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Drittes Kapitel.
Jäger und Gejagte

1

Auf Rittergut Neulohe ist der kleine Feldinspektor Meier, genannt Negermeier, zwischen der elften und zwölften Vormittagsstunde schon wieder so müde, daß er, wie er ist, in Joppe und Gamaschen, ins Bett fallen und bis zum andern Morgen schlafen könnte. Er sitzt aber nur am Rande eines Roggenschlages, durch ein paar Kiefernkuscheln gut gegen Sicht gedeckt, im langen und trockenen Waldgras und döst so vor sich hin.

Um drei Uhr aufgestanden, in den warmen Dunst des Stalles (so müde, ach, so müde!), Futter ausgegeben, Füttern überwacht, Melken beaufsichtigt, nach dem Putzen gesehen. Ab vier Uhr Raps eingefahren, der im Morgentau eingefahren werden muß, damit er nicht ausfällt. Um dreiviertelsieben eine Tasse Kaffee im Stehen getrunken, hastig was runtergeschlungen (immer noch müde). Und ab sieben das gewohnte Tagewerk.

Dann kam vom Roggenschlag die Nachricht, daß beide Bindemaschinen kaputt seien. Hingejagt mit dem Schmied, rumgeflickt an den Dingern. Nun klappern sie wieder, klappern sie noch – ach, was ist er müde, nun ist er nicht nur noch müde von gestern, nun ist er auch schon müde von heute! Ach, wie gerne würde er jetzt hier, in der Sonne bratend, einschlafen –! Aber er muß vor zwölf noch einmal auf den Zuckerrübenschlag, nachsehen, ob der Leutevogt, der Kowalewski, mit seiner Kolonne auch ordentlich hackt, nicht pfuscht ...

Meiers Rad liegt ein paar Schritte um die Kiefernschonung herum im Straßengraben. Aber er ist jetzt zu faul, weiterzufahren, er kann einfach nicht. Wie eine dicke, wollige, ein wenig schmerzende Masse sitzt die Müdigkeit in all seinen Gliedern, besonders aber in der Kehle. Wenn er ganz still liegt, schläft sie gewissermaßen ein. Aber bewegt er nur ein Bein, kratzt und reibt es gleich wie mit Borsten.

Er brennt sich langsam eine Zigarette an, tut wohlig ein paar Züge und starrt dabei auf seine verstaubten, verbrauchten Schuhe. Neue täten auch nötig, jedoch der Rittmeister ist ein großer Mann, fünfhunderttausend Mark sind ein unerhörtes Gehalt für einen Feldinspektor. Warten wir aber nur ab, wie der Dollar zum ersten kommt, dann können wir uns vielleicht nicht einmal die Schuhe besohlen! Es täte vieles not auf Rittergut Neulohe – zwei Beamte müßten mindestens noch her. Aber der Rittmeister ist ein großer Mann und hat entdeckt, daß er alles alleine machen kann – einen Dreck kann er! Heute ist er nach Berlin, Schnitter holen. So kann er jedenfalls einen armen Inspektor nicht aus seiner Vormittagsdöserei hochjagen –›Aber gespannt bin ich doch, was er für Leute anbringt. Wenn er überhaupt welche bringt. Ach, Scheiße –!‹

Meier legt sich zurück, die Zigarette rutscht ganz in den Mundwinkel, der Trillerbibi wird gegen den Sonnenbrand über die Augen geschoben ... Die Weiber in den Zuckerrüben können sich mit ihrem Kowalewski für seinswegen sauer kochen lassen, eine freche Bande ist das! Aber eine schicke Tochter hat der Kowalewski, traut man ihm gar nicht zu. Die kann ruhig mal wieder auf Urlaub kommen aus Berlin, er würde das Kind schon schaukeln! Warm ist das, heiß ist das, ein Backofen ist das. Wenn bloß kein Gewitter kommt, dann wird das ganze Getreide naß, und er hat die Schweinerei –! Natürlich hätte man heute einfahren müssen, aber der Rittmeister ist ein großer Mann und nebenbei Wetterprophet: es regnet nicht, wir fahren nicht ein, Sela!

Gottlob, die Bindemaschinen klappern noch, so kann man weiter hier liegen. Bloß nicht einschlafen, dann wird man vor Abend nicht wieder wach. Der Rittmeister erführe es gleich, und morgen säße man draußen. Es wäre auch noch so, wenigstens könnte man sich mal ausschlafen –!

Jawohl, die kleine Kowalewski ist nicht schlecht, die wird in Berlin auch keine schlechten Zicken machen – aber die Amanda, Amanda Backs ist erst recht nicht ohne! Der kleine Meier, Negermeier, wirft sich auf die Seite, er verdrängt endgültig den bohrenden Gedanken, daß der Rittmeister eigentlich nicht gesagt hat, man solle nicht einfahren, sondern vielmehr, der Meier solle das halten, wie es das Wetter eben treibe.

Nein, daran will Meier jetzt nicht denken, er denkt lieber an Amanda. Etwas Leben kommt in ihn, er zieht die Knie an und stößt vor Vergnügen einen grunzenden Laut aus. Dabei fällt die Zigarette aus seinem Mund, aber das ist egal – was braucht er 'ne Zigarette, er hat Amanda! Jawohl, sie nennen ihn den kleinen Meier, den Negermeier – und wenn er sich im Spiegel ansieht, muß er ihnen recht geben. Hinter den runden, großen, gewölbten Brillengläsern sitzen runde, große, gelbliche Eulenaugen, er hat eine eingedrückte Nase und Wulstlippen, eine Stirn, kaum zwei Finger hoch, die Ohren stehen ihm ab – und dazu ist der ganze Mann Meier einen Meter vierundfünfzig hoch!

Aber das ist es eben: er sieht so toll und verboten aus, so grotesk in seiner Häßlichkeit, und er hat dazu eine so freche süße Schnauze, daß die Mädels alle auf ihn fliegen. Als sie mit ihrer Freundin damals an ihm vorüberging – er war noch ganz frisch auf Neulohe –, da sagte die Freundin: Amanda, da brauchst du ja 'nen Tritt, um anzulangen! Doch Amanda sagte: Das macht nischt, er hat so 'ne süße Kerbe! – Das war ihre Art von Liebeserklärung, so waren die Mädchen hier: frech und von himmlischer Unbekümmertheit. Sie hatten Appetit auf einen oder nicht, aber jedenfalls machten sie kein Geschmus darum. Gut waren sie!

Wie die Amanda gestern abend zu ihm ins Fenster stieg – eigentlich hatte er keine Lust, er war zu müde – und die Gnädige fuhr aus den Büschen. (Nicht die junge Gnädige vom Rittmeister, die hätte bloß gelacht, die war selber nicht ohne. Nein, die alte Gnädige, die Schwiegermutter, vom Schloß.) Jede andere hätte gekreischt oder sich versteckt oder seine Hilfe angerufen, nicht so die Amanda. Er konnte ganz unbeteiligt bleiben und sich amüsieren. Ja, gnädige Frau, hatte die Amanda ganz unschuldig gesagt. Ich gehe mit dem Inspektor bloß noch die Geflügelrechnungen durch, am Tag hat er doch nie Zeit.

Und da steigen Sie durchs Fenster?! hatte die alte Gnädige gekreischt, die sehr fromm war. Sie schamlose Person!

Wenn's Haus doch schon zu ist, antwortete die Amanda.

Und als die Gnädige noch immer nicht die Nase voll hatte und nicht einsehen wollte, daß sie gegen die jungen Dinger von heute nicht mehr aufkam, nicht mit Frömmigkeit und nicht mit Strenge, da hatte sie gesagt: Und jetzt ist übrigens Feierabend, gnädige Frau. Und was ich nach Feierabend tue, das ist meine Sache. Und wenn Sie 'ne bessere Geflügelmamsell finden als mich (für solchen Schandlohn) – aber Sie finden keine –, dann kann ich ja auch gehen, aber erst morgen!

Und partout hatte sie gewollt, daß er das Fenster nicht zumache. Wenn sie stehen will und lauschen, laß sie doch stehen, Hänsecken! Uns ist's egal, und ihr macht's vielleicht Spaß – vom Beten hat sie ihre Tochter ooch nicht!

Der kleine Meier gniggerte höchst vergnügt vor sich hin und drückte die Backe fester gegen den Arm, als fühle er den weichen und doch festen Leib seiner Amanda. Solche war grade richtig für einen Habenichts und Junggesellen wie ihn! Kein Schmus von Liebe, Treue, Heirat, aber immer obenauf, fix bei der Arbeit und fix mit dem Maule. Und keß! Keß, daß einen manchmal das Schaudern ankam! Aber am Ende auch kein Wunder, wie sie aufgewachsen war, mit vier Jahren Krieg und fünf Jahren Nachkrieg und:

Wenn ich mir nischt zu fressen nehme, kriege ich nischt. Und wenn ich dir keine latsche, latschst du mir eine. Immer die Zähne zeigen, junger Mann, auch gegen 'ne olle Frau, spielt gar keine Rolle. Sie hat ihr Gutes gehabt – und ich soll mein Gutes nicht haben, bloß weil sie 'nen dußligen Krieg und 'ne Inflation machen –?! Daß ich nicht lache! Ich bin ich, und wenn ich nicht mehr bin, ist keiner mehr da! Und für die Tränen, die sie mir als braves Mädchen ins Grab weint (es sind aber bloß Drücketränen) und für den Blechkranz, den sie mir auf meine Madenkiste packt, kann ich mir ooch nischt koofen, und darum wollen wir lieber heute vergnügt sein, was, Hänsecken? Mitleid mit der ollen Frau und ein bißchen sachte –? Na, weißte, wer hat denn mit mir Mitleid gehabt? Immer über'n Kopp, und wenn die Neese blutete, war's grade schön. Und wenn ich bloß mal ein bißken heulen wollte, hieß es gleich: Halt den Rand, oder es gibt noch mehr aus derselben Tüte! Nee, Hänsecken, ich sagte nischt, wenn es einen Sinn hätte. Aber es hat keinen Sinn, und so doof wie meine Hühner, die die Eier zu unserm Vergnügen legen, und denn zum Schluß noch rin in den Kochpott – ich nicht, nee, danke! Wenn du magst, bitte, ich nich!

Richtig, das Mädchen! lacht der kleine Meier noch einmal und ist schon im tiefen Schlaf und hätte nun wohl wirklich bis in den Abendtau – Wirtschaft hin, Rittmeister her – weitergeschlafen, wenn es ihm nicht plötzlich doch zu heiß und vor allem zu stickig geworden wäre.

Auffahrend – aber mit einem gar nicht mehr ermüdeten Ruck und gleich auf beide Beine – sah er, daß er mitten im schönsten, beginnenden Waldbrand lag. Er sah durch den weißlichen, tief ziehenden, beißenden Qualm eine Gestalt springen und trampeln und schlagen, und schon sprang er selbst mit, trampelte auch in die Flammen und schlug mit einem Fichtenast hinein und schrie dem andern zu: Das brennt ja lieblich!

Zigarette! sagte der bloß und löschte weiter.

Fast wär ich mitverbrannt, lachte Meier.

Auch nicht schade! sagte der andere.

Sagen Sie! rief Meier, vor Qualm hustend.

Halte den Rand, Mensch, befahl der andere. Rauchvergiftung ist auch nicht ohne.

Und nun löschten sie beide aus Leibeskräften weiter und Negermeier lauschte dabei gespannt nach seinen beiden Bindemaschinen hinüber, ob die auch weiterklapperten. Denn es wäre ihm doch gar nicht angenehm gewesen, wenn die Leute was gemerkt und dem Rittmeister erzählt hätten.

Aber die schnitten ganz wider Erwarten geruhig weiter ihre Bahn runter, und eigentlich hätte das den Inspektor wieder ärgern müssen, denn es bewies, daß die Kerls auf ihren Sitzen dösten und den Pferden nicht nur die Arbeit, sondern auch den Verstand überließen, und daß ihretwegen ganz Rittergut Neulohe mit allen Gebäuden und achttausend Morgen Forst hätte wegbrennen können – sie hätten ihre eingeäscherten Pferdeställe bei der Heimkunft von der Arbeit angestarrt, als wäre Hexerei im Spiele. Doch für dieses Mal ärgerte sich Meier nicht, sondern war über das Weiterklappern froh und auch über den abnehmenden Qualm. Schließlich standen er und sein Retter sich auf einem zimmergroßen schwarzen Fleck gegenüber, ein wenig atemlos und angerußt, und schauten einander an. Der Retter aber sah ein bißchen wild aus, jung zwar noch, aber mit einem Geflatter und Geweh von rötlichen Haaren um Nase und Kinn, recht stark blickenden blauen Augen, einem alten grauen Waffenrock und ebensolchen Hosen, aber mit einem schönen gelben Ledergurt um den Bauch und einer ebenso schönen gelbledernen Pistolentasche. Es mußte auch etwas darin sein, in der Pistolentasche nämlich, und nicht nur Zuckerbonbons, so schwer hing sie herunter.

Zigarette gefällig? fragte der unverbesserliche Windhund Meier den andern und hielt ihm sein Etui hin, denn er fand, er müsse für seinen Retter auch etwas tun.

Gib schon her, Kamerad, sagte der andere. Meine Flossen sind schwarz.

Meine auch! lachte Meier. Aber er griff doch zu mit zwei spitzen Fingern, und sofort brannten auch die Zigaretten, und die beiden setzten sich ein wenig entfernt von der verkohlten Stelle in den spärlichen Kiefernschatten, schön hinein in das trockene Gras. So viel hatten sie aber doch aus dem Erlebnis eben gelernt, daß der eine einen alten Kiefernstubben, der andere einen flachen Stein zum Aschenbecher nahm.

Der Feldgraue tat ein paar tiefe Lungenzüge, dehnte und reckte sich, gähnte ungeniert mit ein paar tiefen A-Lauten und sprach tiefsinnig: Ja ... ja ...

Bescheiden, was? stimmte Inspektor Meier zu.

Bescheiden –? Beschissen! sprach der andere, musterte mit zusammengekniffenen Augen noch einmal die hitzeglühende Landschaft und ließ sich rücklings ins Gras fallen, scheinbar grenzenlos gelangweilt.

Eigentlich hatte Meier weder Zeit noch Lust, Partner einer weiteren Vormittagsdöserei zu werden, aber er fühlte sich doch verpflichtet, neben diesem Mann ein Weilchen auszuhalten. So bemerkte er, um die Unterhaltung nicht ganz versickern zu lassen: Heiß, was?

Der grunzte bloß.

Meier sah ihn prüfend von der Seite an und riet: Baltikumer, was?

Aber diesmal bekam er nicht einmal ein Grunzen zur Antwort. Dafür rauschte es in den Kiefern. Es erschien, das Meiersche Rad führend, der Förster Kniebusch, weißbärtig, aber kahlköpfig, warf Meier das Rad vor die Füße und sprach schweißtrocknend: Mensch, Meier, läßt du dein Rad wieder an der offenen Straße liegen?! Und dabei ist es nicht mal deines, sondern Dienstrad – und wenn es reisen geht, tobt der Rittmeister und du –

Darüber aber hatte der Förster den schwarzgebrannten Fleck gesehen, entzündete sich auf der Stelle zornrot (denn bei einem Beamtenkollegen konnte er sich leisten, was er bei Holzdieben wegen Lebensgefahr nicht wagen durfte) und fing an zu schimpfen: Hast du verdammter Lauselümmel wieder deine verfluchten Stinkadores geraucht und mir meinen Wald angekokelt?! Na, warte, Freundchen, da kann von Freundschaft und abendlichem Skatkloppen keine Rede mehr sein – Dienst ist Dienst und heute abend noch erfährt der Rittmeister ...

Aber es stand geschrieben, daß für dieses Mal der Förster Kniebusch keinen Satz zu Ende bringen sollte. Denn nun entdeckte er das scheinbar schlafende, höchst verdächtige, liederlich feldgraue Subjekt im Grase und sprach: Hast du einen Penner und Waldbrandstifter erwischt, Meier? Großartig, das gibt ein Lob vom Rittmeister; und eine Weile muß er die Klappe halten von wegen Schlappheit und Nicht-Durchgreifen und Angst vor den Leuten. – Wach auf, du Schwein! schrie der Förster und stieß dem Kerl den Fuß kräftig in die Rippen. Los! Hoch und ab zu Vater Philipp –!

Doch der Getretene schob nur die Feldmütze aus dem Gesicht, schoß einen scharfen Blick auf den Wütenden und sprach mit noch schärferer Stimme: Förster Kniebusch –!

Es war für Negermeier sehr überraschend und noch mehr vergnüglich anzusehen, welche Wirkung dieser bloße Namensruf auf seinen Skatbruder, den Sachtegänger und Angsthasen Kniebusch hatte. Der fuhr förmlich zusammen, wie vom Donner gerührt, alles Geschimpfe verging ihm und er sagte ersterbend im Strammstehen: Herr Leutnant –!

Der andere rekelte sich langsam hoch, strich die trockenen Halme und Zweiglein von Rock und Hose und sagte: Heute abend um zehn beim Schulzen Versammlung. Sie benachrichtigen die Leute. Den kleinen Kerl da kannst du mitbringen. Er stand, rückte an seinem Koppel und sagte noch: Sie können auch melden, wieviel Waffen auf Neulohe greifbar sind, brauchbare Waffen und Munition, verstanden –?!

Zu Befehl, Herr Leutnant! stammelte der alte Rauschebart, aber Meier merkte, wie es ihm einen Puff versetzt hatte.

Das unbestimmte Individuum aber nickte Meier kurz zu, sprach: Geht in Ordnung, Kamerad! und verschwand in den Büschen, Kiefernkuscheln, Kiefernstangen, Wald – weg war er wie ein Traum!

Donnerwetter! sprach Meier ein wenig atemlos und starrte ins Grüne. Aber das war schon wieder regungslos und flimmerte im Mittagsglast.

Ja, Donnerwetter sagst du, Meier, schimpfte der Förster los. Aber ich habe die Rennerei heute nachmittag durchs Dorf. Und ob es allen recht ist, ist noch lange nicht raus. Manche ziehen so komische Gesichter und sagen, es ist alles Quatsch, und sie haben von Kapp genug. -ä Aber ... fuhr der Förster womöglich noch kläglicher fort ... du hast ihn ja gesehen, wie er ist, ins Gesicht zu sagen, wagt es ihm keiner, und wenn er pfeift, kommen sie alle. Nur ich höre immer die Widerreden.

Wer ist er denn? fragte Meier neugierig. So großmächtig sieht er doch gar nicht aus!

Wer soll er sein? rief der Förster ärgerlich dagegen. Es ist doch ganz egal, wie er sich nennt, seinen richtigen Namen wird er uns schon nicht sagen. Er ist eben der Leutnant ...

Na, Leutnant ist heutzutage nun nicht mehr so besonders viel, meinte Meier, aber imponiert hatte es ihm doch, wie der den Förster gestaucht hatte.

Weiß ich, ob Leutnant viel oder wenig ist! murrte der Förster. Jedenfalls parieren ihm die Leute. Und ... fuhr er geheimnisvoll fort, bestimmt haben sie eine große Sache vor, und wenn es gelingt, ist es mit Ebert und der ganzen roten Blase alle!

Na, na! sagte Meier. Das hat schon mancher gedacht. Rot scheint 'ne waschechte Farbe, die kratzt ihr nicht so leicht ab!

Diesmal doch! flüsterte der Förster. Sie sollen doch die Reichswehr hinter sich haben, und sie nennen sich selbst die Schwarze Reichswehr. Die ganze Gegend liegt ja voll mit ihnen, aus dem Baltikum und aus Oberschlesien und von der Ruhr auch. Arbeitskommandos werden sie genannt und entwaffnet sind sie auch. Aber du hast ja selbst gesehen und gehört ...

Also ein Putsch! sagte Meier. Und ich soll mitmachen? Das muß ich mir erst noch mal gewaltig überlegen. Bloß weil einer sagt: ›Geht in Ordnung, Kamerad!‹ – nee, darum noch lange nicht!

Der Förster war schon weiter. Er grübelte sorgenvoll: Vier Jagdflinten hat der alte Herr und zwei Drillinge. Dann die Büchse. Der Rittmeister ...

Richtig! sagte Meier, plötzlich erleichtert. Wie steht denn der Rittmeister dazu? Oder weiß er etwa gar nichts davon –?

Ja, wenn ich das wüßte! sprach der Förster klagend. Aber ich weiß es eben nicht! Ich habe schon überall rumgefragt. Nach Ostade fährt der Rittmeister und pichelt manchmal mit den Reichswehroffizieren. Vielleicht setzen wir uns böse in die Nesseln, und ich verliere, geht die Sache schief, womöglich meine Stellung und ende auf meine alten Tage im Kittchen ...

Na, nu weine bloß nicht, altes Walroß! lachte Meier. Die Sache ist doch ganz einfach: warum sollen wir denn den Rittmeister nicht einfach fragen, ob er wünscht, daß wir mitmachen oder nicht?

O Gott! O Gott! rief der Förster und schlug nun wirklich die Hände verzweifelt über dem Kopf zusammen. Du bist doch wirklich der größte Windhund von der Welt, Meier! Nachher weiß der Rittmeister von der ganzen Sache nichts, und wir haben sie ihm verraten. Und das müßtest du doch aus den Zeitungen wissen: Verräter verfallen der Feme! – Und ich – fiel ihm plötzlich ein, und der Himmel wurde ganz schwarz, alle Felle schwammen rauschend davon, der Arm ging ihm mit Grundeis ... Und ich Schafskopf habe dir alles verraten! Ach, Meier, tu mir den Gefallen, gib mir auf der Stelle dein Ehrenwort, daß du keinem Menschen was verrätst! Ich werde auch dem Rittmeister nicht sagen, daß du den Wald angebrannt hast ...

Erstens einmal, sagte Meier, habe ich den Wald nicht angekokelt, sondern das hat dein Leutnant getan – und wenn du den verrätst, weißt du ja Bescheid. Und wenn ich zweitens den Wald wirklich angezündet hätte, ich gehe heute abend um zehn auch zum Schulzen und gehöre also auch zur Schwarzen Reichswehr. Und wenn du mich dann verrätst, Kniebusch, du weißt doch: Verräter verfallen der Feme ...

Da stand Meier, grinsend, mitten auf der Waldschneise, und sah die Klatschbase und den Angsthasen Kniebusch frech und herausfordernd an. ›Und wenn diese ganze Putschgeschichte zu gar nichts weiter gut ist‹, dachte er, ›diesen elenden Ohrwurm erledigt sie – der soll mir nicht noch einmal beim alten Herrn oder beim Rittmeister einen Ton über mich riskieren –!‹

Ihm gegenüber aber stand der alte Förster Kniebusch, und Röte und Blässe stiegen abwechselnd in sein Gesicht. ›Da hat man sich nun‹, dachte er etwa, ›durch vierzig Dienstjahre mit Hangen und Würgen hindurchgewunden und denkt: es wird ruhiger. Aber nein, es wird immer schlimmer, und wie ich jetzt nachts aus dem Schlaf hochfahre vor Angst, es ist was passiert, so ist es noch nie gewesen. Früher waren es nur die Holzrechnungen und die Angst, ob ich auch richtig addiert hatte, und mal ein Bock, ob er auch auf seinem Wechsel ging, wenn der alte Herr auf Anstand saß.

Aber jetzt liegt man die Nacht im Dunkeln und das Herz klopft immer schlimmer, und es sind Holzdiebe und Leutnants und dies freche Aas wird jetzt auch noch frech, und es soll geputscht werden ... Und schließlich sitze ich drin, wo ich doch gar nichts gegen den Herrn Reichspräsidenten habe ...‹

Laut aber sagte er: Wir sind doch Kollegen, Meier, und haben manchen schönen Skat gekloppt. Ich hab noch nie ein Wort gegen dich beim Herrn Rittmeister gesagt, und das mit dem Waldbrand, das ist mir auch nur so im Zorn herausgefahren. Ich hätte dich nie verraten, natürlich nicht!

Natürlich nicht! sagte Meier und grinste frech. Jetzt ist es bald zwölf und zu den Zuckerrüben komme ich doch nicht mehr. Aber zum Füttern muß ich, und darum setze ich mich aufs Rad. Du kannst ja hinterherlaufen, Kniebusch, dir macht das nichts aus, was?! Und dabei saß Meier schon auf dem Rade und trat an. Im Losfahren aber schrie er noch einmal: Geht in Ordnung, Kamerad! und weg war er!

Der Förster aber starrte ihm nach, schüttelte trübsinnig den Kopf und bedachte, daß er lieber den Schleichpfad statt der großen Straße zur Försterei nehmen wollte. Auf der Straße hätte er vielleicht noch Holzdiebe getroffen, und das wäre doch peinlich gewesen – für den Förster!

2

Der Pfandleiher, der Onkel, saß auf einem hohen Kontorbock und schrieb in seinen Büchern. Ein Angestellter verhandelte halblaut mit zwei Frauen, von denen die eine ein Bündel Betten, in ein Laken geschlagen, hielt. Die andere aber hatte eine schwarze Modellpuppe, wie sie die Schneiderinnen benutzen, umgefaßt. Beide Frauen hatten scharfe Gesichter und den betont unbekümmerten Blick seltener Pfandhausbesucherinnen.

Die Leihe selbst, im Hochparterre eines übergeschäftigen Hauses gelegen, sah wie immer schmierig, staubig, unordentlich aus, obwohl sie peinlich aufgeräumt war. Das durch die weißen Milchglasscheiben der Fenster gefilterte Licht war grau und tot. Wie immer stand der riesige Geldschrank weit offen und eröffnete den Ausblick auf kleine Haufen in weißes Papier geschlagener Päckchen, bei deren Anblick man von kostbaren Juwelen träumen konnte. Wie immer steckten die Schlüssel in dem kleinen eingemauerten Safe, das den Barbestand der Leihe enthielt.

Wolf sah das alles mit einem Blick. Aus Dutzenden von Gängen war es ihm so vertraut, daß er es sah, ohne es recht zu sehen. Es war auch das übliche, daß der Onkel über seine schmale Goldbrille fort einen raschen Blick auf ihn schoß und dann weiterschrieb.

Wolfgang Pagel wandte sich an den Angestellten, der anscheinend mit der Frau, die ihre Modellpuppe versetzen wollte, nicht einig werden konnte, hob den Koffer auf den Tisch und sagte halblaut – leicht: Ich bringe mal wieder das übliche. Bitte, wenn Sie nachsehen wollen ...

Und er knipste die Schlösser des Handkoffers auf.

Es war wirklich alles da wie sonst; alles, was sie besaßen: eine zweite, im Boden schon dünne Hose von ihm; zwei weiße Herrenhemden; drei Kleider von ihr; ihre Wäsche (spärlich genug) und – das Glanzstück – ein echtes Silbertäschchen, wohl das Geschenk eines Verehrers an Petra, er hatte nie danach gefragt.

Nicht wahr, drei Dollar wie üblich? sagte er noch, nur um etwas zu sagen, da der Angestellte, wie ihm schien, etwas zögernd auf die Sachen blickte.

Da sagte der aber auch schon: Jawohl, Herr Leutnant!

Und nun, da alles geordnet schien, rief ganz überraschend die hohe Stimme vom Kontorbock: Nein!

Wolfgang, der hier nur der Leutnant hieß, und der Angestellte sahen überrascht hoch.

Nein! sagte der Onkel noch einmal und schüttelte energisch den Kopf. Tut mir leid, Herr Leutnant, aber wir können Ihnen diesmal nicht gefällig sein. Es lohnt sich nicht für uns. Sie holen es immer schon den nächsten Tag wieder, all die Schererei – und, wissen Sie, diese Kleider kommen ja auch aus der Mode! – Vielleicht ein anderes Mal wieder, wenn Sie etwas – Modischeres haben.

Der Onkel sah Pagel noch einmal an, hob die Feder, mit der Spitze gegen ihn, so kam es Wolf vor, und schrieb schon weiter. Der Angestellte schloß langsam, ohne hochzusehen, den Kofferdeckel und ließ die Schlösser einschnappen. Die beiden Frauen blickten Wolfgang verlegen und doch ein wenig schadenfroh an, wie Schüler den Mitschüler von der Seite ansehen, wenn er vom Lehrer wegen eines Fehlers getadelt wird.

Hören Sie einmal, Herr Feld, sagte Pagel lebhaft und ging quer durch die Leihe auf den ruhig Weiterschreibenden zu. Ich habe da einen reichen Freund im Westen, der mir bestimmt aushilft. Geben Sie mir das Fahrgeld. Ich lasse die Sachen hier, komme heute abend noch vor Geschäftsschluß vorbei, gebe Ihnen das Geld wieder, meinethalben das Fünffache. Oder das Zehnfache.

Der Onkel sah Wolfgang durch die Brille nachdenklich an, runzelte die Stirn und sagte: Tut mir leid, Herr Leutnant. Wir geben hier keine Darlehen, wir leihen nur auf Pfänder.

Aber es sind ja nur die lumpigen paar Tausend Fahrgeld, beharrte Wolf. Und ich lasse Ihnen die Sachen hier.

Ohne Pfandschein darf ich die Sachen nicht behalten, sagte der Verleiher. Und ich will sie nicht in Pfand. Tut mir leid, Herr Leutnant.

Er sah Wolfgang noch einmal mit gerunzelter Stirn aufmerksam an, als wolle er die Wirkung seiner Worte ihm vom Gesicht ablesen, dann nickte er leicht und kehrte zu seinen Büchern zurück. Auch Wolfgang hatte die Stirn gerunzelt, auch er nickte dem Schreibenden leicht zu, wie zum Zeichen, daß er die Weigerung nicht übel aufnehme, und wandte sich zur Tür. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er drehte sich rasch um, ging noch einmal auf Herrn Feld zu und sagte: Wissen Sie was, Herr Feld?! Kaufen Sie mir den ganzen Kitt ab. Für drei Dollar. Dann hat die liebe Seele Ruh. Ihm war eingefallen, daß der reiche Zecke ihm sicher mit einer größeren Summe aushelfen würde. Es würde ein Riesenspaß sein, Peter mit einer völlig neuen Ausstattung zu überraschen. Was sollte sie da noch mit dem alten Plunder? Nein, weg mit dem Kram!

Herr Feld schrieb noch eine Weile weiter. Dann steckte er die Feder ins Faß, lehnte sich etwas zurück und sagte: Ein Dollar, mit dem Koffer, Herr Leutnant. Wie gesagt, die Sachen sind – nicht modern. Sein Blick fiel auf die Wanduhr. Es war zehn Minuten vor zwölf. Und zum gestrigen Dollarkurs.

Einen Augenblick wollte sich Wolfgang ärgern. Es war die frechste Beutelschneiderei von der Welt! Einen Augenblick überkam es Wolfgang leise, leise, als müsse er auch an den Peter denken – Waschzeug und sein uralter Sommerpaletot waren zur Zeit ihr einziger Besitz, aber ebenso rasch kam der Gedanke: ›Zecke gibt Geld. Und wenn nicht er, ich habe noch immer Geld geschafft!‹ – Und er sagte mit einer raschen Handbewegung, die zeigen sollte, wie wenig es darauf ankam: Also, in Ordnung! Her mit dem Zaster! Vierhundertvierzehntausend!

Es war wirklich ein Dreck, wenn er bedachte, daß er gestern abend nahezu dreißig Millionen auf Null verspielt hatte. Und man mußte lachen über solche Mikrobe wie den Feld, der sich um diesen Dreck abmühte, um diese lächerlichen Beträge!

Der Onkel, der böse, zähe Onkel, die Mikrobe, kletterte langsam von seinem Kontorbock herunter, ging zum Safe, wühlte eine Weile darin und zählte Wolfgang dann vierhunderttausend Mark auf.

Fehlen noch vierzehn, sagte Wolfgang.

Vier Prozent Skonto gehen wie handelsüblich für Barzahlung ab, sagte Herr Feld. Macht eigentlich dreihundertachtundneunzigtausend. Zweitausend schenke ich Ihnen, weil Sie alter Kunde sind.

Wolfgang lachte: Tüchtig sind Sie nun einmal, Onkelchen! Sie kommen zu was, passen Sie auf! Ich werde dann Chauffeur bei Ihnen, ja?

Herr Feld nahm es ernst. Er protestierte: Von Ihnen mich fahren lassen, Herr Leutnant! Nein, nicht einmal umsonst! Wo es Ihnen doch auf gar nichts ankommt, nicht einmal auf Ihre Sachen. Nein, nein ... Und wieder ganz der Pfandleiher: Also wenn wieder einmal etwas ist, Herr Leutnant. Bis dahin!

Pagel ließ die Scheine mit dem schönen Holbeinischen Bild des Kaufmanns Georg Giße – der sich auch nicht gegen den Mißbrauch seiner Person wehren konnte – in der Hand knistern und sagte lachend: Wer weiß, vielleicht verhilft mir dies zu einem eigenen Auto!

Die Miene des Pfandleihers blieb sorgenvoll, er schrieb. Lachend trat Wolfgang auf die Straße.

3

Nach der ekelhaften Verhandlung in der Schnitter-Vermittlung, fand Rittmeister von Prackwitz, hatte er ein wenig Ausspannung verdient. Aber wo ging man hin, so am frühen Vormittag? Dies war eine Zeit, um die der Rittmeister bisher noch nicht oft unterwegs gewesen war in Berlin. Schließlich fiel ihm ein Hotel-Café in der Friedrichstadt ein, wo man angenehm sitzen und vielleicht ein paar gut angezogene Frauen sehen konnte.

Der erste Mensch, den der Rittmeister in der Hotelhalle sah, war natürlich ein Bekannter. (Prackwitz traf in ›seiner‹ Gegend – natürlich nicht am Schlesischen Bahnhof – immer Bekannte. Oder Bekannte von Bekannten. Oder Verwandte. Oder Bekannte von Verwandten. Oder Kameraden vom Regiment. Oder Kameraden aus dem Krieg. Oder Baltikumer. Oder ›Schnöffels‹, wie man im Rrrr'ment die Muschkoten früher genannt hatte. Er kannte in aller Welt alle Welt.)

Diesmal war es sogar ein Regimentskamerad, Oberleutnant von Studmann.

Herr von Studmann stand in der Halle, tadelloser Gehrock, spiegelnde Schuhe (zu so früher Stunde!), und schien einen Augenblick über das Wiedersehen etwas verlegen. Aber der Rittmeister merkte in seiner Freude, einen Gefährten für die zwei Stunden Wartezeit gefunden zu haben, nichts davon.

Studmann, Alter – großartig, daß ich dich mal wiedersehe! Ich habe zwei Stunden Zeit für dich. Hast du schon Kaffee getrunken –? Ich will grade – zum zweitenmal, heißt das. Aber der erste auf dem Schlesischen rechnet nicht, er war schauerlich. Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen? In Frankfurt – zum Offizierstreffen? Na, egal, jedenfalls bin ich froh, dich mal wiederzusehen. Aber komm doch, da drinnen sitzt man ganz gemütlich, wenn ich mich recht erinnere ...

Oberleutnant von Studmann sagte sehr leise und deutlich, aber etwas mühsam: Gerne, Prackwitz – sobald es meine Zeit erlaubt. Ich bin nämlich – äh – Empfangschef in diesem Laden. Ich will nur erst mal die Gäste vom Neun-Uhr-vierzig-Zug ...

Au verdammt! sagte der Rittmeister plötzlich ebenso leise und ganz verdüstert. Die Inflation, was –? Diese Gauner! Na, ich kann auch ein Lied singen!

Von Studmann nickte trübe, als sei ihm selbst das Liedsingen schon längst vergangen. Angesichts des langen, glatten, energischen Gesichts wollte Prackwitz sich eines gewissen Abends erinnern, da man das E. K. Erster dieses selben Studmann gefeiert hatte – es war Anfang fünfzehn gewesen, tatsächlich das erste E. K. Erster, das an das Regiment gefallen war ... Er wollte sich an das lachende, frohe, übermütige, allerdings rund acht Jahre jüngere Gesicht dieses selben Studmann erinnern, aber da sagte der grade: Jawohl, Portier, sofort ... Er wendete sich mit einer bedauernden, vertröstenden Bewegung an von Prackwitz und ging dann auf eine ziemlich umfangreiche Dame im staubgrauen Seidenmantel zu: Bitte sehr, gnädige Frau –?

Einen Augenblick sah der Rittmeister zu, wie der Freund dort stand, leicht vorgeneigt, und mit ernstem, doch freundlichem Gesicht den heftig vorgebrachten Wünschen oder Beschwerden der Dame lauschte. Dabei stieg ein Gefühl tiefer Trauer in ihm auf, gestaltloser, alles durchdringender Trauer: ›Zu nichts Besserem gut?‹ fragte es in ihm. Etwas wie Scham überkam ihn, als habe er den Kameraden bei etwas Entwürdigendem, Entehrendem beobachtet. Er wandte sich rasch ab und trat in das Café.

Im Hotel-Café war die frühe, vormittägliche Stille, die dort immer herrscht, wenn nur erst die Hausgäste da sind, das Straßenpublikum noch nicht seinen Einzug gehalten hat. Wenige Gäste saßen paarweise oder einzeln an weit voneinander gelegenen Tischen. Eine Zeitung raschelte, ein Paar sprach halblaut, die Kaffeekännchen aus Neusilber glänzten matt, ein Löffel klirrte an einer Tasse. Die wenig beschäftigten Kellner standen still an ihren Plätzen; einer zählte behutsam Bestecke, wobei er jeden unnötigen Lärm vermied.

Der Rittmeister hatte rasch einen zusagenden Platz gefunden. Der sofort auf die Bestellung folgende Kaffee war so gut, daß er sich vornahm, Studmann ein paar anerkennende Worte zu sagen.

Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder: ›Das könnte ihn ja beschämen‹, dachte er. ›Oberleutnant von Studmann und ein wirklich frisch gebrühter Hotelkaffee!‹

Der Rittmeister versuchte zu ergründen, warum ihn denn schon wieder dieses Gefühl der Beschämung überkam, als tue Studmann etwas Verbotenes, ja, Unanständiges.

›Es ist doch Arbeit wie jede andere‹, dachte er verwundert. ›So beschränkt sind wir doch alle nicht mehr, daß wir eine Arbeit geringer achten als die andere. Schließlich sitze ich ja auch nur von Schwiegervaters Gnaden auf Neulohe und kratze ihm seine Pacht zusammen – mit vielen Sorgen. Woran liegt es also –?‹

Plötzlich überkam es ihn, daß es vielleicht daran liegen mochte, daß Studmann diese Arbeit nur gezwungen tat. Ein Mann muß arbeiten, gewiß, wenn er vor sich ein Recht haben will, zu sein. Aber es gibt einen freien Willen in der Wahl der Arbeit; verhaßte Arbeit, nur um des Geldes willen, schändet. – ›Er würde sich ja nie diese Arbeit gewählt haben‹, dachte er. ›Es gab keine Wahl für ihn.‹

Und ein Gefühl hilflosen Hasses überfiel den Rittmeister Joachim von Prackwitz. Irgendwo in dieser Stadt stand eine Maschine – natürlich eine Maschine, Menschen würden sich nie zu so etwas mißbrauchen lassen! – und erbrach Tag und Nacht Papier über die Stadt, das Volk. ›Geld‹ nannten sie es, sie druckten Zahlen darauf, wunderbare, glatte Zahlen mit vielen Nullen, die immer runder wurden. Und wenn du gearbeitet hast, wenn du dich geschunden hast, wenn du dir etwas erspart hast auf deine alten Tage – es ist schon alles wertlos geworden, Papier, Papier – Dreck!

Und um dieses Drecks willen stand Kamerad Studmann in der Hotelhalle und machte Dienerchen. Gut, sollte er dort stehen, sollte er Dienerchen machen – aber nicht wegen Dreck. Schmerzhaft deutlich sah der Rittmeister wieder das freundlich-ernste Gesicht des Freundes, wie er es eben gesehen.

Plötzlich wurde es dunkel, langsam dann heller. Eine kleine Rüböllaterne baumelte von dem rohen, nicht zugehauenen Deckbalken. Sie warf ihren warmen, rötlichen Schein direkt in das Studmannsche Gesicht – und dieses Gesicht lachte, lachte! Die Augen funkelten vor Freude, hundert Fältchen sprangen und zuckten in ihren Winkeln.

›Auch das wiedergeschenkte Leben ist in diesem Lachen‹, sprach eine Stimme im Rittmeister.

Es war nichts, nur eine Erinnerung an eine Nacht in einem Unterstand – wo war es gewesen –? Irgendwo in der Ukraine. Es war ein reiches Land, Kürbisse und Melonen wuchsen zu Hunderten auf den Feldern. Sie hatten sich von dem Überfluß in den Unterstand geholt, auf Wandbretter gelegt. Sie schliefen, eine Ratte (es gab Tausende von Ratten), eine Ratte stieß einen Kürbis vom Brett. Er fiel einem Schläfer auf den Kopf, in das schlafende Gesicht. Der Schläfer schrie gräßlich auf, der weiterrollende Kürbis tat Schlag um Schlag. Sie lagen, alle erwacht, atemlos, flach in ihre Decken gedrückt, in Erwartung der Sprengstücke des Einschlages. Sekunden der Todesangst – das Leben verrauscht, jetzt lebe ich noch, ich will etwas denken, was sich lohnt, die Frau, das Kind, das Mädchen Weio, ich habe noch hundertfünfzig Mark in der Tasche, besser hätte ich meine Weinrechnung bezahlt, die sind nun auch futsch ...

Und nun das Lachen von Studmann: Kürbis! Kürbis!

Sie lachen, lachen. ›Auch das wiedergeschenkte Leben ist in diesem Lachen.‹ Der kleine Geyer wischt sich die blutende Nase und lacht auch. Richtig, Geyer hieß er. Er fiel wenig später, Kürbisse waren im Kriege Ausnahmen.

Aber das war es gewesen: echte Furcht und echte Gefahr und echter Mut! Zittern – aber dann aufspringen, entdecken, daß es nur ein Kürbis war, und wieder lachen! Über sich, über die Furcht, über dies närrische Leben – weitergehen, die Straße hinunter, auf den nicht existenten Punkt zu. Aber von etwas bedroht zu werden, das Papier kotzte, von etwas gezwungen zu werden, das die Welt um Nullen bereicherte – das war schändlich! Es schmerzte den Mann, der es tat; es schmerzte den Mann, der es den andern tun sah.

Prackwitz sieht aufmerksam den Freund an. Von Studmann ist schon vor einer Weile eingetreten und hört dem Kellner zu, der vor einer Weile so achtsam die Bestecke zählte und der jetzt aufgeregt irgend etwas vorbringt. Sicher eine Beschwerde über irgendeinen Kollegen. Prackwitz kennt aus eigener Erfahrung dieses zänkische, hitzige Reden. (Mit seinen Beamten auf Neulohe ist es ihm nicht anders ergangen. Ewige Zänkerei, ewiger Klatsch. Am liebsten würde er ja weiter mit nur einem Beamten wirtschaften, damit ihm wenigstens dieser Ärger erspart bleibt. Aber er muß wirklich sehen, daß er noch jemanden kriegt. Die Diebstähle nehmen überhand, Meier schafft es nicht, und Kniebusch ist alt und verbraucht. Nun, das nächste Mal. Dieses Mal ist keine Zeit mehr, um zwölf muß er auf dem Schlesischen Bahnhof sein.)

Der Kellner redet noch immer, redet sich in Brand und Flammen. Von Studmann hört ihm zu, freundlich, aufmerksam, ab und an sagt er ein spärliches Wort, nickt auch mal, schüttelt mit dem Kopfe. ›Es ist kein Leben mehr in ihm‹, entscheidet der Rittmeister. ›Ausgebrannt. Erloschen. – Aber‹, denkt er mit plötzlichem Erschrecken, ›vielleicht bin auch ich ausgebrannt und erloschen – merke es bloß nicht?‹

Dann plötzlich – ganz überraschend – sagt Studmann einen einzigen Satz. Der Kellner, völlig aus dem Konzept gebracht, bricht jäh ab. Studmann nickt ihm noch einmal zu und geht an den Tisch des Freundes.

So, sagt er und setzt sich – und sofort wird sein Gesicht lebendiger. Nun, denke ich, habe ich eine halbe Stunde Zeit. Wenn nichts dazwischenkommt. Er lächelt Prackwitz aufmunternd zu. Aber es kommt eigentlich immer was dazwischen.

Du hast viel zu tun? fragt Prackwitz, ein wenig verlegen. Gott, zu tun! Studmann lacht kurz. Wenn du die andern fragst, hier die Liftboys oder die Kellner oder die Portiers, die werden dir erzählen, daß ich gar nichts zu tun habe, nur so rumstehe. Und doch bin ich abends so hundemüde wie nur damals, wenn wir Schwadronsexerzieren hatten und der Alte schliff uns.

So etwas wie einen Alten gibt es hier vermutlich auch?

Einen –? Zehn, zwölf! Generaldirektor, drei Direktoren, vier Subdirektoren, drei Geschäftsführer, zwei Prokuristen –

Bitte, höre auf!

Aber am Ende ist es nicht so schlimm. Es hat viel Ähnlichkeit mit dem Militär. Befehlen, gehorchen – tadellose Organisation ...

Aber doch immerhin Zivilisten ... meinte von Prackwitz bedenklich und dachte dabei an Neulohe, wo Gehorchen lange nicht immer auf Befehlen folgte.

Natürlich, bestätigte Studmann auch. Es ist etwas loser als damals, zwangloser. Darum schwieriger für den einzelnen, möchte ich sagen. Der ordnet etwas an, und du weißt nicht genau, ob er ein Recht hat, es anzuordnen. Keine ganz klar abgegrenzten Befugnisse, verstehst du?

Das gab es aber auch bei uns, meinte Prackwitz. Irgendein Offizier mit einem Sonderauftrag, weißt du?

Gewiß, gewiß. Aber im ganzen kann man sagen, es ist eine staunenswerte Organisation, ein musterhafter Riesenbetrieb. So etwas wie unsere Wäscheschränke solltest du einmal sehen. Oder die Küche. Oder die Einkaufskontrolle. Staunenswert, sage ich dir!

Es macht dir also ein bißchen Spaß? fragte der Rittmeister vorsichtig.

Die Lebhaftigkeit von Studmanns erlosch. Gott, Spaß! Nun ja, vielleicht. Aber darauf kommt es doch nicht an, nicht wahr? Wir müssen leben – wie? – weiterleben, nach alldem. Ganz einfach weiterleben. Trotzdem man es sich mal anders dachte.

Prackwitz sah prüfend in das umschattete Gesicht des andern. ›Ja, wieso müssen?‹ dachte er flüchtig, ein wenig verärgert. Und er fand die einzig mögliche Erklärung, fragte laut: Du bist verheiratet? Hast Kinder?

Ich? fragte Studmann sehr erstaunt. Aber nein! Kein Gedanke!

Nein, nein, natürlich nicht, sagte der Rittmeister, ein wenig schuldbewußt.

Schließlich, warum nicht? Aber es hat sich nicht so gemacht, sagte von Studmann nachdenklich. Und heute? Nein! Wo die Mark täglich wertloser wird, wo man zu tun hat, das bißchen Geld für sich zusammenzukratzen ...

Geld –? Dreck! sagte der Rittmeister scharf.

Ja, natürlich, antwortete Studmann leise. Dreck, ich verstehe dich schon. Ich habe deine Frage vorhin auch ganz richtig verstanden, oder vielmehr deine Gedanken. Warum ich für solchen ›Dreck‹ dies hier tue, ungern tue, meinst du ... Prackwitz wollte bestürzt protestieren. Ach, red nicht, Prackwitz! sagte von Studmann zum erstenmal wärmer. Ich kenne dich doch! Geld – Dreck, das ist keine bloße Inflationsweisheit von dir, ein bißchen dachtest du früher schon so. Du –? Wir alle! Geld war jedenfalls etwas, was sich von selbst verstand. Man hatte seinen Wechsel von Haus und seine paar Groschen vom Rrrr'ment, man sprach nicht davon. Und wenn man einmal etwas nicht gleich bezahlen konnte, mußte der Mann eben warten. So war es doch? Geld war etwas, das Nachdenken nicht verlohnte ... Prackwitz wiegte zweiflerisch den Kopf und wollte etwas einwenden. Aber Studmann sagte eiliger: Ich bitte dich, Prackwitz, so ungefähr war es. Aber heute frage ich mich – nicht doch, ich bin meiner Sache ganz sicher, daß wir alle ganz falsch davor waren, keine Ahnung von der Welt hatten. Geld, das habe ich mittlerweile entdeckt, ist etwas sehr Wichtiges, etwas, das alles Nachdenken verlohnt ...

Geld! sagte von Prackwitz empört. Wenn es wenigstens noch richtiges Geld wäre! Aber dieses Papierzeug ...

Prackwitz! sagte Studmann vorwurfsvoll. Was heißt denn richtiges Geld?! So etwas gibt es ja gar nicht, wie es auch kein unrichtiges Geld gibt. Geld, das ist einfach das, was man zum Leben braucht, die Basis des Da-Seins, das Brot, das wir jeden Tag essen müssen, um da zu sein, der Anzug, den wir tragen müssen, um nicht zu erfrieren ...

Aber das ist ja Mystik! rief von Prackwitz ärgerlich. Geld ist doch eine sehr einfache Sache! Geld ist eben – früher jedenfalls, meine ich – wenn du da einen Goldfuchs hattest, aber Papier ging auch, Papier war damals was anderes, weil man Gold dafür bekam ... Also Geld, ich meine ganz egal welches Geld – du verstehst doch ... Nun wurde er über sich selbst wütend, über dieses blödsinnige Gestammel. Sollte man denn das nicht richtig und klar sagen können, was man so richtig und klar empfand –? Also, schloß er, wenn ich Geld habe, will ich wissen, was ich mir dafür kaufen kann.

Ja, natürlich, sagte Studmann und hatte nichts von der Verwirrung des Freundes gemerkt, sondern spann munter seinen eigenen Gedankenfaden fort. Natürlich waren wir falsch davor. Ich habe entdeckt, daß neunundneunzig Prozent der Menschen sich sehr um das Geld quälen müssen, daß sie Tag und Nacht daran denken, davon reden, es einteilen, sparen, wieder anfangen – kurz, daß Geld das ist, worum sich die Welt dreht. Daß es einfach lächerlich lebensfremd ist, nicht an das Geld zu denken, nicht davon reden zu wollen – das wichtigste, was es gibt!

Aber ist das denn richtig?! rief Prackwitz aus, verzweifelt über den neuen Geisteszustand des Freundes. Ist das denn etwa schön –? Bloß leben, um das bißchen Hunger satt zu kriegen?!

Gewiß ist es nicht richtig. Gewiß ist es nicht schön, stimmte Studmann zu. Aber danach wird nicht gefragt, vorläufig ist es so. Und wenn es so ist, darf man nicht die Augen zukneifen, sondern muß sich damit beschäftigen. Und wenn man es nicht schön findet, muß man sich fragen, wie ändert man es?

Studmann, fragte von Prackwitz ganz bestürzt und verzweifelt, Studmann, du bist doch nicht etwa Sozi geworden –?

Der ehemalige Oberleutnant sah einen Augenblick so bestürzt und verblüfft aus, als habe man ihn eines Meuchelmordes verdächtigt. Prackwitz, sagte er, alter Kriegsgenosse, die Sozis denken doch über das Geld genauso wie du! Nur möchten sie es dir wegnehmen, damit sie es haben. Nein, Prackwitz, ein Sozi bin ich gewiß nicht. Und werde es auch nicht.

Aber was bist du denn? fragte von Prackwitz. Zu irgendeiner Gruppe oder Partei mußt du doch schließlich gehören.

Wieso? fragte von Studmann. Warum muß ich das eigentlich?

Ja, ich weiß nicht, sagte von Prackwitz, ein wenig verblüfft. Zu irgendetwas gehört doch schließlich jeder von uns, das ist doch schon wegen der Wahlen. Irgendwie muß man sich doch einordnen, ins Glied treten. Es ist gewissermaßen – ordentlich!

Wenn es für mich aber noch keine Ordnung gibt? fragte von Studmann.

Ja ... sagte Prackwitz nachdenklich. Ich weiß noch, erinnerte er sich, ich hatte da mal so einen Kerl in der Schwadron, einen Schnöffel sagten wir ja immer, einen Sektierer, wie hieß er doch? Grigoleit, jawohl, Grigoleit! Ein ganz proprer, ordentlicher Mann. Aber er weigerte sich, einen Karabiner oder ein Seitengewehr anzufassen. Bitten half nichts, Stauchen half nichts, Strafen half nichts. ›Zu Befehl, Herr Leutnant‹, sagte er – ich war Leutnant, es war noch im Frieden. ›Aber ich darf es nicht. Sie haben Ihre Ordnung und ich habe meine Ordnung. Und weil ich meine Ordnung habe, darf ich mich nicht an ihr versündigen. Einmal wird ja doch meine Ordnung Ihre Ordnung sein ...‹ Und solches Zeug, irgendein Sektierer, Pazifist, aber von der anständigen Sorte, nicht diese Drückeberger, die ›Nie wieder Krieg!‹ schreien, weil sie feige sind ... Nun, man hätte ihm natürlich das Leben zur Hölle machen können. Aber der Alte war auch vernünftig und sagte:

›Er ist ja bloß ein armer Idiot!‹ Und so wurde er D. U. 15 geschrieben, weißt du, wegen bestehender Geisteskrankheit ...

Der Rittmeister schwieg nachdenklich, vielleicht sah er den dicken, rundköpfigen Grigoleit mit dem weißblonden Haar vor sich, der so gar nicht nach einem Märtyrer aussah.

Studmann aber lachte hell heraus. O Prackwitz! rief er. Du bist doch noch immer der Alte! Und wie du mir hier eben in aller Unschuld Idiotie und bestehende Geisteskrankheit bescheinigt hast – ohne es auch nur zu merken –, das erinnert mich doch sehr lebhaft daran, wie du damals nach dem Manöver unserm Alten, der wahnsinnig schlecht abgeschnitten hatte, zum Trost von einem Major erzähltest, der sogar bei der Manöverkritik vor der versammelten Generalität vom Gaul gefallen war, und doch nicht den blauen Brief bekommen hatte! Und weißt du noch –?

Damit verloren sich die beiden Freunde in gemeinsame Erinnerungen, ihre Stimmen wurden lebhafter. Aber das machte nichts. Jetzt fing das Café an, sich zu füllen. Geschäftig liefen die Kellner, trugen schon die ersten Biergläser, Stimmen schwirrten. Das Gespräch der beiden war nur eines von vielen.

Nach einer Weile aber, als sie sich genug erinnert und genug gelacht hatten, sagte der Rittmeister: Ich möchte dich auch noch was fragen, Studmann. Ich sitze da so allein auf meiner Klitsche und höre und sehe immer nur dieselben Leute. Aber du bist hier in der Großstadt und noch dazu in solchem Betriebe, und sicher hörst und weißt du mehr als wir alle.

Ach, wer weiß denn heute was?! fragte Studmann und lächelte. Glaub mir, selbst Herr Ministerpräsident Cuno hat keine Ahnung, was morgen wird.

Aber Prackwitz ließ sich nicht beirren. Er saß ein wenig zurückgelehnt, die langen Beine übereinandergeschlagen, rauchte mit Wohlbehagen und sprach: Du denkst vielleicht, der Prackwitz ist fein raus, er hat ein Rittergut und ist ein großer Mann. Aber ich sitze nicht fest, ich muß sehr vorsichtig sein. Neulohe gehört nicht mir, es gehört meinem Schwiegervater, dem alten Herrn von Teschow – ich habe ja schon lange vor dem Kriege die kleine Eva Teschow geheiratet – ach, verzeih, du kennst ja meine Frau! Nun, ich habe Neulohe gepachtet von meinem Schwiegervater – und der alte Knabe hat den Pachtzins nicht billig gemacht, das kann ich dir sagen. Manchmal habe ich ekelhafte Sorgen. – Jedenfalls muß ich sehr vorsichtig sein. Neulohe ist unsere einzige Existenz, und wenn mir was passiert – der alte Mann liebt mich nicht, der nimmt mir die Klitsche bei dem kleinsten Anlaß sofort wieder ab.

Und was kann dir passieren? fragte Studmann.

Ja, sieh mal, ich bin ja kein Einsiedler und die Eva erst recht nicht, und so haben wir unser bißchen Verkehr in der Gegend, und natürlich auch mit den Kameraden von der Reichswehr. Und da hört man denn so allerlei. Und geflüstert wird auch, direkt und indirekt.

Und was hört man und was sieht man?

Daß etwas losgehen soll, Studmann, wieder einmal. Man ist ja auch nicht blind. Das ganze Land steckt voll bei uns von Leuten, Arbeitskommandos nennen sie sich, aber du mußt sie nur sehen. ›Schwarze Reichswehr‹ wird geflüstert.

Das kann wegen Entente und Kontrollkommission sein, Schnüffelkommission, sagte von Studmann.

Natürlich – und daß sie Waffen vergraben und wieder ausgraben und wegholen, das kann auch darum sein. Aber es ist nicht nur darum, Studmann, es wird mehr geflüstert, es ist mehr zu sehen. Kein Zweifel: es wird auch in der Zivilbevölkerung geworben, vielleicht schon in meinem eigenen Dorf. Der Besitzer erfährt ja immer zuletzt davon, daß der Hof brennt. An Neulohe grenzt Altlohe, und da sind viele Industriearbeiter, und das bedeutet natürlich Feindschaft bis aufs Messer mit uns vom Hof und mit den Bauern in Neulohe. Denn wo die einen zu essen haben, und die andern haben Hunger, da ist es wie in einem Pulverfaß – und geht es in die Luft, fliege ich mit.

Ich sehe noch nicht recht, wie du da etwas hindern kannst, sagte von Studmann.

Hindern ... Aber vielleicht werde ich mich entscheiden müssen, ob ich mitmache oder nicht? Man will doch nicht unkameradschaftlich sein. Es sind doch die alten Kameraden bei der Reichswehr, Studmann, und wenn die was riskieren wollen und die Karre aus dem Dreck holen, und man wäre dann nicht dabei gewesen – man müßte sich ja zu Tode schämen! Ja, und vielleicht ist doch alles nur Gequatsche, Gemache von ein paar Abenteurern, aussichtsloser Putsch – und darum Hof und Auskommen und Familie riskieren ...

Der Rittmeister sah Studmann fragend an. Der meinte: Hast du denn niemanden bei der Reichswehr, den du beiseite nehmen und auf Ehre und Gewissen fragen kannst –?

Gott, fragen, Studmann! Natürlich kann ich fragen, aber wer weiß denn was? Bei so was wissen doch nur drei, vier wirklich Bescheid, und die antworten dir bestimmt nicht. – Hast du mal von einem Major Rückert gehört?

Nein, sagte Studmann. Von der Reichswehr?

Ja, siehst du, Studmann, das ist es ja gerade! Dieser Rückert soll der Mann sein, welcher ... Aber ich kann nicht einmal rausbringen, ob er zur Reichswehr gehört oder nicht. Die einen sagen ja, die andern sagen nein, und die ganz Schlauen zucken die Achseln und sagen: ›Das weiß er vielleicht selber nicht!‹ Und das klingt dann wieder so, als stünden andere hinter ihm – es ist wirklich zum Verzweifeln, Studmann!

Ja, sagte Studmann. Ich verstehe schon. Wenn es nötig ist, sofort, aber für irre Abenteuer – danke!

Richtig! sagte Prackwitz.

Dann schwiegen beide. Aber Prackwitz sah weiter erwartungsvoll auf Studmann, den gewesenen Oberleutnant und jetzigen Hotelempfangschef. (Trug beim Rrrr'ment den Spitznamen ›das Kindermädchen‹.) Schließlich ein Mann mit neuerdings sehr merkwürdigen, eigentlich schon verdächtigen Ansichten über Geld und gottgewollte Armut. Sah auf ihn, als erwarte er von seiner Antwort Befreiung aus allen Zweifeln.

Und schließlich sagte dieser Studmann auch langsam: Ich glaube, du solltest dir nicht solche Sorgen machen, Prackwitz. Du solltest einfach warten. Wir kennen das doch eigentlich aus dem Felde. Sorge und auch mal Angst hatte man nur, wenn man in Ruhe oder still im Graben lag. Aber wenn es dann hieß: Raus und vorwärts! – dann war man da und ging los und alles war vergessen. Du wirst das Signal schon nicht überhören, Prackwitz. Wir haben es im Felde doch schließlich gelernt, das ruhige Warten ohne Grübeln – warum soll man es jetzt nicht können?

Recht hast du! sagte der Rittmeister dankbar, und ich will auch daran denken! Es ist komisch, daß man jetzt nicht mehr warten kann! Ich glaube, es macht dieser blöde Dollar. Laufe, renne, schnell noch was einkaufen, hetze, jage ...

Ja, sagte Studmann. Jagen und gejagt werden, Jäger und Wild zugleich, das macht so böse und ungeduldig. Aber man braucht beides nicht. Ja ... lächelte er, aber nun muß ich wieder los, ganz bin ich ja auch nicht frei davon. Ich sehe da den Portier winken. Vielleicht jagt schon ein Direktor nach mir, wieso und warum ich denn eigentlich nirgendwo zu sehen bin. Und ich werde die Stubenmädchen wieder ein wenig jagen, damit die Zimmer der Abreisen um zwölf fertig sind. Also Weidmannsheil, Prackwitz! Und wenn du heute um sieben noch in der Stadt sein solltest und hast nichts vor ...

Dann bin ich schon längst wieder in Neulohe, Studmann, sagte von Prackwitz. Aber ich habe mich wirklich unsinnig gefreut, direkt unsinnig gefreut, dich wiederzusehen, Studmann, und wenn ich mal wieder in die Stadt komme ...

4

Das Mädchen saß allein, unbeweglich, beschäftigungslos, immer noch auf dem Bett in der Stube. Der Kopf war ein wenig gesenkt, die Linie, die aus dem Rücken über den Nacken zum Kopf führte, war nachgiebig, weich. Das kleine, klare, reinlinige Gesicht stand weich in der Luft, die Lippen waren halb geöffnet, der auf die verschabten Dielen gerichtete Blick sah nichts. Unter dem auseinander geglittenen Mantel schimmerte das nackte Fleisch, leicht bräunlich, sehr fest. Die Luft war stickig, voller Gerüche ... Das voll erwachte Haus marschierte schreiend, rufend, weinend, Türen schlagend und Treppen polternd durch seinen Tag. Das Leben äußerte sich hier vor allem durch Geräusche, und weiter noch durch Zersetzung, durch Gestank. In der Blechstanzerei im Erdgeschoß schrie zerschnittenes Blech auf, es klang, als schrien Katzen oder gequälte Kinder. Dann war es wieder fast still, nur die Treibriemen schnurrten und surrten auf den Transmissionen. Das Mädchen hörte eine Uhr zwölf schlagen.

Unwillkürlich hob es den Kopf und sah nach der Tür. Wenn er nach dem ›Onkel‹ noch einmal zu ihr hereinsah, etwa, um ihr etwas zu essen zu bringen, mußte er jetzt kommen. Er hatte so etwas von gemeinsamen Frühstück gesagt. Aber er kam nicht, sie hatte das bestimmte Gefühl, er kam nicht. Er fuhr sicher direkt zu seinem Freund. Wenn er dort Geld bekam, ging er vielleicht noch zu ihr, vielleicht auch direkt zum Spielen, und sie sah ihn erst gegen Morgen wieder, ausgebeutelt oder mit Geld in den Taschen. Gleichviel, sie sah ihn wieder.

Ja, überfiel es sie plötzlich, war es denn so sicher, daß sie ihn wiedersah –? Sie hatte sich daran gewöhnt: er war immer fortgegangen, und er war immer wiedergekommen. Was er auch getrieben hatte, wo er auch gewesen war, stets hatte sein Weg hier bei ihr in der Georgenkirchstraße geendet. Er war über den Hof gegangen, die Treppen hinaufgestiegen – und er war bei ihr angelangt, freudig erregt oder völlig erschöpft.

Aber, dachte sie zum erstenmal, zutiefst erschreckt: aber ist es denn sicher, daß er immer wiederkommt –?! Es war doch möglich, daß er einmal nicht wiederkam, vielleicht heute schon. Nein, heute kam er natürlich noch wieder, er wußte doch, wie sie dasaß, sehr hungrig, nackt in seinem schäbigen Sommerpaletotchen, ohne die einfachsten Lebensbedürfnisse, mit Schulden bei der Wirtin. Heute kam er bestimmt noch wieder – aber morgen vielleicht schon –?

›Ich habe nie etwas von ihm verlangt‹, denkt sie. ›Warum soll er nicht wiederkommen? Ich war nie eine Last für ihn!‹

Dann fällt ihr ein, daß sie doch etwas von ihm verlangt hat, daß sie es immer weiterverlangt, nicht mit Worten, aber sie verlangt es darum nicht weniger: daß er nämlich zurückkommt zu ihr.

›Auch das kann einmal eine Last für ihn sein‹, denkt sie, von einer grenzenlosen Traurigkeit erfüllt. ›Auch meine Liebe kann einmal eine Last für ihn sein, und dann kehrt er nicht heim.‹

Es wird heiß und heißer. Sie steht mit einem Ruck von der Bettkante auf, geht zum Spiegel und bleibt vor ihm stehen. Ja, das ist sie – Petra Ledig –, aber auch das kann ihn nicht halten. Haar und Fleisch, ein eiliger Ruch, Begehren, Erfüllen – aber die Welt ist voll davon. Flüchtig fallen ihr die tausend Zimmer ein, in die um diese Stunde wieder das Vormittagsbegehren einkehrt: Küsse werden getauscht, Frauen langsam entkleidet, Bettstätten knarren, der flüchtige Seufzer der Lust wird laut und entflieht. Es wird angeknüpft und vollendet, man trennt sich – zu jeder Stunde, in jeder Minute – in tausend Zimmern.

Hat sie geglaubt, sie sei sicher davor? Es könne so weitergehen? Zutiefst weiß sie, hat sie immer gewußt, es würde nicht dauern.

Sie rannten so auf den Straßen, sie hatten alle Eile, liefen, den Zug noch zu fassen, das Mädchen zu treffen, diesen Schein noch vor seiner völligen Entwertung auszugeben. Was dauerte denn –? Und Liebe sollte dauern –?!

Plötzlich begreift sie, daß alles Unsinn ist, woran sie ihr Herz gehängt. Diese standesamtliche Trauung, die ihr heute früh noch so wichtig erschien, daß sie ihm darum eine Szene machte – was änderte die schon? Vorbei! Dahin! Und daß sie hier ohne alles, halbnackt sitzt, überhungrig, mit Schulden – deswegen sollte er heute wiederkommen?! Aber wenn er nicht wiederkommt, ist es doch ganz gleich, wie sie sitzen bleibt – meinethalben mit einem Auto und einer Villa im Grunewald –, er kommt nicht wieder, das ist das einzig Wichtige! Und was sie dann anfängt, ob sie aus dem Fenster springt oder wieder Schuhe verkauft oder auf den Strich geht – das ist dann auch gleich, er kommt nicht wieder!

Sie steht noch immer vor dem Spiegel und sieht sich an, als stehe dort eine gefährliche Fremde, auf die man gut aufpassen muß. Die dort im Spiegel ist sehr blaß, ein von innen verzehrtes, bräunliches Blaß, die dunklen Augen brennen, das Haar hängt mit ein paar losen Strähnen in die Stirn, seufzt noch einmal schläfrig auf und verstummt. Sie atmet noch. Sie schließt die Augen, ein fast schmerzender Glücksschauer überrieselt sie. Sie fühlt, wie Wärme ihr in die Wangen steigt, sie wird heiß. Eine gute Wärme, eine schöne Hitze! O Leben, Lust zu leben! Es hat mich geführt, von da über dort hierher. Häuser, Gesichter, Schläge, Gezänk, Schmutz, Geld, Angst. Hier stehe ich – süßes, süßes Leben! Er kann nie wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir.

Es schnurrt, es saust. Es läuft unermüdlich treppauf, treppab. Es regt sich in jedem Steinwürfel. Es quillt aus den Fenstern. Es schielt und es schilt. Es lacht, ja, es lacht auch. Leben, süßes, herrliches, unvergängliches Leben! Er kann nicht wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir. Nie gedacht, nie gehofft, nie gewünscht. Ich habe ihn in mir. In der hohlen Hand lagen wir, und das Leben lief, lief mit uns. Nie kamen wir irgend an. Alles entglitt. Alles vorbei. Alles dahin. Aber es blieb etwas. Nicht über alle Fußstapfen wächst Gras, nicht jeder Seufzer verweht. Ich bleibe. Und er bleibt. Wir.

Sie sieht sich an. Sie hat die Augen wieder geöffnet und sieht sich an. Das bin ich! denkt sie zum erstenmal in ihrem Leben, ja, sie zeigt mit dem Finger auf sich. Sie ist ohne jede Angst. Er wird schon wiederkommen. Auch er wird eines Tages begreifen, daß sie ›Ich‹ ist, wie sie es begriff. Sie begriff es, seit sie nicht mehr ›Ich‹, sondern ›Wir‹ ist.

5

Sooft der Rittmeister von Prackwitz auch nach Berlin kam, zu seinen Hauptvergnügungen gehörte es, einmal die Friedrichstraße und ein Stück Leipziger entlangzuschlendern und in die Läden zu schauen. Nicht etwa, daß er große Einkäufe machte oder auch nur beabsichtigte, nein, die Schaufenster freuten ihn. Sie waren so herrlich für einen Provinzler zurechtgemacht. In manchen gab es entzückende Sächelchen zu sehen, Dinge, die einen reizten, einfach in den Laden zu gehen, mit den Fingern auf sie zu zeigen, zu sagen: Dies! Und in andern standen wieder so schauerliche Greuel und Scheuel, daß man womöglich noch länger davor stehenblieb, immer von neuem zum Lachen gereizt. Und wiederum kam man in Versuchung, solch Stück nach Haus zu bringen, nur um einmal zu sehen, wie Eva und Weio sich über diesen gläsernen Mannskopf, dessen Mund als Aschenbecher diente, amüsieren würden. (Man konnte den Kopf auch an die Lichtleitung anschließen, dann glühte er schaurig rot und grün.)

Aber die Erfahrung, daß diese Dinge schon nach einem Tage ganz unbeachtet im Hause herumstanden, hatte den Rittmeister vorsichtig gemacht – er begnügte sich mit dem eigenen Lachen. Wenn etwas mitgebracht werden sollte, und man mag ein noch so verabschiedeter, weiß gewordener Reiteroffizier sein, man bringt den Frauen eine Kleinigkeit mit, so blieb er lieber vor einem Wäschegeschäft stehen und suchte etwas Seidenes oder eine Bagatelle mit Spitzen aus. Es war eine Wonne, so etwas zu kaufen. Jedesmal, wenn er in einen solchen Laden trat, war alles noch leichter und duftiger geworden, noch zarter in der Farbe. Man konnte solch Höschen in einer Hand zu einem leichten, winzigen Ball zusammenpressen, und dann breitete es sich, leicht knisternd, wieder aus. Das Leben mochte noch so grau und trostlos geworden sein, Frauenschönheit schien immer leichter, zärtlicher, unirdischer zu werden. Solch ein Büstenhalter nur aus Spitzen – der Rittmeister konnte sich noch sehr gut an die grauen Drillichkorsetts der Vorkriegszeit erinnern, in die der Gatte die Gattin einzuschnüren hatte, als zügle er ein widerspenstiges Pferd!

Oder aber der Rittmeister ging in ein Delikatessengeschäft – und das Geld mochte noch so wertlos geworden sein, hier standen alle Fächer brechend voll: grüner Spargel aus Italien, Artischocken aus Frankreich, Mastgänschen aus Polen, Helgoländer Hummer, Kukuruz aus Ungarn, englische Jams – die ganze Welt gab sich hier ein Stelldichein. Selbst der Kaviar aus Rußland war wieder da – und die seltenen, knappen Devisen, die man nur aus ›Freundschaft‹ und sinnlos teuer bekam, hier konnte man sie zentnerweise aufessen – vollkommen rätselhaft!

Der Rittmeister hatte nach seiner Aussprache mit Studmann noch reichlich Zeit, so bummelte er wieder einmal den alten Weg. Aber die Freude wurde ihm diesmal vergällt: es ging auf der Friedrichstraße zu, wie man sich etwa einen morgenländischen Basar vorstellte. Fast Mann an Mann standen sie an den Hauswänden und auf dem Rande des Gehsteigs: Händler, Bettler, Dirnen. Junge Leute klappten Handkoffer auf, in denen geschliffene Parfumflaschen sanft glänzten. Hosenträger schwenkte ein anderer, johlend, schreiend. Eine Frau, zottig und schmierig, hantierte mit endlos langen, schimmernden Seidenstrümpfen, die sie den Herren mit einem frechen Lächeln anbot: Wat for de Kleene, Herr Jraf. Ziehen Sie se ihr bloß an, und Sie werden schon sehen, wat Sie for Spaß haben for dat lumpije bißken Papier, Herr Jraf –!

Ein Schupo kam in Sicht, verdrossen ausschauend unter seinem lackierten Landwehrtschako. Pro forma wurden die Koffer zugeklappt und waren schon wieder offen, kaum war er zwei Schritte weiter. An den Hauswänden saßen, hockten, lagen Bettler, alles Kriegsverletzte, glaubte man den Schildern, die sie trugen. Doch waren so junge darunter, daß sie im Kriege noch zur Schule gegangen sein mußten, und Greise, die sicher schon vor dem Kriege invalide gewesen waren. Blinde plärrten trostlos monoton, Schüttler schüttelten Kopf oder Arme, Wunden waren zur Schau gestellt, schreckliche Narben leuchteten feurig aus einem grauen, schuppigen Fleisch.

Aber am schlimmsten waren die Mädchen. Überall strichen sie herum, riefen, flüsterten, hängten sich bei jedem ein, liefen mit, lachten. Manche waren weit entblößt, daß es kaum erträglich war. Ein Markt von Fleisch – fettem, weißem, von Likören aufgeschwemmt; und hagerem, dunklem, das die scharfen Schnäpse verbrannt zu haben schienen. Aber am schlimmsten waren die völlig Schamlosen, die fast Geschlechtslosen: die Morphinistinnen mit dem scharfen Stecknadelkopf der Pupille, die Schnupferinnen mit der weißen Nase, und die Kokainspritzerinnen mit den Schreistimmen aus hemmungslos zuckenden Gesichtern. Sie wippten umher, sie schlenkerten ihr Fleisch in den weit ausgeschnittenen oder raffiniert durchbrochenen Blusen. Wenn sie auswichen oder um eine Ecke gingen, rafften sie die Röcke, die an sich nicht bis zum Knie reichten, und zeigten den Streifen fahlweißen Fleisches zwischen Strumpf und Hose, unter dem das grüne oder rosa Strumpfband lief. Sie tauschten ungeniert ihre Bemerkungen über die vorübergehenden Männer, warfen sich Zoten über die Straße zu, und ihre gierigen Augen suchten in der langsam an ihnen vorübertreibenden Menge die Ausländer, in deren Taschen Devisen zu erhoffen waren.

Und zwischen Laster, Elend und Bettelei, zwischen Hunger, Betrug und Gift liefen die jungen, kaum schulentlassenen Mädchen aus den Geschäften mit ihren Kartons und Briefstapeln. Ihren raschen, sicheren Blicken entging nichts, und ihr Ehrgeiz war es, ebenso frech zu sein wie jene, sich von nichts imponieren zu lassen, vor nichts sich zu scheuen, ebenso kurze Röcke zu tragen, ebensoviel Devisen zu raffen.

›Uns imponiert nichts!‹ sagten ihre Blicke. ›Uns macht ihr Alten nichts mehr vor. Jawohl‹, sagten sie und schwenkten Mappen oder Schachteln, ›jetzt sind wir noch Ladenmädchen, Verkäuferinnen, Kontoristinnen. Aber es braucht nur einer ein Auge auf uns zu werfen, der kleine Japs da oder dieser Dicke mit den Koteletten, der seinen Bauch in einer karierten Flanellhose schwenkt – und wir lassen unsern Karton fallen, hier auf der Straße, jawohl, und heute abend sitzen wir schon in einer Bar und morgen haben wir ein Auto!‹

Dem Rittmeister war es, als höre er sie alle rufen, schreien, jagen: nichts gilt außer Geld! Geld!! Aber auch das Geld galt nichts, in jeder Minute mußte der größtmögliche Genuß aus ihm herausgepreßt werden! Für was sich bewahren – für morgen? Wer weiß, wie morgen der Dollar steht, wer weiß, ob wir morgen noch leben, morgen drängen schon wieder Jüngere, Frischere an den Start – komm schon, alter Herr, du hast zwar schon weißes Haar – um so mehr mußt du dich daran halten! Komm, Süßer!

Der Rittmeister erspähte den Eingang der Passage von den Linden zur Friedrichstraße. Er hatte sich immer gerne einmal das Panoptikum angesehen, er floh in den Ladengang. Aber es war, als sei er aus der Vorhölle in die Hölle geraten. Eine dicht gedrängte Menge schob sich unendlich langsam durch den strahlend erleuchteten Tunnel. In den Läden prangten riesige Ölschinken mit nackten Frauen, widerlich nackt, mit widerlich süßen, rosigen Brüsten. Unanständige Postkarten hingen in langen Wimpelketten überall. Es gab Scherzartikel, die einen alten Lüstling hätten erröten lassen, und die Schamlosigkeit der Aktfotos, die einem feucht flüsternde Männer in die Hand drückten, war nicht mehr zu überbieten.

Aber am schlimmsten waren die Jungens. In ihren Matrosenanzügen mit der glatten, bloßen Brust, die Zigarette frei im Munde, glitten sie überall herum, sprachen nicht, aber sie sahen an oder berührten.

Eine große, hellblonde Frau in tief ausgeschnittenem Kleid, sehr elegant, drängte sich, von einer ganzen Schar solcher Kerle geleitet, durch die Menge. Sie lachte überlaut, sprach heftig. Der Rittmeister sah sie ganz nahe, sein Blick fiel auf die schamlos entblößte, dick gepuderte Brust. Die Dame sah ihn lachend mit ihren unnatürlich erweiterten Pupillen an, die Augen waren blau-schwarz untermalt – und plötzlich überfiel ihn ein körperschüttelnder Ekel bei der Erkenntnis, daß dieses aufgedonnerte Weib ein Mann war, das Weib all dieser widerlichen Bengels und doch ein Mann –!

Der Rittmeister drängte sich rücksichtslos durch die Menge. Eine Hure schrie: Bei dem Alten piept's ja! Emil, lang ihm mal eine! Er hat mich jebufft! Aber der Rittmeister war schon draußen, erwischte eine Taxe, Schlesischer Bahnhof! sagte er und lehnte sich völlig erschöpft in die Kissen zurück. Dann zog er ein weißes, noch ganz unbenutztes Taschentuch aus dem Rock und wischte sich langsam Gesicht und Hände ab.

›Jawohl‹, zwang er sich, intensiv an anderes zu denken – und an was denn intensiver als an seine Sorgen? ›Jawohl, es ist wirklich nicht leicht, in dieser Zeit Neulohe zu bewirtschaften.‹

Ganz abgesehen davon, daß der Schwiegervater ein Aas war (und erst die Schwiegermutter mit ihrer Frömmigkeit!), war die Pacht wirklich zu hoch. Entweder wuchs nichts, wie im vorigen Jahr, oder wenn etwas wuchs, hatte man keine Leute wie in diesem Sommer!

Aber nach der Unterredung mit dem armen Studmann, den es auch schon angesteckt hatte und der sich wirklich reichlich verdrehte Ideen zurechtmachte, und nach diesem kleinen Spaziergang durch Friedrichstraße und Passage dachte der Rittmeister an Neulohe wie an eine reine, unberührte Insel. Gewiß, es gab ewig Ärger: Leuteärger, Steuerärger, Geldärger, Handwerkerärger (und der schlimmste von allen war der Schwiegerärger!), aber da waren nun Eva und Violet, die seit ihren Kindertagen nur Weio hieß.

Gewiß, Eva war ein bißchen sehr lebenslustig, die Art, wie sie tanzte und mit den Offizieren in Ostade flirtete, wäre früher ganz unschicklich gewesen, und Weio hatte sich auch einen reichlich rüden Ton angewöhnt (ihre Großmutter kam wohl manchmal eine Ohnmacht an!) – aber was war das gegen dieses Elend, diese Schamlosigkeit, diese Sittenverderbnis, die sich am hellerlichten Tage in Berlin breit machten?! Der Rittmeister Joachim von Prackwitz war so und er blieb auch so, er hatte gar nicht die Absicht, in dieser Hinsicht sich zu ändern: eine Frau war aus feinerem Stoff gemacht als ein Mann, etwas Zartes, zu Verwöhnendes. Diese Mädchen da auf der Friedrichstraße – ach, das waren doch keine Frauen mehr. Ein wirklicher Mann konnte nur mit Schaudern an sie denken!

In Neulohe hatten sie einen Garten, sie saßen abends in diesem Garten. Der Diener Hubert brachte Windlichter und eine Flasche Mosel, allenfalls sandte noch das Grammophon mit ›Bananen, ausgerechnet Bananen!‹ eine großstädtische Welle in das Blättergeriesel und Blütengedufte. Aber die Frauen waren bewahrt. Rein, sauber.

Man konnte doch wahrhaftig nicht mehr mit einer Dame über die Friedrichstraße gehen, besonders dann nicht, wenn die Dame die eigene Tochter war! Und zu denken, daß ein herrlicher Kerl wie Studmann dieses Pack da von der Straße irgendwie beglücken wollte, sich irgendwie mit ihnen gleichstellen, und sei es nur, weil er wie die Geld verdienen mußte! Nein, danke schön. Daheim in Neulohe konnte man es vielleicht übertrieben finden, wenn die Deutsche Tageszeitung Berlin ein Sündenbabel, einen Asphaltsumpf, ein Sodom und Gomorra nannte. Aber roch man nur einmal hinein, fand man, alles war noch viel zu schwach. Nein, danke! –

Und der Rittmeister hatte sich so weit beruhigt, daß er sich eine Zigarette ansteckte und zufrieden über das vollbrachte Geschäft und die baldige Heimkehr dem Bahnhof zufuhr.

Freilich trank er dort erst einmal im Wartesaal ein paar kräftige Cognacs, denn er hatte das ziemlich sichere Gefühl, daß die Besichtigung seiner neugeworbenen Schnitter kein reines Vergnügen sein werde. Aber dann war es gar nicht so schlimm. Eigentlich das übliche, die Gesichter vielleicht noch ein bißchen frecher, roher, schamloser als sonst – aber was hieß das? Wenn sie nur arbeiteten, die Ernte reinbrachten! Sie sollten es nicht schlecht bei ihm haben, anständiges Deputat, alle Woche einen Schlachthammel, einmal im Monat ein Fettschwein!

Nur der Vorschnitter war genau die Sorte Mensch, die dem Rittmeister völlig verhaßt war – Marke Radler: unten treten, oben buckeln. Er schwänzelte um den Rittmeister, sprudelte einen Schwall halb deutscher, halb polnischer Worte heraus, die Kraft und Tüchtigkeit seiner Leute priesen, und trat dabei unversehens ein Mädchen in den Hintern, das nicht schnell genug mit seinem Packen durch die Tür kam.

Übrigens stellte es sich, als der Rittmeister den Sammelfahrschein lösen wollte, heraus, daß der Vorschnitter nicht fünfzig, sondern nur siebenunddreißig Leute gebracht hatte. Aber auf eine Frage des Rittmeisters schüttete er wieder eimerweise wirre Redensarten aus, die immer polnischer und unverständlicher wurden (›Natürlich hat Eva ganz recht, ich hätte Polnisch lernen sollen, aber ich denke nicht daran –!‹). Der Vorschnitter schien etwas zu beteuern, er spannte den Oberarmmuskel und funkelte den Rittmeister lachend, schmeichlerisch mit kleinen, mäuseflinken schwarzen Augen an. Schließlich zuckte Prackwitz die Achseln und löste den Schein. Siebenunddreißig waren besser als nichts, und jedenfalls waren es gelernte Landarbeiter.

Dann kam der lärmende, schreiende Auszug auf den Bahnsteig; die Verfrachtung in den schon bereitstehenden Zug; der schimpfende Schaffner, der ein die Tür sperrendes Bündel in den Wagen stopfen wollte, während es samt seiner Trägerin von drinnen wieder herausgeschoben wurde; der Streit zweier Burschen; die wilden Gestikulationen und Rufe des Vorschnitters, der dazwischen ununterbrochen auf den Rittmeister einredete, um seine dreißig Dollar bat, forderte, bettelte ...

Der Rittmeister meinte zuerst, zwanzig genügten, da ja ein Viertel der Leute fehle. Sie fingen an, hitzig zu rechnen, und schließlich zählte, müde der Streiterei, der Rittmeister dem Vorschnitter drei Zehndollarscheine in die Hand, nachdem auch der letzte Mann seinen Platz gefunden hatte. Jetzt floß der Vorschnitter über vor Dank, verbeugte sich, trat hin und her und brachte es schließlich wirklich fertig, die Hand des Rittmeisters zu erhaschen und inbrünstig zu küssen: Marjosef! Heiliger Wohltäter!

Etwas angeekelt suchte sich der Rittmeister einen Platz ganz vorne im Zug in einem Raucherabteil Zweiter, er setzte sich bequem in eine Ecke und brannte sich eine neue Zigarette an. Alles in allem: es war ein gutes Tagewerk, das er vollbracht hatte. Morgen konnte die Ernte richtig anfangen.

Rumpelnd und pustend kam der Zug endlich in Gang, fuhr aus der traurigen, verrußten, verlotterten Halle mit ihren zerschlagenen Scheiben. Der Rittmeister wartete nur, daß der Schaffner vorbei war, dann wollte er ein Schläfchen machen.

Schließlich kam der Schaffner, knipste die Karte und gab sie dem Rittmeister zurück. Aber er ging noch nicht, wie wartend blieb er stehen.

Nun? fragte der Rittmeister schläfrig. Ein bißchen heiß draußen, was?

Sind Sie nicht der Herr? fragte der Schaffner, mit den polnischen Schnittern?

Jawohl! sagte der Rittmeister und richtete sich grader auf.

Dann wollte ich Ihnen nur melden, sagte der Schaffner (eine Spur schadenfroh), daß die Leute alle gleich wieder auf dem Schlesischen Bahnhof ausgestiegen sind. Ganz klammheimlich.

Was? schrie der Rittmeister und sprang an die Abteiltür.

6

Der Zug fuhr schneller und schneller. Er tauchte in den Tunnel, der erleuchtete Bahnsteig blieb hinten.

Wolf Pagel saß auf dem Löschkasten des überfüllten Raucherwagens, brannte sich eine Lucky Strike aus dem Päckchen an, das er eben aus dem Erlös für ihr ganzes Hab und Gut erstanden. Er tat einen tiefen Zug.

Oh, schön, schön! Die letzte Zigarette hatte er in der vergangenen Nacht auf dem Heimweg vom Spiel geraucht, um so besser schmeckte diese, fast zwölf Stunden später. Lucky Strike hieß ja wohl, wenn ihn sein Schulenglisch nicht ganz im Stich ließ, soviel wie Glücksschlag, Glückstreffer – diese glückverheißende Zigarette sollte für den ganzen Tag von prophetischer Bedeutung sein!

Der Dicke da schnauft cholerisch, raschelt mit der Zeitung, schießt unruhige Blicke – das hilft dir alles nichts, wir wissen es allbereits auch schon: der Dollar kommt heute mit 760 Tausend, über fünfzig Prozent Aufschlag. Der Zigarettenonkel wußte es gottlob noch nicht, sonst hätten wir uns diese Zigarette nicht leisten können. Du hast auch falsch gelegen, Dicker, dein Schnaufen verrät dich, du bist empört! Aber das hilft dir nichts. Dies ist eine ganz großartige, völlig moderne Nachkriegserfindung: man stiehlt dir die Hälfte des Geldes, das du in der Tasche hast – und rührt die Tasche und das Geld doch nicht an – ja, Köpfchen! Köpfchen! Nun fragte sich, ob Freund Zecke richtig oder falsch gelegen hatte. Hatte er falsch gelegen, würde er etwas schwer hören (obwohl nicht einmal das sicher war); kam ihm die neue Entwertung aber zupaß, würde es ihm auf eine Handvoll Millionenscheine nicht ankommen. Seit ein paar Tagen gab es sogar Zweimillionenscheine – Pagel hatte sie im Spielklub gesehen. Sie waren mal wieder richtig auf beiden Seiten bedruckt, sahen aus wie Geld, nicht diese einseitig bedruckten, weißen Fetzen – die Leute sagten schon, das solle nun für ewig der höchste Schein bleiben. Sagten – wegen solcher Sage schnauft der Dicke, hatte an Sagen geglaubt.

Es war kaum anzunehmen, daß Zecke falsch gelegen hatte. So lange Pagel denken konnte, hatte Zecke stets richtig gelegen. Nie hatte er sich in der Beurteilung eines Lehrers geirrt. Er hatte gradezu eine Vorahnung dafür gehabt, was für Fragen gestellt werden würden, welche Themen bei der Examenarbeit ›dran‹ kamen. Im Kriege war er der erste gewesen, der ein großartiges Urlaubersystem zur Verteilung von Salvarsan auf dem Balkan, in der Türkei eingerichtet hatte. Und als dies Geschäft faul zu werden anfing, war er wiederum der erste gewesen, der, ehe er es ganz aufgab, die Salvarsanpackungen mit irgendeinem Dreckzeug füllte, einer Mischung aus Sand und Scheibenhonig vermutlich. Dann hatte er Chanteusen und Diseusen achter Güte an den Bosporus exportiert. Eine liebliche Pflanze also, alles in allem, einerseits horndumm, andrerseits von einer messerscharfen Schlauheit. Nach dem Kriege hatte er sich auf Garn gelegt – weiß der Himmel, was er jetzt handelte! Es kam ihm nicht darauf an – er würde mit Elefantenbullen schieben, wenn damit Geld zu verdienen war!

Eigentlich, dachte man über diesen Mann und sogenannten guten Freund Zecke genau nach, war nicht einzusehen, warum er einem Geld geben sollte – Pagel gab es sich plötzlich zu. Er hatte bisher auch noch nie den Versuch gemacht, ihn anzupumpen. Aber da war nun eben das andere Gefühl in der Wolfgang Pagelschen Brust, das Gefühl, daß Zecke jetzt ›reif‹ war, daß er es unbedingt tun würde. Ein Spielerkompaß gewissermaßen, ein Signal, das plötzlich gezogen wurde, der Henker wußte warum. Unbedingt würde er Geld geben. Es gab solche Augenblicke im Leben. Plötzlich tat man, was man gestern noch um keinen Preis getan hätte. Und aus dem, was man getan hatte, folgte ganz von selbst wieder etwas anderes, zum Beispiel gewann man heute abend eine Riesensumme – und nun veränderte sich plötzlich alles! Das Leben lief in einem Winkel zu der bisherigen Bahn weiter. Man konnte sich zwanzig Mietshäuser in der City kaufen (die Buden waren für einen Dreck zu haben) oder eine Riesenbar aufmachen (achtzig Mädchen hinter dem Bartisch) – noch gar keine schlechte Idee! – oder man brauchte auch einmal gar nichts zu tun, konnte sich auch einmal hinsetzen und die Daumen drehen, sich richtig ausruhen, gut essen und trinken und sich an Peter freuen. Oder besser noch, ein Auto kaufen und mit Peter durch die Welt fahren! Ihr alles zeigen, Kirchen, Bilder, eben alles, das Mädchen hatte Entwicklungsmöglichkeiten – aber selbstverständlich. Bestritt das etwa jemand –?! Er jedenfalls nicht, ein großartiges Mädchen, nie unbequem. (Oder fast nie.)

Fahnenjunker a. D. Wolfgang Pagel ist an der Podbielskiallee ausgestiegen und die paar Straßen bis zur Zeckeschen Villa hinuntergeschlendert. So richtig faul und gemächlich in der Hitze. Nun steht er vor dem Haus, das heißt vor dem Vorgarten natürlich, dem Garten, der Anlage, dem Park. Und nicht direkt davor, natürlich ist ein geschmiedetes Gitter da und irgendwelcher behauene Stein, in Säulenform aufgesetzt, sagen wir Muschelkalk. Ein ganz kleines Messingschild ist auch da, auf dem nichts weiter steht als ›von Zecke‹ und ein messingner Klingelknopf. Gut geputzt. Von dem Haus sieht man nicht viel, es steckt hinter Büschen und Bäumen, man hat nur so eine Ahnung von großen, spiegelnden Scheiben und einer nicht zu hohen, leicht gegliederten Fassade.

Pagel sieht sich die Bescherung an, er hat Zeit. Dann dreht er sich um und sieht die Villen auf der andern Straßenseite an. Pompös – hier also wohnen die Herrschaften, die um keinen Preis an einem Hinterhof beim Alexanderplatz wohnen könnten. Wolfgang Pagel hält sich für befähigt, beides zu tun, mal Dahlem, mal Alex, es kommt ihm nicht darauf an. Aber vielleicht, weil es ihm nicht darauf ankommt, wohnt er nicht in Dahlem, sondern in der Georgenkirchstraße.

Er macht wieder kehrt und betrachtet Schild, Knopf, Blumenbeete, Grün, Fassade. Rätselhaft bleibt, warum Zecke sich mit solchem Kram belastet. Denn so was ist eine Last. Ein Haus haben, eine Riesenvilla, einen halben Palast, der ewig was von einem verlangt: Steuern zahlen, reinmachen lassen; elektrische Lichtleitung versagt, Koks muß gekauft werden – jedenfalls muß Zecke sich geändert haben. Früher hätte er auch gedacht: es ist eine Last. Als er ihn zum letztenmal sah, hatte Zecke zwei höchst elegante Junggesellenzimmer am Kurfürstendamm (mit Freundin, Telefonanschluß und Bad) – das paßte zu Zecke.

Dies nicht. Aber wahrscheinlich war er verheiratet. Jeder Quatsch, den man mit einem Mann erlebte, erklärte sich dadurch, daß er verheiratet war. Daß eine Frau da war. Nun ja, man würde sie ja wahrscheinlich zu sehen kriegen, und sie würde natürlich sofort erraten, daß dieser alte Freund ihres Mannes Geld pumpen wollte. Daraufhin würde sie ihn halb gereizt, halb verächtlich behandeln. Aber das konnte sie seinetwegen gerne tun, wer abends als Pari-Panther auf Raub ausging, war gegen Weiberlaunen völlig gefeit.

Pagel ist schon im Begriff, auf den Klingelknopf zu drücken – einmal muß man es ja tun, so angenehm es auch ist, hier faul in der Sonne zu stehen und an das viele schöne Geld zu denken, das er dem Zecke gleich abnehmen wird. Aber er erinnert sich grade rechtzeitig, daß er noch fast 100 000 Mark in der Tasche trägt. Nun gibt es zwar den Satz, daß Geld zum Gelde will, aber in dieser Form ist der Satz nicht richtig. Er müßte heißen: viel Geld will zu viel Geld. Dafür aber kommt das, was Pagel in der Tasche trägt, nicht in Frage. Unter diesen Umständen ist es viel besser, er steht völlig blank vor Zecke. Unbedingt vertritt man ein Darlehensgesuch überzeugender, wenn man nicht einmal das Fahrgeld nach Haus in der Tasche hat. Für diese hunderttausend wird man etwa zwei Cognacs kriegen, und diese zwei Cognacs werden seinem Darlehensgesuch weiteres Gewicht verleihen!

Pagel hat umgedreht und schlendert wieder die Straße hinunter. Er geht rechts, dann links, wieder rechts, hin und her – aber es erweist sich als schwierig, das Geld in Alkohol umzusetzen. In dieser pikfeinen Villengegend scheint es weder Läden noch Kneipen zu geben. Natürlich, solchen Leuten wird alles ins Haus gebracht, Wein und Schnaps halten sie kellerweise.

Pagel findet nur einen Zeitungsmann, aber in Zeitungen mag er das Geld nicht anlegen. Nein, danke, mit so was hat er nichts zu tun. Wenn er schon die Schlagzeile liest ›Aufhebung der Grenzsperre zum besetzten Gebiet‹ – geht ihn nichts an, macht, was ihr wollt, Scheibe ist es doch!

Als nächstes trifft er eine Blumenfrau, sie steht an einer Autobushaltestelle und hökert mit Rosen. Der Gedanke, Herrn von Zecke, der einen ganzen Garten voller Rosen hat, mit einem Pofel von Rosenstrauß unter die Nase zu gehen, ist so schön, daß Pagel beinahe kauft. Aber dann zuckt er die Achseln und geht weiter. Er ist nicht ganz sicher, daß Zecke seinen Pumpversuch nur leicht und humoristisch nimmt.

Aber raus aus der Tasche muß das Geld – so viel ist sicher. Am liebsten würde Pagel es einem Bettler schenken, das bringt immer Glück. Aber es gibt hier in Dahlem nicht einmal Bettler. Die setzen sich lieber an den Alexanderplatz zu den armen Leuten. Die haben immer noch eher mal ein bißchen Geld über.

Eine Weile ging Wolfgang dann hinter einer älteren, dürren Dame her, die in ihrem grau aussehenden Jäckchen mit verschossenem lila Aufschlag und irgendeinem Gebammel von schwarzen Schmelzperlen ihm den Eindruck einer ›verschämten Armen‹ machte. Aber dann verzichtete er darauf, ihr das Geld in die Hand zu drücken. Denn von allerschlechtester Vorbedeutung wäre es gewesen, das Geld nicht gleich auf Anhieb loszuwerden, sondern es erst einmal wieder zurückzubekommen.

Schließlich geriet Pagel auf den Hund. Stillvergnügt saß er auf einer Bank und pfiff und schmeichelte einen stromernden, weißen, braungefleckten Fox an sich heran. Das Tier war von einer phantastischen Lebenslust erfüllt, es bellte den Schmeichler trotzig, herausfordernd an, war dann plötzlich liebevoll, legte den Kopf prüfend auf die Seite und wackelte mit dem Schwanzstummel. Beinahe hatte Wolf ihn fest, da jagte er schon wieder, fröhlich aufbellend, drüben in den Anlagen, während man ein Dienstmädchen mit geschwungener Leine, verzweifelt Schnaps! Schnaps! rufend, ihm nacheilen sah.

Vor die Wahl zwischen dem geruhig rauchenden Mann und dem aufgeregten Mädchen gestellt, entschied sich der Fox für den Mann. Er stieß mit der Schnauze auffordernd gegen Pagels Bein, und in seinen Augen stand die klare Bitte, ein neues Spiel zu beginnen. Grade hatte Wolf ihm die Scheine fest unter das Halsband geschoben, da kam schon das Mädchen, erhitzt und empört, und stieß atemlos hervor: Lassen Sie unsern Hund los!

Ach, Fräulein, sagte Wolfgang. Für Schnaps sind wir Männer nun mal alle. – Und ... setzte er hinzu, denn in dem frisch gewaschenen Kleid steckte ein erfreuliches Mädchen, und für die Liebe.

Ach Sie! sagte das Mädchen, und ihr verärgertes Gesicht verwandelte sich so plötzlich, daß auch Wolfgang lächeln mußte. Sie ahnen ja nicht, sagte sie und versuchte, den tänzelnden und jaulenden Fox an die Leine zu hängen, was ich für Ärger mit dem Hund habe. Und immer sprechen einen Herren an. – Was ist denn das? fragte sie erstaunt, denn sie hatte das Papier unter dem Halsband gefühlt.

Ein Brief, sagte Pagel im Abgehen. Ein Brief für Sie. Sie müssen ja gemerkt haben, ich gehe Ihnen schon eine Woche lang jeden Morgen nach. Aber lesen Sie ihn erst nachher, wenn Sie allein sind, es steht alles drin. Auf Wiedersehen!

Und er ging eilig um die Ecke, denn ihr Gesicht glänzte ihm zu hell, als daß er die Entdeckung der Wahrheit noch hätte miterleben mögen. Wieder um eine Ecke, und jetzt konnte er wohl langsamer gehen, jetzt war er vor ihr sicher. Auch schwitzte er schon wieder; eigentlich hatte er die ganze Zeit geschwitzt, seit er auf der Podbielskiallee ausgestiegen war. So langsam er auch gegangen war. Und plötzlich überkam es ihn, daß es nicht der Sonnenbrand war, der ihm so warm machte, nicht nur der Sonnenbrand. Nein, nein, es war etwas anderes, noch etwas anderes: er war aufgeregt, er hatte Angst!

Mit einem Ruck blieb er stehen und sah um sich. Schweigend standen in der Mittagsglut die Villen zwischen den Schirmen der Kiefern. Irgendwo summte ein Staubsauger. Alles, was er bis jetzt getan hatte, um das Drücken auf den Klingelknopf zu verzögern, war ihm von der Angst eingegeben worden. Und es hatte noch viel früher angefangen: er hätte keine Lucky Strike gekauft, sondern ein Frühstück für sie beide – hätte er keine Angst gehabt. Ohne die Angst hätte er auch die Sachen dem Onkel nicht gelassen.

Ja, sagte er und ging langsam weiter, es treibt auf das Ende zu. Er sah ihrer beider Lage plötzlich, wie sie wirklich war: in Schulden, ohne jede Aussicht für den nächsten Tag, Petra fast nackt in der stinkenden Höhle, ihn hier im Viertel der Reichen mit seinem abgeschabten, feldgrauen Rock, nicht einmal das Fahrgeld in der Tasche.

›Ich muß ihn überreden, uns Geld zu geben‹, dachte er. ›Und wenn es auch nur ganz wenig ist.‹

Aber es war Idiotie, es war völliger Wahnsinn, von Zecke ein Darlehen zu erwarten! Nichts von dem, was ihm über Zecke bekannt war, berechtigte zu der Erwartung, daß er Geld verlieh – mit einem Minimum an Aussicht, es wiederzubekommen. Aber was dann, wenn er ›Nein‹ sagte –? (Und er würde natürlich ›Nein‹ sagen, Wolfgang konnte sich jede Frage ruhig sparen.)

Die lange, ziemlich breite Allee, an deren Ende Zeckes Villa liegt, tut sich vor Pagel auf. Er beginnt, sie hinunterzugehen, ziemlich langsam zuerst. Dann schneller und schneller, als treibe es ihn einen Berghang hinunter, seinem Schicksal entgegen.

›Er muß Ja sagen‹, denkt Wolfgang Pagel wieder einmal, ›und wenn er auch noch so wenig gibt. Dann mache ich Schluß mit dem Spielen. Ich kann immer noch Taxichauffeur werden – Gottschalk hat mir seinen zweiten Wagen fest zugesagt. Dann bekommt Petra es auch leichter.‹

Nun ist er der Villa schon ganz nahe. Er sieht schon wieder Muschelkalk und Eisengitter, Messingschild und Klingelknopf. Von neuem zögernd überquert er die Straße.

›Aber er sagt natürlich Nein. – Oh, verdammt, verdammt!!!‹ Denn beim Umsehen sieht er am Straßenende ein Mädchen kommen; der an der Leine zerrende, kläffende Fox verrät schon, was das für ein Mädchen ist. Und zwischen Auseinandersetzung hier und Bitte dort, gejagt und Jäger, drückt er auf den Klingelknopf, und atmet erst erleichtert auf, als der Türverschluß leise surrt. Ohne einen Blick auf die Heraneilende tritt er ein, zieht sorgfältig die Tür zu und atmet auf, als eine Biegung des Weges ihn zwischen deckende Büsche führt.

Zecke kann schließlich bloß ›Nein‹ sagen, dieser Dienstbolzen da aber unmenschlichen Krach schlagen – Wolfgang haßt Krach mit Frauen. Das wird immer gleich so uferlos.

7

Also da bist du wirklich, Pagel, sagte Herr von Zecke. Halb und halb hatte ich dich erwartet. Und als Wolfgang eine Bewegung machte: Nicht grade heute – aber du warst fällig, nicht wahr?

Und Zecke lächelt überlegen, Wolfgang Pagel aber ärgert sich. Ihm fällt ein, daß Zecke schon immer diese wichtigtuerische Geheimniskrämerei liebte, daß er schon immer dieses überlegene Lächeln gehabt hat, und daß er, Pagel, sich schon immer darüber geärgert hat. Zecke lächelte so, wenn er sich besonders schlau vorkam.

Na, ich meine ja bloß, grinste Zecke also. Schließlich sitzt du ja wirklich hier bei mir – das wirst du wohl nicht bestreiten wollen. Na, laß man. Ich weiß, was ich weiß. Trinken wir einen Schnabus, nimm 'ne Zigarette und schauen wir uns meine Bilder an, was?

Pagel hat die Bilder längst gesehen. Sie sitzen in einem großen, sehr anständig eingerichteten Gartenzimmer. Ein paar Türen zu der sonnenüberglühten Terrasse stehen offen, man sieht Sonne und Grün, aber es ist doch angenehm kühl hier drinnen. Ein schönes Licht, das durch die grünlichen Jalousien vor den Fenstern kommt, hell und dunkel zugleich und vor allem kühl.

Sie sitzen in schönen Sesseln, nicht in diesen schrecklichen, glatten, kalten Ledersesseln, die man jetzt überall sieht, sondern in tiefen, geräumigen Gehäusen, die mit irgendeinem blumigen, englischen Stoff bespannt sind – Chintz vermutlich. Bücher bis zu einem Drittel Höhe der Wand, darüber Bilder, gute moderne Bilder, Pagel hat es gleich gesehen. Aber er reagiert nicht auf Zeckes Frage, er hat schon gemerkt, daß die Atmosphäre ihm gar nicht ungünstig ist, daß dem Herrn von Zecke sein Besuch irgendwie zupaß kommt. Natürlich will Zecke was von ihm, und so kann man geruhig abwarten und ein bißchen pampig sein. (›Mein Geld kriege ich schon!‹)

Pagel zeigt auf die Bücher: Feine Bücher. Du liest viel –?

Aber so dumm ist von Zecke nun auch wieder nicht. Er lacht herzhaft. Ich und lesen –?! Immer noch der kleine Schäker? Das möchtest du wohl, daß ich ›Ja‹ sage, und du ödest mich dann an, was in dem Nietzsche da steht! Plötzlich ändert sich sein Gesicht, es wird nachdenklich. Ich glaube, das ist 'ne ganz gute Kapitalsanlage. Volleder-Einband. Man muß ja sehen, daß man sein Geld irgendwie wertbeständig anlegt. Ich verstehe nichts von Büchern – Salvarsan ist einfacher. Aber ich habe da so einen kleinen Studenten, der berät mich ... Er denkt einen Augenblick nach, wahrscheinlich darüber, ob der kleine Student das Geld wert ist, was er ihm zahlt. Dann fragt er wieder: Na – und die Bilder?

Aber Pagel will einfach nicht. Er zeigt auf ein paar Plastiken, die da stehen: Apostelfiguren, eine Madonna mit dem Kind, ein Kruzifix, zwei Beweinungen. Mittelalterliche Holzplastik sammelst du auch?

Zecke macht ein kummervolles Gesicht. Nicht sammeln, nein. Geld anlegen. Aber ich weiß nicht, wie es kommt, es macht mir plötzlich auch Spaß. Guck mal hier, den Burschen hier mit dem Schlüssel, Petrus, richtig. Den hab ich aus Würzburg. Ich weiß nicht, ich verstehe nichts davon, es macht ja wirklich nicht viel her, gar nicht pompös und so – aber es gefällt mir. Und dieser Leuchterengel – der Arm ist ja sicher ergänzt, glaubst du, daß ich angeschwindelt bin –?

Wolfgang Pagel sieht von Zecke prüfend an. Zecke ist ein kleiner Mann, trotz seiner vier- oder fünfundzwanzig Jahre wird er schon rundlich und die Stirn infolge Haarschwund hoch. Auch ist er dunkel – und all dies mißfällt Wolfgang. Es mißfällt ihm auch, daß von Zecke an Holzplastiken Gefallen findet und daß ihm seine Bilder anscheinend wirklich anteilvolle Sorge bereiten. Zecke ist ein roher Schieber, weiter nichts, und so hat er zu bleiben. Interesse an Kunst bei ihm wirkt lächerlich und empörend. Am meisten aber empört es Wolf, daß er diesen verwandelten Zecke um Geld angehen soll. Der ist imstande und gibt es aus Anstand –! Nein, Zecke hat ein Schieber zu sein und zu bleiben, und wenn er Geld verleiht, hat er Wucherzinsen zu nehmen, sonst mag Wolfgang nichts mit ihm zu tun haben. Von einem Zecke will er kein Geld geschenkt!

So sagt denn Pagel, und sieht den Leuchterengel mißbilligend an: Also jetzt sind es Leuchterengel – mit Varieténutten handelst du nicht mehr –?

Pagel sieht sofort aus der Reaktion Zeckes, daß er es zu weit getrieben, daß er einen entscheidenden Fehler gemacht hat. Sie sind nicht mehr auf der Schule, wo man plumpe Vertraulichkeiten ertragen mußte, wo sie gradezu Sport waren. Zeckes Nase wird weiß, das kennt Pagel noch von früher, während das Gesicht stark gerötet bleibt.

Aber wenn von Zecke auch immer noch nicht gelernt hat, Bücher zu lesen, sich zu beherrschen hat er gelernt (und ist in diesem Punkt Pagel weit voraus). Er scheint nichts gehört zu haben. Langsam setzt er den Leuchterengel wieder hin, streichelt noch einmal nachdenklich über den wohl ergänzten Arm und sagt: Jaja, die Bilder. Ihr müßt auch noch ganz schöne zu Haus haben – von deinem Vater.

›Aha! Das möchtest du also!‹ denkt Pagel tief befriedigt. Und laut sagt er: Ja, doch einiges sehr Gutes ist noch da.

Weiß ich, sagt Zecke, gießt noch einen Schnaps ein, erst in Pagels Glas, dann in sein Glas. Er setzt sich gemütlich. Wenn du also einmal Geld brauchst – du siehst, ich kaufe Bilder ...

Das war ein Hieb, erste Antwort auf die Frechheit eben, aber Pagel läßt sich nichts anmerken. Ich glaube nicht, daß wir jetzt verkaufen.

Da bist du nicht ganz unterrichtet, lächelt Zecke ihm liebenswürdig zu. Letzten Monat erst hat deine Mutter Bäume im Herbst nach England an die Galerie in Glasgow verkauft. Na, denn Prost! Er trinkt, lehnt sich dann zufrieden zurück und sagt harmlos: Naja, wovon soll denn die alte Frau schließlich leben? Was sie an Papieren hatte, ist heute doch nur Dreck.

Zecke grinst zwar nicht, aber Pagel hat doch sehr stark das Gefühl, daß die Bezeichnung ›guter Freund‹, die er heute früh noch für ihn gebraucht hat, reichlich übertrieben ist. Zwei Hiebe hat Pagel weg, und der dritte wird kaum auf sich warten lassen. Richtig, eine Giftkröte war von Zecke immer gewesen, ein schlimmer Feind. Also ist es schon besser, ihm auf halbem Wege entgegenzukommen – dann ist die Sache wenigstens erledigt und vorbei. Er sagt und versucht, es so leicht wie nur möglich zu sagen: Ich bin ein bißchen in der Klemme, Zecke. Könntest du mir mit ein wenig Geld aushelfen?

Was nennst du ein wenig Geld? fragt Zecke und betrachtet sich seinen Pagel.

Nun, wirklich nicht viel, eine Kleinigkeit für dich, sagt Pagel. Was meinst du zu hundert Millionen?

Hundert Millionen, sagt Zecke, träumerisch. So viel habe ich an den ganzen Varieténutten nicht verdient ...

Dritter Schlag, und diesmal scheint es Knockout gewesen zu sein. Aber so leicht läßt sich Wolfgang Pagel nicht niederschlagen. Er fängt an zu lachen, ganz herzhaft und unbekümmert zu lachen. Dann sagt er: Recht hast du, Zecke! Großartig! Und ich bin das Kamel. Quatsche große Töne, und will mir doch Geld von dir pumpen. Werde pampig. Aber weißt du, irgendwie hat es mich gleich geärgert, wie ich hier reinkam ... Ich weiß nicht, ob du das verstehst ... Ich hause da in so 'ner Höhle am Alex ... Zecke nickt, als wisse er es ... Habe gar nichts ... und dann hier so rin in die Pracht! Gar nicht wie bei Neureichs und Raffkes, wirklich schön – und ich glaube auch nicht einmal, daß der Arm ergänzt ist ...

Er bricht ab und sieht prüfend auf Zecke. Mehr kann er nicht tun, mehr bringt er einfach nicht über sich. Aber als sich Zecke auch jetzt nicht rührt, sagt er: Na schön, gib mir auch kein Geld, Zecke. Verdient hab ich das, blöd, wie ich war.

Ich sage ja nicht nein, erklärt Zecke. Ich möchte bloß mal so hören. Geld ist Geld, und du willst es doch nicht geschenkt –?

Nein, sobald ich kann, kriegst du es wieder.

Und wann kannst du?

Unter Umständen, wenn es gut geht, schon morgen.

So, sagt Zecke, nicht sonderlich begeistert. So. – Na, trinken wir noch einen Schnabus. – Und wozu brauchst du das Geld –?

Ach, sagt Pagel, wird verlegen und fängt an, sich zu ärgern. Ich habe da so ein paar Schulden bei meiner Wirtin, Kleinigkeiten eigentlich – weißt du, hundert Millionen klingt gewaltig viel, aber am Ende ist es doch nicht viel mehr als hundert Dollar, nichts so Überragendes ...

Also Schulden bei der Wirtin, sagt Zecke ganz ungerührt und sieht den Freund aus dunklen Augen aufmerksam an. Und was sonst noch?

Ja, sagt Pagel verdrießlich, ich habe auch noch was versetzt beim Onkel ...

Im gleichen Augenblick fällt ihm ein, daß dies nun wirklich nicht wahr ist. Aber er hat im Moment nicht daran gedacht, daß verkauft nicht versetzt ist, und so läßt er es dabei. Es kommt ja wirklich nicht so genau darauf an ...

So, versetzt beim Onkel, sagt von Zecke und sieht weiter dunkel und prüfend aus. Weißt du, Pagel, sagt er dann. Ich muß dich noch was fragen – entschuldige bitte. Geld ist ja schließlich Geld, und selbst sehr wenig Geld (hundert Dollar zum Beispiel) sind für manchen sehr viel Geld – zum Beispiel für dich.

Pagel hat beschlossen, diese Stiche nicht mehr zu beachten, schließlich ist ja die Hauptsache, daß er sein Geld bekommt. Er sagt mürrisch: Also frag schon.

Und was tust du? fragt Zecke. Ich meine, wovon lebst du? Hast du 'ne Stellung, die dir was einbringt? Vertreter gegen Provision? Angestellter mit Gehalt?

Im Moment habe ich nichts, sagt Pagel. Aber ich kann jeden Augenblick als Taxichauffeur eintreten.

Ja so, dann natürlich! sagt Zecke und scheint ganz befriedigt. Wenn du noch einen Schnabus magst, bitte! Ich habe für den Vormittag genug. – Also Taxichauffeur ... fängt er wieder an zu bohren, dieses Aas, dieser Schieber, dieser Menschenschinder, dieser Verbrecher. (Sand statt Salvarsan!) Taxichauffeur – sicher ein schönes Brot, auskömmlicher Verdienst ... (Wie er höhnt, dieser bösartige Affe!) ... Aber doch sicher nicht so auskömmlich, daß du mir morgen mein Geld zurückgeben könntest. Du erinnerst dich doch, du sagtest, wenn es gut geht, schon morgen?! So gut geht Taxifahren doch nicht?

Mein lieber Zecke, sagt Wolfgang und steht auf. Du möchtest mich ein bißchen quälen, was? Aber so wichtig ist mir das Geld nun doch wieder nicht –

Er zittert beinahe vor Zorn.

Aber Pagel! – ruft Zecke und ist ganz erschrocken. Ich dich quälen –?! Wie komme ich denn dazu? Sieh mal, du hast mich doch ausdrücklich nicht um ein Geschenk gebeten – dann hättest du die paar Scheine längst. Du willst doch ein Darlehen, hast Angaben wegen der Rückzahlung gemacht – ich frage also danach, erkundige mich, wie du dir das denkst – und du schimpfst?!! Ich verstehe das nicht.

Ich kann, sagt Pagel, das vorhin nur so hingesagt haben. In Wirklichkeit könnte ich dir das Geld nur in Wochenraten zurückzahlen, etwa zwei Millionen wöchentlich ...

Spielt keine Rolle, alter Junge! ruft von Zecke fröhlich. Spielt gar keine Rolle unter uns alten Freunden, nicht wahr? Die Hauptsache ist doch, daß du das Geld nicht wieder verspielst, nicht wahr, Pagel?

Die beiden sehen sich an.

Es hat keinen Zweck, Pagel, sagt Zecke dann eilig und leise, daß du schreist. Ich werde so oft angeschrien, es stört mich gar nicht. Wenn du tätlich werden willst, mußt du es sehr schnell tun – Sieh mal, jetzt habe ich schon auf den Klingelknopf gedrückt – Ach ja, Reimers, dieser Herr wünscht zu gehen. Sie zeigen ihm den Weg, ja? Auf Wiedersehen, Pagel, alter Freund, und wenn du einmal ein Bild von deinem Herrn Vater verkaufen möchtest, ich bin für dich immer zu sprechen, immer ... Nanu, bist du verrückt geworden?! unterbricht Zecke sich plötzlich.

Denn Pagel hat zu lachen angefangen, leicht und völlig vergnügt lacht er.

Gott, was bist du für ein wunderbares Schwein geworden, Zecke! ruft Pagel lachend. Das muß dich doch verdammt geschmerzt haben, was ich von den Varieténutten gesagt habe, daß du daraufhin all deinen Dreck von dir gibst. – Er hat nämlich früher mit Varieténutten gehandelt, Ihr Chef, sagt er zu dem Manne hinter sich. (Eine Kreuzung von Mann und Herr.) Er will's nicht mehr wissen, aber es tut ihm noch weh, wenn man davon spricht. Aber, Zecke, sagt Pagel plötzlich ganz fachmännisch ernst, ich neige doch dazu, daß der Arm von diesem Leuchterengel ergänzt ist, und zwar schlecht. Ich würde es so machen ...

Und ehe Zecke und sein Mann ihn noch haben hindern können, ist der Engel ohne Arm. Von Zecke schreit, als fühle er den Schmerz der Amputation. Der Mann Reimers will auf Pagel eindringen, aber der ist, trotz mangelhafter Ernährung, noch ein kräftiger junger Mann. Mit einer Hand wehrt er den Mann ab, in der andern hält er den amputierten Arm mit der Lichttülle. Diese grobe Fälschung möchte ich zum Andenken an dich behalten, alter Freund Zecke, sagt Wolfgang vergnügt. Weißt du: das Licht erlosch – und so. Auf Wiedersehen und ein gedeihliches Mittagessen allerseits. Pagel geht ab, vergnügt und zufrieden, denn wenn von Zecke sich wirklich einmal freuen will, daß er ihm kein Geld gegeben hat, wird er an den Arm des Leuchterengels denken müssen, der in der Pagelschen Tasche steckt. Und der Schmerz wird überwiegen.

8

Unangefochten erreicht Pagel das Tor der Zeckeschen Villa. Als er es aufzieht, steht ein Mädchen davor, ein Mädchen mit einem drängenden Fox an der Leine, mit sehr rotem Gesicht.

Gott, stehen Sie noch immer da, Fräulein?! ruft er entsetzt. An Sie hatte ich gar nicht mehr gedacht.

Hören Sie! sagt sie, und ihr Zorn hat durch das Warten in der Sonne nichts von seiner Hitze verloren. Hören Sie! sagt sie und hält ihm die Scheine hin. Wenn Sie denken, daß ich so eine bin, danke, pfui Deibel! Nehmen Sie Ihr Geld!

Und noch dazu so wenig! sagt Pagel, völlig unbekümmert. Nicht einmal ein Paar Seidenstrümpfe können Sie sich dafür kaufen ... Nein, sagt er rasch. Ich will Sie nicht mehr auf den Arm nehmen, hören Sie mal zu, ich möchte Sie sogar um Rat fragen ...

Sie steht da und starrt ihn an, die Scheine in der einen, die Leine mit dem zerrenden Fox in der andern Hand, völlig verblüfft über seinen veränderten Ton. Hören Sie –! sagt sie noch einmal, aber die Drohung ist nur schwach.

Gehen wir hier lang? schlägt Pagel vor. Also los! Seien Sie nicht albern, kommen Sie ein Stück mit, Lina, Trina, Stina. Ich kann Ihnen hier auf offener Straße doch nichts tun, und verrückt bin ich auch nicht ...

Ich habe keine Zeit, sagt sie. Ich müßte längst zu Hause sein. Die gnädige Frau ...

Erzählen Sie der Gnädigen, Schnaps ist ausgerissen, und hören Sie jetzt zu. Ich war da eben drin bei dem feinen Kerl in der Villa, Schulkamerad von mir, wollte mir Geld pumpen ...

Und da stecken Sie Ihr Geld meinem Hund ...

Seien Sie keine Gans, Miezi!

Liesbeth!

Hören Sie zu, Liesbeth! Natürlich habe ich nichts gekriegt – weil Sie mit meinem Geld vor der Tür standen! Man kriegt nämlich kein Geld, so lange man noch was hat, und darum hatte ich es Ihrem Hund in das Halsband gesteckt. Kapiert –?

Aber bei ihr geht es erheblich langsamer. Da sind Sie mir also gar nicht schon eine Woche lang nachgelaufen und einen Brief haben Sie auch nicht reingesteckt? Ich dachte, der Hund hätte ihn verloren ...

Nee, nee, Liesbeth, grinst Pagel zwar frech, aber jämmerlich ist ihm doch zumute. Kein Brief – und mit dem Geld wollte ich Ihnen auch nicht Ihre Reinheit abkaufen. Aber die Frage, die Sie mir nun beantworten sollen, ist die: was soll ich jetzt tun? Keinen Pfennig mehr. Eine Bude am Alex, für die die Miete nicht bezahlt ist. Meine Kleine sitzt als Pfand drin, nur mit meinem Sommerpaletot bekleidet. Alle Sachen habe ich verkauft, um hierher zu kommen.

Ernst? fragt das Mädchen Liesbeth. Kein Quatsch mehr?

Kein Quatsch mehr! Völliger Ernst!

Sie sieht ihn an. Sie wirkt unglaublich frisch gewaschen und sauber – trotz der Hitze –, es riecht gewissermaßen nach Sunlichtseife um sie. Vielleicht ist sie nicht mehr ganz so jung, wie er zuerst dachte, außerdem hat sie ein recht energisches Kinn.

Sie weiß jetzt, daß es wirklich ernst ist. Sie sieht ihn an, dann auf das Geld in der Hand.

›Gibt sie es mir jetzt wieder?‹ überlegt er. ›Dann muß ich zu Peter und muß etwas tun. Aber was ich tun soll, weiß ich wirklich nicht. Ich habe zu nichts mehr Lust. Nein, sie soll mir sagen, was ich tun soll ...‹

Sie hat das Geld glattgestrichen und in die Tasche gesteckt.

So, sagt sie, nun kommen Sie erst mal mit mir. Nach Haus muß ich jetzt – und Sie sehen mir auch so aus, als könnten Sie ein Mittagessen in unserer Küche gebrauchen. Ganz grün und gelb sehen Sie aus. Die Köchin sagt nichts und die gnädige Frau ist auch einverstanden. Aber zu denken, daß Ihre Freundin in Ihrem Sommerüberzieher auf Ihrer Bude sitzt, und 'ne knuffige Wirtin womöglich dazu, und vielleicht nichts im Magen – und so was steckt Hunden Geld in das Halsband und möchte gleich wieder von frischem anbändeln – Scheißkerle seid ihr Männer doch!

Sie hat immer rascher geredet, den Hund gezerrt, ist eiliger gegangen, aber keinen Augenblick war sie unsicher, ob er auch mit ihr ging.

Und er ging wirklich mit, Wolfgang Pagel, Sohn eines nicht unbekannten Malers, Fahnenjunker a. D. und Spieler am Ende.

9

Mit dem zweiten Bestellgang um elf hatte der Postbote schon den Brief gebracht. Aber um diese Zeit war Frau Pagel noch unterwegs, machte Besorgungen. So hatte Minna ihn auf den Konsoltisch unter dem Spiegel im Vorplatz gelegt. Da lag er nun, ein grauer Umschlag, irgendein gehämmertes, ziemlich pompöses Büttenpapier, die Adresse mit einer recht ausgeschriebenen Hand steil und sehr groß aufgemalt, und jeder freie Raum vorne wie hinten war vollgeklebt mit den Tausenderwerten der Briefmarken, obwohl es nur ein Stadtbrief war.

Als Frau Pagel etwas verspätet und recht erhitzt aus der Stadt zurückkam, warf sie nur einen flüchtigen Blick auf den Brief. ›Ach, von Kusine Betty!‹ dachte sie. ›Jetzt muß ich mich erst um mein Essen kümmern. Was die alte Klatsche will, höre ich noch früh genug.‹

Erst als sie bei Tisch saß, fiel ihr der Brief wieder ein. Sie schickte Minna danach, Minna, die wie stets hinter ihr in der Tür stand, während wie stets das Gedeck für Wolfgang am andern Tischende unbenutzt dalag. Von Frau von Anklam, sagte sie über die Schulter zu Minna, indem sie den Brief aufriß.

Gott, das wäre auch nicht so eilig gewesen, gnädige Frau, daß Ihr Essen deswegen kalt werden muß.

Aber aus der Stille, der starren Haltung der gnädigen Frau, aus der Reglosigkeit, mit der sie auf den Brief starrte, erriet sie, daß es doch wichtig gewesen war.

Minna wartete lange, still, ohne Bewegung. Dann räusperte sie sich, schließlich sagte sie mahnend: Das Essen wird kalt, gnädige Frau!

Wie –?! schrie Frau Pagel fast, fuhr herum und starrte Minna an, als sei die ihr völlig unbekannt. Ach so ... besann sie sich. Es ist nur ... Minna, Frau von Anklam schreibt es mir ... Es ist nur – unser junger Herr heiratet heute!

Und da war es vorbei. Der Kopf mit den weißen Haaren lag auf der Tischkante; der grade Rücken, den der Wille immer wieder gestrafft hatte, war krumm – die alte Frau weinte.

Gott! sagte Minna. Gott!

Sie trat näher. Zwar fand sie in dieser Heirat gar nicht so viel Schlimmes, aber sie verstand doch Kränkung, Schmerz, Verlassenheit der Herrin. Vorsichtig legte sie ihr die verarbeitete Hand auf den Rücken und sagte: Es braucht ja noch nicht wahr zu sein, gnädige Frau. Es ist noch lange nicht alles wahr gewesen, was Frau von Anklam erzählt hat.

Diesmal ist es wahr, flüsterte Frau Pagel. Irgend jemand hat das Aufgebot gelesen, als es aushing, und hat ihr davon erzählt. Heute um halb eins.

Sie hob den Kopf, sah suchend die Wände entlang. Dann besann sie sich, und der Blick fand die Uhr, die sie suchte, an ihrem Arm. Schon halb zwei! rief sie. Und der Brief hat so lange draußen gelegen, ich hätte es rechtzeitig wissen können ...

Wahres Leid findet in allem Nahrung, selbst im Widersinnigen. Daß sie es nicht rechtzeitig gewußt hatte, daß sie nicht um halb eins hatte denken können: ›Jetzt werden sie getraut‹ – das verstärkte Frau Pagels Kummer noch. Mit rinnenden Tränen, bebender Lippe saß sie da, sah ihre Minna an und sprach: Jetzt brauchen wir kein Gedeck mehr aufzulegen, jetzt ist Wolf ganz fort, Minna. Ach, dieses schreckliche Frauenzimmer – und nun heißt sie Frau Pagel, ganz wie ich!

Sie bedachte den Weg, den sie gegangen war unter diesem Namen; den stürmenden, eiligen Blütenweg zuerst. Dann die langen, die endlos langen Jahre an der Seite des gelähmten Mannes, der, immer fremder werdend, ruhig und freundlich Bilderchen pinselte, indes sie für ihn nach einer Gesundheit jagte, nach der er doch nichts mehr zu fragen schien. Schließlich erinnerte sie sich an das Erwachen, an den wieder Auferstandenen mit den weißen Schläfen, der, in die albernsten Geckereien verstrickt, ihr schändlich gestorben ins Haus getragen wurde ...

Jeder Schritt dieses weiten Weges war so mühsam gegangen worden von ihr, kein Jahr ohne Sorge; Leid war ihr Bettgenoß gewesen, und ihr Schatten hieß Kummer. Aber darüber war sie eine Pagel geworden, aus den holden Täuschungen jungen Fleisches war die feste Frau erstanden, die nun und für ewig Frau Pagel hieß. Noch im Himmel würde sie eine Pagel sein; es war völlig unmöglich, daß Gott sie je etwas anderes sein ließ als eine Pagel. Aber all dies schwer Erkämpfte, diese Verwandlung, die ein schmerzliches Wachsen gewesen war in ihre Bestimmung hinein, das fiel diesem jungen Ding in den Schoß, als sei es nichts. Liederlich, wie sie zusammengekommen waren, banden sie sich aneinander. ›Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch; da will ich auch begraben sein. Der Herr tue mir dies und das; der Tod muß mich und dich scheiden!‹ – Ja, so hieß es, aber davon wußten sie nichts. Frau Pagel, das war kein Name, das war ein Schicksal! Sie aber machten einen Aushang, ließen halb eins hineinschreiben – und damit war es gut!

Minna sagte es auch grade, ihr zum Trost, aber es war richtig: Es wird bloß Standesamt sein, gnädige Frau, keine Kirche.

Die Gnädige richtete sich ein wenig auf, sie fragte eifriger: Nicht wahr, Minna, Sie denken das auch? Wolfgang hat es sich nicht recht überlegt, er macht es nur, weil ihn dies Mädchen zwingt. Standesamt sieht er auch nicht für voll an. Den Kummer macht er mir nicht.

Es ist wohl, erklärte die unbestechliche Minna, weil Standesamt sein muß, Kirche nicht. Er wird mit Geld knapp sein, der junge Herr.

Ja, sagte Frau Pagel und hörte nur, was ihr recht war. Und was so zusammengelaufen ist, läuft auch ebenso leicht wieder auseinander.

Der junge Herr, meinte Minna, hat es immer zu leicht gehabt. Er hat keine Ahnung, wie ein armer Mensch Geld verdient. Erst haben Sie ihm alles leicht gemacht, gnädige Frau – und jetzt tut es das Mädchen. Manche Männer sind so – das ganze Leben brauchen sie ein Kindermädchen –, und es ist komisch, sie finden auch immer eins.

Geld, wiederholte die alte Frau. Sie werden kaum Geld haben. Ein junges Ding ist eitel, zieht sich gerne hübsch an – wenn wir ihr Geld gäben, Minna?

Sie würde es doch nur ihm geben, gnädige Frau. Und er würde es verspielen.

Minna! rief Frau Pagel entsetzt. Was Sie bloß denken! Er wird doch nicht mehr spielen, jetzt, wo er verheiratet ist! Es können doch Kinder kommen –

Die konnten vorher auch kommen, gnädige Frau, das hat doch mit dem Spielen nichts zu tun.

Die gnädige Frau wollte es nicht hören, sie starrte über den Tisch nach dem leeren Platz hinüber. Decken Sie bloß ab, Minna! rief sie. Ich kann das Zeugs nicht mehr sehen. Ich esse hier Täubchen – und er hat geheiratet! Das Schluchzen kam wieder. Ach, Minna, was tun wir bloß?! Ich kann doch hier nicht weitersitzen, in meinen Zimmern, als sei nichts geschehen! Wir müssen doch irgend etwas tun!

Wenn wir einmal hingingen? fragte Minna vorsichtig.

Hingehen? Wir? Und er kommt nicht zu uns?! Und er schreibt mir nicht einmal, daß er heiratet?! Nein, das ist ganz unmöglich!

Man muß ja nicht tun, als wenn man etwas wüßte!

Ich den Wolf belügen –?! Nein, Minna, damit fange ich nun nicht mehr an! Es ist schon schlimm genug, daß ich merke, ihm kommt es nicht darauf an, mich zu belügen – nein!

Und wenn ich nun allein hinginge? fragt Minna wieder behutsam. Mich sind sie gewöhnt, und mit ein bißchen Schwindeln nehme ich es auch nicht so genau!

Schlimm genug, Minna, sagt Frau Pagel scharf. Sehr häßlich von Ihnen! – Nun, ich lege mich jetzt ein wenig hin, ich habe gräßliche Kopfschmerzen. Bringen Sie mir doch ein Glas Wasser für die Tabletten.

Und sie ging in das Zimmer ihres Mannes. Eine Weile stand sie still vor dem Bilde der jungen Frau, sie dachte vielleicht: ›So wie ich den Edmund kann sie ihn nie lieben. Sie können auch wieder auseinandergehen, sehr, sehr rasch.‹

Sie hört Minna drüben beim Abräumen hin und her gehen, sie überlegt ärgerlich: ›Sie ist ein alter Querkopf. Sie sollte mir doch ein Glas Wasser bringen, nein, sie muß erst abräumen. Ich denke gar nicht daran, ihr den Willen zu tun! Übermorgen hat sie ihren freien Nachmittag, da kann sie machen, was sie will. Geht sie heute, merkt das junge Ding gleich, sie kommt nur darum. Man weiß doch, wie berechnend diese jungen Mädchen sind! Wolf ist ein Schaf, das werde ich ihm auch sagen. Er denkt, sie nimmt ihn seinetwegen. Aber sie hat die Wohnung und die Bilder gesehen, über die Preise weiß sie natürlich längst Bescheid. Auch daß dies Bild eigentlich ihm gehört. Komisch, daß er es noch nie von mir verlangt hat, aber so ist Wolf eben, nie berechnend ...‹

Sie hört die Wasserleitung in der Küche laufen. Minna will ihr wohl recht kaltes Wasser bringen. Rasch geht sie zum Sofa und legt sich hin. Sie zieht eine Decke über sich.

Das Wasser hätten Sie mir auch schon vor fünf Minuten bringen können, Minna! Sie wissen doch, ich liege hier mit meinen gräßlichen Kopfschmerzen ...

Sie sieht Minna böse an. Aber Minna hat ihr altes, faltiges Holzgesicht, ihr ist nichts anzusehen, wenn sie nicht will.

Also dann gut, Minna! Und seien Sie recht leise in der Küche – ich will ein bißchen schlafen. Wenn Sie alles abgewaschen haben, können Sie gehen. Nehmen Sie heute Ihren freien Nachmittag. Das Fensterputzen lassen Sie für morgen, Sie können sich doch nicht zusammennehmen und leise sein! Sie rumpeln dann immer so mit den Eimern, dann wird doch nichts aus meinem Schlaf. Also adieu, Minna.

Adieu, gnädige Frau, sagt Minna und geht. Sie macht die Tür sehr sachte, gar nicht rumpelig zu.

›Dämliches Frauenzimmer!‹ denkt Frau Pagel. ›Wie sie mich bloß wieder angestarrt hat – wie 'ne alte Eule! Ich will aufpassen, wenn sie geht. Dann laufe ich rasch zu Betty. Vielleicht war sie auf dem Standesamt oder hat jemanden geschickt – keiner ist neugieriger als Betty. Und ich bin noch vor Minna wieder zurück – alles braucht sie nun auch nicht zu wissen!‹

Frau Pagel sieht noch einmal das Bild an der Wand an. Die Frau im Fenster sieht von ihr fort. Von hier aus gesehen, schieben sich die dunklen Schatten hinter dem Frauenkopf auseinander, lichten sich auf – es sieht beinahe so aus, als nähere ein Männerkopf seinen Mund dem Frauennacken. Frau Pagel hat es schon oft gesehen, diesmal ärgert es sie.

›Diese verdammte Sinnlichkeit!‹ denkt sie. ›alles verdirbt sie den jungen Leuten. Ewig fallen sie darauf rein.‹

Dann überlegt sie, daß nun, wo die beiden geheiratet haben, das Bild der jungen Frau eigentlich zur Hälfte mit gehört. So ist das doch?

›Aber sie soll mir nur kommen! Sie soll nur kommen! Einen Backs hat sie schon weg – aber ich habe noch mehr ...‹

Fast lächelnd dreht sie sich um und ist in einer Minute eingeschlafen.


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