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Fünfzehntes Kapitel.
Der letzte bleibt nicht allein

1

Es ist nun Ende November, fast Dezember geworden; mit eisigen Stürmen, mit nassen, häßlichen Schneefällen geht das Jahr seinem Ende zu. Die letzten Kartoffelbuddler sind geflohen, ein großer Schlag, zehntausend Zentner Kartoffeln und mehr stecken noch in der Erde. Nach dieser Richtung hinaus mag Wolfgang Pagel nicht fahren; eine zornige Scham überkommt ihn, wenn er das Kartoffelkraut über der Erde verfaulen sieht und daran denkt, daß auch die Knollen in der Erde verfaulen – indes die Menschen in den Städten vor Hunger umkommen.

Ich habe vieles falsch gemacht, denkt er. Aber wie zum Teufel hätte ich es wissen sollen?! Keiner hat es mir gesagt, und ich habe jeden Tag so vieles zu erledigen gehabt, daß ich nicht über den Tag hinaus denken konnte. Gleich vom Feld hätte ich die Kartoffeln zur Bahn fahren sollen, dann hätten wir jetzt das bißchen Geld, das uns immer fehlt. Nun lagern sie in den Mieten, von Frost und Dieben bedroht. – Erst im Frühjahr werden sie zu verkaufen sein, und wer wird dann hier wirtschaften?

Die Dreschmaschine draußen singt und brummt – aber sie ist zu laut, sie ist zu auffallend. Da ist ein Mann in Frankfurt, er hat einmal eine große Summe Inflationsgeld hergegeben, es wurde dafür ein Auto gekauft – nun will der Mann seine Ware haben. Die Zeiten beginnen sich zu ändern, in Berlin sollen sie nun wirklich die Notenpresse stillgelegt haben, es heißt, die Mark wird nicht mehr tiefer fallen: als für einen amerikanischen Dollar 4 200 Milliarden Mark gegeben wurden, hörte die Mark auf zu fallen. Vielleicht bleibt sie auf diesem Stand wirklich stehen – schließlich ist auch das egal.

Die Dreschmaschine brummt und singt – manchmal schafft sie für den Mann in Frankfurt Roggen, manchmal muß der leer ausgehen, weil ein anderer rascher ist. Der Herr Geheimrat von Teschow hat den schönen Ort Nizza an der Azurküste verlassen, er wohnt nun in der angenehmen Stadt Dresden, genauer auf dem Weißen Hirsch in Loschwitz. Vielleicht will er abnehmen, oder seine Galle plagt ihn, wenn er an Neulohe denkt. Oder die alte gnädige Frau hat es mit den Nerven ...

Jedenfalls besuchten Sendboten von ihm häufig Neulohe. Es sind Gerichtsvollzieher und Obergerichtsvollzieher, auch ein fröhlicher Rechtsanwalt mit roten Schmissen und sehr dünnem, blondem Haar ist für Wolfgang eine bekannte Figur geworden. Der Vater aus Dresden schnappt zu, er hat Witterung und einen guten Appetit. Dazu hat er ein vollstreckbares Urteil, oh, es ist alles in bester Ordnung! – Wieder hat er 300 Zentner Roggen geschnappt, einen Waggon, den der Mann in Frankfurt haben sollte ...

Pagel sitzt an seiner Schreibmaschine, es ist erst halb neun Uhr morgens, er tippt einen Brief, den der Postbote unbedingt noch mitnehmen muß.

Sehr geehrter Herr Soundso, zu meinem Bedauern muß ich Ihnen mitteilen, daß der Ihnen bereits avisierte Waggon Roggen (Baden 326 485, 15 tons) noch vor seinem Abrollen auf der hiesigen Verladestation von dem Ihnen bekannten andern Gläubiger des Herrn von Prackwitz beschlagnahmt wurde. Ich bitte Sie noch um einige Tage Geduld, ich werde eine Ersatzlieferung so schnell wie möglich vornehmen. Mittlerweile bitte ich zu erwägen, ob Sie das für Sie bestimmte Getreide nicht direkt mit Lastzug von der Dreschmaschine abholen können. Ich habe Ihnen ja bereits mündlich ausgeführt, daß es weder an unserm guten Willen zu liefern noch an der Möglichkeit fehlt ...

Aber was sagte die Herrschaft dazu? Was sagen die beiden Leute in der Villa dazu?

Sie sagen gar nichts dazu!

Der Rittmeister spricht überhaupt nicht gern ein Wort, er sitzt am liebsten still neben seiner Frau. Und Frau Eva nickt mit dem Kopf: Machen Sie das ganz so, wie Sie es für richtig halten, Herr Pagel. Sie haben ja Vollmacht ...

Aber Ihr Herr Vater ...

Ach, Papa – er wird es schon nicht so schlimm meinen. Sie sollen sehen, wenn alles ganz verwirrt ist, kommt mein Vater, bringt alles in Ordnung und strahlt, weil er so klug sein darf. Nicht wahr, Achim, so hat es Papa doch immer gemacht –?

Der Rittmeister nickt beistimmend mit dem Kopf, er lächelt.

Aber ich habe kein Geld für die Leutelöhnung! ruft Pagel verzweifelt.

Herr Pagel! Verkaufen Sie doch irgend etwas – verkaufen Sie Kühe, verkaufen Sie Pferde! Was brauchen wir jetzt zu Winters Anfang, wo die Arbeit zu Ende ist, Pferde?! Nicht wahr, Achim, im Winter braucht man doch keine Pferde?

Nein. Der Rittmeister ist einverstanden, im Winter braucht man keine Pferde.

Der Pachtvertrag untersagt den Verkauf des lebenden Inventars. Das lebende und tote Inventar, gnädige Frau, gehört nicht Ihnen, es gehört Herrn Geheimrat.

Sind Sie Herr von Studmann geworden? Jetzt reden Sie sogar schon vom Pachtvertrag! – Lieber Herr Pagel, machen Sie uns keine Schwierigkeiten! Dafür haben Sie doch die Vollmacht! Es handelt sich ja jetzt nur noch um ein paar Tage ...

Pagel sieht Frau Eva fragend an.

Ja, sagt sie plötzlich eifrig, ich bin überzeugt, unsere Fahrten werden jetzt Erfolg haben. Der dicke Mann ist wieder aufgetaucht mit seinem steifen Hut ... Eine Weile war er fort, wir hatten die Hoffnung fast aufgegeben ... Aber jetzt ist er wieder da, er nickt uns zu ...

Pagel geht.

Pagel beschafft Geld und löhnt die Leute. Pagel beschafft Geld, und er gibt den Leuten Korn und Kartoffeln, ein Ferkel, Butter, eine Gans ...

Pagel sitzt an der Schreibmaschine und tippt:

Wir haben noch annähernd viertausend Zentner Getreide ungedroschen liegen ...

›Ist das nun wahr, oder ist es gelogen?‹ denkt Pagel. ›Ich weiß es nicht. Ich habe die Getreidebücher seit Wochen nicht mehr geführt, ich komme nicht mehr durch, ich habe jede Übersicht verloren ...‹ Er seufzt. ›Wenn jemand nach mir diese Bude übernimmt, muß er mich für sträflich leichtsinnig halten. Es stimmt ja alles nicht ... Wenn der Geheimrat das zu sehen kriegt ...‹ Pagel seufzt. ›Ach, das Leben macht keinen Spaß, es schmeckt mir nicht mehr. Sogar wenn ich an Petra denke, schmeckt es mir nicht mehr. Wenn ich je wirklich zu ihr kommen sollte, ich bin überzeugt, ich werde heulen, heulen, aus reiner Nervenschwäche ... Aber ich kann doch jetzt nicht weglaufen! Ich kann sie doch nicht sitzenlassen! Sie kriegen ja nicht mal mehr den Brennstoff für ihren verdammten Wagen gepumpt!‹

Er seufzt wieder.

Jetzt haben Sie dreimal geseufzt, Herr Pagel, sagt Amanda Backs vom Fenster her, und es ist erst halb neun Uhr morgens, wie wollen Sie da durch den Tag kommen?

Das frage ich mich auch manchmal, Amanda, antwortet Wolfgang Pagel, dankbar für die Ablenkung. Aber im allgemeinen sorgt der Tag schon selber dafür, daß man durch ihn kommt, und meistens ist kein Tag so schlimm geworden, wie ich am Morgen gefürchtet, und keiner so gut, wie ich am Morgen gehofft habe ...

Amanda Backs will antworten, sie hat ungeduldig zum Fenster hinaus gesehen, sie mag diese weisen Sprüche nicht hören. – Aber nun stößt sie einen Schrei aus, einen Schrei des Schreckens –: Herr Pagel, sehen Sie doch bloß –!

Pagel springt an das Fenster und sieht ...

Er sieht etwas gekrochen kommen, über die Wiese des geheimrätlichen Parks, ein Menschentier, auf Armen und Beinen kriechend, es ist vorne von einem düsteren, schrecklichen Rot, und es schleppt etwas Langes, Braunes hinter sich nach ...

Einen Augenblick steht Pagel erstarrt.

Dann schreit er: Der Förster! Jetzt haben sie auch noch den Förster erschlagen! und springt aus der Tür.

2

Es war gar nicht so schwierig gewesen für Wolfgang Pagel, den alten Förster Kniebusch wieder aus dem Bett zu bekommen, nachdem er ihn krank hineingelegt hatte – nicht halb so schwierig, wie es sich der Arzt gedacht hatte. Ein Mann, der sein ganzes Leben in der frischen Luft verbracht hatte, wurde so öde im Kopf, wenn er immer in der Luft des geschlossenen Zimmers lag –: Ich habe ja Angst, die Wände fallen mir über den Kopf! klagte der Förster zu Pagel. Es ist alles so eng – und sie will nicht, daß ein Fenster aufgemacht wird.

Vielleicht war es nicht die Enge, war es nicht die Atemnot, waren es nicht die Bienen, die für den Winter versorgt werden mußten, war es nicht der Jagdhund, der alle Tage sein Futter haben wollte, was den Förster so rasch wieder aus dem Bett trieb.

Vielleicht war es am stärksten ›Sie‹, seine Frau, die ihm die Stube verleidete. Da hatten sie nun ein ganzes Leben Seite an Seite verbracht – ach, sie waren sich ja so zuwider geworden, sie konnten sich nicht mehr sehen! Nein, sie sahen sich wirklich nicht mehr, Tag für Tag gingen sie aneinander vorüber, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Jetzt ging er in die Küche, er kochte sich seinen Kaffee und schmierte sich sein Brot, und dann, wenn er aus der Küche hinaus war, kam sie angeschnauft und kochte sich ihren Kaffee und schmierte sich ihr Brot.

Es war der äußerste, unüberwindliche Überdruß. Sie waren längst über Ekel, Haß und Abneigung hinaus, sie waren füreinander überhaupt nicht mehr da! Schon lange nicht mehr! Ehe er noch den Mund aufgemacht hatte, wußte sie schon, was er sagen würde, und er wußte alles, alles von ihr, wie ihr Erbsen bekamen, und daß sie bei Südwind auf dem linken Ohr nicht hörte und daß Neunaugen mit einem Lorbeerblatt viel besser schmecken als Neunaugen ohne ein Lorbeerblatt.

Ziehen Sie doch in ein anderes Zimmer, schlug Pagel vor. Es sind doch leere Zimmer genug im Haus.

Aber mein Bett hat doch immer hier im Zimmer gestanden! Ich kann es doch auf meine alten Tage nicht mehr umstellen. Ich würde nie einschlafen!

Dann gehen Sie eben ein bißchen spazieren, antwortete Pagel. Frische Luft und ein wenig Bewegung können Ihnen nur guttun, meint der Arzt.

Ja, meint er das wirklich? fragte der Förster ängstlich. Dann will ich es auch tun.

Er war sehr bereit, alles zu tun, was der Arzt anordnete. Der Arzt hatte ihm viel Gutes verschafft: Arbeitsruhe, Krankengeld, ein schönes Mittel, das zu sorglosem Schlaf verhalf. Und er hatte noch viel Besseres versprochen: das Ende der Inflation, Pensionierung, einen ruhigen Lebensabend.

Also ging der Förster spazieren. Aber gleich wurde es auch mit dem Spazierengehen wieder schwierig. In den Wald, der direkt an das Haus stieß, ging der Förster Kniebusch um keinen Preis mehr. Er hatte genug Wald in seinem Leben gesehen, viel zuviel. Er sah wirklich den Wald vor Bäumen nicht. Er sah nur noch Bäume mit soundsoviel Festmetern Holz, Eisenbahnschwellen, Felgenholz, Deichseln für den Stellmacher, Zaunpfähle ... Und wenn er im Wald spazierenging, sah es ja so aus, als sei er gar nicht krank, als mache er Dienst. Es wäre genauso gewesen, wie wenn ein kranker Angestellter zur Erholung auf sein Büro gegangen wäre.

Nach der andern Seite zu aber, nach dem Dorf hin, ging der Förster auch nicht. Die Leute hatten ihm sein ganzes Leben lang nachgesagt, er sei bloß ein Tagedieb, der nichts tue als spazierengehen. Nun wollte er vor ihren Augen nicht wirklich spazierengehen, das sah ja aus, als hätten die Leute am Ende wirklich recht!

So blieb ihm nur ein Weg, nämlich der Weg, der von der Försterei, am Kartoffelmietenplatz vorbei, ziemlich grade auf den Gutshof Neulohe zuführte, auf den Gutshof und auf das Beamtenhaus. Diesen einzigen Weg ging also der Förster, er ging ihn mit großer Regelmäßigkeit, mehrmals am Tage, und mit größter Regelmäßigkeit traf der Förster am Ende des Weges mehrmals am Tage auf dem Gutsbüro ein.

Dem Förster war es geschehen, daß er in hohem Alter noch einen wirklichen Freund gefunden hatte – und diesen guten Glauben wollte Pagel nicht enttäuschen. Er seufzte manchmal, wenn er den Förster wieder ankommen sah, wenn der alte Mann sich schnaufend auf einen Stuhl setzte und nun eine halbe Stunde lang kein Auge von dem jungen Beamten ließ. Er störte ja nicht grade, er sagte kein Wort, wenn Pagel beschäftigt war, er ließ sich höchstens einmal zu einem begeisterten Ausruf hinreißen. Etwa, wenn Pagel auf der Schreibmaschine schrieb –: Nein, wie ihm das von der Hand geht! Wie Maschinengewehrfeuer! Großartig!

Nein, er störte nicht grade, aber es war ein bißchen lästig, den Blick dieser kugligen, verblaßten Seehundsaugen unverwandt auf sich gerichtet zu fühlen, einen Blick bedingungsloser Ergebenheit, begeisterter Freundschaft. Es war vielleicht grade darum lästig, weil Pagel dieses Gefühl so gar nicht erwiderte.

Nein, er liebte den Förster, diesen alten Angsthasen, nicht besonders – und was hatte er am Ende getan, solche Freundschaft zu verdienen? So gut wie nichts: ein Telefonat mit dem Arzt, ein bißchen Deputat, zwei, drei kurze Krankenbesuche ...

Wenn's gar zu schlimm wurde, unterbrach Pagel seine Arbeit: Kommen Sie, Herr Kniebusch, ich muß doch sehen, ob in meinen Kartoffelmieten wieder Mauselöcher sind, ich bringe Sie das Stückchen.

Immer stand der Förster sofort willig auf und ging mit. Er kam nicht auf die Idee, daß der Freund ihn fortschickte, loswerden wollte. – Aber als er drei-, viermal so gegangen war, kam dem alten Kniebusch der Gedanke, daß er seinem Freund wenigstens eine Arbeit abnehmen könnte. Wenn er jetzt seinen Morgenspaziergang zum Gutsbüro machte, ging er Miete auf Miete ab. Er meldete: Miete Sechs, Sieben, Elf je ein Loch. Am Nordende, Mitte, Südende ...

Er nahm es sehr genau.

Ja, Sie seufzen, Herr Pagel, sagte Amanda erbost. Aber Sie könnten es ihm ruhig sagen, daß Ihnen die ständige Rumsitzerei und Stiererei auf dem Büro nicht paßt! Der Kniebusch, der ist doch auch grade kein Sanfter gewesen, und wen er reinlegen konnte, den hat er reingelegt. Und wenn Sie es ihm nicht sagen mögen, so sage ich es ihm!

Das werden Sie bleiben lassen, Amanda! hatte Pagel geantwortet, und er hatte es mit solchem Nachdruck gesagt, daß Amanda es wirklich bleiben ließ.

Es regnete bei völliger Windstille sehr fein vom Himmel herunter, als der Förster an diesem Tag aus seinem Haus trat. Es war nicht hell und nicht dunkel, es war nicht einmal Dämmerung, es war einer dieser öden, trostlosen Herbsttage, die nur fahl sind, die sich wie ein Alb auf das Herz der jungen Menschen legen. Den alten Förster aber freute das Wetter, nun war er sicher, seinen jungen Freund auf dem Büro zu treffen. Bei diesem schlechten Wetter würde er nicht unterwegs sein, sondern lieber im Trocknen schriftliche Arbeiten erledigen. Der Förster stülpte sich einen alten Filz auf den Schädel, hing sich sein Regencape um und machte sich auf den Weg.

Er ging, die Hände schön trocken und warm unter dem Cape über den Bauch gefaltet, in einem langsamen und behaglichen Schlürferschritt dem Hof zu. Wenn er es genau bedachte, war es ihm noch nie in seinem Leben so gut ergangen, und so gut, wie es ihm erging, fühlte er sich auch. Nicht einmal vor der Rückkunft des Geheimrats mußte er sich fürchten. Auf Pagels Veranlassung hatte der Arzt an Herrn von Teschow geschrieben, und der alte Herr hatte seinem alten Förster nicht etwa ärgerlich, sondern recht freundlich geantwortet: Er solle doch sehen, wieder ein bißchen auf die Beine zu kommen, damit er seinem Nachfolger die Schliche des Wildes, die Kniffe des Reviers und die Pfiffigkeiten der Bevölkerung noch beibringen könnte. Um den Dienst aber sollte er sich nun wirklich keine Gedanken mehr machen –!

Der Alte hatte eine Ahnung! Der Förster machte sich überhaupt keine Gedanken, heißt Sorgen mehr. Um die Forst schon gar nicht; aber tat es ihm etwa leid, ärgerte er sich auch nur ein bißchen, wenn er Löcher in den Kartoffelmieten fand? Die machten doch seinem besten und einzigen Freund Pagel Kummer und Sorge! Das wußte er; aber den Förster Kniebusch freuten die Löcher, denn wenn Löcher da waren, hatte er etwas zu melden und war seinem Freund von Nutzen! –

So ging er denn ganz zufrieden eine Seite der Kartoffelmieten hinauf und die andere hinunter. Aber es war leider, wie er sich beinahe hätte denken können: bei diesem Sauwetter hatten die Leute nicht einmal zum Klauen Lust. Kleidung war knapp, noch aus dem Kriege her, und die eine graue Uniform, die von den Männern aus dem Felde mitgebracht war, machten sie sich auch nicht gerne naß.

So sah es denn aus, als ob es heute nichts zu melden geben würde, und das war verdrießlich. Bis der alte Kniebusch zu der allerletzten Miete kam, und auf deren anderer Seite, auf der nach dem Wald zu, fand er denn auch wirklich das ersehnte Mauseloch; und ein ganz stattliches dazu, sechs oder acht Zentner Kartoffeln waren da mindestens rausgeholt worden!

Der Förster hätte nun vergnügt dem jungen Pagel seine Meldung machen können, aber er sah statt dessen nachdenklich einen kleinen Tretweg an, der von dem Mietenloch direkt in die Fichtenschonung führte. Das nasse Wetter hatte den Boden aufgeweicht, er erzählte klar und deutlich, daß die Kartoffeln nicht auf einem Handwägelchen direkt vom Mietenplatz auf die feste Straße und dann ins Dorf geschafft worden waren. Die noch ganz frischen Spuren sagten, daß die Kartoffeln erst einmal in die Schonung gebracht waren und dort wohl noch lagen.

Den Förster plagte die Neugierde der alten Männer, die quälend wie ein juckendes Ekzem ist; den Förster trieb der Spürsinn des Jägers – man spürt nicht ein Leben lang dem Wild nach, um auf seine alten Tage dann achtlos über eine Fährte fortzulaufen. Den Förster juckte auch der Gedanke, seinem Freund Pagel etwas ganz Besonderes melden zu können.

Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß das Nachsuchen dieser Spur gefährlich werden könnte. Kartoffeldiebe waren harmlose Leute. Kartoffeldiebstahl war bloß Mundraub und wurde mit einer papierenen Geldstrafe belegt. Kein erwischter Kartoffeldieb regte sich noch um eine Anzeige auf. Wenn etwas den Förster zögern ließ, so war es sein fester Entschluß, sich nicht mehr um andere Dinge zu kümmern. Aber da war der Wunsch, Pagel einen Gefallen zu tun, und sachte, im Pürschschritt, nahm der Förster den Wechsel auf.

Er brauchte auch keine Angst zu haben, daß er nur mit Ach und Weh, nur mit Brechen und Krachen in die Schonung kam. Die Leute hatten hier mit den Jahren sauber aufgeräumt, sie hatten so viel Stangen, Reisig, Waldstreu besorgt, daß man in dem Bestand gehen konnte wie im lichten Hochwald.

So kam der Förster überraschend schnell an die Stelle, wo vor seinen Augen ein kleiner Hügel Kartoffeln lag. ›Rote Professor Wohltmann‹, stellte der Förster befriedigt die Sorte fest. ›Will er wohl seine Schweine mit fett machen!‹

Der Förster fühlte was, er fühlte, daß er nicht allein war, er fühlte einen Blick. Er hob also seine Augen auf und sah einen Mann unter den Fichten sitzen, der hatte seine Hosen abgeknöpft, hockte da, sah den Förster ruhig an und verrichtete sein Geschäft.

Nanu! Was machen Sie denn hier? rief der Förster verwundert aus.

Ich scheiße! antwortete der Mann freundlich grinsend.

Das merke ich, sprach der Förster vergnügt. Oh, was würde er Pagel alles erzählen können! Haben Sie denn die Kartoffeln gemaust?

Natürlich, erklärte der Mann und ließ sich alle Zeit.

Aber wer sind Sie denn? Ich kenne Sie doch gar nicht! rief der Förster erstaunt. Er glaubte, von den Holzauktionen her alle Menschen zwanzig Kilometer in der Runde zu kennen, aber diesen Mann hatte er bestimmt noch nicht gesehen.

Sehen Sie mich nur gut an, sagte der Mann, stand auf und knöpfte gemütsruhig seine Hosen fest. Sie werden mich schon wiedererkennen.

Es ging alles so gemütlich, so in bester Laune vor sich – und Kartoffeldiebstahl war ja auch wirklich kein tragisches Verbrechen –, daß der Förster sich seinen Mann wirklich in aller Ruhe betrachtete. Der Förster stand noch wie vorher, die Hände unter dem Cape, über den Bauch gefaltet, und sah den Mann gemütlich näher schlendern. Kein Gefühl der Besorgnis kam in ihm auf. Dagegen ein immer helleres Verwundern. Diesen modernen Anzug mit Knickerbockers aus einem Grau in Grau gemusterten Stoff kannte er doch genau!

Aber Sie haben ja einen Anzug vom Rittmeister an! rief Kniebusch verblüfft.

Sie merken auch alles, Herr Förster! sagte der Mann grinsend. Nicht wahr, er steht mir gut?

Der Mann stand jetzt direkt vor dem Förster und lachte ihn an. Aber irgend etwas in diesem Lachen, im Ton der Worte, in der Nähe des Mannes mißfiel dem Förster.

Nun sagen Sie mir aber Ihren Namen, befahl er strenger. Ich kenne Sie bestimmt nicht.

Dann sollen Sie mich kennenlernen! rief der andere.

Blitzschnell veränderte sich sein Gesicht vom Grinsen in Haß, blitzschnell hatte er den Förster umgefaßt – und unter seinem Cape konnte der Förster die Arme nicht rühren!

Was soll denn das –? rief der Förster hilflos, nahm es noch nicht recht ernst und wehrte sich nur schwächlich.

Jetzt kommt der Gruß von Ihrem Freund Bäumer! rief der Mann direkt in das Gesicht des Försters.

Im gleichen Augenblick hörte der Förster etwas schrecklich krachen. Es krachte direkt in seinem Schädel, es wurde blendend weiß darin ...

›Es müssen zweie gewesen sein, einer hat mich von hinten über den Kopf gehauen!‹ dachte der Förster noch ...

Dann wurde alles rot, nun langsam schwarz – er fühlte sich fallen –, und weg war er!

 

Langsam kommt der Förster wieder zu sich. Langsam kehrt die Erinnerung in sein Hirn zurück. An das letzte, was er vorher gedacht, knüpft sie an.

›Zweie sind es gewesen‹, denkt der Förster. ›Den einen kenne ich nicht, aber der mich von hinten über den Schädel gehauen hat, das muß Bäumer gewesen sein ...‹

Dann: ›Es ist gar nicht so schlimm, totgeschlagen zu werden. Davor habe ich mich auch mein ganzes Leben lang geängstigt, und nun ist es gar nicht so schlimm ...‹

Nicht einen Augenblick lang glaubt der Förster, er könnte mit dem Leben davonkommen. Er hat es ja krachen hören, der muß ihm ja den Schädel eingeschlagen haben der Lump, der Bäumer. Hat der ihn also doch noch erwischt! Es tut nicht sehr weh, es ist mehr wie ein Druck ... Und dann ist das da, was stört, das Warme, das über seinen Schädel läuft. Das ist das Blut, das aus ihm rinnt. Er merkt es, er wird so leicht davon, es ist gar nicht unangenehm ...

›Sind die Kerle eigentlich weg?‹ denkt der Förster erst jetzt.

Er lauscht, er hört nichts. Es ist ganz still, kein Schritt, kein Huschen; kein Ästchen knackt.

Mühsam bewegt er den Kopf hin und her, er kann die Augen nicht recht drehen, er muß den ganzen Kopf bewegen. Aber er sieht niemand, sie sind weg. ›Haben gedacht, ich bin hinüber‹, denkt der Förster. ›Aber so schnell ist es nun doch nicht gegangen!‹

Er liegt eigentlich ganz gut so, der alte Förster Kniebusch, er hat schon schlechter gelegen in seinem Leben. Ihm ist ein bißchen schwer, und ihm ist ein bißchen leicht, die Glieder werden schwer, aber der Kopf und irgend etwas seiner Brust werden immer leichter.

Er denkt einen Augenblick nach, ob er etwas tun soll, was er tun soll ... Aber warum soll er eigentlich etwas tun –?

Die Kälte wird zwar immer stärker, die von den Enden der Glieder aufsteigende eisige Kälte, aber das läßt sich schon aushalten, und schließlich werden ja im Laufe des Vormittags Leute zu den Mieten kommen, er liegt nahebei, er braucht nur zu rufen. Dann finden sie ihn, tragen ihn heim, legen ihn in sein Bett – er hat immer gewünscht, in seinem Bett zu sterben.

Der alte Förster, dem die letzte Lebenskraft langsam aus seiner schrecklichen Schädelwunde sickert, schiebt einen Arm unter den Kopf, fast behaglich liegt er da. ›Es ist alles nicht so schlimm‹, denkt er noch einmal. ›Wenn man wüßte, wie wenig schlimm selbst das Schlimmste ist, man brauchte im Leben überhaupt keine Angst zu haben!‹

Er versucht auszurechnen, wann die Leute etwa zu den Mieten kommen werden; die Kartoffeln für den Schweinemeister müssen geholt werden. Es kann höchstens noch zwei Stunden dauern, so lange wird er ja noch das Leben haben, damit er im eigenen Bett sterben kann ...

Aber der Pagel! fällt dem Förster plötzlich ein. Mein Freund Pagel wird auf mich warten! Alle Morgen bin ich zeitig bei ihm gewesen und habe ihm die Löcher in den Mieten gemeldet – und heute komme ich nicht! Pagel wird mich vermissen!

Er schließt die Augen, es ist für den verbrauchten, mühseligen Mann ein süßes Gefühl, daß ihn doch einer vermissen wird. Er hört ihn die Backs fragen; er schließt die Augen, er hört den Klang der immer freundlichen, jungen Stimme: Wo bleibt denn heute bloß unser alter Kniebusch? Er hat doch noch nicht seine Meldung gemacht, Amanda!

Er lächelt.

Aber dann richtet er sich gleich auf. Ein quälendes Gefühl fängt an, sich in ihm zu regen: er hat ja noch nicht seine Meldung gemacht! Heute hat er wirklich etwas zu melden, und heute bleibt er aus!

Sie werden mich ja doch bald finden! will er sich trösten.

Aber der Trost verfängt nicht. ›Ich werde ja immer schwächer‹, denkt er. ›Ich werde ja immer kälter. Vielleicht kann ich nachher nicht mehr rufen, ich kann nicht mehr reden – zu spät werden sie mich finden!‹

Er versucht den Kopf weg zu rücken. Er möchte aus der Menge des ausgeronnenen Blutes die Menge des ihm noch verbliebenen Lebens abschätzen, aber er kann es nicht, es ist zu mühsam.

Ein schrecklicher Kampf fängt in ihm an: der Sterbende möchte nur ruhig liegen, sich sanft fortrinnen fühlen, seine Ruhe haben ... Und der Mann und der Freund sagen, daß er auf muß und seine Meldung machen. Der Bäumer ist wieder da und ein anderer, ein Unbekannter – zwei gefährliche Leute, zwei reißende Wölfe!

Ich kann ja nicht hin! jammert er. Ich kann ja nicht gehen!

Wenn du nicht gehen kannst, wirst du kriechen, spricht die erbarmungslose Stimme.

Ich habe nie in meinem Leben Ruhe gehabt, laß mich doch wenigstens in Ruhe sterben! bettelt er.

Im Grabe wirst du Ruhe haben, jetzt mach deine Meldung! spricht es ohne Gnade.

Und der alte Mann, der verbrauchte Mann; der Feigling, der Schwätzer er wälzt sich auf den Bauch, er macht den Rücken krumm, er zieht die eisigen Glieder an sich. Der Wille, der erbarmungslose Wille der Pflicht ist es, der ihn gegen sein ganzes Naturell immer hochgehalten hat. Er jagt ihn noch einmal zu einer letzten, äußersten Anstrengung auf: der alte Förster Kniebusch kriecht auf allen vieren über den Waldboden, und als er über einen Sack weg kriecht, faßt er den und schleppt ihn auch noch mit in dem dunklen Gefühl, ein Beweisstück ergriffen zu haben.

Er kriecht, wie eine grüne, grausige Schnecke mit einem purpurroten Kopf kriecht er über den Waldboden. Er kriecht hinauf auf den Mietenplatz, jetzt hebt er den Kopf voller Hoffnung. Aber niemand ist zu sehen.

Er jammert: O mein Gott, mein Gott! Hilft mir denn keiner?

Aber er kriecht weiter. Er kriecht hinunter von dem Mietenplatz auf den Weg, und als er am Park entlang kriecht und unten im Zaun ein sonst nie bemerktes Loch sieht – das er eben nur sehen kann, weil er kriecht –, da schiebt er sich durch das Loch, um seinen Weg abzukürzen ...

Er tut alles richtig, exakt, als arbeite sein Hirn noch. Aber sein Hirn dämmert nur noch, alles, was Körper und Geist hergeben können, wird von dem ungeheuren Willen verbraucht, der ihn zum ständigen Weiterkriechen zwingt. Er denkt nicht mehr an Pagel, nicht mehr an Bäumer, nicht an Eiseskälte, noch Wunden. Er denkt nicht mehr an den Sack, den er doch unter Qualen immer weiter mitzerrt – er denkt nur, daß er kriechen muß. Kriechen, kriechen, kriechen ... bis er umfällt.

Und er fällt in dem Augenblick um, als ihn Pagel anruft: Mein Gott, Kniebusch, lieber Kniebusch – was haben sie denn mit Ihnen gemacht?!

In diesem Augenblick, bei dieser bekannten Freundesstimme setzt der Wille aus, der Körper fällt hin, das Kriechen hört auf ...

Gemeinsam schleppen Amanda und Pagel den Förster in Wolfgangs Zimmer. Sie legen ihn in Wolfgangs Bett. Aber den Sack können sie nicht aus seiner Hand lösen, es ist, als seien die Finger eingewachsen in den Stoff.

3

Es wäre ja nun wohl die bitterste Ironie von der Welt gewesen, wenn der Förster Kniebusch im fremden Bett gestorben wäre, ohne dem Freund die Meldung, für die er so heroisch gelitten, noch machen zu können. Aber so schlimm meinte es der Todesengel nicht mit ihm. Er konnte noch einmal die Augen aufschlagen; nahe über ihm war das weiße Gesicht des Freundes mit den großen, freundlichen Augen. Er durfte noch einmal die gute Stimme hören: Ach, alter Kniebusch, was haben Sie uns doch für einen Schreck eingejagt! Warten Sie nur, gleich ist der Doktor hier, der flickt Sie schon wieder zurecht! Haben Sie arge Schmerzen?

Aber der Förster bewegte nur unwillig den Kopf. Arzt und Schmerzen gingen ihn nichts mehr an. Er war schon hinabgetaucht in das Dunkel, und er war nur noch einmal daraus zurückgekehrt, weil er etwas erledigen mußte, die Meldung.

Und er flüsterte seine Meldung mit abgerissenen Worten in Pagels Ohr, und Pagel nickte immer wieder und sagte: Gut, gut, Kniebusch. Leiser strengen Sie sich nicht an, ich verstehe alles ...

Der Förster flüsterte weiter, jedes Wort tat ihm weh. Aber jedes Wort war notwendig, und darum mußte es gesagt werden. Als er aber endlich doch fertig war, sah er Pagel mit so flehenden, so gierigen Augen stumm an, daß auch der Stumpfeste die dringliche Frage, die in diesem Blick lag, verstanden hätte. Und der Stumpfeste war ja Wolfgang Pagel nun wirklich nicht!

Guter Mann! sagte Pagel und drückte dem Förster sanft die Hand. Sehr guter Mann!

Da lächelte der Förster befreit, wie er vielleicht nie in seinem Leben gelächelt hatte. Und dann schien er einzuschlafen, und Pagel saß neben ihm. Er hielt die schlaffe Greisenhand und er bedachte das Gehörte, und es war wenig genug, denn den einen Mann hatte der Förster nicht gesehen, und den er gesehen hatte, den hatte er nicht gekannt.

Wie Pagel aber so trübe da saß, fiel sein Blick auf den alten, beschmutzten Kartoffelsack zu seinen Füßen. Denn die Hand des Sterbenden hatte ihn losgelassen, als sie nach der Hand des Freundes faßte. Er stieß den Sack mit dem Fuß an und wendete ihn hin und her, und es schien ihm, als säße unter all dem Dreck, mit dem er verklebt war, eine schwarze Schrift wie ein Name, mit dem die Leute ihre Deputatsäcke zeichnen.

Da bückte sich Pagel und griff nach dem Sack mit der freien Hand. Er legte ihn sich übers Knie und wischte mit der Hand den Dreck fort – aber die Hand des Sterbenden ließ er noch nicht los. Es gelang ihm, und die Schrift wurde Buchstabe um Buchstabe leserlich, schwer leserlich, aber leserlich. Und als sie ganz leserlich war, da stand da der Name: Kowalewski.

Wolfgang Pagel starrte mutlos auf den Namen, denn alles verwirrte sich immer wieder von neuem, und es gab keine Klarheit. Denn was sollte der alte, ehrliche Leutevogt Kowalewski mit Kartoffeldieben und Totschlägern zu tun haben? Sicherlich, es war ein gestohlener Sack!

In diesem Augenblick tat sich die Tür zum Büro auf, und herein kam Amanda Backs, die unterdes telefoniert hatte, und sie meldete, daß der Arzt in einer Viertelstunde da sein werde und die Polizei vielleicht in einer halben ...

Pagel hob als Antwort den Sack, er wies ihr den Namen und sagte: Sie kommen alle zu spät. Er hat seinen Mörder nicht gesehen, und der ihn festgehalten hat, den hat er nicht gekannt. Und der Name auf diesem Sack hilft uns auch nicht weiter ...

Da wurde Amanda ganz weiß. Sie sah Pagel mit großen, erschrockenen Augen an und fing an zu zittern.

Was ist Ihnen denn? fragte Pagel. Verstehen Sie, was der Name Kowalewski auf dem Kartoffelsack zu tun hat?

Amanda schwieg, sie hatte die Hand auf die Brust gelegt und sah schweigend von dem Sterbenden auf den Sack, und von dem Sack zu Pagel hin.

Reden Sie doch, Amanda! drängte Pagel. Was wissen Sie davon?

Das weiß ich davon, flüsterte Amanda Backs ganz leise, daß in der Kammer der Sophie Kowalewski der entsprungene Zuchthäusler haust ...

Pagel hob den Kopf und sah mit blassem Gesicht die Zitternde an.

Ja, und ich weiß, sagte sie eiliger, daß der Liebschner stehlen gegangen ist, mit dem Bäumer zusammen, und so hat der eine von den beiden den Förster festgehalten, der andere aber hat zugeschlagen ...

Amanda! rief Pagel.

Ja, Amanda! wiederholte sie, und die Tränen brachen aus ihr hervor. Und nun bin ich eine Helferin von Mördern geworden, grade als ich dachte, ich wäre ganz heraus aus dem Dreck!

Eine Weile war es still im Zimmer, still hörte Pagel auf das Weinen des Mädchens. Dann hob er den Kopf und sagte leise: Das hätten Sie mir nun freilich erzählen müssen, Amanda!

Ja! rief sie verzweifelt, jetzt weiß ich auch, daß ich es hätte tun müssen. Aber damals – sie hat mir ja so viele gute Worte gegeben. Und ich habe immer an mein Hänsecken denken müssen, an den Inspektor Meier, Herr Pagel, und wie es mir gewesen wäre, wenn den einer verraten hätte und der Polizei übergeben. Ich habe ihm ja noch von hier fortgeholfen, schon, als er auf mich geschossen hatte! Man läßt doch seinen Freund nicht sitzen! Und sie hat mir gesagt, die Sophie hat mir gesagt, er ist gut zu ihr, und sie fahren gleich ab, sie wollen nur noch das Reisegeld zusammensparen, stehlen heißt das, und er ist gut zu ihr! Das ist es gewesen, weil sie gesagt hat, er ist gut zu ihr, das hat es gemacht, daß ich den Mund gehalten habe – mein Hänsecken war nicht gut zu mir ...

Sie hätten es doch fühlen müssen, Amanda, beharrte Pagel, daß es Unrecht war, zu schweigen!

Ja, das sagen Sie jetzt! rief sie wild. Es hat mir oft beinahe das Herz abgedrückt, besonders, als die Sophie dann so gemein war gegen Sie und so tat, als hätten Sie ihr Gewalt antun wollen! Aber was weiß ich, was Recht und Unrecht ist auf der Welt?! Sie haben mir immer gesagt: Amanda, das schickt sich nicht! und Amanda, tu das lieber nicht! – Und wenn Sie schweigend die Nase gezogen haben, dann war es am schlimmsten. Und das haben Sie immer getan, wenn ich von andern was erzählen wollte. Schließlich habe ich gedacht: halt das Maul, er ist der einzige Mensch, der zu dir anständig ist, und er denkt auch: Verrat ist Verrat, und auch einen Zuchthäusler darf man nicht verraten! Ich habe nicht mehr aus noch ein gewußt.

Sie sah ihn mit weinenden Augen bittend an.

Es tut mir sehr leid, Amanda, sagte Pagel. Nein, Sie haben recht, ich hätte anders mit Ihnen reden müssen. Und vor allem hätte ich Ihnen nicht den Mund verbieten dürfen. Ich habe wohl die meiste Schuld. – Aber jetzt muß ich los! Setzen Sie sich hin und halten Sie seine Hand. Er wird ja den Betrug nicht merken, und wenn er doch noch aufwacht, sagen Sie ihm, ich hätte nicht auf die Gendarmen warten wollen. Vielleicht erwische ich die Kerle noch ...

Und Pagel lief hinaus auf den Hof und trommelte ein paar handfeste Männer zusammen. Leise drangen sie in des Kowalewski Haus, und im Oberstock faßten sie den Bäumer und den Liebschner, die gerade dabei waren, ihre Sachen zusammen zu packen. Sie hatten geglaubt, es habe noch keine Eile mit ihnen, denn sie meinten fest, sie hätten den Förster völlig erschlagen, und er werde sobald nicht gefunden werden.

So aber wurden sie ergriffen, überwältigt, gefesselt und der Gendarmerie übergeben – so aber plädierte der Staatsanwalt auf Mord, so aber wurden sie zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, denn so konnten sie sich nicht auf einen Totschlag ausreden.

Die Festnahme aber der noch ahnungslos in der Villa wirtschaftenden Sophie Kowalewski überließ Pagel den andern. Er ging zurück zum Förster. Aber in seinem Zimmer war nur der Arzt – der Förster Kniebusch war schon gegangen.

4

Es war nicht etwa am Abend dieses Tages, es war erst am Abend des nächsten Tages, daß Wolfgang Pagel in schlichter Deutlichkeit erfuhr, wer die Prackwitzens sind und wer die Pagels, und was er so eigentlich für eine Rolle auf diesem Gut Neulohe spielte. Und was das wert war, was er hier getan hatte. Nicht nur seine guten Taten muß sich der Mensch eine Weile überlegen, ehe er sich zu ihnen entschließt, auch für seine Gemeinheiten, große und kleine, braucht er manchmal Zeit. Frau Eva von Prackwitz hatte rund sechsunddreißig Stunden Überlegung gebraucht.

Es war schon dunkel, als der bekannte große Wagen vor dem Beamtenhaus hielt. Aber natürlich war es dunkel, der Mensch sündigt lieber im Dunkeln als bei Tageslicht. Er scheint zu meinen, wegen einer ungesehenen Sünde braucht er sich nicht zu schämen. Der Wagen hielt – aber weder Frau Eva noch der Rittmeister stiegen aus, keiner stieg aus.

Man wartete.

Hupen Sie doch mal, Oskar! rief Frau von Prackwitz gereizt. Er muß doch gehört haben, daß wir hier halten! Warum kommt er nicht heraus?

Pagel hatte den Wagen kommen, anhalten hören. Er hörte jetzt auch die Autohupe, aber er ging nicht hinaus. Er war traurig und zornig, er hatte von seiner fröhlichen Gelassenheit eingebüßt, wahrhaftig, das Leben schmeckte nicht, es knirschte zwischen den Zähnen wie Staub und Asche. Er hatte gestern und heute zehnmal an der Villentür geklingelt, zwanzigmal die gnädige Frau am Fernsprecher verlangt. Er hatte wissen wollen, wie es mit dem Begräbnis des toten Försters gehalten werden sollte, was zur Versorgung der hilflosen Frau geschehen sollte.

Aber nein, die gnädige Frau war nicht für ihn zu sprechen gewesen. Vielleicht grollte sie, daß er ihr das Mädchen Sophie so rücksichtslos fortgeholt hatte, daß er nun doch seinen Willen durchgesetzt hatte, daß nun doch wieder die schwarze Minna in der Villa Arbeit bekommen hatte, dieses schmuddlige Frauenzimmer mit einem Haufen unehelicher Bälger!

Ach, hole sie alle der Teufel! Wahrscheinlich war Frau Eva gar nicht so schlimm. Früher einmal war sie ihm recht nett vorgekommen. Brauchbar, mit Mutterwitz, mit Verstand, auch mit Freundlichkeit, auch mit Gedanken an andere – solange es ihr gut ging. Aber wahrscheinlich hatte der Reichtum sie verdorben, sie hatte sich nie einen Wunsch versagen müssen – wenn es ihr schlechtging, dachte sie nur noch an sich. Der ganzen Welt nahm sie es übel, daß es ihr schlechtging – und sie ließ es sie merken!

›Ja, hupe nur, ich gehe nicht vor meine Tür! Im Grunde paßt du ausgezeichnet zum Rittmeister. Ihr seid beide aus demselben Stoff – vor dem Kriege wandeltet ihr auf der Menschheit Höhen, ihr wart vom Adel, ihr hattet Geld ... Es gab da noch das sogenannte Volk, meinethalben, mochte es sehen, wie es zurechtkam!‹

Sicherlich, eine verdammte Ähnlichkeit mit dem Rittmeister! Natürlich machte sie es nicht so grob wie er, dafür war sie eben eine Frau. Sie konnte liebenswürdig sein, wenn sie etwas erreichen wollte, fraulicher Reiz, ein vorgestrecktes Bein, Schmelz in der Stimme – Lächeln. Aber am Ende kam es auf dasselbe heraus. Wenn sie ein Auto brauchte, dann kaufte sie es, und der junge Beamte konnte sehen, wie er ein halbes hundert Familien ohne Lohngeld satt kriegte.

Nicht wahr, Sie erledigen mir das –? Ich brauche mich damit nicht abzuquälen? Sie sind ja so tüchtig! Aber du würdest es ja gar nicht erledigen können, du willst es gar nicht – du wandelst oben, und für solche Dinge sind deine Leute da. Zwischen Wolfgang Pagel und der schwarzen Minna war noch lange kein so großer Unterschied (für die gnädige Frau), wie zwischen Frau von Prackwitz und Pagel – der Abstand war einfach ungeheuer!

›Ich bin ungerecht‹, dachte Pagel, und das Auto hupte wieder einmal recht dringlich in seine Gedanken hinein. ›Ich bin ungerecht. Sie hat wirklich ihren schweren Kummer – und wenn Reichtum egoistisch macht, und wenn Glück egoistisch macht, Kummer tut es noch viel mehr! – Ob ich nicht vielleicht doch zu ihr hinausgehe?‹

Aber es war schon nicht mehr nötig, sich zu entschließen. Der Chauffeur Oskar mit dem Teiggesicht trat in das Büro und meldete: Herr Pagel, Sie sollen mal ans Auto zur gnädigen Frau kommen.

Pagel stand auf, sah Oskar nachdenklich an und sagte: Schön!

Oskar, dieser Sohn einer ehemaligen Hausdame, durch die Gunst der Frau von Prackwitz hochherrschaftlicher Chauffeur geworden, betrachtete Pagel listig. Dann flüsterte er: Achtung, Herr Pagel, die will auskneifen! – Aber verraten Sie mich nicht!

Und ging.

Pagel lächelte. Siehe da, Oskar, der gelernte Motorenschlosser, der vor vier Wochen die gnädige Frau noch wie einen seligen Engel angestrahlt hatte auch ihm schmeckte das süße Kuchenbrot des täglichen Umgangs mit der Herrschaft nicht mehr! Er witterte ähnlich wie die gnädige Frau, nur mit umgekehrten Vorzeichen! Er empfand, daß er hundertmal eher zu diesem ihm fast unbekannten Herrn Pagel gehörte als zu der täglich gesehenen gnädigen Frau.

Pagel trat an die Wagentür, er sagte: Guten Abend, gnädige Frau – ich hätte Sie gerne einmal gesprochen ...

Seit fünf Minuten hupen wir vor Ihrem Fenster! rief die unsichtbare Gnädige aus dem Wagendunkel. Haben Sie denn geschlafen? Gehen Sie schon um acht Uhr abends schlafen?!

Ich habe gestern, antwortete Pagel ungerührt, zwanzigmal den Versuch gemacht, Sie zu erreichen, gnädige Frau. Es müssen unbedingt Verfügungen wegen des Försters getroffen werden ...

Mein Mann ist schon ganz krank! rief sie. Wir sind beide krank von all den schrecklichen Aufregungen! Ich bitte dringend, mir jetzt nicht von diesen Dingen zu sprechen ... Sanfter setzte sie hinzu: Sie waren doch sonst immer so rücksichtsvoll, Herr Pagel!

Unbestochen sagte Pagel: Ich hätte Sie gerne eine Viertelstunde gesprochen, gnädige Frau.

Er sah nicht mehr in das Wageninnere, das doch dunkel war, er sah auf das Wagenende, ungeheuerlich ausgebuchtet: Oskar hatte die Wahrheit gesprochen, diese Kofferungetüme bestätigten die Flucht.

Ich habe heute abend unmöglich Zeit! Wir müssen fahren.

Und wann hätten Sie einmal Zeit? fragte Pagel unerbittlich.

Ich kann es Ihnen nicht auf die Stunde sagen, antwortete Frau Eva ausweichend. Sie wissen doch, wie unregelmäßig ich komme und gehe! – Ach Gott, Herr Pagel, rief sie plötzlich. Wollen Sie mir jetzt auch Schwierigkeiten machen?! Seien Sie doch selbständig! Sie haben doch die Vollmacht!

Pagel schwieg. Jawohl hatte er eine Vollmacht. Er hatte die Vollmacht, alles selbständig zu erledigen (ganz nach den Wünschen der gnädigen Frau) und schließlich damit hereinzufallen (ganz nach den Wünschen des Herrn Geheimrat). Aber er schwieg davon, er war jung, zuviel Gemeinheit muß man den Menschen auch nicht zutrauen. Sie würde ihn schließlich nicht sitzenlassen! Oder doch –?

Herr Pagel, sagte Frau von Prackwitz, Sie haben mir seit einer Woche kein Geld gegeben. Ich brauche Geld.

Es ist kaum etwas in der Kasse, antwortete Pagel und wußte nun, warum das Auto vor dem Beamtenhaus angehalten hatte.

So geben Sie mir einen Scheck! rief sie ungeduldig. O Gott, was für Umständlichkeiten! Ich muß doch Geld haben ...

Wir haben weder auf der Bank noch auf der Sparkasse ein Guthaben, widersprach Pagel. Ich kann leider keinen Scheck ausstellen.

Aber ich muß Geld haben! Sie können mich doch nicht ohne Geld sitzenlassen! – Wie denken Sie sich das?!

Ich will sehen, daß ich morgen irgend etwas verkaufe ... Ich kann Ihnen morgen dann etwas Geld geben, wenn es nicht viel sein muß, gnädige Frau ...

Es muß aber viel sein! Und es muß heute noch sein! rief sie zornig.

Pagel schwieg eine Weile. Dann fragte er leise: Die Herrschaften verreisen?

Ich verreise nicht! Wer sagt Ihnen solche Sachen –? Lassen Sie mich etwa ausspionieren? Ich verbitte mir das!

Die Koffer ... erklärte Pagel und wies nach dem Wagenende.

Ein langes Schweigen entstand.

Dann sagte Frau Eva mit einer ganz andern Stimme: Lieber Herr Pagel, wie können Sie mir Geld verschaffen –?

Ich bitte um eine Unterredung von zehn Minuten.

Aber es ist nichts zu besprechen! Wir sind morgen, spätestens übermorgen zurück. – Wissen Sie was, Herr Pagel, geben Sie mir einen vordatierten Scheck – Sie verkaufen morgen und übermorgen, zahlen das Geld bei der Bank ein, und ich lege den Scheck erst Ende der Woche vor.

Übermorgen wollten gnädige Frau spätestens zurück sein. – Ich bin kein Angestellter, bei meinem Eintritt sind keinerlei Abmachungen zwischen mir und Herrn Rittmeister getroffen – es besteht keine Kündigungsfrist. Ich werde also morgen Neulohe auch verlassen.

Achim! Warte hier im Wagen! Oskar, schalten Sie die Scheinwerfer aus. Herr Pagel, helfen Sie mir aus dem Wagen –!

Sie ging ihm voran auf das Büro, sie drehte sich um, flammend sah sie ihn an, oh, sie sah prachtvoll aus in ihrem Zorn. Sie wollen fahnenflüchtig werden, Herr Pagel?! Sie wollen mich im Stich lassen – nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben?!

Wir haben nichts gemeinsam erlebt, gnädige Frau, sagte Pagel finster. Wenn Sie mich gebraucht haben, dann haben Sie mich gerufen. Und wenn Sie mich nicht brauchten, vergaßen Sie mich auf der Stelle. Sie haben nie danach gefragt, ob ich fröhlich oder traurig war.

Ich habe mich so oft über Sie gefreut, Herr Pagel! rief sie bittend. In all meinen Sorgen und Kummer habe ich gedacht: da läuft ein Mensch auf dem Hof herum, auf den kannst du dich unbedingt verlassen. Sauber, anständig ...

Ich danke Ihnen, gnädige Frau! sagte Pagel mit einer leichten Verbeugung. Aber wenn eine Sophie Kowalewski kam und Ihnen berichtete, der hat schmutzige Weibergeschichten – so trauten Sie dem sauberen, anständigen Kerl diese Geschichten sofort zu.

Herr Pagel, warum sind Sie so böse zu mir? Was habe ich Ihnen getan? Nun ja, ich bin eine Frau. Ich bin wohl wie die meisten Frauen. Ich höre auf Klatsch, ich habe kein festes Urteil über meine Mitmenschen – aber ich gestehe es auch ein, wenn ich unrecht habe. Nun gut, ich bitte Sie deswegen um Verzeihung, Herr Pagel.

Ich will keine Bitte um Verzeihung, gnädige Frau! rief Pagel verzweifelt aus. Erniedrigen Sie sich doch nicht so! Ich will Sie doch nicht auf den Knien vor mir sehen! – Das ist es ja alles nicht. Jetzt, zum erstenmal, seit wir uns kennen, denken Sie auch an mich, an das, was ich fühle, möchten mich in guter Stimmung sehen ... Und warum? Weil Sie mich brauchen! Weil ich allein Ihnen das Geld verschaffen kann, das Sie zu Ihrer Flucht aus Neulohe brauchen ...

Und das nennen Sie nicht demütigen? Das nennen Sie nicht auf die Knie zwingen? rief sie. Jawohl, Herr Pagel, wir fliehen ... Neulohe ist uns verhaßt. Neulohe hat uns nur Unglück gebracht ... Wenn ich nicht auch untergehen soll wie mein Mann, muß ich auf der Stelle fort! Ich zittere ja jede Sekunde davor: was wird nun wieder sein? Wenn ich jemand laut rufen höre auf dem Hof, geben meine Knie schon nach. Was ist nun wieder los? denke ich. Ich muß fort! – Und Sie müssen mir das Geld dazu geben, Herr Pagel. Sie können mich doch hier nicht umkommen lassen!

Ich muß auch fort, sagte er. Das Leben schmeckt mir nicht mehr. Ich bin auch am Ende. Lassen Sie mich morgen gehen, gnädige Frau. Was soll ich noch hier?

Sie hörte nicht auf ihn. Nur ein Gedanke beschäftigte sie: Ich muß doch Geld haben! rief sie verzweifelt.

Es ist keines in der Kasse. Und ich stelle keine ungedeckten Schecks aus, es ist mir – zu gefährlich. Gnädige Frau, ich kann Ihnen in zwei Tagen das Geld für einen längeren Aufenthalt fern von Neulohe besorgen. Das Geld ist knapp geworden, seit die Notenpresse nicht mehr läuft. Es gibt kaum erst die neuen Dinger, die Rentenbankscheine. – Auch wenn ich noch ein paar Tage bliebe, könnte ich Ihren Wunsch nicht erfüllen.

Aber ich muß Geld haben! rief sie wieder mit unerschütterlicher Zähigkeit. Mein Gott, es hat sich noch immer Geld gefunden, wenn wir wirklich etwas brauchten! Denken Sie nach, Herr Pagel, Sie müssen es irgendwie bewerkstelligen. – Ich kann doch nicht zugrunde gehen, bloß weil ein paar Mark nicht da sind!

›Viele Menschen gehen zugrunde, weil ein paar Mark fehlen‹, dachte Pagel, aber er sagte es nicht. Es hatte keinen Zweck, so etwas zu sagen, denn es galt natürlich nicht für sie. – Statt dessen meinte er: Gnädige Frau, Sie haben einen reichen Bruder in Birnbaum, fahren Sie die halbe Stunde nach Birnbaum – er wird Ihnen bestimmt aushelfen!

Ich soll meinen Bruder um Geld bitten? rief sie zornig. Ich soll mich vor meinem Bruder demütigen? Nie! Nie!

Pagel tat einen raschen, wilden Schritt auf die Frau zu. Aber vor mir können Sie sich demütigen, wie? rief er zornig. Vor dem Sklaven zeigt die Königin sich auch nackt, ja? Ein Sklave ist kein Mensch, was?

Sie wich vor seiner Empörung zurück, schneeweiß, zitternd.

Da! rief Pagel und zeigte. Da nebenan in meinem Bett ist gestern morgen der Förster Kniebusch gestorben, in Ihrem Dienst, gnädige Frau! Sie müssen ihn seit Ihrer Kinderzeit gekannt haben; seit Sie denken, seit Sie sprechen können, ist der Mann für Sie und Ihre paar Mark gelaufen, hat Angst gehabt, hat sich gequält – haben Sie überhaupt danach gefragt, was er gelitten hat, wie er gestorben ist, wie er sich gequält hat?! Nur mit einem Wort –? Neulohe ist für Sie zur Hölle geworden –? Haben Sie je daran gedacht, was für eine Hölle es für diesen alten Mann gewesen ist – und er, er konnte nicht ausreißen – er ist auch nicht ausgerissen! Fast auf dem Bauche kriechend hat er bis zur letzten Minute seine Pflicht getan ...

Sie stand mit einem weißen Gesicht zitternd an der Wand.

Sie starrte ihn groß an ...

Die Fahne verlassen? Feige sein –? rief er immer wilder und fühlte immer stärker, wie seine Nerven nachgaben, und wollte es nicht und mußte es doch sagen, endlich sagen, endlich einmal sagen. Was wissen Sie denn von Feigheit und Mut? Ich habe auch einmal gedacht, ich wüßte etwas davon. Ich habe einmal geglaubt, Mut wäre das, aufrecht zu stehen, wenn eine Granate platzt, einen Granatensplitter zu apportieren ... Jetzt weiß ich, das ist bloß Dummheit und Tollkühnheit; Mut heißt aushalten, wenn etwas ganz unerträglich ist. Mut, Mut hat der alte Feigling gehabt, der da drinnen gestorben ist.

Er warf einen raschen, hellen Blick auf sie. Er sagte: Aber es muß eine Sache sein, um die es sich verlohnt, Mut zu haben. Es muß eine Fahne da sein, für die es wert ist, zu kämpfen. Wo ist denn Ihre Fahne, gnädige Frau? Sie fliehen ja als erste!

Ein langes, trübes, schweres Schweigen entstand. Dann rührte sich Pagel. Er ging langsam zu seinem Schreibtischstuhl, er setzte sich, er stützte den Kopf in die Hand. Nun gut, jetzt hatte er geredet, alles, was sich in den letzten Wochen angesammelt hatte, war ausgesprochen – und was weiter?

Die Frau löste sich von der Wand, sie ging leise zu ihm hin, sie legte ihm sachte die Hand auf die Schulter: Herr Pagel! sprach sie ihn leise an. Herr Pagel – es ist sicher wahr, was Sie gesagt haben. Ich bin selbstisch und feige' und gedankenlos – ich weiß nicht, ob ich erst so geworden bin, aber so bin ich, Sie haben recht. Aber Sie sind das doch nicht, Herr Pagel, Sie sind doch anders, nicht wahr –?

Sie wartete lange, aber er antwortete nicht. Die Schulter unter ihrer Hand rührte sich nicht.

Seien Sie noch einmal, was Sie waren bisher: jung, gläubig, aufopfernd. Nicht für mich, Herr Pagel, ich habe wirklich keine Fahne für Sie. Aber ich habe die Hoffnung, daß Sie noch so lange hier in Neulohe bleiben, bis meine Eltern wieder kommen. Ich möchte Sie bitten, in die Villa zu ziehen, Herr Pagel – ich habe noch immer die Hoffnung, daß Violet einmal dort an die Tür klopft ... Gehen nicht auch Sie weg! Lassen Sie den Hof nicht ganz freundlos sein, wenn sie kommt ...

Wieder lange Stille. Aber eine andere Art von Stille, etwas Wartendes. Frau von Prackwitz nahm die Hand von seiner Schulter, sie tat einen Schritt zur Tür. Er schwieg. Sie tat einen zweiten, einen dritten Schritt, sie hatte die Hand auf der Klinke – da fragte Pagel: Wann wird Ihr Vater kommen?

Ich habe einen Brief an ihn im Wagen. Ich stecke ihn heute noch in Frankfurt ein. Ich nehme an, mein Vater wird gleich kommen, wenn er erfährt, daß wir abgereist sind. Also etwa in drei, vier Tagen.

Ich bleibe bis dahin, erklärte Pagel.

Ich danke Ihnen. Ich wußte es ja.

Aber sie ging nicht, sie zögerte, sie wartete ...

Er machte es ihr leicht. Er war aller Umschweife müde. Dann ist da noch die Sache mit Ihrem Geld, sagte er kurz. Ich habe etwa hundert Rentenmark in der Kasse, die werde ich Ihnen geben. In den nächsten Tagen werde ich alles verkaufen, was zu verkaufen ist – wissen Sie schon, wo Sie bleiben?

In Berlin.

Wo dort?

Erst einmal in einem Hotel.

Studmanns Hotel. Hotel Regina, sagte er. Ich werde Ihnen das Geld täglich telegrafisch in das Hotel senden ... An welchen Betrag hatten Sie etwa gedacht?

Ach, nur ein paar tausend Mark – nur, daß wir einen Anfang haben.

Er zuckte nicht. Sie wissen ja, ich darf nichts vom Inventar verkaufen, es ist verboten; da es nicht Ihr Eigentum ist, mache ich mich strafbar. Sie werden mir, gnädige Frau, jetzt eine Erklärung unterschreiben, die mich vor Ihrem Herrn Vater deckt. Sie werden mir bestätigen, daß alle ungesetzlichen Verkäufe auf Ihre Veranlassung erfolgt sind. Sie werden mir weiter bestätigen, daß Ihnen die ungenaue, lückenhafte, manchmal auch unrichtige Führung der Bücher bekannt ist, kurz, daß alle meine Maßnahmen Ihre volle Billigung haben ...

Sie sind sehr hart mit mir, Herr Pagel, sagte sie. Mißtrauen Sie mir so sehr?

Es könnte der Fall sein, daß Ihr Herr Vater sagt, ich hätte eine Summe unterschlagen, ich hätte Durchstechereien gemacht. – Ach Gott! rief er ungeduldig. Was sollen wir viel reden? Jawohl, ich mißtraue Ihnen! Ich habe jedes Vertrauen verloren.

Schreiben Sie also die Erklärung, sagte sie.

Während er tippte, ging sie hin und her, wahllos griff sie dies und das an – voller Gedanken und gedankenlos, am Ende doch erleichtert, daß er tat, was sie wünschte.

Plötzlich fällt ihr etwas ein, sie wendet sich ihm lebhaft zu, sie will etwas sagen ...

Aber als sie sein abweisendes, finsteres Gesicht sieht, schließt sie wieder den Mund. Sie setzt sich an den Schreibtisch, sie taucht eine Feder in das Tintenfaß, auch sie schreibt. Ihr Gesicht lächelt. Ihr ist etwas eingefallen, sie ist keine Egoistin, er hat doch unrecht – sie denkt an ihn, sie macht ihm eine Freude ...

Jetzt überfliegt sie nur die Erklärung, die sie eben noch so schmachvoll fand, gleichgültig unterschreibt sie. Dann nimmt sie ihren Zettel in die Hand ...

Hier, Herr Pagel, habe ich noch etwas für Sie. Sie sehen, ich vergesse nichts. Sobald es paßt, erledige ich das. – Auf Wiedersehen, Herr Pagel, und nochmals vielen Dank!

Sie geht.

Pagel steht in der Mitte des Büros. Er starrt die Tür an, er starrt den Wisch in seiner Hand an. Er hat das Gefühl, noch nie in seinem Leben so dämlich ausgesehen zu haben.

Er hält in der Hand eine Bescheinigung, auf der Frau Eva von Prackwitz, auch im Namen ihres Gatten, bestätigt, von Herrn Wolfgang Pagel ein Darlehen von 2000 Goldmark, in Worten Zweitausend Goldmark, empfangen zu haben ...

Pagel kommt sich sehr lächerlich vor.

Wütend zerknittert er den Schein.

Aber er besinnt sich. Er glättet ihn sorgsam. Er legt ihn zusammen mit der Ehrenerklärung in seine Brieftasche.

Wertvolle Reiseandenken! grinst er.

Jetzt ist er fast vergnügt.

5

Was der junge Wolf gang Pagel in den vier Monaten seiner Neuloher Tätigkeit an Achtung und Freundschaft bei den Leuten gewonnen hatte, das verlor er auf einmal in den vier letzten Tagen seines Dortseins. Noch lange hinterher erzählten sie sich, daß der kleine Negermeier schlimm genug gewesen sei, aber so ein abgründiger, scheinheiliger, rücksichtsloser Bursche wie der Pagel – nein, so etwas würden sie wohl nicht so leicht wieder erleben! Ein Bursche, der sich überhaupt nicht schämte. Er stiehlt ja vor aller Augen – am hellerlichten Tage!

Ich werde mich nicht ärgern, sprach Pagel entschlossen am Abend des zweiten Tages zu Amanda Backs. Aber in die Luft gehen möchte ich manchmal doch! Bringt doch wahrhaftig der alte Trottel, der Kowalewski, es fertig, wie ich die fünf Sauen an den Fleischer verkaufe, zu sagen: So was sollten Sie doch lieber nicht machen, Herr Pagel. Wenn der Gendarm davon erfährt! – Er hat es grade nötig!

Ärgern Sie sich nur, ärgern Sie sich nur tüchtig! sprach Amanda Backs. Warum sind Sie immer nett und freundlich gewesen zu allen? Da haben Sie Ihren Dank weg! Mich haben sie heute auch im Dorf gefragt, wie sich's denn im Bett von der gnädigen Frau schläft, und ob ich nicht auch bald die Kleider von der Gnädigen trage ...

Es ist schon eine bescheidene Welt! schalt Pagel ärgerlich. Jede Schlechtigkeit trauen sie einem auf der Stelle zu. Ohne weiteres glauben sie, daß ich hinter dem Rücken der Herrschaft das Vieh für meine Tasche verkaufe und daß wir beide hier frech und verboten unsern Einzug in die Villa gehalten haben. Kommt denn kein Aas auf die Idee, daß ich zufällig einen Auftrag von der Herrschaft habe? Ich kann doch nicht jedem Waschweib meine Vollmacht unter die Nase halten!

Sie wollen es gar nicht anders wissen, sagte Amanda triumphierend. Wenn Sie täten, was Ihnen die gnädige Frau aufgegeben hat, so ist das bloß selbstverständlich und langweilig. Aber wenn Sie am hellen Tage das halbe Gut verschieben, so ist das eine großartige Sache – und die haben zu reden, noch und noch!

Amanda! Amanda! sprach Pagel prophetisch. Mir ist doch verdammt mulmig zumute. Wenn der olle Geheimrat ankommt und sieht, was ich hier angerichtet habe, und seine Gnädige hört, was sich die Weiber erzählen – ich weiß nicht, ob der Wisch in meiner Brieftasche kräftig genug ist. Ich fürchte, ich fürchte: unter Donner und Blitz werde ich aus Neulohe scheiden!

Warten Sie's alles nur in Ruhe ab, Herr Pagel, schlug Amanda tröstlich vor. Bis jetzt ist es doch noch immer so gewesen, daß Sie den meisten Ärger von allen hatten – und warum sollte das zum Schluß anders sein?

Richtig, sagte Pagel. Sie hat heute zweimal von Berlin angerufen, wo Geld bleibt – sie sagt, sie braucht noch viel. Ich glaube, sie will sich ein Geschäft kaufen – trotzdem ich mir das Geschäft noch nicht recht vorstellen kann, in dem Frau Eva von Prackwitz hinter einem Ladentisch steht. Ich fürchte sehr, ich werde mich entschließen müssen, morgen die Dreschmaschine zu vermöbeln – und was der alte Herr dann sagt ...

Erst sagte einmal ein anderer was –: am nächsten Tage kam der örtlich zuständige Gendarm auf den Hof, in den Dreschmaschinenhandel hineingetrampelt mit seinem Fahrrad, und der war so verlegen höflich und so falsch liebenswürdig zu Pagel, daß über seine schlimmen Absichten gar kein Zweifel sein konnte. So wurde es Pagel nicht schwer, sehr unliebenswürdig zu sein, und als der Beamte schließlich damit herausrückte, daß er gerne einmal die Adresse der Herrschaft gehabt hätte, da verweigerte sie ihm Pagel rundweg.

Herr und Frau von Prackwitz wünschen keine Störung. Ich bin ihr Beauftragter; was Sie ihnen zu sagen haben, das sagen Sie bitte mir.

Was der Gendarm nun auch wieder nicht wollte. Recht ärgerlich zog er ab.

Und Pagel verhandelte weiter wegen der Dreschmaschine. Es war ein schöner Kasten, aber der Maschinenhändler aus der Kreisstadt wollte nicht den zehnten Teil des wirklichen Wertes zahlen, einmal, weil Geld in diesen Tagen unendlich knapp war, zum andern, weil es sich schon in der Gegend herumgesprochen hatte, ein verrückter Hund verramsche Neulohe für ein Butterbrot.

Einen Augenblick mal, Sie! sprach es da sehr empört. Sie wollen wohl den Dreschkasten verkaufen?

Wollen Sie ihn kaufen? fragte Pagel und sah sich interessiert den Herrn in Schilfleinen und mit Gamaschenbeinen an. Er konnte sich so ungefähr denken, wer das war. Ein einstmals vielbesprochenes Rennauto hielt ja da hinten.

Erlauben Sie! rief der Herr. Ich bin der Sohn von Herrn Geheimrat von Teschow!

Dann sind Sie also der Bruder von Frau von Prackwitz, stellte Pagel zufrieden fest und wandte sich wieder an den Maschinenonkel. Also sagen Sie jetzt ein vernünftiges Wort, Herr Bertram, oder der Kasten bleibt hier!

Jawohl bleibt der Kasten hier! rief zornig der Erbe. Wenn Sie ein Wort sagen, Herr Bertram, mache ich nie wieder ein Geschäft mit Ihnen!

Der Maschinenonkel sah verschüchtert von einem zum andern. Pagel lächelte nur. So murmelte Herr Bertram verwirrt den erleuchteten Satz: Ja, wenn das so ist ... und verschwand von der Scheunentenne.

Achthundert Rentenmark futsch! sprach Pagel bedauernd. Auf achthundert Rentenmark hätte ich ihn noch getrieben. Das wird Ihre Frau Schwester sehr bedauern.

Einen Dreck wird sie! schrie der andere. Achthundert Rentenmark für eine fast neue Schütte-Lanz, die so, wie sie da steht und geht, ihre sechstausend wert ist, Sie sind ja ...

Ich hoffe, Sie schreien nicht mich an, Herr von Teschow, sprach Pagel freundlich. Sonst würde ich Ihnen nämlich nicht die Aufklärungen geben, wegen deren Sie doch sicher gekommen sind, sondern müßte Sie vom Hof jagen!

Mich von meines Vaters Hof jagen? sprach der Sohn verblüfft und starrte Pagel an. Aber in Pagels Auge lag etwas, das ihn ruhiger sagen ließ: Also, wo können wir über die Kiste sprechen? Und drohend: Aber dumm schmusen lasse ich mich von Ihnen nicht, Herr ...!

Pagel, half Pagel, wo keine Hilfe gewünscht wurde, und schritt voran zum Büro.

 

Ja, wenn es freilich so ist! sprach der junge Herr von Teschow und besah noch einmal die beiden Schriftstücke, die Vollmacht und die Ehrenerklärung. Dann sind Sie völlig gedeckt, und ich bitte um Entschuldigung. – Meine Schwester aber und mein Schwager müssen ja wahnsinnig sein. Was die hier angerichtet haben, das verzeiht ihnen mein Vater nie. Wozu braucht sie denn soviel Geld? Ein paar hundert Mark würden für die ersten Wochen genügen – und dann einigt sie sich eben mit meinem Vater irgendwie. Ganz blank wird er sie ja auch nicht sitzenlassen.

Wie ich gestern Ihre Frau Schwester am Telefon verstand, sagte Pagel vorsichtig, scheint sie die Absicht zu haben, ein Geschäft zu kaufen.

Ein Geschäft! rief der Erbsohn. Ja, will denn Eva Verkäuferin werden?

Ich weiß es nicht. Aber jedenfalls scheint sie den Wunsch zu haben, ein kleines Anfangskapital in die Hand zu bekommen. Mir ist selbstverständlich klar, daß das, was ich jetzt für Frau von Prackwitz tue, gesetzlich nicht zulässig ist. Aber sie hat die feste Absicht, nie wieder nach Neulohe zurückzukehren. Sie leistet gewissermaßen auf ihr Erbteil Verzicht, und da habe ich gemeint, man könnte diese Unregelmäßigkeit verantworten.

Sie meinen, rief Herr von Teschow der Jüngere lebhaft, sie würde Neulohe ausschlagen?

Ich glaube das. Nach den Erlebnissen der letzten Zeit ...

Ich verstehe, sprach Herr von Teschow. Gewiß, sehr traurig. – Von meiner Nichte Violet gibt es keine Nachrichten?

Nein, antwortete Pagel.

Ja, ja, sagte Herr von Teschow gedankenvoll. Ja, ja.

Er stand auf. Also ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung. Blinder Alarm – mir hatte da jemand was in die Ohren geflüstert. – Ich bin – unter uns – ganz Ihrer Ansicht. Sehen Sie, daß Sie für meine Schwester noch ein ordentliches Stück Geld herausschlagen. Es ist ja nun doch egal: mein Vater wird auf alle Fälle toben, ob die Dreschmaschine da ist oder nicht. Achthundert Rentenmark, sprach er sinnend. Ich könnte sie auch dafür nehmen. Aber nein, es geht leider nicht. Lauter: Es ist Ihnen natürlich klar, Herr Pagel, daß ich bei meinem Vater nicht die Partei meiner Schwester nehmen kann – ihr Vorgehen ist jedenfalls nicht korrekt.

Mit fast unverhohlenem Ekel sah Pagel in die Augen des andern. Er meinte, nie etwas so Häßliches gehört zu haben wie die Frage: Von meiner Nichte Violet nichts Neues? – als dem jungen Herrn von Teschow klargeworden war, wie viel es jetzt vielleicht zu erben gab.

Aber Herr von Teschow der Jüngere merkte von diesem Ekel nichts. Er war viel zu beschäftigt, um auf den jungen Mann zu achten. Er sagte verloren: Na dann sehen Sie also, daß Sie noch etwas rausschlagen. Ich denke, mein Vater wird erst in drei oder vier Tagen kommen.

Schön, sagte Pagel.

Na, ob das für Sie grade schön werden wird –? Aber jedenfalls sind Sie gegen das Schlimmste gedeckt. – Sie kennen meinen Vater noch nicht, wenn der richtig tobt ...

So werde ich ihn also kennenlernen, sagte Pagel lächelnd. Ich warte es in Ruhe ab ...

Aber darin irrte sich Wolfgang Pagel. Er sollte es nicht kennenlernen, dieses Toben. Er wartete es nicht in Ruhe ab.

Er war schon weg, als der Geheimrat kam.

Ausgerissen, so ein schlauer Hund! lachten die Leute.

6

Es fing damit an, daß das Telefon läutete auf dem Büro.

Wolfgang Pagel war grade dabei, eine telegrafische Postanweisung auszuschreiben an die gnädige Frau, und Amanda Backs war eine Treppe darüber damit beschäftigt, sich warm und wetterdicht einzupacken für eine Radfahrt durch Winterwind und Herbstregen nach der Kreisstadt. Denn dort auf dem Postamt mußte die Anweisung aufgegeben werden, und die beiden einsamen Hühner wußten niemanden sonst in Neulohe, dem sie das Geld gerne anvertraut hätten, runde zweitausend Rentenmark ...

Da also klingelte das Telefon ...

Das Telefon klingelt verschieden, es klingelt mal hell, mal dunkel, mal nüchtern und gleichgültig, und nun wieder herrisch und eilig ... Und danach haben wir unsere Vorahnungen, was das für ein Gespräch sein könnte, und manchmal treffen unsere Vorahnungen sogar ein ...

Pagel sah kurz auf zu dem dunkel und herrisch klingelnden Apparat –: ›Das ist etwas!‹ dachte er, nahm den Hörer ab und meldete sich als Gutsverwaltung Neulohe.

Eine ziemlich grobe Stimme verlangte Frau von Prackwitz zu sprechen.

Frau von Prackwitz ist nicht zu sprechen, antwortete Pagel. Frau von Prackwitz ist verreist.

So, sagte die grobe Stimme, wie es schien, etwas enttäuscht. Ausgerechnet jetzt ist sie verreist. Wann kommt sie denn zurück?

Das kann ich nicht sagen, diese Woche nicht mehr. Kann ich ihr etwas ausrichten? Hier spricht der Inspektor von Neulohe.

Sie sind also noch da?

Ich weiß nicht, was Sie eigentlich wollen, rief Pagel etwas ärgerlich. Wer sind Sie denn eigentlich?

Dann bleiben Sie auch da! sagte die grobe Stimme, und Pagel hatte das Gefühl, der andere hing ab.

Halt! schrie Pagel. Wer Sie sind, möchte ich wissen ...

Aber im Apparat summte es nur, summte, summte ...

Hör zu, Amanda, sagte Pagel, was eben hier geschehen ist ...

Und er erzählte es ihr.

Und was denken Sie sich dabei? fragte Amanda. Das ist einer, der hat Sie bei der Gnädigen verklatschen wollen, oder er hat Sie auch nur so auf den Arm nehmen wollen ...

Nein, nein, sagte Pagel zerstreut. Ich denke immer ...

Nun, was denken Sie –? fragte Amanda.

Ich denke immer, es könnte irgendwie mit Fräulein Violet zusammenhängen.

Mit der Violet? Aber wieso denn? Warum soll sich denn einer wegen Fräulein Violet so dußlig am Apparat benehmen? Nee, nun geben Sie mir mal die zweitausend Mark, die Anweisung ist wohl fertig? Ich muß sehen, daß ich wegkomme. Bei völliger Nacht möchte ich auch nicht in diesem Wetter zurückstrampeln müssen.

In einem Augenblick bin ich mit meiner Schreiberei fertig, sagte Pagel und setzte sich wieder daran.

Das Telefon klingelte, es klingelte hell und lange, gewissermaßen langweilig und blechern.

Ein Händler, sagte Pagel zu Amanda, nahm den Hörer und meldete die Gutsverwaltung Neulohe.

Es kam aber Berlin ...

Die gnädige Frau, flüstert Pagel zu Amanda.

Es kam aber ein Händler, es kam ein großer Handelsmann.

Sind Sie da, junger Mann? rief die bekannte Krähstimme.

Jawoll, Herr Geheimrat! rief Pagel, grinste und warf Amanda einen erheiterten Blick zu. Pagel heiße ich übrigens.

Na, denn is ja jut ... Sehen Sie, det hatte ich nu schon janz wieder vajessen. Is unhöflich, aber nicht zu ändern. – Nu hören Sie mal gut zu, junger Mann ...

Pagel ist mein Name.

Nu ja, det weiß ick ja jetzt! rief der Geheimrat etwas ärgerlich. Ich muß es ja nicht grade am Telefon auswendig lernen! Bedenken Sie, det Jespräch kostet eins zwanzig, und det ist leider mein Jeld, wat es kostet ... Nu hören Sie also mal gut zu ...

Ich höre, Herr Geheimrat.

Ich komme mit dem Zehn-Uhr-Zug heute abend an. Da schicken Sie mir den Hartig zur Bahn mit den beiden ollen Kutschbraunen ...

Die sind ja verkauft! wollte Pagel sagen, aber dann: Lieber nicht, er wird's von selbst merken.

Und Decken schicken Sie mit, Pferdedecken – daß mir die Zossen am Bahnhof gut zugedeckt sind! Der Hartig ist man dußlig – der hat wohl seinen Verstand unter die vielen Kinder aufgeteilt –

Pagel platzte los.

Na, sehen Sie, da lachen Sie schon, sagte der Geheimrat zufrieden. Hoffentlich lachen Sie morgen früh auch noch, wenn ich da bin. Ick bringe nämlich noch 'nen Herrn mit, so 'nen Bücherrevisor ... Soll kein Mißtrauensvotum gegen Sie sein, aber wo mein Herr Schwiegersohn so heimlich ausgekniffen ist, müssen wir doch was machen wie 'ne Bestandsaufnahme und Kassen- und Bücherübergabe. – Das verstehen Sie doch, junger Mann?

Verstehe ich vollkommen, Herr Geheimrat. – Pagel war mein Name.

Ist doch alles in Ordnung, Mensch? fragte der Geheimrat mit plötzlicher Besorgnis.

Alles in Ordnung, sagte Pagel grinsend. Sie werden es ja selbst sehen, Herr Geheimrat!

Amanda hätte fast losgequietscht. Sie hörte längst am Hörer mit.

Na also! sprach der Geheimrat. Ja, Frollein vom Amt, ick habe gute Nachrichten, ick lege noch drei Minuten zu. – Nu aber fix, junger Mann. Also lassen Sie zwei Zimmer in meinem Katen heizen, mein Schlafzimmer und das kleine Fremdenzimmer. – Meine Frau bleibt erst noch mal hier. Die will erst hören, daß die Luft wieder rein ist bei euch in Neulohe. Wieder mit Besorgnis: Es ist doch nicht noch mehr passiert bei euch?

Doch, allerlei, Herr Geheimrat.

Mensch, erzählen Sie mir das bloß nicht am Telefon, das höre ich morgen alles noch viel zu früh. – Amanda, die Dicke mit den Knallbacken, wissense ...

Amanda hätte fast Ja gesagt ...

Die kann ja nu mal Mädchen für alles spielen. Ja, und mein Arbeitszimmer soll sie auch heizen. Aber nicht das Eßzimmer. Sparen müssen wir, Geld wird immer knapper. Und eure Wirtschafterei – sagen Sie mal, Herr Pagel, haben Sie so 'n bißchen Geld in der Kasse?

Wenig, Herr Geheimrat. Genauer gesagt: nichts!

Aber wie denkt ihr euch denn das? Ich denke, ihr habt ein bißchen Pacht zusammengekratzt? Ihr könnt doch nicht so einfach ... Na also, davon reden wir morgen ernsthaft. – Heh, und noch eins, Herr Pagel! Der Förster, der olle Kniebusch, liegt denn der noch immer faulkrank im Bett –?

Nein, Herr Geheimrat! Ich denke, Ihre Tochter hat Ihnen das geschrieben? Der Förster ist doch gestorben, der Förster ist doch –

Schluß! schrie der Geheimrat wütend. Schluß! Hätte ich doch die drei Minuten nicht draufgelegt! Nischt wie schlechte Nachrichten ... Also um zehne, um zehne an der Bahn! Mahlzeit!

Und keine Frage nach seiner Enkelin! sagte Pagel zu Amanda und hängte an. Sohn wie Vater, eine Wichse!

Na ja, sagte Amanda, was soll er denn so tun? Der ist doch bloß froh, wenn er seinen Hof wieder hat! Aber wie ich das schaffen soll – jetzt noch aufs Postamt und dann die Zimmer im Schloß richten, ein bißchen warm sollen sie doch auch sein ...

Geben Sie mir das Geld wieder, sagte Pagel, nahm es, sah Amanda an und steckte es in seine Brieftasche. Ich hab so 'ne Ahnung, als wenn ich morgen fliegen lernte, und da kann ich es ja schließlich der Gnädigen persönlich bringen. Sparen wir noch das Porto.

Schön, sagte Amanda. Ich will sehen, daß ich ein paar Frauen aus dem Dorf kriege. Es muß ja schließlich auch etwas zu essen da sein.

Immer los! Ich werde mich noch ein bißchen hinter meine Geschäftsbücher setzen, es hilft zwar nichts, in Ordnung kommen die nie, aber ich könnte doch mal versuchen, so etwas wie einen Kassenbestand festzustellen ...

Er setzte sich hin. Als er mit dem Geheimrat gesprochen hatte, war er noch ganz vergnügt und aufgeräumt gewesen, aber nun war die gute Laune verflogen. Wenn er sich jetzt den ollen Rauschebart vorstellte, und sein Gebrüll, und wie er rot anlief, und wie er einem auf die Pelle rückte, und wie er roch, und wie er jeden Einspruch niederschrie, und wie er feucht sprühte, wenn er wütend war ... Verdammt noch mal, es würde morgen ein sehr bescheidener Tag werden, er, der einzige Prügelknabe für all und jedes. Und was das Schlimmste war, er war seiner Nerven auch nicht mehr ganz sicher. Und er haßte es, die Beherrschung zu verlieren. Es machte ihn hinterher ganz elend!

Aber deswegen kneifen?

Nie!

Unterdessen hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf die Kunde verbreitet, der alte Herr komme heute abend zurück, und die Weiber putzten schon im Schloß ... Und zwanzig Männlein und Weiblein machten sich ein Gewerbe und gingen am Schloß vorüber, und wenn sie wirklich die Fenster im Zimmer des alten Herrn erleuchtet und offen sahen, so nickten sie zufrieden mit dem Kopfe. Und sie freuten sich sehr auf das, was es morgen früh geben würde –!

Alle hatten sie vergessen, wie sehr sie einmal den jungen Pagel begrüßt hatten, wie sie ihn gerne gemocht und ›Junkerchen‹ genannt hatten, und wie glücklich sie gewesen waren, nach dem unanständigen Negermeier den anständigen Pagel bekommen zu haben. Alle promenierten sie am Bürofenster vorüber und versuchten, hinein zu schielen, und die Neugierigsten dachten sich ein Anliegen aus, und noch nie war Pagel so oft und so sinnlos bei dem Addieren seiner Millionen-, Milliarden- und Billionen-Kolonnen gestört worden.

Kamen die Neugierigen aber wieder heraus, so fragten die andern: Ist er noch da?

Und wenn die Späher antworteten: Er sitzt und schreibt, so schüttelten sie die Köpfe und sagten: Er hat ja wohl gar keine Scham im Leibe. Packt er denn nicht wenigstens?

Was soll er denn packen? fragten sie wieder. Der hat bestimmt seinen Kram in Sicherheit gebracht, so oft wie der die letzten Tage in die Stadt gefahren ist!

Und sie waren sich gar nicht einig, was sie nun eigentlich wünschen sollten: daß der Pagel hier bliebe und nach riesigem Krach ins Kittchen wanderte oder daß der Pagel ausrisse und der Alte sich die Platze ärgerte. Beides war schön!

Paß auf, morgen früh ist er weg! sagten die einen.

I wo, meinten die andern. Der ist so schlau – den legt nicht mal der alte Herr rein! Das ist der gerissenste Kerl, den wir je auf dem Hof gehabt haben.

Eben! Weil er das ist, ist er morgen früh weg.

Und das war er denn ja auch.

7

Um sieben Uhr abends klappte Pagel seine Bücher mit dem Seufzer: Es hilft ja doch alles nichts! endgültig zu.

Er warf noch einen Blick durch das Büro, ehe er das Licht ausschaltete, er sah den Geldschrank an mit seinen Arabesken, das rohe Aktenregal mit Reichsgesetzblatt und Kreisblatt. Die Schreibmaschine war zugedeckt, er hatte doch so manchen Brief an seine Mutter darauf geschrieben – für Petra.

›Morgen fliege ich‹, dachte Pagel mutlos. ›Es ist eigentlich kein schöner Schluß – im ganzen habe ich meine Arbeit ja doch gerne getan. Es wäre netter, wenn hier morgen jemand stünde und sagte: Danke schön, Herr Pagel, Sie haben Ihre Sache gut gemacht! Statt dessen wird der Geheimrat nach Polizei und Gericht schreien!‹

Er schaltete aus, schloß ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging durch den stockdunklen Abend zur Villa hinüber. Für Ausgangs November war die Luft heute abend merkwürdig warm. Auch wehte keine Spur von Wind, nur war alles sehr feucht.

›Grippewetter!‹ sagte Pagel. Der Doktor hatte ihm erzählt, die Leute stürben wie die Fliegen, junge wie alte. Zu lange unterernährt, erst der Krieg, dann diese Inflation ... ›arme Luder‹, dachte Pagel. ›Ob es nun wirklich besser wird mit dem neuen Geld –?‹

In der Villa wartete Amanda schon mit dem Essen und mit tausend Klatschereien, die sie von den Weibern gehört hatte. Denken Sie, Herr Pagel, was die sich jetzt ausgedacht haben! Sie sollen mit der Sophie unter einer Decke gesteckt haben – und daß der Förster grade bei Ihnen gestorben ist, das haben Sie nur gemacht, damit er nicht reden kann.

Ach, Amanda, sagte Pagel gelangweilt. All das ist so dumm und dreckig. Wissen Sie nicht irgend etwas Nettes, sagen wir aus Ihrer Jugend, was Sie mir mal erzählen könnten?

Was Nettes –? Aus meiner Jugend? fragte Amanda ganz verblüfft, und grade wollte sie loslegen und ihm erzählen, was mit ihrer Jugend los gewesen war ...

Da ging die Klingel der Villa – und über ihren Abendbrotteller sahen sich die beiden an wie ertappte Verbrecher.

Das kann doch noch nicht der Geheimrat sein? flüsterte Amanda.

Unsinn! sagte Pagel. Es ist kaum halb acht – es wird irgendwas im Stall los sein. Machen Sie auf, Amanda.

Aber er hielt es dann doch nicht aus und ging ihr nach und kam grade zurecht, als die heftig protestierende Amanda von einem Mann beiseite geschoben wurde. Der vierschrötige Mann hatte einen steifen schwarzen Hut auf, er hatte einen Kopf wie ein Stier – und nun traf der Blick, kalt, eisig, unvergeßbar, den jungen Pagel.

Ich habe ein Wort mit Ihnen zu reden, sagte der dicke Kriminalist. Aber schicken Sie dies Frauenzimmer weg. Halt den Schnabel, du Schnattergans!

Und auf der Stelle schwieg Amanda.

Warten Sie auf der Diele, Amanda, bat Pagel. Kommen Sie bitte. Und er ging, mit starkem Herzklopfen, dem Mann voran in das Eßzimmer.

Der Mann schoß einen Blick auf den Tisch mit den zwei Gedecken, dann sah er Pagel an. Ist das da Ihre Geliebte draußen? fragte er.

Nein, sagte Pagel. Das war die Freundin von Inspektor Meier. Aber es ist ein gutes Mädchen.

Auch ein Schwein, das ich noch erwischen möchte, sprach der Dicke und setzte sich an den Tisch. Halten Sie sich nicht mit Decken auf, ich bin hungrig und muß gleich weiter. Erzählen Sie mir, was hier los ist, warum Ihre Gnädige fort ist, warum Sie hier in der Villa wohnen – alles. Klar, kurz, bündig.

Der dicke Mann aß, wie er war: hart, ohne Zusehen, eilig, gierig. Pagel erzählte, als müßte es so sein ...

Also hat sie schließlich doch schlapp gemacht, Ihre Gnädige, hätte ich mir ja denken müssen! sagte der Dicke. Geben Sie mir jetzt eine Zigarre. Haben Sie gemerkt, daß ich das war, der Sie heute nachmittag anrief?

Ich dachte es, sagte Pagel. Und –?

Und Sie sitzen nun selbst hier im Schlamassel? Zeigen Sie mir mal die beiden Wische von Ihrer Gnädigen.

Pagel tat es.

Der Dicke las sie. In Ordnung, sagte er. Sie haben nur vergessen, sich auch wegen der Verkäufe nach der Abreise von der Gnädigen sicher zu stellen.

Verdammt! sagte Pagel.

Macht nichts, sagte der Kriminalist. Sie können das nachholen.

Aber der Geheimrat kommt schon heute abend.

Sie werden den Geheimrat nicht mehr sehen. Sie fahren heute abend nach Berlin, lassen Sie sich heute nacht noch von der Gnädigen aufschreiben, daß sie auch mit den letzten Verkäufen einverstanden ist. Heute nacht noch. Versprechen Sie mir das? Sie sind leichtsinnig in solchen Dingen!

Sie haben Nachrichten von Fräulein Violet? rief Pagel.

Sitzt drunten im Wagen! sagte der Dicke.

Was? schrie Pagel und sprang zitternd auf. Was? Und Sie lassen mich hier sitzen und sie warten?

Halt! sagte der Dicke und legte ihm seine Hand wie eine nicht abzuschüttelnde Fessel auf die Schulter. Halt, junger Mann!

Pagel sah ihn wütend an und wollte sich befreien.

Es stimmt nicht ganz, was ich Ihnen eben gesagt habe. Was da im Wagen sitzt, das ist das, was von Ihrem Fräulein Violet noch übrig ist. Bedenken Sie, zwei Monate lang ist sie systematisch von Sinn und Verstand geängstigt worden – von Sinn und Verstand? Sie verstehen mich doch –?

Er sah Pagel eisig an.

Ich weiß nicht, sagte der Kriminalist finster, ob ich ihrer Mutter einen Dienst tue, daß ich sie ihr wiederbringe. Ich habe auch nicht extra nach ihr gesucht – denken Sie das bloß nicht. Aber man hört viel, wenn man so weit im Lande herumkommt wie ich. Die alten Kollegen rechnen einen noch immer dazu, wenn die großen Bonzen mich auch abgesägt haben. Und da ist sie mir eben über den Weg gelaufen. Was soll ich mit ihr anfangen? Ich weiß auch nicht, ob Sie das Mädchen ohne weiteres der Mutter bringen können, das müssen Sie alles selber entscheiden. Sie darf hier nur nicht bei den alten Leuten bleiben. Bringen Sie sie diese Stunde noch mit einem Auto weg ... Irgendwohin, wo Ruhe ist und Sicherheit. Wozu wollen Sie sich hier noch von dem alten Kaffer anschnauzen lassen? Fort mit Ihnen!

Ja ... sagte Pagel gedankenvoll.

Nehmen Sie das dicke Frauenzimmer von der Diele mit. Schon, daß Sie eine weibliche Hilfe während der Fahrt haben und daß die Leute nicht noch mehr über Sie reden können.

Gut, sagte Pagel.

Sprechen Sie nicht sanft mit ihr und auch nicht hart. Sagen Sie nur das Nötigste: Setz dich dahin. – Iß. – Leg dich schlafen! – Sie tut alles wie ein Lamm. Keine Spur von eigenem Willen mehr. Sagen Sie immer du zu ihr und nennen Sie sie nicht Violet – sonst wird sie ängstlich.

Flüsternd: Er hat sie immer bloß Hure angeredet.

Hören Sie auf! rief Pagel und leise fragend: Und er –?

Er –? Wer –? Wen meinen Sie denn? rief der Dicke und schlug Pagel auf die Schulter, daß er wankte. – Das wäre alles, sagte er ruhiger. Sonst nichts weiter! Nichts – weiter! Packen Sie Ihren Kram zusammen, Sie können in den Wagen steigen, der unten hält. Bis Frankfurt fahre ich mit. Und dann noch eins, junger Mann, haben Sie Geld?

Ja, sagte Pagel. Zum erstenmal in letzter Zeit gab er es gerne zu.

Ich habe 82 Mark Auslagen gehabt, die geben Sie mir jetzt gleich wieder. – Danke. – Ich stelle Ihnen keine Quittung aus, ich habe keinen Namen mehr, den ich unterschreiben mag. Aber wenn Ihre Gnädige fragt, sagen Sie ihr, ich habe sie frisch einpuppen müssen – sie war ziemlich abgerissen. Und dann noch ein bißchen Fahr- und Zehrgelder. Jetzt los mit Ihnen! Packen Sie, bringen Sie das dicke Frauenzimmer auf den Trab – in einer halben Stunde halte ich mit dem Wagen hundert Meter von hier nach dem Wald zu. Die Leute brauchen nichts zu merken.

Aber kann ich Fräulein Violet nicht jetzt –?

Junger Mann, sagte der Dicke. Haben Sie es bloß nicht so eilig. Das ist kein fröhliches Wiedersehen. Sie erleben es noch früh genug. Marsch! Ich gebe Ihnen dreißig Minuten.

Und er ging.

8

Von den bewilligten dreißig Minuten gingen acht dafür verloren, der Amanda Backs zu berichten, was geschehen war, sie zu überzeugen, daß sie für das gnädige Fräulein ihr Federvieh geruhig einer völlig unsicheren Zukunft überlassen müsse, und sie dann zum Handeln zu bringen. Fünf weitere Minuten nahm der Weg zum Beamtenhaus in Anspruch, wo man packen mußte. Da man die gleiche Zeit für den Rückweg zum Wagen rechnen mußte, blieben nur zwölf Minuten für die ganze Packerei. So wurden es nur zwei Handkoffer, einer für Amanda, einer für Pagel.

Wolfgang Pagel, der mit einem Ungetüm von Schrankkoffer seinen Einzug in Neulohe gehalten hatte, ging mit fast nichts. Aber er dachte nicht daran; er überlegte mehr, ob er dem Geheimrat nicht ein paar aufklärende Zeilen hinterlassen sollte. Es war ihm doch sehr zuwider, daß er morgen früh als ungetreuer Beamter und kläglicher Feigling von allen Mäulern zerrissen werden sollte. Er befragte Amanda.

Schreiben –? fragte Amanda. Was wollen Sie dem denn schreiben? Der glaubt Ihnen doch nichts, wenn er den Kladderadatsch hier sieht! Nee, das lassen Sie man die gnädige Frau mit der Zeit in Ordnung bringen. – Aber Herr Pagel, sagte sie fast weinend, daß Sie mir zumuten, ich muß hier meine schönen Sachen stehen und liegen lassen, und nachher geht irgendein Weibsbild wie die schwarze Minna daran und wühlt alles durch und womöglich zieht sie sich noch meine schöne Wäsche auf ihren dreckigen Leib ...

Ach, machen Sie sich doch wegen der Sachen keine Sorgen, Amanda! sagte Pagel zerstreut. Sachen kann man sich doch immer wieder kaufen ...

So –? fragte Amanda empört. Sie können sich vielleicht immerzu neues Zeug kaufen, ich nicht! Und wie man sich da freut, wenn man ein Extrapaar seidene Strümpfe für besondere Gelegenheiten im Schrank hat, davon haben Sie eben gar keine Ahnung! Aber das sage ich Ihnen, wenn der alte Kracher mir die Sachen nicht auf der Stelle mit Fracht zuschickt, dann fahre ich persönlich hierher, und dann sage ich ihm so Bescheid –

Amanda, nur noch drei Minuten!

So, nur noch drei Minuten –? Und das sagen Sie mir so ganz einfach! Und wie ist es denn mit meinem Gehalt –? Jawoll, Herr Pagel, an alle haben Sie gedacht, aber daß ich auch ganz gerne für meine Arbeit was kriege, das haben Sie die letzten Monate völlig vergessen. Aber wir leiden ja nicht an derselben Krankheit, Herr Pagel! Wenn Sie in Geldsachen doof sind, brauche ich es nicht zu sein, und ich verlange meine drei Monate rückständiges Gehalt mit Quittung, alles wie sich's gehört – und in Ihr Kassenbuch schreiben Sie es auch noch ein! Ich will, daß alles seine Richtigkeit hat!

Ach, Amanda! seufzte Pagel. Aber er tat doch, was sie wollte.

Dann schloß er zum letztenmal seine Bürotür ab und warf den Schlüssel in den kleinen, blechernen Türbriefkasten, daß es klapperte. Und nun eilten sie, ihre Koffer in der Hand, durch die stockdunkle Nacht aus dem Dorf hinaus. Da und dort und dort, in fast allen Häusern brannte noch Licht – es mochte nun ziemlich nahe an neun Uhr sein. Neulohe wartete mit Spannung auf die Ankunft des Geheimrats.

Achtung! sagte Pagel und zog Amanda in eine dunkle Ecke.

Die Dorfstraße entlang kam jemand gegangen, und sie standen ängstlich wie wirkliche Verbrecher in der Dunkelheit, und liefen erst wieder weiter, als sie eine Haustür hinter dem nächtlichen Wanderer hatten zuschlagen hören.

Nun kamen sie an der Villa vorüber, dunkel lag sie im Dunkel. Aber jetzt wurde der schwache Lichtschein des Wagens sichtbar, der mit abgeblendeten Lampen am Wald hielt.

Acht Minuten Verspätung! knurrte der Dicke. Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, wo ich mit ihr bleiben könnte, wäre ich abgehauen! – Du, Mädchen, setze dich neben sie, und das sage ich dir, wenn du zu schnattern anfängst, gibt's was auf den Schnabel. – Kommen Sie, junger Mann, wir müssen schon die Klappsitze nehmen.

Damit machte er die Wagentür auf. Der Augenblick war gekommen – und nichts geschah. Etwas Dunkles regte sich in der Wagenecke, aber der Dicke sagte bloß: Rühr dich nicht. Schlaf weiter. Und das Dunkle bewegte sich nicht mehr.

Los! rief der Kriminalist zum Chauffeur. Was haste was kannste nach Frankfurt. Der junge Mann gibt Ihnen auch ein Trinkgeld, wenn wir bis elf da sind.

Der Wagen schoß in die Nacht. Wieder glitt die Villa vorüber, dann kamen die Lichter der Leutehäuser. Pagel sah angestrengt nach dem Beamtenhaus, aber es war im Dunkel nicht zu erkennen. Nun noch das Schloß ...

Da ist Licht! rief Amanda aufgeregt. Die schwarze Minna wartet auf mich. Na, wie die mit dem Geheimrat allein zurecht kommen wird heute abend –

Schnabel! sagte der Dicke, aber es klang nicht bösartig. Sie dürfen ruhig rauchen, junger Mann. Es stört – sie nicht. Ich rauche auch.

Und nach einer Weile entschloß sich Pagel wirklich dazu.

Kurz vor der Kreisstadt hätten sie beinahe noch einen Unfall gehabt, beinahe wären sie in einen Kutschwagen hineingefahren. Das kam aber nur daher, daß der Kutscher Hartig die Pferde gehen ließ, wie sie wollten, weil er nämlich mit seinem Kopf immer hinten beim Geheimrat war. Der hatte seinen Schädel aus dem Fenster der ›Zu-Bombe‹ gesteckt und erfuhr so schon unterwegs einiges von den tollen Dingen, die sich daheim begeben hatten.

Das war der Geheimrat, erklärte Pagel, als das wütende Geschimpf von Herrn und Kutscher hinter ihnen verklungen war.

Na ja, sagte der Dicke nachdenklich. Heute nacht möchte ich dem sein Bett auch nicht sein!

Hinter der Kreisstadt kamen sie auf die Staatsstraße. Nach dem Gerumpel und stoßweisen Fahren der Nebenwege ging der Wagen fast leise und immer rascher über die glatte Chaussee – weiter, immer weiter. Pagel dachte trübe, was sie doch für eine seltsame Fuhre waren, jeder recht allein für sich, und er quälte sich, was er mit dem Mädchen wohl tun sollte, diese Nacht ...

Da sagte der Dicke: Vor zwei können Sie kaum in Berlin sein; haben Sie schon überlegt, wo Sie mit ihr bleiben wollen? Zur Mutter –?

Pagel sah gespannt nach der dunklen Gestalt in der Wagenecke, aber sie rührte sich nicht.

Ich weiß es nicht, flüsterte er schließlich. Die Mutter wohnt in einem Hotel, und ob ich da mitten in der Nacht mit – einer Kranken kommen kann? Und zu meiner Mutter? Es ist schon Schreck für die genug, wenn ich ohne Anmeldung hereinschneie.

Der Dicke sagte nichts.

Ich habe auch an ein Sanatorium gedacht, fing Pagel wieder an. Ich habe da einen guten Bekannten, einen Freund fast, der ist in einem Sanatorium angestellt. Aber heute nacht komme ich nicht mehr so weit. Ich weiß wirklich nicht ...

Sanatorien kosten viel Geld, sagte der Dicke. Und Geld ist knapp bei euch!

Ja, wo soll ich denn hin mit ihr –? rief Pagel.

Zur gnädigen Frau, sagte Amanda. Zur Mutter.

Gut geschnattert! lobte der Dicke. Was Sie da sagen von Hotel und Nacht, das ist ja alles Unsinn. Sie ist doch die Mutter! Und wenn sie auch ausgekniffen ist und schlapp gemacht hat, die Mutter ist sie, und jetzt wird sie nicht schlapp machen.

Schön, sagte Pagel.

Aber er machte sich schon wieder Gedanken, was er Frau von Prackwitz auf alle Fragen antworten sollte. Denn er wußte ja gar nichts, und der Dicke würde ihm auch bestimmt keine weitere Auskunft geben.

Der Dicke klopfte gegen die Chauffeurscheibe, es war heller im Wagen, Frankfurts Straßenlaternen schienen herein.

Ich steige hier aus, sagte er. Hören Sie, Chauffeur, bestätigen Sie ... Der junge Mann hier zahlt die ganze Fuhre. Achtzig Pfennig kriegen Sie für den Kilometer – viel, junger Mann, aber die leere Rückfahrt ist mit einbegriffen. Auf 43 750 stand Ihr Kilometeranzeiger, als wir losfuhren. Merken Sie sich das, Jüngling.

Alles richtig, sagte der Chauffeur. Und Sie werden auch genug Geld haben, Herr? Es wird über dreihundert Mark machen!

Habe genug, sagte Pagel.

Dann ist's ja gut, sagte der Chauffeur. Ein bißchen Bammel hatte ich doch.

Geben Sie ihr noch eine warme Tasse Kaffee zu trinken hier in Frankfurt und etwas zu essen. Aber nicht im Lokal, reichen Sie's ihr in den Wagen. – Gute Nacht!

Und damit hatte sich der Dicke schon umgedreht, ging ...

Herr, Herr –! rief Pagel, unnötig aufgeregt.

Der Dicke winkte mit der Hand. Den steifen Hut auf dem Kopf, der fest zwischen den Schultern stak, ging er um eine Ecke, ging fort, in die Nacht hinein – auf Nimmerwiedersehen!

Chauffeur, sagte Pagel, halten Sie an irgendeinem kleinen Lokal, wenn wir ziemlich durch die Stadt sind. Wir wollen noch etwas essen.

Gemacht, antwortete der Mann, und wieder fuhren sie.

Jetzt war es heller im Wagen. Die Lampen schienen herein, aber die dunkle Gestalt rührte sich nicht. Es war nur eine dunkle Gestalt, ein namenloser Fahrgast, das Gesicht in das Eckpolster gedrückt.

Nun sind wir mit ihr allein, sagte Pagel bedrückt. Fräulein – Fräulein Violet, möchten Sie etwas essen?

Er hatte es vergessen – nein, er hatte es nicht vergessen, er hatte es nicht über sich vermocht, zu ihr zu sprechen wie zu einem unverständigen Kind oder vernunftlosen Hund.

Sie zitterte in ihrer Ecke, er fühlte es, er sah es – etwas rührte sie an. Verstand sie – wollte sie es nicht verstehen, konnte sie es nicht –?

Das Zittern wurde stärker, ein Klagelaut ließ sich hören, nichts Artikuliertes – sondern wie manchmal ein Vogel in der Nacht allein klagt ...

Amanda machte eine Bewegung zu ihr hin. Warnend legte Pagel seine Hand auf die von Amanda, er bemühte sich, den kalten, leidenschaftslosen Ton des Dicken zu treffen: Sei jetzt ruhig. Schlaf ...

Später hielten sie.

Amanda ging hinein. Amanda brachte, was nötig war. Aber Pagel sagte: Iß – trink jetzt.

Schon fuhr der Wagen wieder weiter, eiliger in die Nacht hinein, auf Berlin zu. Pagel sprach: Schlaf jetzt wieder.

Sie fuhren lange, es war dunkel, es war still. War nicht Pagel auch ein Sohn, der verloren gewesen war und nun heimkehrte? Sie kehrte jetzt auch heim! Fremd – fremd geworden, die Kinder kennen die Eltern nicht mehr. Bist du das? fragt die Mutter. Ach, das Leben, das Leben! Wir halten nichts, ob wir wollen oder nicht, wir gleiten, wir eilen – ruhelos, ewig verwandelt. Zum Gestern sagen wir die Frage: Bist du das? – Ich kenne dich nicht mehr! Halte doch ein! Halte ein –! Fort –!

Es fährt der Wagen und fährt. Manchmal werfen die Wände schlafender Dörfer das Motorengeräusch lauter zurück, dann wieder ist nur die leise surrende Stille der Landstraße da. Hatte Pagel geglaubt, er würde freudig, er würde erregt die Tochter der Mutter wiederbringen? Schließlich war er bloß müde und abgespannt. Er führte ein langsames, schläfriges, manchmal ein bißchen gereiztes Gespräch mit der Amanda, die wissen wollte, was sie denn nun eigentlich in Berlin tun sollte, wenn die gnädige Frau ihre Hilfe nicht wünschte?

Ich weiß es nicht, Amanda, sagte Pagel gequält. Sie haben ganz recht, es war unüberlegt. Aber ich weiß es nicht ...

Dann versickerte auch das. Als sei niemand Besonderes im Wagen, keine Tochter, die man hundertmal totgeglaubt und die dem Leben wiedergegeben war, als sei es irgendeine gleichgültige, ja, ein bißchen lästige Fuhre. Mehr nicht ...

Schließlich stand er dann in der Hotelhalle. Es war morgens halb drei. Mit Mühe nur hatte er erreicht, daß ihn der Nachtportier mit dem Zimmer von Frau von Prackwitz verband.

Ja, was ist denn? fragte die aufgeschreckte Frauenstimme.

Hier ist Pagel. – Ich bin unten in der Hotelhalle. – Ich bringe Fräulein Violet. Und nun doch, statt des langsamen ruhigen Redens: Ach, gnädige Frau ... Er brach wieder ab. Er wußte nicht weiter.

Eine lange, lange Stille. Es war so still, so still ...

Dann sprach eine ferne, leise Stimme: Ich – komme.

Nichts mehr. Pagel legte den Hörer auf.

Und – es konnten kaum einige Minuten vergangen sein – da kam Frau von Prackwitz die Treppe hinunter, dieselbe breite, mit einem roten Läufer belegte Treppe, die einst Herr von Studmann herabgestürzt war. (Aber daran dachte Pagel jetzt nicht – und doch hatte ihn dieser Sturz – und einige andere Dinge mehr – nach Neulohe gebracht.)

Sie ging auf Pagel zu, weiß, sehr ruhig – sie sah ihn kaum, sie fragte nur: Wo –?

Im Wagen, sagte Pagel und ging ihr voran. Ach, er hätte vielerlei zu sagen gehabt, und er hatte gemeint, sie würde vielerlei zu fragen haben aber nein, nichts. Nur dies eine: ›Wo –?‹

Er öffnete die Wagentür.

Die Frau schob ihn zur Seite, sie fragte nichts, sie wußte nichts. Sie sagte nur: Komm jetzt, Violet.

Ach ja, dies war wohl die rechte Art, zu einem kranken Mädchen, zu einer verirrten Seele ›du‹ zu sagen. Sie hatten es nicht gekonnt. Sie konnte es.

Die Gestalt stand auf, sie kam aus dem Wagen. Einen Augenblick sah Pagel das Profil, den fest geschlossenen Mund, die tiefgesenkten Lider ...

Komm, Kind, sagte die Frau und gab ihr den Arm.

Sie gingen hinein in das Hotel, sie gingen hinaus aus Pagels Leben – er stand vergessen auf der Straße.

Und wohin jetzt, Herr? fragte der Chauffeur.

Wie?! sagte Pagel erwachend. Ach so, in irgendein kleines Hotel hier in der Nähe. Ganz egal.

Und leise, die Hand der andern nehmend: Aber weine doch nicht, Amanda! Warum weinst du denn, Amanda?

Und doch war auch ihm, als müßte er weinen, weinen, weinen – aber warum?

Nein, er wußte es nicht. Er wußte es auch nicht.


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