe gehörten nicht zu unsern Besuchern. Und arme Hirten waren unsere Freunde auch nicht. Trotzdem nahmen alle gern mit, was ihnen so freundlich geboten wurde.

Es kam bald so, daß wir, wenigstens im Sommer, wohl jeden zweiten Sonntag Besucher hatten. Meist nur zum Kaffee, oft zum Abendbrot, und sie langweilten sich nie, denn der große Garten gab viele Möglichkeiten, sich zu unterhalten und die Zeit angenehm zu verfaulenzen. Von der Arbeit, die er mit sich brachte, hatten die meisten wohl nur eine unvollkommene Vorstellung. Sie waren eben »Städter«, wie wir halb selbstbewußt, halb mitleidig sagten.

Meinem Vater war dieser Besuch fast immer eine Freude, er hatte so lange in einer gewissen Enge leben müssen, daß er froh war, jetzt großzügiger sein zu können. Raum war in Fülle da, die Beköstigung machte kaum Sorge, höchstens Mühe, aber die nahm meine Mutter willig in Kauf. Und meinem Vater war es, nach der harten Doppelarbeit der Woche, äußerst willkommen, durch die Gäste gezwungen zu sein, einmal für ein paar Stunden auszuspannen. Auch ein paar Kinder unseres Alters gehörten zu diesem kleinen, ständigen Besucherkreis, und so waren auch wir Jungen froh, Spielgefährten und Abwechslung zu haben.

Manchmal wurden auch uns besonders gut befreundete liebe Menschen feierlich eingeladen. Dann spielte mein Vater den Grandseigneur. »Einladungen«, erklärte er mit Nachdruck, »Einladungen verpflichten. Menschen, die man zu sich einlädt, muß man besser bewirten, als man sich selbst zu leben je erlauben würde.« Er konnte sich dann nicht genug tun, allerlei Köstlichkeiten heranzuschleppen, und das Delikateßwarengeschäft in der Stadt, das er bevorzugte, hatte vorübergehend an ihm einen guten Kunden. Dann gab es Kaviar, der in kleinen Porzellanbüchsen verkauft wurde, er war teuer, schwarz und glänzend und reichte nur für ein paar kleine Brötchen für jeden Erwachsenen. Einmal nahm ich mir heimlich eine winzige Kostprobe, aber ich fand – damals –, er schmecke nicht viel anders als Heringsrogen, und ich gönnte den andern diesen Genuß. Besser schon gefiel mir der Stör, und der Weichsellachs, der sogenannte Stremellachs, schön goldgelb geräuchert, erschien mir als das Non plus ultra aller Köstlichkeiten des Gaumens.

Aus den Getränken, Wein, Kognak, dem Danziger Goldwasser, dem weitberühmten, und dem heimischen Machandel machte ich mir noch nicht allzu viel. Doch gab es unter der Batterie von Flaschen, die ein paar Tage vor dem erwarteten Besuch angeliefert wurden, auch einen Likör, der hieß »Altvater«, und mein Vater wußte nicht, was er tat, als er mir einmal ein Gläschen davon zugestand. Er war herrlich süß, er schmeckte und duftete nach märchenhaften Kräutern, ich trank das Glas unter dem Lächeln der andern in einem Zuge leer, und heiß und wonnig durchströmte es plötzlich mein Blut. Das war ein ganz ungewohntes Gefühl, ich kam mir so schwerelos vor und begann zu schwatzen, unaufhörlich, bis mir mein Vater schließlich den Mund verbieten mußte.

Seitdem warf ich manchmal spähende Blicke in das Schränkchen, in dem die Liköre aufbewahrt wurden. Einmal fand ich eine große, eben erst angebrochene Flasche Altvater darin vor, und das war's, worauf ich die ganze Zeit gewartet hatte. Ich füllte mir, als ich mich unbeobachtet wußte, ein Gläschen und goß es hinunter, und gleich darauf noch ein zweites.

Wieder durchströmte mich taumelnde Seligkeit. »Der hat's in sich«, nickte ich, vor dem Pfeilerspiegel stehend, mit sachverständiger Kennermiene, wie ein Großer, vor mich hin. Ich setzte diese Übung mit schlechtem Gewissen und großer Hartnäckigkeit mehrere Tage hindurch fort, und erst an dem folgenden Sonnabend, als meine Eltern darüber sprachen, daß am nächsten Tage Besuch kommen würde und man Gott sei Dank noch genug Trinkbares im Hause habe, wurde mir zu meinem Schreck bewußt, daß die Flasche, so groß sie auch war, inzwischen halb leer geworden war. Was blieb mir anders übrig, als das Fehlende mit Wasser zu ergänzen? Beunruhigt beobachtete ich, daß sich der schwere, süße Likör zunächst mit dem Wasser nicht vermischen wollte und dicke Fäden zog. Aber durch viel Schütteln ließ sich dieser verräterische Mißstand glücklicherweise beseitigen, und das Stehen mochte dazu beitragen, daß man am nächsten Tage äußerlich dem Inhalt der Flasche nichts anzumerken vermochte.

Aber der Geschmack? Recht besorgt saß ich am Sonntagnachmittag, mit baumelnden Beinen, auf meinem Stuhl, während mein Vater feierlich zelebrierend seinen Gästen die Likörgläser füllte.

Und dann … ja, dann machte ich eine neue Erfahrung.

»Altvater«, sagten alle und machten genießerische Augen, »Altvater!« wiederholten sie und schnalzten mit der Zunge, als der Trank ihren Schlund hinunter gelaufen war.

»Er ist heute noch aromatischer, noch milder und reifer, als die Flasche, die wir neulich hatten«, meinte einer mit Kennermiene.

»Es ist dieselbe Flasche«, erklärte mein Vater. »Aber ich finde auch, daß er heute noch besser schmeckt. Wahrscheinlich macht das das längere Stehen, er mag damals von der Fabrik gerade auf Flaschen gefüllt worden sein. Hoffentlich fällt die nächste Lieferung genau so gut aus …«

An mir soll's nicht liegen, dachte ich und hatte Mühe, ernst zu bleiben und mich nicht zu verraten.

Ja, es war schön, Gäste zu haben, es war eine begrüßenswerte Neigung meines Vaters, mit der ich voll einverstanden war. Gab es dann doch alle die guten Dinge, die man sonst kaum dem Namen nach kannte. Ob meine Mutter freilich meine Begeisterung teilte, möchte ich bezweifeln. Vielleicht mußte sie durch Kürzung ihres Wirtschaftsgeldes in den jeweils folgenden Wochen zu den allgemeinen Unkosten des kleinen Festes beitragen. Ich wußte es nicht und ich war vorsichtig genug, mich nicht danach zu erkundigen. Es hätte mir dann manches vielleicht nicht mehr ganz so gut geschmeckt …

Ahnenforschung

Wenn ich jemals danach gefragt worden wäre, welche Jahreszeit mir die liebste sei, ob ich den Sommer vorzöge oder den Winter, so wäre mir eine Antwort schwer gefallen. Wie eine richtige Mutter alle ihre Kinder mit gleicher Liebe umfängt, so war auch mir jede Jahreszeit lieb, und jede hatte für mich ihre Schönheit und ihre mannigfaltigen Reize.

Schön war natürlich der Sommer, denn in ihn fielen die »großen« Ferien, man konnte baden und schwimmen gehen, man konnte lange aufbleiben, weil die Tage so lang waren, und es oft genug überhaupt nicht recht dunkel wurde. Man hatte den Wald und die sich nach Glettkau zu dehnenden, golden schimmernden Kornfelder, durch die dahinzuwandern eine immer neu empfundene Freude war. Und man hatte – was bei einem Kind schwer ins Gewicht fiel – die Möglichkeit des »Ausweichens«, wenn es mal ein Mittagessen gab, das einem nicht recht zusagte. Weil ja ein ordentlicher Ranft Brot und ein paar Hände voll duftender, roter, süßer Erdbeeren, die man mühelos zusammenraffen konnte, jede andere Mahlzeit ersetzten.

Daß der Winter nicht minder große Reize aufwies, ließ sich bei sorgfältigem Nachdenken nicht ableugnen. Eislaufen und Schneeballschlachten und Schlittenfahren – das Rodeln als Sport war damals ja noch nicht erfunden, man hatte seinen Achterschlitten mit dem eisernen Untergestell, und man kam damit, auf dem Bauch liegend, mindestens so schnell den Berg herunter, wie später mit dem langgereckten Rodelschlitten, höchstens nicht ganz so bequem –, das waren Freuden, an denen man sich nicht zu übersättigen vermochte. Und dann brachte das Weihnachtsfest einen scharfen Einschnitt in die langen Wintermonate. Den ganzen November und fast den ganzen Dezember hindurch konnte man Weihnachten entgegenleben, voller Hoffnungen und Vorfreuden, und wenn das Fest vorüber und verklungen war, dann wurden auch die Tage sehr bald spürbar länger, so daß man sich jetzt wieder auf den immer näher rückenden Frühling freuen durfte.

Mein Vater freilich war dem Winter gründlich abgeneigt, aus vielerlei Ursachen. Daß die großen, geräumigen Zimmer bei strenger Kälte und besonders bei heftigem Wind, wie er hier oft von der See her blies, kaum oder nur schlecht zu heizen waren, daran hatten wir alle uns gewöhnt. Es war ein Mangel, gegen den sich nichts machen ließ, und daß man drei Monate oder manchmal auch vier Monate immer fröstelnd herumsaß oder – um sich etwas warm zu machen – herumlief, war ein Dauerzustand, dem der Reiz des Neuen mählich völlig abging. Darüber hätte sich mein Vater nicht weiter beklagt.

Schlimmer war schon, daß das große Haus, um auch nur einigermaßen erträglich zu bleiben, im Winter eine Menge Kohlen und damit eine Menge Geld verschlang. Immer wieder mußte man eine Last Kohlen kommen lassen, an die dreißig Zentner oder mehr, und ehe man es sich richtig versah, war der Keller schon wieder leer. Dann gab es heftige und endlose Debatten, und mein Vater wurde nicht müde, seine Mißbilligung darüber auszudrücken, daß so viel Brennstoff verbraucht oder, wie er es nannte, »verquast« wurde.

»Bitte«, sagte dann meine Mutter ganz ruhig, »du hast dich eben noch beklagt, daß es im Wohnzimmer und auch in deinem Zimmer so kalt sei. So kalt ist es aber im ganzen Hause. Wenn du jetzt dich aufregst, daß ich wieder den Kohlenmann kommen lassen muß, wo bleibt dann die Logik?«

Von Logik mochte mein Vater nichts hören, in solchem Zusammenhang, und schon gar nicht, wenn das Wort von einer Frau in den Mund genommen wurde. Wo doch bekannt war, daß gerade den Frauen alle Fähigkeit zu logischem Denken seit jeher abging.

»Bitte!« sagte er deshalb seinerseits grollend, »es geht hier nicht um Logik, sondern um Kohlen. Und um das Geld für die Kohlen. Ich weiß bald nicht mehr, woher ich es nehmen soll.«

»Dann mußt du dich bei Petrus beklagen«, erwiderte meine Mutter abschließend. »Oder wir müssen noch mehr frieren, als wir es bisher schon getan haben. Wenn du das durchaus willst und für richtig findest.«

Nein, das wollte er nicht, er war ja kein Rabenvater, und so zahlte er mit vielem Brummen, was zu bezahlen war. Aber wenig später las er dann vielleicht in irgendeiner Zeitung oder einer Fachzeitschrift, wieviel Prozent der Heizkraft der Kohlen ungenutzt durch den Schornstein entweichen, und er konnte endlose mißbilligende Reden über die Unfähigkeit der Wärmetechniker halten, die es nicht fertig brachten, Einrichtungen herzustellen, die solche Vergeudung teuren Heizmaterials unmöglich machten.

»Es müßte eigentlich doch ganz einfach sein«, meinte er und ging mit nachdenklich gekrauster Stirn und frierend im Zimmer auf und ab. In solchen Augenblicken hatten wir ihn alle in dem dringenden Verdacht, daß er selbst sich mit dem Gedanken trage, durch einschneidende technische Neuerungen diesen bedauerlichen Mißstand für alle Zukunft gründlich zu beseitigen.

Liebte er also schon wegen des großen Kohlenverbrauchs den Winter nicht besonders, so nahm er es ihm vor allem übel, daß er ihn durch Frost und Kälte hinderte, der geliebten Gartenarbeit nachzugehen.

Mein Vater hätte sich natürlich gerade im Winter ein bißchen Ruhe gönnen können. Er hatte in der Fabrik anstrengende Arbeit zu leisten, bei ein paar hundert Arbeitern, die ihm unterstellt waren, konnte er es sich dort nicht gerade bequem einrichten. Aber Ruhe und Beschaulichkeit lagen ihm nicht, auch abends noch, nach dem Essen, mußte er sich irgend etwas vornehmen. Aber was? Bei zehn oder zwanzig Grad Kälte kann man nicht im Garten graben, bei einer halbmeter hohen Schneedecke auch nicht, man war also zur Untätigkeit auf diesem Gebiet verdammt. Eine Weile konnte man sich noch damit beschäftigen, beschädigtes Werkzeug wieder kunstvoll in Ordnung zu bringen, aber das dauerte nie lange, weil mein Vater ja viel zu ordentlich und gewissenhaft war, als daß er irgendeinen Gegenstand halb entzwei herumliegen und mählich verkommen ließ. Dann waren da die vielen, vielen Bohnen, die man geerntet hatte, Bohnen und auch Erbsen, sie waren nun schön trocken und man konnte sie enthülsen. Aber bei dieser ländlich anmutenden abendlichen Arbeit mitzuwirken, lehnte mein Vater grundsätzlich ab, das war Frauen- und Kinderarbeit und wäre ganz unter seiner Würde gewesen.

Da waren dann die Bienen – sie wollten auch im Winter gefüttert und beobachtet werden, besonders wenn der Winter hart war und lange währte, und man den Bienen allzu viel Honigwaben geraubt hatte. Immer standen in der Speisekammer im Winter riesige Zuckerhüte herum, die zu gegebener Zeit zerschlagen und mit wenig Wasser zu einem dicken, glasklaren, sirupähnlichen zähen Saft verkocht wurden. Den tat man in Glasballons, die mit dem Boden nach oben in die Häuser gehängt wurden und tropfenweise ihren süßen Inhalt an eine flache Schale weitergaben, von wo aus die Bienen ihn vertilgten.

Für mich war das eine spannende Tätigkeit, der ich, beim matten Licht einer großen Stallaterne, gern zuschaute. Überhaupt hatte ich für die Bienen viel übrig, denn die Zuckerhüte wanderten ja nicht nur in die Mägen jener fleißigen geflügelten »Haustiere«, sondern in mehr oder minder großen Stücken, die ich geschickt mit dem Handbeil abschlug, auch in den meinen. Aber in einer halben Stunde, bestenfalls in der doppelten Zeit, war die ganze Fütterei erledigt, und mißmutig schaute sich mein Vater nach einem neuen Betätigungsfeld um.

Bis er, in irgendeinem Winter, und nachdem er lange auf dem kalten Boden herumgestöbert hatte, in den vielen, vielen Kisten und Kasten, die da herumstanden und zum Teil noch Bücher und Zeitschriften aus dem Besitz unseres verstorbenen Onkels aus Afrika enthielten, mit einem neuen Plan herunterkam, den sofort in die Tat umzusetzen er fest entschlossen war. Irgendwie war er beim Stöbern nämlich auf einige alte Briefe und Familiendokumente gestoßen, auch auf ein paar Bilder und Fotos, und nun meinte er, es müsse wichtig sein, einmal die ganze Familiengeschichte zusammenzutragen.

Dieser Vorsatz veranlaßte ihn zunächst, allerlei über seine Eltern, die wir nie gekannt hatten, und über seine Großeltern und andere Angehörige der Sippe zu erzählen. Es waren zum Teil sehr verwirrende Berichte, und wenn ich auch noch so aufmerksam zuhörte, so konnte ich doch nie ganz begreifen, wer mit wem und in welchem Grade verwandt, versippt und verschwägert war. Aber ich tröstete mich mit der Überzeugung, daß das nicht an meiner mangelnden Aufnahmefähigkeit lag, sondern an dem zum Teil sehr fragwürdigen Verhalten meiner Altvordern und daran, daß diese Herren Vorfahren nie bei der Taufe ihrer Kinder überlegt hatten, welche Schwierigkeiten sie ihren Söhnen, Enkeln und Urenkeln bereiteten. Denn da waren einige, die erstaunlich heiratslustig und ehefreudig waren, die es nicht müde wurden, immer wieder sich in die Gefahr neuer trauriger Erfahrungen zu stürzen. Der eine hatte dreimal geheiratet, und als er schließlich, wohl zur Strafe für diesen Übermut, gestorben war, hatte seine letzte Witwe es sich nicht nehmen lassen, nun ihrerseits noch zwei weitere Ehen einzugehen. Dann hatte sich durch ein ganzes langes Jahrhundert eine wohl auf stark betonte Untertanentreue zurückzuführende Vorliebe für die Namen Friedrich und Wilhelm herausgebildet. Es gab einen Friedrich Wilhelm und einen Wilhelm Friedrich, einen einfachen Friedrich und einen einfachen Wilhelm, und da zudem noch die Namen einiger der Ehefrauen mehrmals amtlich geändert und berichtigt wurden, einmal eine dieser Frauen Moehnke hieß, um wenig später als Mennke in Erscheinung zu treten, so mochte sich der Teufel in der ganzen Sippschaft auskennen.

Mein Vater freilich ließ sich durch solche Schwierigkeiten nicht ins Bockshorn jagen, er war da sehr zäh und unermüdlich, und je verwickelter die Dinge sich darstellten, desto verbissener mühte er sich, die viel verschlungenen Fäden zu entwirren.

Er war nie ein sehr fleißiger Briefschreiber gewesen, was die Privatkorrespondenz im eigentlichen Sinne anbelangte, und so mancher unserer da und dort verstreuten Verwandtschaft nahm es ihm schwer übel, ja ließ schließlich jede Verbindung einschlafen, weil es ihm nicht paßte, einen Brief, und besonders einen wichtigen Brief, nach sechs Monaten oder gar nach einem Jahr in einer Art beantwortet zu erhalten, als hätte mein Vater die Zeilen, auf die er sich bezog, eben erst empfangen. Als wir unser Haus bezogen, hatte er natürlich viel zu schreiben, an alle möglichen Firmen, von denen er Blumen und Zwiebeln, Sämereien und Bäume und Sträucher, Gerät und Verpackungsmaterial bezog oder beziehen wollte. Aber das war nicht schlimm gewesen, es war ein sachlicher Schriftwechsel, der sich auf genaue Bezeichnung dessen, was man – und natürlich immer sofort – haben wollte, beschränkte.

Jetzt, mit einem Male, entfaltete mein Vater eine beinahe leidenschaftliche Korrespondenz mit allen möglichen Pfarrämtern und Standesämtern, Bürgermeistern und Ortsvorstehern; ja, er scheute sich auch nicht, entfernte Verwandte, mit denen er sich seit langer Zeit aus dem oder jenem Grunde überworfen hatte, heranzuziehen, wenn es keine andere Möglichkeit gab, etwas ihn Interessierendes zu ermitteln.

»Aber du kannst doch nicht an Peter schreiben!« sagte dann etwa meine Mutter ganz entsetzt, »wo ihr beide euch doch so verzankt und mit den unglaublichsten Beleidigungen überhäuft habt, damals.«

»Aber natürlich kann ich«, entgegnete mein Vater dann mit einer wahren Unschuldsmiene. »Erstens ist es so furchtbar lange her, zweitens weiß heute wahrscheinlich keiner von uns beiden mehr, warum wir uns damals überhaupt so gezankt haben, und drittens: also lehr du mich Menschen kennen! Ich brauche gar nicht irgendwie zu bitten, das Vergangene vergangen sein zu lassen. Die Tatsache allein, daß ich ihm als erster schreibe, wird er als eine Art Entschuldigung von mir auffassen und gerührt sofort zum Federkiel greifen.«

Meine Mutter schüttelte zweifelnd und bekümmert den Kopf. Doch bewies die Folgezeit, daß mein Vater mit seinen Vermutungen fast immer recht hatte, und mancher Faden, der früher jäh zerrissen worden war, knüpfte sich nun aufs neue.

Es kamen manche uns alle stark interessierende Dinge heraus, bei diesem Bemühen; anderes wieder, das uns, wenigstens uns Kinder, durchaus gleichgültig ließ. Namen, die so etwas wie Rang und Klang hatten, kamen plötzlich in eine wenn auch entfernte Beziehung zu unserer bescheidenen Familie, auch weit über das Reich verstreute oder gar Ländern jenseits der Grenzen zugehörige Ortschaften, und mein Vater suchte uns die Wanderung der Sippe an einer Karte klar zu machen, auf der jeder in einer der Urkunden genannte Ort deutlich und auffällig gekennzeichnet wurde.

Aber dann geschah etwas, das mein Vater nicht vorausgesehen hatte, und das ihm für's erste alle weitere Lust an seinen Nachforschungen zu nehmen schien.

Meine Mutter fand ihn eines Abends, als er die über Tag eingelaufenen Briefe studiert hatte, fast zusammengebrochen vor seinem Schreibtisch vor. »Mein Gott!« schrie sie entsetzt, »ist dir etwas zugestoßen?«

»Nein«, sagte mein Vater, ohne den Kopf zu heben, mit Grabesstimme. »Oder doch – wie man's nehmen will.«

Dann kniff er die Mundwinkel zusammen, und es war offenbar, daß er nicht zu reden beabsichtigte.

Achselzuckend ging meine Mutter um ihn herum, machte sich da und dort etwas zu schaffen. Sie kannte ihn genau und wußte, daß irgendwelche weitere Fragen ihn nicht aus seiner Reserve herauslocken würden, daß sie damit nur genau das Gegenteil erreichen würde.

Ihre echt weibliche Politik erwies sich wieder einmal als die beste. Nach einer kleinen Weile fing mein Vater ganz von allein an – er hätte es auch nicht ausgehalten, dieses große Geheimnis ganz zu verschweigen.

»Es ist eine böse Geschichte«, sagte er zögernd. »Sieh mal, da habe ich, vor einiger Zeit schon, einen Vorfahren aus dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ausgegraben, einen Vorfahren meiner Mutter, Tetz hieß er, Johann Tetz. Oder auch Tez, na, es kommt auf die Schreibweise nicht an. Ich war sehr stolz und froh über diesen Erfolg, vor allem auch, weil ich gleichzeitig die Geburts- und die Sterbeurkunde bekam, weil auf der Sterbeurkunde die Heirat vorgemerkt war und als Ehefrau eine Maria von der Aue. Das ging mir so besonders gut ein – na ja, jeder Mensch hat seine Schwäche, jeder ist in gewissem Sinne ein kleiner Gernegroß, und ich freute mich, daß nach all den schlichten Bauern und Büdnern, Kätnern und Instmännern, Gendarmen und bescheidenen Handwerkern endlich mal wieder ein Name von Bedeutung auftauchte.«

»Na – und?« bohrte meine Mutter mit mühsam gebändigter Neugier.

»Und? Jetzt kriege ich die Heiratsurkunde, und da steht, klar und deutlich und völlig unmißverständlich: verheiratet mit Maria Albrecht, Bettlerkind von der Aue, genannt Maria von der Aue. Denk doch nur: Bettlerkind! Und von der Aue ist gar kein Name, ist gar nicht eine adlige Familie und so, sondern nur eine einfache Ortsbezeichnung, eine Art Flurname …«

Vergrämt sah er meine Mutter an. Aber sie blieb, wie immer in schwierigen Lagen, ganz ruhig.

»Weißt du«, meinte sie nach kurzem Nachdenken, »ich würde die Sache nicht so schwer nehmen an deiner Stelle. Erstens ist das alles doch so entsetzlich lange her, mehr als zweihundert Jahre bald, nicht? Und dann: da doch dieser Tetz oder Tez, wie du damals sagtest, ein Besitzer gewesen ist, da … ja, da muß dieses Mädel doch schon ungewöhnlich schön gewesen sein. Schön und reizvoll. Sonst würde er sie wohl nicht geheiratet haben. Bauern, Grundbesitzer, die heiraten kaum je ein Mädel ohne Hab und Gut, und eine Bettlerin schon gar nicht. Es kann also eine ganz romantische Geschichte gewesen sein, und das … das ist doch auch interessant und mal was Neues.«

»Meinst du?« fragte mein Vater, noch zweifelnd. »Von der Seite habe ich die Sache noch nicht betrachtet. Aber vielleicht hast du recht. Sicher hast du recht.«

Und er schloß, rasch getröstet, die Urkunde in den Schreibtisch ein, bei seinen andern Dokumenten.

Am Sonntag darauf bekamen wir Besuch von Freunden meiner Eltern. Beim Kaffeetrinken brachte mein Vater so nebenbei das Gespräch auf seine Ahnenforschung, so wie Briefmarkensammler immer wieder, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, von ihren Briefmarken anfangen, die niemand anders interessieren.

»Es ist wie eine Kette«, erzählte mein Vater, »bei der jedes Glied in ein anderes greift. Und immer neue Namen tauchen auf. Heute zum Beispiel erfuhr ich zum ersten Mal, daß wir mit einer Familie von der Aue versippt sind, mütterlicherseits. Eine alte ostpreußische Familie, denke ich mir. Der Vorfahr meiner Mutter soll dieses Fräulein von der Aue geheiratet haben, weil sie so ungewöhnlich schön war. Aber wer weiß, vielleicht war sie auch ungewöhnlich reich. Grundbesitzer und Bauern sehen ja immer auch aufs Geld, auf die Mitgift. Na, jedenfalls werde ich meine Nachforschungen nun auch nach dieser Richtung ausdehnen müssen …«

Er schwieg, sah sich triumphierend im Kreise seiner wenigen Gäste um und strich immer wieder seinen Schnurrbart.

Meine Mutter sah von ihrer Sofaecke aus mit einem stillen Lächeln zu meinem Vater hinüber. Er fing das Lächeln auf – ach, es war so leise, so zart, das sahen die anderen nicht, das kannten nur wir – und eine leichte Röte stieg in seine Stirn.

»Na ja«, meinte er abschließend, während die andern noch darüber schwatzten, was doch solche Nachforschungen alles ans Tageslicht brächten, und irgend jemand steif und fest behauptete, einmal eine Familie von der Aue kennengelernt zu haben, in Johannisburg; es könne aber auch in Gumbinnen gewesen sein, »lassen wir das Thema. Es kann für die Außenstehenden nicht besonders interessant sein.«

Und mit einem Wink seiner Augen befahl er mir, die Likörflaschen herbeizuschaffen.

Die spanische Tänzerin

Sie war kein Weib von Fleisch und Blut, sondern nur ein Bild. Das Bildnis einer Frau, die auf einer marmornen Terrasse vor einem prunkenden südlichen Hintergrund mit wogenden Röcken tanzte, von einer dunklen Mantille umflattert. Ein sehr wenig schönes Bild, wie ich damals fand und gewiß auch heute noch finden würde. Was aber nicht ausschloß, daß mein Vater es besonders schätzte. Niemanden wird das wunder nehmen, der weiß, wie weit die Ansichten von Vätern und Söhnen oft auseinandergehen.

Es mußte der letzte Schultag vor Beginn der Sommerferien gewesen sein. Wir hatten Handwerker im Hause, die irgend etwas an den Regenrinnen und an dem Holzgeländer des Balkons im ersten Stockwerk in Ordnung brachten – ja, so muß es gewesen sein, und das war auch der Grund, daß ich während dieser Zeit mein eigenes Zimmer hatte räumen und in ein anderes übersiedeln müssen, wo ich den Handwerkern, die freilich auch dort einiges zu tun hatten, nicht ganz so im Wege war.

Ich kam nach Hause, kurz vor Mittag, in jener frohen und unbeschwerten Stimmung, die man als Schuljunge zu haben pflegt, wenn eine Reihe von schönen Ferientagen unmittelbar bevorstehen. Ich stürmte die Treppe hinauf wie ein Wilder, riß die Tür meines jetzigen Zimmers auf und sprang von der Schwelle aus – eine oft und gern unternommene Übung – mit einem einzigen gewaltigen Satz auf das Liegesofa, das an der gegenüberliegenden Wand stand.

Aber als ich damals auf dem Ruhebett landete, warfen mich die Sprungfedern nicht wie sonst mit elastischem Schwung in die Höhe, sondern es gab ein knackendes, klirrendes Geräusch, und »Au!« schrie ich im selben Augenblick und besah meine Hand, denn ich hatte mir weh getan.

Der erste Schreck wich alsbald dem Erstaunen über diesen gänzlich unerwarteten Vorgang. Ich entdeckte im Handballen einen nicht allzugroßen Glassplitter, den ich schimpfend mit spitzen Fingern entfernte, und dann hob ich die Decke des Ruhebettes auf und sah, daß unter ihr ein Bild lag, eben jene spanische Tänzerin. Das heißt: viel Staat war jetzt nicht mehr zu machen mit diesem Bild – das Glas war in tausend Scherben zersprungen, und das Bild darunter zerkratzt, zerstört von der Wucht meines aufprallenden Körpers. Selbst der Rahmen hatte gelitten und war an einer Stelle zerbrochen.

Ich hatte nicht viel Mühe mir zu erklären, wie das Bild unter die Decke kam. Sicher hatte man es dort hingelegt, um es vor dem Staub zu schützen, den die an der Wand und auf dem Balkon arbeitenden Handwerker verursachten. Und ich tröstete mein aufgescheuchtes Gewissen zunächst mit der Vorstellung, daß das Bild, dank dieser törichten und unüberlegten Aufbewahrung, auch entzweigegangen wäre, wenn ich nicht mit einem Hechtsprung auf dem Ruhesofa gelandet wäre, sondern mich ganz ruhig und sanft darauf niedergelassen hätte. Aber jetzt erst, und obgleich mein Gewissen mich schon von jeder Schuld freigesprochen hatte, kam der Schreck. Ich begriff, daß es unmöglich sein würde, das Bild wiederherzustellen und ihm ein halbwegs ansehnliches Aussehen zu geben. Und ich dachte, ich müsse nun vor meinen Vater treten und ihm sagen, was geschehen war und wie es geschehen war. Aber gleich wußte ich auch, daß ich das niemals fertig bekommen würde. Es ging mir, wie vielen andern Menschen, wohl den meisten, in ähnlichen Fällen. Man weiß ganz genau, was das Richtige und Anständige ist, aber man tut es nicht, aus irgendeinem schwer erklärbaren Grunde. Ganz sicher hätte ein offenes Geständnis die Angelegenheit auf's schnellste bereinigt. Es würde ein kleines Donnerwetter geben, aber dann würde der Himmel gleich wieder blau werden und alles wäre in bester Ordnung.

Ich tat nicht, was ich hätte tun müssen – und auch tun konnte, denn die Schuld, die größere Schuld an diesem Mißgeschick jedenfalls, lag gewiß nicht bei mir. Statt dessen sammelte ich sorgfältig alle Glassplitter und Scherben zusammen, nachdem ich vorher das Bild auf den Fußboden unter das Liegesofa gelegt hatte, wo die weit herunterfallende Decke es allen neugierigen Blicken entzog, und glitt dann aus dem Zimmer ins Treppenhaus. Es war ganz still hier – die Handwerker waren wohl zum Essen gegangen, und nur in der Küche unten klapperten meine Mutter und das Mädchen mit Tellern und Töpfen. Sie hatten wohl noch gar nicht bemerkt, daß ich schon nach Hause gekommen war.

Ich lief auf Katzensohlen die Treppe herunter, in den Garten, bis weit nach hinten, wo die Müllgrube war. Dort warf ich die Glasscherben hinein, zu vielen andern Scherben, die da schon lagen, und kam wieder zurück und in das Zimmer oben, nahm das Bild an mich und kletterte auf den Boden, der weit und geräumig, mit vielerlei Ecken und Winkeln, das ganze Haus überdeckte. Lange irrte ich dort aufgeregt und suchend herum. »Hier« entschloß ich mich endlich und hob den Deckel von einer riesigen Kiste, die bis obenhin mit alten Zeitschriften und Büchern angefüllt war: mit ein paar Jahrgängen der »Gartenlaube« und des »Daheim«, mit gebündelten Heften von »Über Land« und »Meer«, mit spanischen und portugiesischen Witzblättern, die noch von meinem verstorbenen Onkel stammten. Keuchend und schwitzend hob ich das alles heraus, bis ich an den Boden der Kiste gelangt war – dort legte ich dann das Bild hin, ordnete die Zeitschriften und Bücher sorgfältig schichtend darüber und schloß schließlich wieder den Kistendeckel über dem Zeugnis meiner Schandtat.

Bei Tisch benahm ich mich besonders laut und ungebärdig, lief dann gleich hinaus in den Garten, spielte mit dem Hund, versuchte, in der Laube zu sitzen und zu lesen, mußte diese Bemühungen aber bald aufgeben, als vollkommen hoffnungslos. Wohl hauchte mich aus Flieder und Jasmin und Jelängerjelieber die Süße des in voller Pracht stehenden Sommers an, ich aber schaute nur alle Augenblicke nach meiner klobig-einfachen Jungensuhr und rechnete mir aus, wann wohl mein Vater nach Hause käme und wie lange das nun noch dauern würde.

Ich wünschte, es möge noch eine Ewigkeit dauern, und ich wünschte auch wieder, es möge bald sein, damit nur dieser Zustand peinigender Unruhe endlich ein Ende nehme. Aber als er dann kam, gegen sechs Uhr, wie immer, da dachte ich nur: wäre es doch lieber vier, oder drei, oder noch früher.

Mein Vater war offensichtlich guter Stimmung – auch ihn hatte dieser heitere Sommertag fröhlich gemacht. Er aß schnell und wollte dann, nach seiner Gewohnheit, in den Garten gehen und noch ein bißchen arbeiten. Aber plötzlich fiel ihm ein, sich zunächst zu überzeugen, was die Handwerker geschafft hatten.

Ich blieb im Wohnzimmer hocken, ich hörte seine schweren, bedächtigen Schritte die Treppe hinaufwandern, und ich wünschte, ich wäre tot.

Oben hörte ich dann die Tür gehen, und gar nicht viel später rief er laut, daß es durch das ganze Treppenhaus schallte: er rief meinen Namen, und er rief den meiner Mutter, und gemeinsam folgten wir beide dem Ruf, der ein Befehl war.

»Sagt mal«, fragte uns mein Vater, und noch war nicht die Spur einer Unruhe oder eines Verdachts in seiner Stimme, »wo ist denn eigentlich das Bild geblieben, das hier immer hing? Das von der spanischen Tänzerin – ihr wißt schon!«

»Das habe ich hier unter die Diwandecke gelegt, damit es nicht verstaubt!« antwortete meine Mutter ruhig. Und schon hob sie die Decke empor. »Nanu?« entfuhr es alsbald ihren Lippen, da ihr der Bezug des Liegesofas nackt und bloß entgegenstarrte.

»Hast du es vielleicht wo anders hingelegt?« fragte sie mich. Ich fühlte, wie ich blaß wurde, wie mir alles Blut zum Herzen strömte. Doch war es schon etwas dämmerig im Zimmer, und die andern sahen nicht, wie sehr ich die Farbe wechselte. Ich wußte: jetzt gibt es kein Zurück mehr.

»Nein«, antwortete ich leise und war selbst überrascht über den ruhigen Klang meiner Stimme und darüber, daß ich mich so in der Gewalt hatte. »Ich bin doch, seit ich aus der Schule kam, noch nicht oben gewesen.« Das war eine bewußte Lüge, und es war natürlich gemein, zu lügen – niemand brauchte mir das zu sagen. Aber ich konnte wohl nun nicht mehr anders, ich saß fest in dem Netz, das ich mir selbst geknüpft hatte.

»Merkwürdig«, brummte mein Vater, und jene finstere Falte grub sich in seine Stirn, die ich so gut kannte und … fürchtete.

Das Mädchen wurde dann gerufen, es wußte nichts.

»Seltsam«, sagte mein Vater wieder. »Oder findest du es nicht seltsam?« Ja, meine Mutter fand es auch außerordentlich seltsam und beeilte sich, dieser Ansicht in beredten Worten Ausdruck zu verleihen.

»Das Bild kann doch nicht plötzlich verschwinden, es kann doch nicht weglaufen«, brüllte mein Vater in jäh ausbrechendem Zorn. »Da stimmt doch irgend etwas nicht! Da ist doch etwas nicht in Ordnung?«

Die Mutter, zart, nicht ganz gesund, leicht verletzlich und immer etwas in Angst vor den Ausbrüchen von Jähzorn, die meinen Vater zuweilen überfielen, zitterte heftig. Sie zitterte fast noch mehr als ich, den die unterdrückten Tränen, die Reue um etwas nicht wieder Gutzumachendes, schüttelten.

»Man muß suchen«, sagte mein Vater wieder. »Und wenn ich mir die ganze Nacht um die Ohren schlagen sollte, ich werde nicht ruhen, bis die Angelegenheit aufgeklärt ist.«

»Aber beruhige dich doch«, suchte meine Mutter zu besänftigen und streichelte seinen Ärmel. Aber er dachte nicht daran, sich zu beruhigen, er wollte es einfach nicht. »Es ist ja«, schrie er wieder, »als lebte man unter lauter Dieben und Mördern.«

Das war natürlich übertrieben – selbst einem Kinde mußte es so vorkommen. Aber ich war nicht in der Stimmung, es irgendwie komisch oder gar lächerlich zu finden. Seine Schnurrbarthaare sträubten sich, seine hellen Augen blitzten, und mit Schreck beobachtete ich die Veränderung, die der Zorn an ihm hervorgebracht hatte.

Mit der Gründlichkeit und Zähigkeit eines pflichtbewußten Beamten, der er war, begann mein Vater nunmehr, seinen Entschluß in die Tat umzusetzen.

Im Keller fing er an und dehnte seine Nachforschungen mählich über alle Räume des Hauses aus. Ich mußte ihm dabei behilflich sein und – das war meine eigentliche Aufgabe – mit einer Kerze dabeistehen und ihm leuchten.

Wir begannen gegen acht Uhr abends, und es war fast Mitternacht, als wir auf dem Boden anlangten. Die ganze Zeit über mußte ich die wildesten und heftigsten Äußerungen meines Vaters über die Schlechtigkeit der Welt im allgemeinen und die Niedertracht der Menschen bei uns im besonderen anhören. So wütend war er. Und meine Unruhe steigerte sich, je näher wir dem Versteck kamen.

Wie merkwürdig verändert der große Boden jetzt, in der Dunkelheit, aussah. Die Kerze in meiner Hand erhellte mit ihrem flackernden Licht nur einen kleinen Kreis – alles, was jenseits dieses Kreises lag, ertrank in dem grauenhaften Nichts rabenschwarzer Nacht.

Sehr viele Kisten hatte mein Vater schon durchsucht, hoffnungslos und verbissen. Und heftiger, wahnsinniger klopfte mein Herz, je näher wir jener kamen, die auf ihrem Grunde des Geheimnisses Lösung barg. »Ich bin ein schlechter Mensch«, dachte ich, und dann, mit einem Male, warf ich all meine Angst und Qual auf Gott, auf jenen Großen, Unsichtbaren, von dem ich bisher nur eine sehr nebelhafte Vorstellung hatte. Auf ihn, der über allen Wolken und Sternen thronte, und den ich bislang arg gleichgültig, ja mit dem ganzen Hochmut der unbeschwerten und gesunden Jugend behandelt hatte. »Lieber Gott«, betete ich lautlos, »hilf mir doch. Dies eine Mal nur hilf mir. Und ich will auch ganz bestimmt ein guter Mensch werden und so etwas nie, nie mehr wieder tun …«

Hörte Gott mich wirklich? Hatte er, der für so viele Dinge sorgen mußte, wirklich Zeit und Lust, auf das hilflose Gestammel eines kleinen Jungen zu achten? Nun, beinahe hatte ich Grund, es zu glauben. Denn plötzlich, als er bereits einige Zeitschriftenbündel aus jener Kiste herausgehoben hatte, richtete mein Vater sich auf, reckte und streckte den vom vielen Bücken steif gewordenen Rücken und meinte mit müder, völlig veränderter Stimme: »Aber das ist ja Wahnsinn … natürlich hat einer von den Handwerkern das Bild gestohlen. Einer, der nicht dumm war und der wußte, was das Bild wert ist, einer, der Geschmack hatte. Und … ich habe es so geliebt.«

Die letzten Worte schnitten mir ins Herz. Ach, ich hätte mich weinend an des Vaters Brust werfen und alles gestehen mögen – er würde mir verzeihen, gewiß würde er das, und es wäre alles wieder gut. Aber dann sah ich in sein Gesicht – wir waren immer ein bißchen spröde und scheu voreinander, wir beide, wir konnten nie recht ausdrücken, was wir empfanden. Und ich erkannte, daß ich nicht tun könnte, was doch das einzig richtige gewesen wäre.

Mit schwerfällig-müden Schritten ging mein Vater vor mir die Wendeltreppe herunter. »Hast mir wacker geholfen«, sagte er unten. Und was er noch nie getan hatte, soweit ich mich entsinnen konnte, das tat er jetzt. Er gab mir die Hand beim Gutenachtsagen, und er streichelte meine Haare, die mir wirr in die Stirn fielen …

Am andern Vormittag, ganz früh, von niemandem gesehen, schlich ich mich auf den Boden. Leerte mit zitternden Händen die Bücherkiste, holte das Bild hervor, löste es aus dem Rahmen – einem schönen und kostbaren, sehr eigenartigen Rahmen, der sicher viel wertvoller war als das Bild, das er umschloß –, zerbrach den Rahmen in mehrere Stücke, steckte das Bild, zu einem Ballen zerknautscht, unter die Matrosenbluse, die Rückenpappe, die ich vorher zerriß, dazu, und sah mich dann suchend um. Es galt ja jetzt, in die Tat umzusetzen, was ich mir in einer langen und schlaflosen Nacht überlegt hatte.

Da ragte ein Türmchen aus dem Dach unseres Hauses kantig heraus. Des Türmchens steile Bedachung zog sich bis zur halben Höhe eines der Bodenfenster herunter – wenn man sich weit genug hinauslehnte, konnte man die Dachrinne mit den Händen berühren.

Auf dieses Türmchen hatte ich meinen Plan gesetzt. Ich kletterte auf den Fenstersims, schaute erst sorgfältig aus, ob auch niemand von unten her mich beobachtete, und schob dann, mich weit vorbeugend, ein Stück des Rahmens nach dem andern in die Rinne, die an der unteren Kante des Daches entlanglief. Mit der Pappe machte ich es ebenso.

Dann lief ich hinunter in mein bisheriges Zimmer, das eben leer stand. Noch waren die Handwerker nicht gekommen, ich hatte wohl noch eine gute halbe Stunde Zeit. Sie genügte vollauf, das Bild, das ich an meinem Körper verborgen hatte, zu verbrennen. Stück für Stück, so daß auch nicht die geringste Spur mehr übrig blieb.

Am Abend des gleichen Tages noch wurde ich sehr krank. Von Fieberschauern geschüttelt, lag ich heiß und glühend in meinen Kissen, und es war wohl der Sorge um mein Leben zuzuschreiben, daß von dem verschwundenen Bilde vorläufig nicht mehr die Rede war. Und später, nun, da war es dann wieder zu spät, die einmal unterbrochene Suche fortzusetzen oder gar die Polizei mit der Sache zu beschäftigen …

Aber zwei Jahrzehnte später wurde ich noch einmal an alles erinnert.

Damals besuchte ich an irgendeinem Abend meinen Vater. Er wohnte nun zur Miete – in der Nähe jenes Hauses, das einmal sein Eigentum gewesen war, und das er nicht hatte halten können.

Wir saßen beieinander und plauderten von gewesenen Dingen. »Das war damals, als das Bild weggekommen war«, sagte mein Vater plötzlich, übergangslos. »Du weißt doch: das von der spanischen Tänzerin.«

Ich wußte, ja. Oh, wie gut ich mit einem Male alles wußte, was so lange im Unterbewußtsein verborgen lag. »Da ist nun«, dachte ich erschüttert, »die Welt um und um gedreht worden, inzwischen, sie ist nicht mehr die alte Welt, aber dieser alte Mann, der mein Vater ist, der hat das nicht vergessen. Eine ganze persönliche Zeitrechnung hat er sich zurechtgelegt, alles setzt er in Bezug auf jenes Jahr. Wie sehr muß er an dem Bild gehangen haben, das ihm kein bloßes Ding war, das ihm viel mehr bedeutet hat als eine Sache. Als etwas, was man kaufen kann.«

»Seit jener Zeit«, sagte mein Vater noch, »glaube ich beinahe, daß es doch so etwas gibt wie ein Wunder. Denn sonst … sonst könnte doch nicht ein Bild, ein großes Bild, so völlig verschwinden.«

Er sah mich voll an, und der Schalk blitzte in seinen Augen.

Ich antwortete nicht – ich hätte kein Wort sagen können in diesem Augenblick.

Später, auf dem Heimweg, als ich an unserm einstigen Hause vorbeiging, suchte ich mit den Augen das Türmchen. Ich fand es, und ich dachte, ja ich fragte mich: »Ob die Rahmenstücke wohl noch in jener Rinne liegen? Und wenn – wie sehr mag sie Sturm und Regen und Unwetter verwandelt haben in den zwanzig Jahren!«

Und eine Traurigkeit fiel mich an, wie ich sie seit langem nicht gekannt hatte.

Erste Liebe

Der Zug, der jeden Morgen bald nach sieben Uhr unsern kleinen Vorort fauchend und pfeifend verließ, dieser Zug gehörte der Jugend. Jedenfalls: wir Jungens, die wir ihn erstürmten mit Rufen, Geschrei und Getobe wie eine feindliche Festung, wir betrachteten die einzelnen Wagen beinahe als unser Eigentum, und es fehlte nicht viel, so hätten wir auch Lokomotive und Packwagen geentert. Aber wenigstens im Zuge selbst, da war man Herr. Herr durch die Masse, die kompakte, geschlossene Einheit, die man darstellte.

Es ist natürlich nicht angenehm für einen älteren Menschen, sich in einen Haufen Jugend versetzt zu sehen, der einem ablehnend, wenn nicht gar feindlich gegenübersteht. Die Überlegenheit der Jahre erkennt bald, daß sie auf schwankendem Grunde steht, sobald der Gegner seinerseits sich auf seine Jugend und auf das Recht der Jugend beruft. Und wer gern friedlich in seinem Abteil sitzen und gemächlich die Zeitung lesen oder gar den zu früh abgebrochenen Schlaf durch ein kleines Nickerchen wohltuend ergänzen wollte, der mied gern einen Zug, in dem es so laut und lärmend zuging, in dem die Schüler schrien und Unsinn trieben und lachten, man selbst aber wahrlich nichts zu lachen hatte.

Trotzdem hielt der oder jener an der Benutzung gerade dieses Zuges fest. Aber ich denke, es geschah nicht so sehr aus Opposition, aus purer Tapferkeit, sondern einfach aus dem einen Grunde, weil die Art der beruflichen Tätigkeit, weil Amt oder Dienst es verlangten. Weil man, mit dem früheren Zug fahrend, viel zu früh in die Stadt gekommen wäre – weil der nächste Zug einen zu spät zur Stätte seiner Wirksamkeit gebracht hätte.

Einer der Zähen, Unentwegten, die sich jeden Morgen mit der Jugend zugleich in den leer einrollenden Zug hineindrängten, war Herr Haberlein. Herr Aloisius Haberlein, ja. Daß dieser Mann einen so seltenen und in dieser Zusammenstellung nach Meinung von uns Jungens unbedingt komisch klingenden Namen trug, das entdeckt zu haben, war mein von keinem Neider abzustreitendes Verdienst. Einmal, als mir der Eindringling befangen, beinahe etwas zaghaft gegenüberstand, bemerkte ich, daß seine schäbige, ja unglaublich abgenutzte Aktentasche auf der Innenseite in sauberer Rundschrift Vor- und Zunamen des Besitzers verzeichnete. Ich beeilte mich natürlich, meine unbezahlbare Entdeckung sofort der Allgemeinheit zugänglich zu machen, und schon am nächsten Morgen gab es ein großes Hallo. »Steh doch auf, Bauer«, brüllte einer, »biete Herrn Haberlein deinen Platz an.« Und ein anderer warf sich selbstgerecht in die Brust und schrie: »Ihr unverschämten Burschen – wollt ihr etwa hier sitzen und herumlümmeln, während Herr Haberlein stehen muß?« Dann sprangen sieben, acht von uns auf einmal von ihren Bänken empor, und wenn Herr Haberlein sich auf einen der freigewordenen Plätze setzte, unverständliche Worte des Dankes murmelnd, taten die anderen beleidigt und gaben dieser Empfindung in lauten, drastischen Bemerkungen Ausdruck.

Herr Haberlein, etwas schwerfällig im Geist, begriff niemals, welchem Umstande wir die Kenntnis seines Namens verdankten. Er wußte auch nicht recht, ob er sich durch die erstaunlich häufige Nennung seines Namens geehrt oder verletzt fühlen sollte, und rang mit einem dünnen, hilflosen und nicht ganz aufrichtigen Lächeln um das Wohlwollen der Jugend.

Diese Mühe freilich hätte er sich sparen können. Denn diese Jugend, die den Zug allmorgendlich mit so schöner Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch nahm, nährte gegen ihn, den Fremdling, den Eindringling, eine Abneigung, deren Wurzeln tiefer saßen, als daß sie durch ein werbendes Lächeln hätten herausgerissen werden können. Herr Haberlein war uns eben nicht nur eine komische Figur und Träger eines nicht ortsüblichen Namens – vielmehr sahen wir in ihm auch einen besonders verächtlichen Vertreter jener bedauerlichen Gattung »Erwachsene«, gegen den man sich mit der Grausamkeit und der blühenden Gesundheit der Jugend zur Wehr setzte. Sah er nicht aus wie ein pensionierter Seehund mit seinem merkwürdigen, traurig an den Seiten herabhängenden Schnurrbart? Und sein Gesicht – graufarbig war es und zerknittert, mit einer häßlichen, an der Spitze geröteten Nase, mit einem Kneifer, der, immer schlecht geputzt und trübe, schief und haltlos, wie verloren, auf dem Rücken dieser Nase schwebte. Schief und krumm war die ganze Haltung von Herrn Haberlein, und ungepflegt sein Äußeres: von dem blanken, abgescheuerten Rock bis zu dem staubfarbenen Hütchen, das sein schütteres Haar bedeckte.

So etwas, nein, das gehörte nicht in diesen Zug. Das mußte man so bald als möglich hinausgraulen. Wir wurden es langsam müde, Herrn Haberlein mit betonter Freundlichkeit, mit übertriebener Geste einen Sitzplatz anzubieten. Vielmehr galt es, Mittel und Wege ausfindig zu machen, die Herrn Haberlein die weitere Benutzung eben dieses Zuges für alle Zukunft verleiden würden.

An dieses Vorhaben dachte ich, als ich eines Mittags, an einem sonnenüberglänzten, fast hochsommerlich heißen Frühlingstage in schlichtem Dauerlauf dem Bahnhof entgegentrabte. Ich hatte es furchtbar eilig, früh nach Hause zu kommen – ja, unbedingt mußte ich versuchen, noch den ein Uhr zehn abgehenden Zug zu erwischen. Denn erstens hatte ich wieder einmal große Sehnsucht nach meinem Phylax, den ich in der letzten Zeit arg vernachlässigt hatte, und zweitens war bereits für vier Uhr nachmittags ein großes Treffen der Untersekunda im Walde vereinbart, zu dem einer das Tesching mitzubringen versprochen hatte, das ihm zu seinem Geburtstag geschenkt worden war.

Aber gerade als ich über den Holzmarkt lief, geschah etwas, was alle meine Vorsätze fortwehte, als wäre ein Windstoß in einen Haufen Spreu gefahren. Aus einer Eisdiele kam ein Mädel heraus, eifrig und hingegeben an einer Eiswaffel lutschend, deren süßer Inhalt sich unter der Einwirkung der Sonne sehr rasch in farbiges Wasser zu verwandeln drohte.

Ich hatte mich bisher nie viel um Mädchen gekümmert. Ihr Vorhandensein nicht oder bestenfalls mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen, sie für durchaus überflüssig gehalten. »Mädchen sind albern«, so war meine Meinung, »klatschsüchtig und dumm. Die meisten sind zudem ängstlich, ja feige, zu keinem richtigen Spiel zu gebrauchen, und heulen und schreien, wenn man sie anrührt.« Ja, dies war meine Ansicht, eine theoretische Ansicht im großen und ganzen, weil ich der Möglichkeit, sie in der Praxis bestätigt zu finden, gern aus dem Wege ging.

Viele Jahre hindurch hatte ich mich zu dieser Überzeugung bekannt – jetzt änderte ich meine Meinung innerhalb einer Sekunde. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde beinahe. Eine unbeschreibliche, nie vorher gekannte, eine atemberaubende Süßigkeit durchströmte mein Blut. Jählings verfiel ich aus meinem Dauerlauf in Schritt, und der Zug, den ich eben noch unbedingt hatte erreichen wollen, das Wiedersehen mit meinem Hunde Phylax, das Spiel im Walde und die Angelegenheit mit dem Tesching, das alles wurden mir plötzlich unendlich gleichgültige Dinge.

Denn hier: hundert-, nein tausendmal hatte ich auf gemeinsamen Wanderfahrten die Lieder mitgesungen von dem schwarzbraunen Mädchen, das man so gern küßt, und von dem schwarzbraunen Madel, das zu Haus bleibt. Gesungen, ja – und mir nichts dabei gedacht. Jetzt aber stand es vor mir, das Mädchen. Mit einer Haut, bräunlich, fast bronzen, von dem Widerschein des jungen Blutes zart und rötlich untermalt. Wangen, sanft und weich wie die Haut eines Pfirsichs – gut müßte es tun, sie einmal mit leisen Fingern zärtlich zu berühren. Und der Mund, wie rot er brannte, in diesem sonnenüberfluteten Antlitz! Und wie die Augen glühten; schwarz wie Kirschen waren die Augen.

Eine komische Schwäche überfiel mich, während ich das Bild des Mädchens in mich hineintrank, die langen, etwas stakigen Glieder, das bunte, leichte, schottisch gemusterte Kleidchen, aus dem die nackten Arme schlenkernd hervorwuchsen.

Dem Mädchen konnte meine Aufmerksamkeit nicht entgehen. Einen Augenblick schien es, als wollte sie mir – wie es ihren wenig mehr als vierzehn Jahren vielleicht am ehesten entsprochen hätte – lausbübisch das Zünglein zeigen. Aber plötzlich besann sie sich, warf den Kopf mit den kastanienfarbenen Locken hochmütig in den Nacken und ging, stolz und unnahbar, wie eine richtige »große Dame«, ihres Wegs. Zum Bahnhof.

Zum Bahnhof? Mein Herz setzte aus vor freudigem, namenlosem Schreck. Sollte sie etwa auch …? Ich wagte nicht, dies Unvorstellbare ganz zu Ende zu denken, folgte dem Mädchen vielmehr in demütigem Abstand, den ich freilich eifersüchtig wahrte, um sie ja nicht aus dem Auge zu verlieren. Ja, ich hatte plötzlich all meine knabenhafte Überlegenheit verloren. Lief dem kleinen Mädchen mit der Demut eines gehorsamen Hündleins nach.

So ein tapferer Junge ich aber auch bei anderen Gelegenheiten war oder wenigstens manchmal zu sein wähnte – die Tollkühnheit, mich zu ihr ins Abteil zu setzen, die brachte ich doch nicht auf. »Man darf so etwas nicht überstürzen!« entschuldigte ich mich vor mir selbst und benutzte die kurzen Minuten der Bahnfahrt dazu, mir auszumalen, wie dies märchenschöne, schwarzbraune Mädchen wohl heißen möge. Viele Namen, klingende, anmutige Namen durchschwirrten mein Hirn. Eine Lore war darunter und eine Inge und eine Sigrid. Schließlich blieb ich bei Ellinor hängen – kein Zweifel, sie hieß Ellinor und nicht anders.

Noch mehrmals sah ich sie im Laufe der nächsten Woche, und diese flüchtigen Begegnungen allein waren es, die mich trösteten gegenüber dem Schlimmen, das über mich hereinbrach. Dies Schlimme hing sehr innig mit der Schule zusammen, in der ich plötzlich auf rätselhafte Art völlig versagte, auf einfache, leichte Fragen äußerst blöde Antworten gab und selbst in Mathematik, meinem besten Fach, eine Vier erntete. Zum ungeheuren Erstaunen meiner Lehrer ebenso wie meiner Mitschüler.

Am Montag der nächsten Woche nahm ich endlich all meinen Mut zusammen und stieg in das Abteil, in dem sie, Ellinor – »meine Ellinor«, wie ich mit der schönen Selbstverständlichkeit besitzergreifender Liebe dachte –, bereits saß. Aber ich wagte doch nicht, ihr in die schwarzen Augen zu schauen, ja, ich sah über sie hinweg, als wäre sie Luft. Wofür das Mädchen mit dem Lächeln frühwissender Evastöchter quittierte.

Aus dem Zustand seliger und seltsamer Verträumtheit, in dem ich diese Tage verbrachte, wurde ich am Morgen jeweils herausgerissen, wenn ich mit Herrn Haberlein zusammentraf. Dann fand ich für kurze Zeit zu meiner Unbefangenheit, zu meinem natürlichen Übermut zurück. Und ich selbst war es auch, der endlich den Vorschlag machte, Herrn Haberlein einen Streich zu spielen: man solle seine Aktentasche, die er immer oben ins Gepäcknetz lege, von der anderen Seite herüberziehen, unauffällig, sie von Abteil zu Abteil bis ans Ende des Wagens weiterreichen, und bei Ankunft des Zuges gäbe es gewiß eine Möglichkeit, sich an der Aufregung des Suchenden zu weiden, ihn mit scheinheiligen Beileidsbezeugungen zu überhäufen, und ihn so lange in Ungewißheit lassen, bis Herr Haberlein gelernt habe, daß er besser täte, der Jugend das Feld zu räumen.

Mein Vorschlag wurde mit jener Begeisterung aufgenommen, die jeder Bösejungenstreich bei Halbwüchsigen zu entfesseln pflegt. Und ich dachte noch mit einem erwartungsvollen Lächeln an das für den kommenden Morgen Bevorstehende, als ich mittags im Zuge saß, der mich nach Hause bringen sollte. Da, im letzten Augenblick, öffnete sich die Tür – das Mädchen, Ellinor, sprang hinein, lachend, atemlos, schrie »Fix, Vati, fix!« und hinter ihr – ich riß vor Staunen und Entsetzen die Augen ganz weit auf – hinter ihr kletterte in den nun bereits anfahrenden Zug – Herr Haberlein!

In grenzenloser Verwirrung grüßte ich höflich und nett, ohne die Spur jener übertriebenen Devotion, die ich und meine Kameraden morgens zur Schau zu tragen pflegten. Herr Haberlein erkannte mich sofort – eine leise Röte überflog seine grauen Wangen, und er dankte erschreckt und unsicher, einem kleinen Tierchen ähnelnd, das sich plötzlich einer Bestie gegenübersieht, von der es nicht weiß, ob sie mit ihm spielen oder ihn zerfleischen wird.

Ich freilich dachte an nichts Derartiges. Ich hatte genug damit zu tun, mir den Kopf über die Frage zu zermartern: Wie ist es möglich, daß so ein unansehnlicher Mann eine solche Tochter hat? Ich fand natürlich keine Antwort auf diese Frage, und bei allem guten Willen gelang es mir nicht, in den Vater einen Abglanz jener Schönheit hineinzuzaubern, die aus dem klaren Antlitz des Mädchens hervorstrahlte. Das einzige Ergebnis meiner angestrengten Denkarbeit war, daß der Name Haberlein vielleicht doch nicht ganz so komisch klinge, wie es mir bisher aus unbekanntem Grunde erschien. Daß es von Rechts wegen ein ganz solider, ernsthafter, gut bürgerlicher Name wäre.

Ich war jetzt mit Herrn Haberlein durch ein zartes und inniges Band verknüpft, von dessen Art und Vorhandensein letzterer allerdings nichts ahnen konnte. Keinen Augenblick bestand für mich ein Zweifel darüber, daß ich das Attentat auf den Vater meiner Freundin, des geliebten Mädchens, verhindern mußte. Aber das Unglück wollte es, daß ich am folgenden Morgen zu spät den Bahnhof erreichte, um noch vor dem Einlaufen des Zuges mit den Kameraden sprechen zu können. Ich muß in der Nähe von Herrn Haberlein bleiben, dachte ich. Ich darf mich nicht drücken vor der Aufgabe, die mir bevorsteht – könnte ich anders Ellinor noch einmal in die Augen blicken? – Ich saß Herrn Haberlein gerade gegenüber, ich grüßte wieder, ehrerbietig und ernsthaft, zum großen Gaudium meiner Mitschüler, die hierin eine neue, äußerst erheiternde Nuance erblickten. Meine Augen blickten fest und gespannt nach der schäbigen Aktentasche oben im Gepäcknetz – ich brauchte nicht lange zu warten, als auch bereits eine Hand aus dem Nachbarabteil danach griff und sie herüberzuziehen begann.

»Laß die Tasche liegen!« schrie ich und sprang auf. Die Hand von drüben zuckte für einen Augenblick zurück – ein überraschtes und verständnisloses, rotes und frisches Knabengesicht tauchte hoch. Die anderen wußten nicht, was sie aus diesem Zwischenfall machen sollten. Herr Haberlein wiederum blickte mit gespieltem Gleichmut und leicht gequält aus dem Fenster – er dachte nicht im entferntesten daran, daß es um seine eigene Tasche ging.

Der von drüben hatte sich besonnen. Mit festem Zugriff riß er die Tasche an sich. Im nächsten Augenblick war ich wie ein Wiesel im andern Abteil, schlug dem Räuber meine kleine, feste Knabenfaust mitten ins Gesicht.

Ein wildes Getümmel war die unmittelbare Folge dieses Vorgangs. »Verräter« brüllten die anderen – denn war ich es nicht selbst gewesen, der den Vorschlag mit der Tasche gemacht hatte? –, und sie warfen sich über mich mit der Wucht ihrer Leiber.

Wohl setzte ich mich verbissen zur Wehr, wohl versuchte Herr Haberlein, der dunkel die Zusammenhänge ahnte, durch versöhnende, beruhigende, bittende Worte uns Kampfhähne auseinanderzubringen. Das freilich war ein aussichtsloses Unterfangen. Meine Nase blutete, mein Anzug war schmutzig und zerrissen, und ich wäre sehr schnell endgültig überwältigt worden, hätte nicht das Einlaufen des Zuges in Danzig dem lärmenden Tumult ein Ende bereitet.

Jetzt endlich ließen die anderen von mir ab. Schmutzig, keuchend, blutig entstieg ich dem Wagen, ging ganz allein den langen, langen Weg über den Bahnsteig bis zur Sperre. Vielleicht wollte sich Herr Haberlein um den Retter seiner Tasche bemühen – einen Augenblick hielt er sich an meiner Seite. Aber ich schaute ihn auf eine Art an, daß er achselzuckend und bekümmert zurückblieb.

Ganz allein, ein Geächteter, ein Verdammter, ausgeschlossen aus der Kameradschaft, der Zusammengehörigkeit der andern, trottete ich meinen gewohnten Weg zur Schule.

Nie vorher hatte ich es verstanden, daß es Menschen geben konnte, die sich das Leben nahmen. Jetzt zum ersten Mal kam mir ein dumpfes, zaghaftes Begreifen.

Ich verstand ja durchaus die Verachtung der anderen. Aber um so mehr litt ich darunter. Denn: konnte ich sie aufklären über die Beweggründe meines Handelns? Das durfte ich nicht, ich konnte es nicht tun, ohne zugleich mein Geheimnis mit Ellinor preiszugeben. Ich hatte meine Ehre verloren! Daß ich sie für das Mädchen geopfert hatte, das ich zu lieben glaubte, konnte den klaren Sachverhalt nicht aus der Welt räumen …

Die Zeit tat dann, was ich selbst zu tun nicht vermochte. Möglich auch, daß der oder jener meiner Kameraden sich den Vorgang richtig deutete. Daß man sich über meine Handlungsweise den Kopf zerbrach und endlich eine Erklärung fand, die der Wahrheit nahe genug kam. Ich selbst trug nichts dazu bei, doch fing bald der eine, bald der andere an, mit mir zu sprechen, freundlich zu sprechen. Und endlich war alles vergessen.

Denn wir waren ja schon in einem Alter, wo die sogenannte Freiheit und das sogenannte »wirkliche« Leben in immer greifbarere Nähe zu rücken begannen. Dieses Leben, das, je näher wir ihm kamen, ein umso seltsameres Gesicht zeigte und immer fragwürdiger und verworrener sich bot, so daß unsere bisherige schöne Unbekümmertheit und Selbstsicherheit, mit der wir der Welt entgegentraten, von Tag zu Tag mehr ins Schwanken gerieten.

Herrn Haberlein aber sah ich nie mehr wieder, und auch seine Tochter nicht, die ich Ellinor nannte, und die in Wahrheit Anna heißen mochte oder Jette.

Vielleicht waren sie plötzlich fortgezogen. Wer mochte das sagen?

Was blieb, war die Vorstellung von einem bräunlichen, strahlenden Mädchenantlitz, das ich nicht vergessen würde, nie aus der Erinnerung verlieren würde, und wenn ich ururalt werden sollte.

Versunkene Gärten

O ihr langen, dunklen Abende, ihr längeren, dunkleren Nächte, da ich, Jahre danach, während des ersten Weltkrieges tief im Herzen Rußlands das harte, bittere Brot der Gefangenschaft aß! Wie oft wollte Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Schwermut mich überwältigen, wie oft drohte Kleinmut von meiner unstet zitternden Seele Besitz zu ergreifen.

Aber dann gingen meine Gedanken über die endlose, schneebedeckte Weite der russischen Steppe hinüber zu meiner Heimat. Alles Nahe, alle Erlebnisse der letzten Jahre, sank wie ein schwerer Stein tief hinunter in den Brunnen des Vergessens. Und statt dessen rückte das andere, längst Gewesene, mir immer näher, stand fast greifbar vor meinen Augen. Die türmereiche, schöne Silhouette der Stadt zwischen Weichsel und Mottlau, die meine früheste Kindheit umhütet hatte, und, klarer noch, beseligender noch, das Haus, der schattende Garten, darin meine Jugend wurzelte. Alles wurde wieder so wunderbar lebendig, und ein süßer Trost, eine selige Ruhe strömten in mich hinüber. Eine schöne, gläubige Zuversicht.

Ich kam dann zurück, und ich mußte in einem fremden Haus an eine fremde Wohnungstür pochen, um Einlaß bitten, weil das andere, weil unser Haus nicht mehr unser war.

Um meiner Mutter willen, die allein die große Last, die große Verantwortung für das Besitztum nicht mehr zu tragen mochte, alt schon und krank, wie sie war, hatte mein Vater es mitten im Kriege verkauft. Und meine Mutter war die erste, die an dieser Entwurzelung zerbrach, die starb, kaum daß ich ihren welk gewordenen Mund nach endlos langen Jahren wieder geküßt hatte.

Mein Vater, der Stärkere, eine wirkliche Kraftnatur, ließ sich nicht so schnell überrennen. Er mietete eine Wohnung in der Nähe unseres früheren Besitzes – das ließ sich jetzt gut machen, es waren immer mehr Häuser gebaut worden, im Laufe eines Jahrzehnts, auf jenem Ende –, pachtete ein Stückchen Land dazu, auf dem er jetzt, mit Freizeit genug, seiner Leidenschaft frönen konnte. Jeden Morgen sah er, ein anderer Ritter Toggenburg, zu dem Haus und dem Garten hinüber, die einmal sein gewesen waren. Sah, wie beides unter unfähigen und törichten und verständnislosen Besitzern langsam, aber unwiderruflich verfiel – alles, was er mit so viel hingebender Liebe geplant und großgezogen hatte. Täglich aufs neue fraßen ihn dann Zorn und Erbitterung, und ich glaube, dieser Zorn übte eine lebenverlängernde Wirkung auf ihn aus.

Er überlebte meine Mutter um fast zwanzig Jahre. Er wurde sehr, sehr alt und starb erst, als er gezwungen wurde, seine Wohnung aufzugeben und nun nicht mehr hinüberschauen konnte zu jenem verlorenen Paradies, das ihm einmal die Erfüllung seiner schönsten Träume bedeutet hatte.

Und ich? Nun, mein Herz klopfte um nichts schneller, wenn ich, in langen Zwischenräumen, aus irgendeinem Grunde einmal an jenem Haus vorübergehen mußte. Und an dem ungepflegten Garten. Sie haben keinen Teil an mir. Sie sind nicht mehr, was sie waren – was sie mir einst waren.

Der Garten meiner Jugend ist versunken, wie die ganze Stadt versunken ist, und auf der Erde würde ich ihn vergeblich suchen. Aber er ist doch da, unberührt und herrlich und wunderbar wie einst blüht er, unverlierbar, auf dem Grunde meiner Seele.

Und so kann er mir nimmer verlorengehen. Und wird seinen süßen, bezaubernden Duft verströmen, so lange ich leben darf …


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