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Vierter Abschnitt

Liebes- und Ehegeschichte des Helden

Am 1. Januar des Jahres 1919 wurde Johannes Gäntschow Administrator auf der Begüterung Schadeleben der Frau von Brest, geborenen Freiin von Laeven. Das Rittergut, über fünftausend preußische Morgen groß, fast durchgängig leichter Boden, lag in Hinterpommern im Kreise Regenwalde und gehörte allein der gnädigen Frau. Es gab auch einen Regierungsrat von Brest, der bis zur Revolution in irgendeinem Berliner Ministerium irgendwie tätig gewesen war, sich nun aber hatte pensionieren lassen.

Die Familie, nur Mann und Frau, – eine alte, unverheiratete Tante des Mannes, ein Fräulein von Brest, war kaum dazu zu rechnen – war erst im November 1918 von Berlin nach Schadeleben übergesiedelt (wo man in früheren Jahren immer nur ein paar Sommerwochen zugebracht hatte). Frau von Brest hatte rasch entdeckt, daß ihre Beamten bisher gar zu gut auf ihre Kosten gekommen waren, und da hatte die etwa vierzigjährige, sehr energische Frau nicht viel Federlesens gemacht. Sie hatte noch lauter gebrüllt als der apoplektische Herr Administrator Schönekerl, fünfmal mit dem Gendarmen und zweimal mit dem Amtsrichter telephoniert, aber: in diesen irrsinnigen Zeiten gab es ja weder Recht noch Gesetz.

So wurde sie ihr eigenes Gesetz, holte sich mitten in der Nacht zwanzig treu anhängliche Deputanten zusammen, holte Administrator, Inspektor, Verwalter und Rechnungsführer aus den Betten, ließ ihr Hab und Gut beim Licht von Stallaternen – das elektrische Licht funktionierte mal wieder nicht, die Elektrizitätsarbeiter dienten dem neuen Staat erst mal durch Streiken –, also beim Licht von Stallaternen wurde alles auf Leiterwagen verladen und achtzehn Kilometer weit zur Bahnstation Piepenburg gefahren.

Die Gnädige begleitete, auf ihrem Fuchs reitend, eine Virginia nach der andern qualmend, selbst den Transport, hauchte den verängsteten Bahnhofsvorsteher in Piepenburg, der schon so nicht wußte, wo ihm der Kopf stand, derart an, daß wirklich drei leere Güterwagen aufgetrieben wurden, verlud darin die Möbel von Administrator, Inspektor, Verwalter (der Rechnungsführer hatte, trotzdem er todsicher der Hauptdieb war, nur ein Handköfferchen) und sah schließlich befriedigt auflachend der Abfahrt der vier verfrorenen, übernächtigen, aber wilde Drohungen ausstoßenden Helden nach.

Dann setzte sie sich an die Spitze ihrer Kolonne, machte um vier Uhr nachmittags noch bei ihrem Vetter von Berg, auf Panker, einen kurzen Aufenthalt, ließ den Leuten dort zu essen und zu trinken geben, während sie ein Telephongespräch (das Telephon funktionierte seltsamerweise) mit ihrem Vetter, von Gundt, im Kreise Lauenburg, führte.

Jawohl, der wußte einen für sie passenden Beamten, etwas jung zwar noch, aber drei Jahre im Felde gewesen, Oberleutnant geworden, schrecklicher Dickkopf, eigensinnig wie ein Maultier, aber glänzender Landwirt und unbestechlich.

Sie entschied, daß ihr selbständige Leute tausendmal lieber seien als »Kreaturen« – worin sie sich gewaltig täuschte – und engagierte diesen fünfundzwanzigjährigen Jüngling per Telephon.

Dann trank sie rasch ihren Tee, sagte ohne jede Rücksicht auf die Dienerschaft ihrem Vetter sehr laut und unverblümt ihre Ansicht über diese Zeiten und ritt an der Spitze ihrer Mannschaft wieder nach Schadeleben ab, wo sie tief in der Nacht, vierundzwanzig Stunden nach ihrem Aufbruch, wieder eintraf. Im Schloß schlief schon alles, auch ihr Mann. Scheinbar hatte sich kein Mensch um sie geängstigt. Sie ging in die Speisekammer, holte sich ein kräftiges Essen – hauptsächlich aus den Ergebnissen von Schwarzschlachtungen – zusammen, stieg in den Keller, kehrte mit einer Flasche Bordeaux zurück und hielt eine ausgiebige Mahlzeit. Zum Schluß trank sie die beiden letzten Gläser Rotwein zu einer Virginia langsam aus, wobei sie gedankenvoll in das Kaminfeuer starrte.

Sie war eher klein als groß, mit sehr starker Brust und überhaupt pummelig, kindlichen, kleinen, sehr weißen Händen, aber einem Löwenkopf mit ausgeprägter Kinnpartie und durchdringenden, klaren Augen unter einer schweren, festen Stirn.

Als die Zigarre am Ende war, stieß sie sie energisch in den Aschenbecher, stieg in das Schlafzimmer hinaus und weckte den verschlafenen, verflossenen Regierungsrat. Sie schalt ihn herzhaft aus, weil er nicht die geringste Ahnung von dem hatte, was in ihrer Abwesenheit in der Wirtschaft passiert war, erzählte ihm dann alles, was sie getan hatte, und war vollkommen mit seinem gebrummten »Ja schön« oder »Gut, Malwida« zufrieden.

Am 1. Januar 1919 traf dann also der neue Administrator Gäntschow, von Piepenburg kommend, mit einem Schlitten auf Schadeleben ein. Dieser Hüne mit dem etwas strengen, bartlosen Gesicht, aus dem zwei sehr große blaue Augen scharf blickten, hörte mit undurchdringlicher Miene ihre eindringlichen, eifrigen Wirtschaftserläuterungen an, schwieg fast ganz beim Rundgang durch die Ställe und bei der Rundfahrt über die Felder und überraschte sie nur zweimal. Einmal, als er ziemlich unmißverständlich zu sich sagte: Alles Quatsch, dann, als er sich an ihren Mann wandte: Und was ist nun Ihre Ansicht, Herr Regierungsrat? Sie hatte ihren Mann selten so verlegen gesehen.

An die Besichtigung schloß sich eine endlose Besprechung über die Frühjahrsbestellung und die notwendigen Gelddispositionen, bei der Frau von Brest sehr eindringlich ihre Pläne entwickelte, dann sagte sie ihrem neuen Beamten, was in den nächsten Tagen in der Wirtschaft zu tun wäre. Seine Antwort auf all das war nur kurz: Da ich zu Ostern heiraten werde, bitte ich, das Beamtenhaus instand zu setzen.

Am nächsten Morgen mußte sie feststellen, daß nicht Mist gefahren, sondern gedroschen wurde, und als sie ein wenig erregt fragte, warum denn eigentlich, sagte Herr Gäntschow nur: Weil es richtig ist, und ging ab aufs Feld. Sie sah ihm sehr erstaunt nach.

Zu diesem Erstaunen gab er ihr in der nächsten Zeit noch häufiger Gelegenheit. Zu ihrer nachdenklichen Verwunderung stellte sie aber fest, daß ihre Leute, die natürlich auch durch diese verwirrten Zeiten ein wenig durcheinander geraten waren, diesem Mann blindlings gehorchten, während sie, wenn von ihr etwas angeordnet wurde, sich zögernd hinter dem Kopf kratzten und vorsichtig meinten: Da müssen wir wohl erst Herrn Gäntschow fragen.

Die gemeinsame Tischmahlzeit, die sie dem ehemaligen Oberleutnant ausnahmsweise bis zu seiner Verheiratung stillschweigend konzediert hatte, bestellte er ebenso stillschweigend bei der Mamsell wieder ab und aß auf seinem Zimmer. Zu den dann von ihr angesetzten Vormittagsappellen erschien er nur höchst unregelmäßig und begründete das damit, daß die Wirtschaft vorginge. Schritt für Schritt, ganz unmerklich, drängte er sie aus jeder Position. Die Leute kamen auch mit ihren persönlichen Anliegen nicht mehr zu ihr, sondern zu ihm, ihn riefen die Getreide- und Düngemittelhändler aus Plathe, Regenwalde, Dramburg und Stettin an, jeder auf den Hof kommende Vertreter wurde selbstverständlich zu ihm gebracht. Die Wirtschaft entglitt ihr völlig, und den Rest gab er ihr, als im Frühjahr das große Eierlegen und Brüten begann und sie ihn wegen Auslauf, Aufzucht, Futtermitteln sprechen wollte. Er sagte nur: Mit Hühnervolk habe ich nichts zu tun. Das sind Frauensachen. Wenn Sie nicht damit zurecht kommen, engagieren Sie sich am besten eine Geflügelmamsell.

Sie hätte, herrschsüchtig und selbstüberzeugt, wie sie war, das alles nicht ertragen, wenn sie nicht dabei auch frei von jeder kleinlichen Empfindlichkeit und mit Blick für Tüchtigkeit begabt gewesen wäre. Ihr Mann konnte wohl sagen: Schaff doch den groben Kerl ab. Man hat ja ewig Angst, was jetzt nun wieder rauskommt. Es laufen doch wahrhaftig genug höfliche Beamte auf der Welt herum. Nein, an der Art Höflichkeit lag ihr nun wieder gar nichts.

Sie hatte gerade zur Frühjahrsbestellung einen Streik auf Schadeleben gehabt und gesehen, wie dieser Gäntschow damit fertig geworden war. Die andern Güter der Gegend wurden längst bestreikt. Es war eine Anweisung des Landarbeiterverbandes, gerade jetzt in der entscheidenden Zeit einen großen Lohnstreik zu machen. Jeder Acker, der nicht eiligst bestellt wurde, würde für ein Jahr aus jedem Ertrag herausfallen. Das würde eine empfindliche Lehre für die Herren Landwirte sein und sie für die Zukunft gefügiger machen.

Weiß der Himmel, wie es kam, daß die andern Güter schon seit zwei Wochen bestreikt wurden, ehe sich die Landarbeiter von Schadeleben entschlossen, ihrem Administrator die Mitteilung zu machen, daß sie nun auch man lieber streiken wollten. Vielleicht, daß sie ähnlich wie Herr Regierungsrat von Brest einige Befürchtungen hatten, wie Herr Gäntschow auf solche Mitteilung reagieren würde. Hatten sie solche Befürchtungen, so hatten sie nicht unrecht mit ihnen. Denn Gäntschow stieß einen Schrei aus: Wollt ihr das?! Wollt ihr das wirklich?! Gott sei Lob und Dank. Kann ich endlich mal ausschlafen! Und immer lauter brüllend: Alles runter vom Hof! Alles runter vom Hof!

Er hob den Krückstock. Die ersten prallten zurück, kamen ins Flüchten, andere wurden mitgerissen – man sah einen riesigen Mann mit erhobenem Knüppel hinter einer Schar von 150 Menschen, Mädchen, Burschen, Weibern, Männern herjagen, wobei er gelle Schreie ausstieß: Alles runter vom Hof! Hinter den letzten verschloß er die Hoftore.

Die Leute kakelten noch zwei Stunden erregt auf dem Dorfplatz. Sie lauschten auf den Hof, achtzig Kühe brüllten nach Füttern und Melken, das Dorf hallte wider, die Leute waren unruhig und mißgestimmt. Sie hatten alles ordentlich mit ihrem Beamten besprechen wollen, die Notstandsarbeiten, Vieh füttern und melken, denn auch bei einem Streik mußte Ordnung sein, deuchte sie. Das Vieh mußte seine Ordnung haben, wenn auch der Betrieb und die Felder keine Ordnung zu haben brauchten, und die kohldampfschiebenden Städter mit Weibern und Kindern schon gar nicht.

Aber der ist ja mall. Wenn er seinen Wutkopp hat, läßt er die ganze Wirtschaft zugrunde gehen.

Dem ist alles egal.

Du hättest auch nicht so rausfahren sollen mit deinem Streik, Labuse. Das muß so einen doch wild machen.

Ob er wirklich schläft?

Natürlich schläft der und feste.

Sie standen und horchten auf das Brüllen der Kühe. Die Luft schien zu zittern davon. Sie spürten richtig die tobende Unruhe, das klirrende Rasseln der Ketten.

Es waren die Herrschaftskühe, die so brüllten. An sich brauchte das den Leuten das Herz nicht schwer zu machen, im Gegenteil, eigentlich lag es im Sinne des Streiks.

Aber der Haken bei der Sache war nur der, daß auch die Leutekühe, das Deputantenvieh, auf dem Hof stand. In einem besondern Stall, ja, soviel war richtig. Aber wenn er nun heute abend ihren Weibern den Zutritt zum Hof verwehrte?

Dann holen wir den Gendarmen, schrie ein Hitzkopf.

Die Leute schwiegen mißbilligend.

Bis der kommt, haben unsere Kühe alle Euterentzündung, sagte schließlich ein Alter langsam.

Ein paar Weiber fingen an zu plärren. Eine große, stattliche Frau schimpfte: Verfluchtes Mannsvolk, als ob der Groschen Lohn mehr uns was ausmacht. Ihr versauft ihn ja doch bloß. Aber wenn sich mein Johann nicht morgen bei Herrn Gäntschow zur Arbeit meldet, soll er wissen, was geschlagener Mors tut.

Es wurde gelacht, aber bloß kümmerlich. Als sie sich schließlich, ohne etwas beschlossen zu haben, trennten, strichen viele an dem großen, jetzt verschlossenen Hoftor vorüber. Sie spähten auf den Hof, aber nicht ein Mensch war zu sehen. Doch im großen Gutskuhstall standen alle Türen weit auf. Über den Hof drang das dröhnende Brüllen der unruhigen Tiere, daß es ein Grausen war.

Die gnädige Frau fand das auch. Sie hatte zu Herrn Gäntschow geschickt. Aber Herr Gäntschow kam erst spät. Er sollte Bericht erstatten. Doch er sagte nur grob: Sie wissen ja so schon alles, gnädige Frau.

Was stimmte, denn die Mädchen und die Mamsell hatten längst alles zwei-, dreimal erzählt.

Und was soll nun werden? fragte die Gnädige, soll das so weitergehen?

Sie deutete mit der Schulter auf den Hof. Das Gebrüll stand greifbar in der Luft. Gäntschow bewegte beruhigend die Achseln. Es wird sich einrenken, gnädige Frau, sagte er.

Das soll wohl etwa so weitergehen?! sagte sie empört. Und das arme Vieh! Mein Mann ist schon ganz hin.

Ich würde empfehlen, vielleicht irgendwohin für ein, zwei Tage auf Besuch zu fahren. Und auf eine ungeduldige Bewegung von ihr: Es wird nämlich noch viel, viel schlimmer. Ich habe den Kühen Salz gegeben.

Sie sah ihn an, als sei er irrsinnig geworden. Sie tat sogar einen Schritt von ihm zurück. Salz –? flüsterte sie, und nichts zu trinken –?

Salz! antwortete er. Und keinen Tropfen Wasser!

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Das arme, arme Vieh, flüsterte sie, und hastig: Aber man muß sofort – ...

Er sah sie fest an. Es ist eine Kraftprobe, gnädige Frau, sagte er. Sie wissen, wie weit wir zurück sind mit der Arbeit. Wir vertragen nicht eine Woche Streik.

Er brach wieder ab. Sein Mund schloß sich fest. Die Kühe brüllten zum Himmel, als seien ihnen alle Kälber, die sie je geboren, auf einmal fortgenommen.

Und Sie glauben –? flüsterte die Gnädige.

Ich hoffe, sagte er. Und rasch: Die Leute sind dumm und verhetzt. Mit Vernunft ist nichts auszurichten. Die Dummen muß man immer beim Gefühl kriegen, gnädige Frau.

Er brach wieder ab.

Ihre arme Frau, sagte Frau von Brest.

Ich heirate erst zu Ostern, meinte er kühl.

Eben. Ich kann das Mädchen nicht verstehen, sagte sie.

Er: Soll ich anspannen lassen, gnädige Frau? Ihr Kutscher streikt nicht.

Bitte, bitte, sagte sie hastig. Ja, wir wollen lieber weg. Sie rufen mich dann an, wenn ...

Bitte schön, sagte er und ging.

Er blieb allein auf dem großen Hof. Er hatte allen Leuten vom Herrschaftspersonal streng verboten, die Hofstatt zu betreten. Es kam auch niemand in die Versuchung. Um Mittag wurde es auch noch im Schweine- und Pferdestall unruhig. Dafür wurde es allerdings im Kuhstall stiller. Das Gebrüll hatte sich in ein heiseres Stöhnen verwandelt, das noch viel schauerlicher klang.

Gäntschow hatte seinen Beobachtungsposten hinter einem Fenster der Meierei, wo er nicht gesehen werden konnte, aber den ganzen Hofplatz übersah. Er sah immer wieder Vereinzelte, auch kleine Gruppen, am Hoftor stehen und starren. Hier stand er, er war unendlich einsam, es war wie im Felde, wenn man allein auf sich stand und vieles hing von einem ab. Auch diesmal hing vieles von ihm ab. Nicht etwa seine Zukunft. Ob er hier siegte oder fiel. Nicht das Vieh. Selbst das verdurstende Vieh war bedeutungslos. Nein, was hier geschah, hatte eine viel tiefere Bedeutung.

Es war 1919, sie bildeten Bündchen und Parteilein, sie schmollten in den Ecken, ließen sich pensionieren und vertrugen kein Kuhgebrüll, sie ließen Proteste vom Stapel. Er hatte Sterbende mit Bauchschüssen achtundzwanzig Stunden lang schreien hören, er konnte auch Kühe brüllen lassen, darum ging es ihm nicht, aber er wollte eine Insel schaffen, ein Zeichen. Sie hatten schon zwei Wochen länger bei ihm gewartet, ehe sie ihm den Streik ansagten. Sie sollten morgen wieder arbeiten! Morgen? Heute noch! Die Gnädige dachte, es ging ihm um die Wirtschaft. Was ging ihn Rittergut Schadeleben an. Nein, was ging ihn die Familie von Brest an! Aber die Äcker blieben immer. Das Land war unzerstörbar. Vielleicht dachte die Gnädige auch, es ginge ihm um seine persönliche Geltung. Jawohl, richtig, meine Gnädigste, um die geht es ihm auch. Geltung will er haben, unbedingte Geltung. Aber nicht um seinetwillen, nicht aus Eitelkeit, sondern weil er die richtige Sache vertritt! Wie heißt die Sache, seine Sache –? Die Meieristin im selben Raum ist dabei, Käse zu machen. Sie schicken hier aus Hinterpommern Sahne nach Berlin und machen aus der blauen Milch einen billigen Magerkäse, Backsteinkäse heißt er. Er muß erst in ein mit Salzwasser getränktes Tuch gepackt werden, um genußfähig zu werden. Man braucht nicht sehr aufzupassen, um diesen Käse zu machen. Die Meieristin hat vollkommen Zeit, den Mann dort am Fenster zu beobachten. Sie ist ein schönes, stilles, schwarzes Mädchen aus Ostpreußen, sie wird Jagusch genannt, oder Jaguscha. Sie sagt alle Stunden kein Wort zu dem Mann. Sie sieht ihn nur an.

Es ist nicht unmöglich, daß der Mann ganz instinktiv diesen Beobachtungsposten gewählt hat, um sie in seiner Nähe zu haben. Wenn man auch kein Wort miteinander spricht, solch schönes, stilles Mädchen in der Nähe tut immer gut. (Er ist ja erst fünfundzwanzig Jahre!)

Gegen halb drei kommt die Mamsell höchstpersönlich herüber, ob Herr Gäntschow denn nicht essen wolle? Vielleicht hat sie sich auf einen kleinen Klöhnschnack über die schrecklichen Ereignisse Hoffnung gemacht. Aber was sie erlebt, ist ein Vulkanausbruch: Feuer und Donner. Sie läuft mit eingezogenen Schultern wie in einem schweren Gewitter über den verbotenen Hof zurück. Die Tränen stürzen ihr übers Gesicht. So hat sie noch nie jemand angeschrien!

Um halb fünf nimmt Gäntschow die Schlüssel und geht langsam über den Hof. Am Tor stehen erst zwei, drei Weiber mit ihren Melkeimern. Sie sehen ihn mit großen, verängstigten Augen an. Er schließt das Tor auf, sagt langsam und deutlich guten Abend, hängt sorgfältig den rechten Torflügel fest, dann den linken, sieht noch einmal nach den drei Weibern und geht langsam aus dem Tor, vom Dorf fort, den Feldern zu.

Der Hof ist ohne Aufsicht.

Die drei Frauen sind bis an die Tür vom Leutekuhstall gekommen. Sie sehen rasch hinein, ihr Vieh ist etwas unruhig, aber in Ordnung. Nun spähen sie nach dem großen, herrschaftlichen Kuhstall hinüber, dessen Tore immer noch weit offen stehen. Das Stöhnen, das von dort herüberklingt, ist schauerlich. Manchmal brüllt eine Kuh heiser röchelnd auf, als läge sie im Sterben.

Er ist fortgegangen, sagt die eine Frau leise.

Ja, ich hab's gesehen, sagt die andere.

Eine vierte und fünfte kommen dazu.

Er ist weggegangen, sagt die erste wieder.

Ja, ich sah ihn über den Roggenschlag gehen, sagt die fünfte.

Sie starren weiter zum Stall hin.

Wollt ihr nicht melken? fragt eine.

Ich geh' rüber, sagt die Große, Stämmige, die am Morgen ihren Johann verhauen wollte, mit plötzlichem Entschluß. Totschlagen kann er mich nun doch nicht.

Und sie läuft rüber, als sei der Feind hinter ihr, mit klappernden Holzschuhen und Eimern.

Recht hat sie, sagt eine andere, man kann das Vieh doch nicht verrecken lassen, weil die Männer düsig sind.

Und sie laufen alle hinüber zum Kuhstall.

Hier müssen Männer her, ruft die Stämmige den andern entgegen, das Vieh ist rein wild. Schlägt einem die Wassereimer hin und mit den Hörnern auf mich los. Trina, lauf.

Als Gäntschow um halb sieben auf den Hof kommt, brennt in allen Ställen Licht. Die Weiber singen sogar beim Melken. Ein tiefer, erlösender Atemzug dringt in seine Brust. Aber er verrät sich nicht. Als ein Knecht, der pfeifend aus dem Pferdestall kommt, vor der großen, dunklen Gestalt zusammenschrickt und sich still fortschleichen will, ruft er ihn an: Schick den Großspänner her, Karl.

Jawohl, Herr Administrator, sagt Karl, und der Großspänner kommt.

Wisselmann, sagt Gäntschow, die Kühe kriegen heute eine Extratracht vom Pferdeheu, von dem Luzerneheu, verstehen Sie?

Jawohl, Herr Administrator.

Halt! Und dann schicken Sie mir noch den Labuse her.

Labuse ist der Obmann vom Landarbeiterverband. Er kommt langsam und zögernd.

'n Abend, Labuse, sagt Gäntschow.

'n Abend, sagt Labuse und steht im Dunkeln.

Habt ihr die Kühe brüllen hören, Labuse? fragt Gäntschow nach einer langen Weile.

Jau, jau, Herr Gäntschow, sagt Labuse tief atmend. Ich wohne ja dicht am Hof, es war eine grausame Sache.

Ich habe noch etwas anderes brüllen hören, Labuse, sagt der Administrator im Dunkeln plötzlich sanft. Was ihr nicht gehört habt. Ich habe die Kinder in der Stadt nach Brot und Milch brüllen hören. – Labuse, sagt er sanft, die Stadtkinder haben seit drei Jahren gehungert.

Jau, jau, sagt Labuse, und es ist wieder still. Es ist sehr lange still zwischen den beiden.

Haben Sie den Kühen Salz gegeben, Herr Inspektor? fragt dann Labuse bedächtig. Es sah so aus in den Trögen.

Ja, Salz.

Es ist wieder lange still. Dann macht Gäntschow eine Bewegung des Gehens.

Ich habe mir das überlegt, Herre, sagt Labuse langsam, es mag kommen mit dem Verband, wie es will: wir streiken nicht mehr.

Schön, schön, sagt Gäntschow leichthin, guten Abend, Labuse.

Guten Abend, Herr Administrator, sagt Labuse und geht zögernd gegen das Dorf, wo im Gasthof der Verbandssekretär auf ihn wartet.

In dem Brief, den Gäntschow an diesem Abend noch seiner Braut schreibt, steht seltsamerweise nichts darin von allen diesen Dingen. Es wird darin von Eichenmöbeln gesprochen, die er so und so gebeizt haben will. Und außerdem: kein Krimskrams, nichts von Verzierungen und Schnitzereien, die Hauptsache: fest. Der Brief schließt mit den Worten: Noch einmal rate ich Dir, gründlich zu überlegen, was Du tun willst. Eine Ehe mit mir kann nichts Angenehmes sein. Ich bin kein Mann, den ein Mädchen wie Du heiraten kann, ohne die unangenehmsten Erfahrungen zu machen. Alles spricht dagegen. Ich könnte Dir all Deine Enttäuschungen voraussagen. Es ist gar nicht abzusehen, was alles Schlechtes daraus werden kann; es ist überhaupt nicht einzusehen, wieso Gutes aus einer Ehe zwischen uns kommen kann.

Während er dies, nur halb bei der Sache und sehr müde, schreibt, denkt er nicht etwa an den Ausruf »arme Frau«, den Frau von Brest am Morgen getan hat. Er stellt sich auch kaum das Mädchen deutlich vor, dem er dies schreibt. Er faßt nur noch einmal zusammen, was er ihr viele Male gesagt und geschrieben hat, aus einem Gefühl der Verantwortung heraus, und doch auch mit einem deutlichen Gefühl für das Unabänderliche, das in ihrer Liebe zu ihm liegt.

Sie hat die ganze, grenzenlose Liebe der Schwachen, die ein Idol gefunden haben, einen Helden, den sie blindlings anbeten und verehren können. Alles ist gut, was er tut, ja selbst wenn er ihr wehtut, ist das noch tausendmal besser, als wenn er nichts von ihr wissen möchte. Er kann sagen und schreiben, was er will. Sie glaubt doch nichts von alldem. Ihrer Liebe ist etwas von überlegener Spitzbüberei beigemengt: Was Du Dir nur alles einbildest. Du weißt gar nichts von uns Frauen. Laß uns nur erst einmal zusammen sein, und Du wirst sehen –!

Was sie sehen wird, weiß er ziemlich genau. Aber vielleicht ist es eben doch so, daß auch das Enttäuschendste, was sie mit ihm erleben wird, ihr lieber sein wird als ein Leben ohne ihn. Sie antwortet ihm auch auf diesen Brief, daß die Möbel ganz, wie er es wünscht, gemacht werden sollen. Und sie fährt fort: Da Du selbst so oft gesagt hast, daß Du nicht weißt, was alles aus Dir noch werden kann, so gibt es ja auch immerhin die Möglichkeit, daß Du ein recht guter Ehemann wirst. Vor allem wirst Du der herrlichste Vater von der Welt werden ...

Er lächelt, wie er dies liest. Siehe da, manchmal blitzt ein Funke in ihr auf. Ihre Liebe macht sie scharfsichtig, sie besitzt nicht Verstand – den besitzen Frauen nie, davon ist er fest überzeugt –, aber sie besitzt eine gewisse besondere Art Frauenlist, die sie auf tausend vertrackten, unübersichtlichen Umwegen manchmal doch zu richtigen Ergebnissen führt.

Nun also, laß es laufen. Es wäre schon immerhin ganz schön, wenn man ein paar Kinder hätte und eine fröhliche Frau dazu. Dies einsame Herumsitzen in ungemütlichen Junggesellenbuden taugt auch zu nichts, macht unnötig scharf und reizbar. Wenn sie es also denn durchaus will ...

Johannes Gäntschow hatte Elise Schütt schon im Jahre 1913 als Eleve in Klein-Kirschbaum kennengelernt. Der Herbst 1913 brachte endlose, trübe, graue Regentage. Ununterbrochen pladderte es wochenlang vom Himmel. Die dichtesten Dächer wurden undicht. Aus dem Schulhaus im Dorf kam ein Bote nach dem andern zu Ökonomierat Behr. Das Schuldach müsse gemacht werden, es regne durch. Es gieße wie mit Kannen. Die Kinder kämen nicht aus dem nassen Zeug. Die Schule schwimme fort. Man könne die Töpfe leer auf das Feuer setzen, in fünf Minuten seien sie voll und das Feuer aus. Die Lehrerin kämpfe mit all ihren Schülern den Tod des Ertrinkens. Endlich – wenn das Dach jetzt nicht gemacht würde, würde auf dem letzten Bogen trockenen Papiers ein Bericht an den Schulrat geschrieben und alle Kinder nach Haus geschickt.

Soviel war richtig: die Domäne hatte die Schule in Ordnung zu halten. Und so sagte denn schließlich Ökonomierat Behr, ein alter, filziger Rauschebart mit Gicht, zu Gäntschow: Also sehen Sie sich mal an, wie das da aussieht. Übrigens ist die Lehrerin verdammt hübsch. Untersuchen Sie nicht zu gründlich auf Nässe.

Und er lachte sein dröhnendes, schmieriges Lachen, daß Gäntschow wieder mal in der Versuchung war, gegen seinen Lehrherrn und Brotgeber tätlich zu werden.

Er wurde es aber wieder einmal nicht – zu seinem Ärger –, aber er war darum vielleicht um so kühler zur Lehrerin.

Das ist alles nicht so schlimm, sagte er und sah sich ungerührt den Aufmarsch von Töpfen, Eimern, Schüsseln an, in die es regelmäßig tropfte, sprühte, strullte.

Das ist nicht schlimm? rief das kleine Fräulein empört aus, und worin soll ich mich waschen, worin soll ich kochen? Mit was soll ich aufwischen –? Alles besetzt. Da, sehen Sie das!

Und sie stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf. Über dem Kopfende des Betts hing von der Decke herunter ein Schirm, über das Fußende lag eine weiße und blaue Wachstuchdecke: Und die habe ich mir auch nur ausgeliehen! Im Schrank wachsen Pilze und Schimmel! Bezahlen Sie das?! rief sie flammend.

Ich kaufe weder Pilze noch Schimmel, sagte er und sah sie wohlwollend an.

Dann brachen beide in Gelächter aus.

Also, ich schicke, sobald es geht, den Dachdecker. Jetzt bei dem nassen Wetter ist doch nichts zu machen.

Ach nein, sagte sie gedehnt und sah ihn spöttisch an, und wann wird das?

Sobald trockenes Wetter ist, sagte er hartnäckig.

Ja, wann meine ich?

Nach den Wetterberichten müßte es längst trocken sein.

Ja, das ist schwierig, sagte sie plötzlich sehr eifrig. Ich versuche ja, den Jungen auch etwas von der Meteorologie beizubringen. Sie sollen doch einmal Landwirte werden – und für den Landwirt ist das Wetter doch sehr wichtig, nicht wahr?

Stimmt, sagt er und betrachtete sie lächelnd.

Und warum ist es eigentlich nie richtig mit den Wetterberichten? Da soll man den Aberglauben ausrotten, die Jungen haben es von ihren Eltern her alle mit dem Mond, abnehmender Mond, zunehmender Mond. Aber in meinem Buch steht, das mit dem Mond ist ganz unwissenschaftlich. Reiner Aberglaube. Und doch stimmt es mit dem Mond – oft.

Ja, ja, sagte er nachdenklich. Er war zwanzig Jahre alt und konnte etwas Schönem gegenüber noch nachdenklich werden. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als er, aber schlank, zierlich, behende. Ihr Gesicht mit der schmalrückigen Nase und den großen, braunen, leuchtenden Augen hatte die schönsten, zartesten Farben, die er je bei einem Mädchen gesehen hatte. Unter seinem prüfenden Blick, der sie so unpersönlich ansah, als sei sie ein Bild, wurde sie langsam rot. Diese Röte kam unter ihrer zarten Haut wie eine leichte Wolke, breitete sich aus und schwand sachte wieder. Es ist meine erste Stelle als Lehrerin, sagte sie entschuldigend, als wollte sie ihre Klage über die Wetterkunde begründen.

Es ist meine erste Stellung als Landwirt, sagte er und lachte.

Ist Ihnen manchmal auch so schrecklich einsam? fragte sie. Ich könnte manchmal heulen vor Einsamkeit und Heimweh.

Heimweh? fragte er, nein, keine Spur.

Sicher sind Sie schon öfter von Haus fort gewesen.

Jaja, antwortete er, und plötzlich: Hatten Sie es gut zu Haus?

Dies Geradezu in der Frage erschreckte sie, daß sie zusammenfuhr. Ich ... fing sie an, brach ab und sah ihn hilflos an.

Genau wie ich mir gedacht habe, sagte er befriedigt. Aber das sage ich Ihnen, wenn Ihnen einer von den Kerls hier im Dorf dumm kommt, dann sagen Sie es mir, und ich schlage dem Flachkopf alle Knochen entzwei.

Vorläufig kommt mir nur der Regen dumm, sagte sie, schon wieder lächelnd.

Wird erledigt, stellte er fest, sobald wie möglich. Guten Tag.

Und überraschend war er fort.

Es schien ihr, als sei es tief in der Nacht, als sie merkte, daß jemand fluchend an ihrem Fenster herumfuhrwerkte. Jedenfalls hatte sie schon eine ganze Weile geschlafen. Sie erschrak zu Tode. Aber sie nahm all ihren Mut zusammen und rief: Ist da wer?

Keine Antwort. Aber tolleres Fuhrwerken, tolleres Schimpfen.

Sie dachte, irgendein Betrunkener habe sich in seinem Weg geirrt, schlüpfte leise aus dem Bett, zog im Dunkeln ihren Mantel über und verkroch sich bei der Stubentür.

Eine Stimme, die sie zu kennen meinte, schrie wütend: Machen Sie doch mal auf! Machen Sie doch mal Licht! Hören Sie doch endlich!

Zwar machte sie kein Licht, aber sie ging an das andere Fenster, öffnete es eine Spalte und fragte: Was machen Sie denn hier, Herr Gäntschow? Sehen Sie gleich mal, daß Sie nach Haus kommen!

Da sind Sie?! Was haben Sie hier für gottverdammten Stacheldraht im Garten! Die ganzen Beine habe ich mir zerrissen und verwickelt!

Aber wer geht denn auch in solcher Regennacht in fremde Gärten! Was wollen Sie denn eigentlich?

Ich wollte Ihnen nur erzählen, daß morgen früh um sieben schon die Dachdecker kommen, damit Sie dann nicht erschrecken.

Und darum erschrecken Sie mich in der Nacht? – Wenn Sie wenigstens nicht so gräßlich fluchen wollten. Haben Sie sich denn schon wieder gerissen?

Natürlich. Verdammter Dreck! Und ich habe mir gestern nachmittag bei Tageslicht den Garten noch so genau angesehen!

Ach, sagte sie gedehnt, das ist ja lieblich. Da wußten Sie also gestern nachmittag schon, daß Sie mich heute nacht besuchen wollten? Herr Gäntschow, Herr Gäntschow!

Es ist ja gar nicht Nacht, sagte er empört, es ist ja erst halb zehn. Richtig, sagte sie, und darum gehe ich wieder ins Bett. Gute Nacht, Herr Gäntschow. Kommen Sie gut aus dem Stacheldraht und nach Haus.

Halt, brüllte er, halt, Fräulein.

Was ist denn noch? fragte sie ungnädig, mir wird kalt.

Sagen Sie mir wenigstens Ihren Namen. Ich mag die Leute nicht danach fragen.

Schütt, sagte sie, Schütt. Gute Nacht, Herr Gäntschow.

Ach Scheiß Schütt, sagte er wütend, Ihren Vornamen will ich wissen.

Nochmals gute Nacht und guten Heimweg, sagte sie und klappte das Fenster zu, daß die Scheiben klirrten.

Er spektakelte draußen noch eine Weile, und sie lag in ihrem Bett, die Knie hochgezogen, und schüttelte sich vor Lachen. Was für ein großer Junge! Was für ein großer, dummer Junge. Sie mußten ungefähr gleichaltrig sein, aber wie überlegen kam sie sich vor. Noch keinem Menschen außer ihren Schulkindern hatte sie sich je so überlegen gefühlt. Dummheiten, hitzig, mit dem Kopf durch die Wand, uranständig, taprig wie ein Dreimonatshund, sie begriff ihn auf den ersten Schlag. Sie lag in ihrem Bett und lachte, daß ihr die Tränen die Backen herunterliefen. Gottlob, daß in ihrem kleinen, stillen Dasein in Klein-Kirschbaum nun auch so etwas auftauchte, etwas Junges, mit dem und über das man lachen konnte. Die Bauern sahen sie alle von weitem komisch an und wurden wer weiß wie verlegen, wenn sie zu ihnen sprach. Und die Bauernfrauen wurden alle spitz und kühl, wenn sie die Lehrerin nur sahen. Als wollte die ihnen allen den Mann wegnehmen. Sie saß so schrecklich allein in ihrem kleinen, roten Schulhaus, sicher war es schön, daß sie von Haus und der Mutter und der überlegenen Linda fort war, und daß kein Mensch ewig zu ihr sagte: Tu dies und tu das, und sie »Dummchen« nannte (Dummchen war gewissermaßen ihr Rufname zu Haus) – aber bisher hatte sie von ihrer Freiheit noch nicht viel gehabt.

Sicher wäre Mutter nicht mit ihr einverstanden gewesen, schon nicht mit dem Gespräch am Nachmittag und erst recht nicht mit dem aufgemachten Fenster in der Nacht – aber das war ja das Gute, daß Mutter es jetzt unter keinen Umständen rauskriegen konnte. Und – ätschebätsche! – Linda auch nicht. Linda auch nicht, trotz des scharfen Klemmerblicks über den vorgebauten Busen weg, Linda die hochnäsige Oberlehrerin, die die Schwester Volksschullehrerin tief verachtete: Dorfkinder unterrichten? Nein, danke, meine Liebe, nichts für mich. Schon von dem Geruch würde mir übel! Fräulein von Marzahn sagt auch: es ist aussichtslos. Wahre Bildung lernen solche Kinder nie!

Ach nein, Linda hätte auch bestimmt das Fenster nicht aufgemacht, hätte vielleicht sogar um Hilfe geschrien – und er war doch nur ein Junge!

Der Papa aber, der liebe, gute Papa, der schon ein Jahr nach ihrer Geburt gestorben war, der hätte sicher alles Verständnis für sie gehabt und hätte im Gegenteil gesagt: Das schadet alles nichts, Eli. Das wird dir nur gut tun als kleine Abwechslung. Daß der Papa so geurteilt hätte, dessen war sie sicher, denn Mutter hatte ihr nicht umsonst hundertmal gepredigt, sie sei genau so wenig strebsam und genau so lebensuntüchtig wie ihr Vater, und nie zielbewußt und immer zerfahren. Aus dem Bild auf der Bodenkammer hatte sie gut gesehen, daß sie die Augen und das Haar und die Nase auch vom Papa hatte. Aber das Beste war doch, daß der Papa genau so wie sie »bloß« Volksschullehrer gewesen war und mit gar keinem Trieb zu »was Höherem« wie die Mama, die es immerhin durch Pflege von Erbverwandten zur dreifachen Hausbesitzerin gebracht hatte. Linda war ja auch Oberlehrerin an einem Lyzeum geworden, Linda war auch anders. Von ihr stand ja sogar manchmal ein Aufsatz in der Sonntagsbeilage der Grünen Tagespost.

Elise lag schön warm und mollig in ihrem Bett. In unregelmäßigen Abständen tropfte es einschläfernd und gemütlich auf den Schirm über ihrem Kopf, den sie auf ihren Arm gelegt hatte, und ihretwegen hätte es jetzt ruhig noch vierzehn Tage weiter durchregnen können. Dann würde dieser junge Gäntschow wenigstens noch öfter kommen müssen.

Vielleicht hatte er sich das auch überlegt, denn so früh sie auch am nächsten Morgen aufgestanden war und alles fertiggemacht hatte, kein Dachdecker ließ sich blicken, weder um sieben noch um acht. Da aber kamen ihre neunundzwanzig Kinder, und sie hatte an anderes zu denken als an Dachdeckerei und nächtliche Besuche, und so war sie wirklich ganz redlich überrascht, als nach einem Klopfen um zehn herum auf ihr mechanisches Herein schon wieder der Herr Gäntschow eintrat.

Guten Morgen, Fräulein Elise Schütt. Gut ausgeschlafen? Ich wollte nur ...

Trotz all seiner bodenlosen Frechheit verstummte er unter dem neugierigen und tadelnden Feuer von sechzig Blicken.

Zwei Augen, zwei große strahlende, braune Augen, und es waren die tadelndsten von allen, sagten fremd und kühl zu ihm: Hier ist Schule, Herr Gäntschow, ich gebe hier Unterricht.

Natürlich, sagte er, das verstehe ich schon. Das ist ja Ihr Beruf. – Er grinste sie an.

Also bitte, sagte sie, sah zur Tür und lächelte nicht die Spur.

De Dachdecker kummen um dreien, Frollein! brüllte er plötzlich los im tiefstem Baß und war wieder aus der Tür.

Und sie hatte eine Viertelstunde zu tun, bis sie die ganz aus dem Häuschen geratenen Kinder wieder zur Räson gebracht hatte. Immer von neuem quietschte eine Stimme los: De Dachdecker kummen um dreien!

Sie hatte die leider nur zu sehr begründete Befürchtung, daß sämtliche Kinder heute mittag bestimmt nicht vergessen würden, diese Geschichte im Dorf herumzuerzählen, und daß sie die Last davon würde tragen müssen.

Aber natürlich, als er anderthalb Stunden hinter seinen Dachdeckern her um halb fünf ankam, auf dem Dachboden herumkroch und anordnete, daß die Dachlatten auch erneuert werden müßten, und daß sie immer nur ein kleines Stück abdecken sollten: Sonst schwimmt uns unser Fräulein noch ganz weg, und das wollt ihr doch wohl nicht – also natürlich, als er da vom Boden runterkam, hatte sie doch eine Tasse Kaffee für ihn fertiggemacht, und es klang etwas schwächlich, als sie mahnend zu ihm sagte: So etwas wie heute früh in der Schule dürfen Sie aber nie wieder machen, Herr Gäntschow!

Nein? fragte er bedauernd. Hat es Ihnen keinen Spaß gemacht? Mir hat es einen Riesenspaß gemacht! Ich habe noch den ganzen Heimweg gelacht, weil ich immerzu an die Gesichter von den Kindern denken mußte.

Das ist es ja eben, Herr Gäntschow, sagte sie ernst, die Kinder sollen doch in der Schule was Ordentliches lernen. Dafür bin ich doch verantwortlich, sie sollen doch keinen Spaß haben.

Ach nein, natürlich nicht, sagte er ernst. Ich tue es auch nie wieder. Aber nach der Schule ein bißchen ...?

Ich habe sehr viel zu tun, sagte sie ausweichend.

Ich auch, ich auch, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. Donnerwetter, ich muß ja zum Futterausgeben! Da, Fräulein, trinken Sie meinen Kaffee, er ist viel zu heiß.

Und sie stand da, die Tasse in der Hand, sah ihn mit seinen unendlich langen Beinen stolperig aus dem Schulzimmer verschwinden und wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte über dieses Untier.

Dieses Gefühl hatte sie noch öfter in den nächsten Wochen und Monaten, so oft er kam – und er kam für die losen Mäuler im Dorf sehr oft –, nie wußte sie, wie er es eigentlich mit ihr meinte, ob er wirklich so war, wie er mit ihr tat, oder ob er sie nur veralberte, ob er sich bloß langweilte oder ob er es ernst mit ihr meinte – nichts.

Manchmal sah sie ihn zufällig am Schulhaus vorübergehen, dann fiel ihr immer auf, was für ein ernstes Gesicht er eigentlich hatte. Aber dieses Gesicht hatte er bei ihr nie, und manchmal ärgerte sie das oder betrübte sie auch, je nach der Stimmung, in der sie grade war. – Können Sie denn nie ernst sein, Herr Gäntschow? fragte sie ihn tadelnd.

Ernst?! Jawohl, bitte, gerne. Ist es so recht? Und er saß ihr gegenüber, das ganze Gesicht in ein wahres Gewirr gallenbitterer Falten gezogen – er sah plötzlich aus, als sei er eine uralte, böse Bauernfrau.

Nein, sagte sie, Sie müssen wirklich ernst sein, Herr Gäntschow. Ich habe etwas sehr Ernstes mit Ihnen zu besprechen. Diese Besuche hier im Schulhaus bei mir gehen nicht mehr. Die Leute zerreißen sich die Mäuler.

Sagen Sie, erklärte er rasch, wer sich zerreißt. Ich werde ihm das Maul schon wieder nähen. Muß ich nicht die Dachdeckerarbeiten kontrollieren?

Herr Gäntschow, sagte sie vorwurfsvoll, die Dachdeckerarbeiten sind seit drei Wochen erledigt.

Richtig, sagte er bewundernd. Sie beobachten so scharf, Fräulein Schütt! Aber muß ich nicht kontrollieren, ob das neue Dach nun auch dicht hält?

Es geht wirklich nicht, Herr Gäntschow, sagte sie ehrlich betrübt. Der Schulvorstand macht auch schon Andeutungen.

Wer ist der Schulvorstand? rief er. Ich werde ihm Schule beibringen! Darf ich nicht was für meine Bildung tun? Wer ist der Schulvorstand?

Sie werden doch keine Dummheiten machen, Herr Gäntschow, sagte sie warnend. Sie sollen weniger kommen, das ist es, worum ich Sie bitte.

Nun, ich werde schon herausbekommen, wer der Schulvorstand ist! Wollen Sie eigentlich, daß ich weniger komme?

Ja, sagte sie mutig.

Keine Ahnung, sagt er. Ihnen macht es genau so viel Spaß wie mir. Holla, der Gemeindevorsteher muß wissen, wer der Schulvorstand ist. Guten Abend, Fräulein Schütt.

Er ging schon. Sie rief ihm, böser Ahnungen voll, nach: Herr Gäntschow, Herr Gäntschow! Dann lief sie ihm nach. Kaum merkte er es, fing auch er an zu laufen. Grade schnell genug, um immer zehn Schritte voraus zu bleiben, wobei er sie durch Gebärden ermunterte, doch schneller zu laufen. Und da es noch hell war, und da sie dem Dorf doch unmöglich den Anblick einer Lehrerin bieten konnte, die hellerlichten Tages einem Mann nachlief, so mußte sie in ihr Schulhaus zurückgehen, ziemlich wütend.

Am Abend kam der Bauer Giermann zu ihr. Bauer Giermann, ein struppiger, schmuddliger Kerl, war einer der kleinsten Besitzer im Dorf. Weil er aber viel und aufgeregt reden konnte, war er sowohl in den Schul- wie in den Gemeindevorstand gekommen. Er war solch ein Mann, vor dem sich Elise Schütt direkt graulte, denn er machte ihr bei jeder Gelegenheit Vorwürfe, daß sie den Kindern unnötig Zeug in den Kopf setzte, »Grappen und Flöh'«, wie er sagte. Sie sollte keine Geschichten erzählen, sie sollte nicht zeichnen lassen –: Katekismus und Kopfrechnen, Frollein, das ist es! Schon das Schreiben ist von Überfluß, ein Bauer soll gar nicht schreiben, das macht nur Kummer – bauern, bauern soll ein Bauer.

Er hatte tief herabhängende, buschige Brauen, die ihm bis vor die Augen hingen. Unter denen hervor blinzelte er sie mit seinen kleinen, geröteten Augen stur an, stur wie ein Bulle, der stoßen will.

Das tat er auch jetzt, als er sich ohne Anklopfen in ihr Zimmer schob: 'n Abend, Frollein. Na, auch schön fleißig?

Sie hatte über den Diktatheften gesessen und war über die Fehler (und über Gäntschow) verzweifelt gewesen. Nun stand sie auf, gab ihrem Besucher die Hand und sagte: Guten Abend, Herr Giermann. Bitte, nehmen Sie doch Platz.

Er setzte sich umständlich. Er schielte argwöhnisch nach den Heften. Was machen Sie denn da, Fräulein?

Ich korrigiere Diktate, sagte sie gehorsam, nun selber zum Schulkind geworden. Ach Gott, Herr Giermann, manchmal ist es wirklich zum Verzweifeln, siebenunddreißig Fehler, zweiundvierzig Fehler auf zwei Seiten!

Was sind denn das so für Fehler? fragte er teilnahmsvoll.

Wir haben die gleichklingenden Wörter durchgenommen, erklärte sie. Also zum Beispiel Mohr und Moor. Verstehen Sie, den schwarzen Mohr mit oh und das Moor mit oo, aus dem der Torf kommt.

Aus jedem Moor kommt aber kein Torf, sagte Bauer Giermann bedächtig. Das müssen Sie den Kindern richtig erklären. In manchem Moor ist der Torf zu schlecht, dann lohnt es nicht, da stänkert er nur und verbrennt nicht.

Er sah sie ernst verweisend unter seinen buschigen Brauen hervor an.

Aber ich habe ja etwas ganz anderes gemeint, Herr Giermann, fing sie verwirrt und hilflos an.

Und einen Ring tragen Sie auch nicht, fuhr Giermann in seiner Strafpredigt fort. Da kann man es nicht wissen, ob es nicht doch bloß Unsittlichkeit ist, wenn der junge Mann von der Domäne auch noch so groß tut.

Er sah sie wieder an. Und unter diesem Blick wurde sie langsam und unwiderstehlich rot und röter.

Sehen Sie, nun werden Sie auch noch rot, Fräulein, vielleicht ist es überhaupt gar nicht wahr mit der Verlobung?

Doch, brachte sie mühsam schluckend hervor.

Denn wenn es nicht wahr ist, dann sagen Sie es lieber gleich. Dann entschuldige ich mich doch nicht.

Doch, es ist wahr.

Aber Ringe sind nicht da, sagte der Bauer Giermann unzufrieden.

Einmal muß man sich doch zuerst verloben, sagte sie ängstlich, und wenn man sich dann verlobt hat, besorgt man sich die Ringe, nicht wahr?

Nein, nein, sagte er kopfschüttelnd. Das mag bei Ihnen so sein, das sind so Städtersitten. Ich hab' schon mit zehn Jahren gewußt, daß ich Ruschs Erna kriege, und Großvaddings und Großmuddings Ring haben immer für uns bereitgelegen.

Er saß brummig da. Dann stand er auf. Na ja, Fräulein, dann habe ich mich also entschuldigt, und Ihr Bräutigam wird ja nun wohl zufrieden sein. Aber das sage ich Ihnen, wenn er nochmal so ohne weiteres in meine Stube rennt und schnauzt mich an, und meinem Köter hat er auch einen mit dem Stock übergezogen ... Nicht, daß es dem Hunde grade zuwider wäre, dem ist es nur gut. Aber wenn einer brüllt, denkt er, er ist gemeint, und bellt dagegen, und der junge Mann von der Domäne hat ganz schauerlich geschrien. Ich habe nicht ein Wort sagen dürfen ...

Sie stand da mit gesenkten Lidern, und er betrachtete sie mißbilligend.

Na, denn also guten Abend, Fräulein, seien Sie man noch recht fleißig. – Und mit dem Moor, das vergessen Sie nicht, den Kindern zu sagen. Ich frage morgen meinen Martin danach.

Worauf er wirklich ging. Sie blieb zurück, wieder einmal zwischen Weinen und Lachen. Aber zum wirklichen Weinen und Verzweifeln wurde es erst am Nachmittag des nächsten Tages, als der junge Johannes Gäntschow strahlend in ihr Zimmer trat und stolz fragte: Nun, habe ich das nicht fein gemacht, Fräulein Schütt? Bin ich nicht großartig?!

Einfach großartig, sagte sie bewundernd.

War der edle Giermann nicht ganz klein und häßlich? Habe ich diese schäbige Wanze nicht großartig geknickt?

Einfach großartig, sagte sie hingerissen.

Und die Idee mit unserer Verlobung, begeisterte er sich immer mehr. Nun soll noch einer über uns reden! Jetzt kann ich Sie besuchen, soviel ich will.

So? fragte sie. Wenn ich nun aber nicht will?

Er sah sie an, sie sah ihn an. Eine Ahnung überkam ihn. Hallo, sagte er, schon etwas unruhig, stimmt was nicht?

Wie ist es mit unserer Verlobung? fragte sie, und ihre Stimme zitterte und in ihren Augen brannte ein verräterischer Glanz. Sind wir verlobt, oder sind wir nicht verlobt?!

Ach so, sagte er, das meinen Sie. Natürlich sind wir verlobt. Sie werden mich doch nicht vor dem ganzen Dorf blamieren.

Sie haben mich vor dem ganzen Dorf blamiert, rief sie flammend. Und dann brach sie prompt in Tränen aus. O Gott, was mache ich nur, wenn der Schulrat davon erfährt! Und meine Mutter!

Er sah auf die Weinende hinunter und sein Gefühl veränderte sich. In dem feinfädigen, dunkelblonden Haar lag ein Schimmer des Lichts, wie Silber. Die hochgezogenen, schluchzenden Schultern in der grünen Bluse sahen so arm und hilfsbedürftig aus.

Fräulein Schütt, sagte er bittend.

Und noch einmal stärker: Fräulein Schütt. Ich bin der größte Esel von der Welt.

Nichts, keine Wirkung. Gesenkter Kopf, hochgezogene Schultern, Schluchzen.

Fräulein Schütt, beschwor er sie. Weinen Sie doch nicht so! Ich kann das beim besten Willen nicht anhören. Ich muß rausgehen, wenn ich das höre.

Keine besondere Wirkung, vielleicht, daß das Schluchzen eine Spur leiser wurde.

Fräulein Schütt, sagte er, bitte, hören Sie einen Augenblick auf und zu. Ich bitte Sie um Ihre Hand.

Er stand da und wartete, horchte. Nichts. Keine Antwort. O Gott, was soll ich denn noch tun?! Ich kann dies verdammte Heulen nicht mehr ertragen. Hören Sie, bat er, ich radle sofort in die Stadt und lass' uns ins Blatt setzen.

Unterstehen Sie sich, rief sie flammend und sprang auf. Ich denke gar nicht daran, ich bin nicht mit Ihnen verlobt.

Er starrte sie an wie vom Donner gerührt.

Oh, du Trottel, rief sie plötzlich und weinte nun wirklich klare, selige Tränen aus ihren schönen Augen: Willst du nicht wenigstens du sagen und mir einen Kuß geben, wenn du dich mit mir verlobst?!

Das ist wirklich überraschend, sagte er verblüfft und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie meinen es ernstlich?

Natürlich meine ich es ernstlich, du dummer Junge, rief sie. Und du meinst es auch ernstlich, du weißt es bloß nicht.

Wirklich? fragte er erstaunt. Man hat doch wahr und wahrhaftig von nichts eine Ahnung. Also, denn komm her und gib mir einen Kuß.

Er breitete übertrieben seine Arme aus, in die sie mit einem spitzbübischen, vergnügten Lächeln, die Lippen erwartungsvoll vorgewölbt, sank. Sie reichte ihm nur bis zum Schlips. Schade, sprach eine trauervolle Stimme in ihm.

Dann gab er ihr ihren Kuß.

O Gott, sagte er unwillkürlich. Das ist aber schön! Bitte noch einmal, Elise.

So hatte es angefangen, und so ging es weiter. Hineingetapert in die entscheidendsten Dinge wie ein Paar junger Hunde, vor Vergnügen wedelnd, ohne Ernst, ja nicht einmal mit Wahrhaftigkeit. Denn was war mit ihm los? Fühlte er sich verlobt, mit dem Endziel einer Heirat, einer richtigen, bürgerlichen Ehe mit Kindern und Auskommen – oder fühlte er sich nicht verlobt? Sie kam nie dahinter. In sechs Jahren Verlobungszeit kam sie nicht dahinter. Gewiß, goldene Ringe wurden beschafft. Dafür sorgte schließlich die Gemeinde Klein-Kirschbaum. Sicher, die elterliche Verwandtschaft wurde benachrichtigt. Das brachte der Herr Schulrat fertig, der so etwas wie ihr väterlicher Freund wurde. Aber was sollte das heißen bei einem jungen Menschen, der dasitzen und an eben diesem Goldring drehen und angesichts seiner Verlobten murmeln konnte: Du glaubst es nicht. Du glaubst es nicht. Dies Leben ist eine unübersichtliche Geschichte.

Daß viele Menschen schlappe und verantwortungslose Gesellen waren, das mochte sein. Aber daß Frau dreifache Hausbesitzer Schütt eine energische, zielbewußte Dame war, »tüchtiger Besen« nannte sowas Gäntschow, soviel war sicher. Und was erreichte diese erfolgsbewußte Dame bei ihrem Schwiegersohn?

Liebe Frau Schwiegermamama, konnte er sprechen, daß ich mit Ihrer Tochter verlobt bin, das sagen Sie, und ich will es Ihnen sogar glauben, trotzdem es für mich viel zu lange her ist, als daß ich mich daran erinnern könnte. Aber daß Sie diese Verlobung nun zum Anlaß benutzen, mit mir über Laken und Bettbezüge zu sprechen, das ist einfach eine Gemeinheit, und darum gehe ich jetzt auch.

Sprach's und ging. Und Elise hatte wieder einmal die Vorwürfe und die Tränen.

Sie weinte überhaupt viel in dieser Verlobungszeit, trotzdem sie auch namenlos glücklich war und ihn unendlich liebte. Aber sie hätte ihn sich doch eine ganze Kleinigkeit klarer und übersichtlicher, ein bißchen mehr wie andere Männer gewünscht – trotzdem sie ihn dann nicht annähernd so geliebt hätte. Wenn sie ihm Vorwürfe machte, wie er zu ihrer Mutter war, und was es denn eigentlich für eine Bewandtnis mit seiner Erklärung habe, er könne sich nicht mehr recht an seine »Braut« erinnern und mit »Brautens« sei es wohl überhaupt schwierig, dann konnte er ganz erstaunt antworten: Habe ich das gesagt? Dann wird es wohl stimmen!

Und wenn sie ihn dann bat und fragte, ob er sie denn gar nicht lieb habe, ob er gar nicht einmal ernsthaft mit ihr reden könne?, dann sagte er wohl: Aber ich bin ernsthaft! Ich denke wirklich, daß es mit Brautens verdammt schwierig ist. Du glaubst gar nicht, was ich für ein ernsthafter Mensch bin! Und lachte.

Nein, nichts darauf zu bauen, keine Treueschwüre, keine Liebesversicherung, kein vertrauliches Geschwätz über ihr künftiges Heim. Manchmal, wenn sie nachts noch wach in ihrem Bett lag, und er schlief an ihrer Seite, und sie sah das ernste, lange Gesicht mit den Sommersprossen über dem Nasenrücken, der schön gewölbten, nicht übermäßig hohen Stirn und dem schmallippigen, festen, großen Mund, dann überkam sie eine solche namenlose, unaussprechliche Angst vor ihm und dem Leben mit ihm –! Dann steckte sie den Kopf in ihr Kissen, bloß um dies schöne, harte Gesicht nicht mehr zu sehen, und weinte. Dann dachte sie sich kleine Geschichten aus, daß sie ein kleiner Vogel wäre, den ein böser Adler in den Krallen hielt, fest, ach so fest! Oder sie war eine geraubte Prinzessin, und er war der böse Zauberer, der sie bewachte, aber, wenn ihre Tränen gelinder flossen, war er auch der Prinz, der sie erlöste.

Einmal, nach einer solchen, ganz schlimmen Nacht sagte sie am nächsten Tage zu ihm, daß sie ihre Verlobung doch wohl besser lösten.

Ihre Verlobung lösen? Jawohl, einverstanden. Von diesem Augenblick an gelöst!

Und, fuhr sie fort, da sie sich nun nicht mehr sehen dürften, möchte er sich doch um eine andere Stellung weit von hier fort bemühen. Sie als Lehrerin könne sich ja nicht so schnell versetzen lassen.

Sich nicht mehr sehen? Aber wieso denn?! Was sich sehen und Verlobung miteinander zu tun hätten? Und außerdem müsse er noch mindestens bis zum Schluß der Mistfahrerei auf dem Hof bleiben. Ob sie es nicht bis dahin aufschieben könnten?

Nichts zu machen. Keine vernünftige Erklärung, kein ernstes Wort war aus ihm herauszubekommen. Drei oder viermal in all den Jahren schickte sie ihm den Ring zurück, mit einem tränenreichen, verzweifelten Brief. Aber das tat überhaupt keine Wirkung, er kam wie vordem, als hätte sie nichts geschrieben, als sei nichts geschehen. Schließlich mußte sie ihn dann selbst an die Rückgabe des Ringes erinnern, und er sagte erstaunt: Richtig! Der liegt noch irgendwie bei mir rum. Wieso eigentlich?

Alles Wichtigtuerei und Spielerei von dem verrückten Kerl, konnte ihre Mutter sagen.

Aber da kannte sie ihn nun besser. Er war nie wichtigtuerisch und spielerisch. Sie hatte ihn einmal bei einem großen Hofbrand gesehen, bei dem an die zwanzig Pferde verbrannten – und die Pferde schrien! Es ist nicht leicht für einen Menschen, Pferde schreien zu hören, es ist ein ziemlich schreckliches Erlebnis. Er hatte nicht gestanden und geschaudert, er war immer wieder in den brennenden Stall, in den Hagel aus Asche und Glut gestürzt und hatte versucht, die Pferde von den Ketten loszumachen. Schließlich hatte man ihn mit Gewalt festhalten müssen, und er hatte gegen die Männer, die ihn hielten, angetobt wie ein Wilder.

Sie hatte ihn in einem seiner schrecklichen Jähzornsanfälle gesehen, wie er einen Ackerknecht, der irgendeine Roheit gegen Tiere begangen hatte, halbtot schlug. Sie kannte auch seine Kälte und Mitleidslosigkeit gegen alles, was dumm war. Dummheit ist das einzig todeswürdige Verbrechen auf dieser Welt, sagte er. Aus hundert Erlebnissen wußte sie, wie sehr er in jeder Lage, in jedem Wort ganz er selbst war. Wie er nie log, nie versteckte.

Nun gut, sie verstand ihn nicht, warum er so zu ihr war, wie er war. Aber er mußte wohl so sein. Und sie, die vollkommen bereit war, ihre ganze Persönlichkeit und alles, was sie gewesen war und werden würde, restlos für ihn aufzugeben, sie fand sein Tun in vielen Stunden richtig.

Schmerzen und Trauer – aber was sind Schmerzen und Trauer gegen solche Liebe! Ich könnte alles für ihn tun, dachte sie bei sich, und sie glaubte es sogar. Sie hatte sich ihm hingegeben, sie hatte mit all ihrer Gewordenheit und all ihren Anschauungen gebrochen, und es hatte ihr nicht ein bißchen, nicht soviel Reue bereitet! Kein Mann konnte glücklicher machen, kein Mann zärtlichere Hände haben als er. Seine große, breite Hand war so zart, sie fühlte jede Stelle, die ihr wohltat, sie rann so voll von Glück, es floß über sie hinaus.

Jetzt möchte ich sterben, dachte sie manchmal. Und manchmal sagte sie es auch. Dann konnte er mit einem Ruck aufstehen,

Überspönig, sagte er und ging fort. Er konnte aber auch sitzen bleiben und ganz nachdenklich sagen: So leicht stirbt es sich nicht – dann möchten wir es wohl gleich alle tun. Oder aber er sagte vielleicht auch in einem seltsam verqueren Singsang: Nicht durch Wasser, nicht durch Feuer, durch die Kugeln nicht und nicht durch den Strick, nicht durch Krankheit oder Pestilenz wirst du aus dieser Welt kommen ... Er hielt an und betrachtete sie, tausend Fältchen um die Augen. Uralt, sagte er dann und streichelte ihr Haar zärtlich. Uralt wirst du werden. Ich werde tot sein, meine Kinder werden tot sein, meine Enkel werden alt werden, und immer, immer wirst du noch leben, Elise.

O Gott, bitte, höre auf, rief sie aufspringend und zerbrach die Beschwörung.

Ein Querkopf, ein bißchen unnötig schwierig. Sie werden Ihr ganzes Leben Ihre liebe Not mit ihm haben, sagte der alte Schulrat. Wie wäre es, Herr Gäntschow, wenn Sie manchmal auch an dieses kleine Mädchen dächten? Die Stärkste ist sie nicht.

Ich denke ja immerzu an sie, sagte Gäntschow überrascht. Ich nehme die erdenklichsten Rücksichten. Und im übrigen, Herr Schulrat, setzte er beruhigend hinzu, ist sie eine Frau. Und Frauen wenigstens sind bestimmt aus Erde gemacht, und sowas ist unverwüstlich.

Wo ich alles für dich tun würde, Hans, sagte sie ein bißchen vorwurfsvoll.

Mit Ausnahme vom Türzumachen und noch ein paar Kleinigkeiten, antwortete er und grinste.

Was nun aber Johannes Gäntschow anbetraf, so war er in diese Verlobungsgeschichte mit all jener unbekümmerten Selbstsicherheit marschiert, die ihn in dieser ersten Zeit, da er nun wirklich Landwirt geworden war, erfüllte. Er konnte wohl über sie und sich den Kopf schütteln und verwundert fragen, wie das in aller Welt gut ausgehen könnte. Er konnte aber auch sagen: Warum eigentlich nicht? Ein Bauer, ein Landwirt muß eine Frau haben, schon daß er ordnungsgemäß bekocht und beflickt wird. Auch, damit er Kinder kriegt. Denn Kinder muß man haben. Aber so entscheidend groß war wohl der Unterschied zwischen den Frauen nicht. Was er an Bauernfrauen und Bauernmädchen auf Fiddichow kennengelernt hatte, war auch nicht gerade erschütternd, er ging neben Elise her, Elise erzählte von ihrer Schule, ihren Schulkindern, ihrem Daheim, ihrer Jugend – man konnte ihr ganz gut mal zuhören, man mußte nicht immerzu gähnen oder an etwas anderes denken.

Elise war schon etwas. Elise war ein großer Fortschritt gegen die Frauen von Fiddichow. Gewiß hatte es dort oben auch Christiane gegeben, aber Christiane gab es nicht mehr. Sicher war Christiane längst gestorben – und an unseren verstorbenen Jugendgefährtinnen ist alles schön.

Es war nicht zu leugnen, er war zu klug. Er dachte gering von den Frauen. Er kannte seine Mutter und ein halbes Dutzend anderer Frauen. Sie wirkten in der Küche, sie durften die Kühe melken, was eine mechanische Arbeit ist. Aber die Kühe füttern, das durften sie nicht. Denn daran ist etwas zu verderben. Es unterstand ihnen der Geflügelstall, Hühner, Puten, Gänse, Enten, die dümmsten Tiere von der Welt – aber auch da wieder gibt man den Frauen nicht so viel Korn, wie sie möchten. Sie würden die Tiere nur fett und legefaul füttern. Er hat es gehört und gelesen, und es stimmt, daß die Frauen weniger Gehirn haben als die Männer: man merkt es.

Da geht er neben Elise und hört ihr zu. Er qualmt dabei aus seiner Pfeife und kann sehr gut an diese Dinge denken. Er ist selbstherrlich und völlig von sich überzeugt, er hat einen Dickkopf, und brutal kann er auch sein. Seit entdeckt worden ist, daß er ein geborener Landwirt ist, mit einer tiefen, überkommenen Ahnung für den Boden und Gewächs und Getier, seitdem ist er noch sicherer. Er ist noch nie auf eine rechte Probe gestellt worden. Er hat noch nie Haare gelassen. Seine Kompromisse sind nicht der Rede wert – er hat nicht eine blasse Ahnung davon, wie tief man fallen kann.

Manchmal besucht ihn der kleine, geschickte Kammergerichtsrat Lenz mit seinem weißnasigen, stummen Sohn. Der Mann hat Gefallen an ihm gefunden, vielleicht fühlt er sich ihm auch verbunden. Er kommt manchmal auf ein, zwei Wochen und geht mit ihm übers Feld oder segelt auf dem Kirschbaumer See.

Ich würde abraten, sagte der Herr, dringend würde ich abraten. Sie übernehmen eine viel zu große Verantwortung.

Ich übernehme überhaupt keine Verantwortung, sagt Gäntschow, ich erzähle ihr ja jeden Tag, was werden wird.

Aber sie glaubt Ihnen doch nicht! ruft der Kammergerichtsrat aus. Sie spürt Ihre Liebe, und alles andere hält sie für geistreichelndes Gerede.

Kann ich mehr tun, als offen sprechen? fragt Gäntschow. Man kann keinen Menschen zum Glauben zwingen.

Was Sie für eine Kette am Bein haben werden, sagt Herr Lenz nachdenklich. Sie sind wohl ziemlich der Letzte, der Ketten vertragen kann. Sie werden sich wund und kaputt machen.

Es gibt gar keine Kette, die mich so halten kann, sagt Gäntschow nachdenklich. Ich werde mich von jeder frei machen, ohne Reue und ohne Bedenken.

Aber denken Sie an die Kinder, ruft Herr Lenz.

Es ist ein Aberglaube, sagt Gäntschow, daß Kinder Väter brauchen. Kinder brauchen nur Mütter. Und so hat es denn die Natur ja auch eingerichtet.

Nichts zu machen. Es klang häßlich, und es war häßlich. Theoretisches Gerede, halb verdautes Geschwätz, Schopenhauer und überhebliche Tuerei – es wäre unerträglich gewesen ohne den Schimmer von Jugend, den zarten Flaum von Liebe. Ja, er liebte sie eben doch. Seine Augen waren aufgetan worden, und er hatte alle ihre Schönheit gesehen. Sein Herz war bezwungen, dieses junge, unverbrauchte Herz, das sich nie mit Liebeleien und Weibern verplempert hatte. Hinter dem grünen Zaun des Schulhauses von Klein-Kirschbaum war die Liebe zu Haus. Mit all ihren Entzückungen und Überraschungen. Es standen ja den ganzen Winter blühende Blumen im Fenster, es war ein Liebesnest, mit Sauberkeit, Unverbrauchtheit, Übermut, Lachen. Sie waren so unbekümmert und schamlos wie die Natur. Es war der Urtrieb alles Seins, der sie zusammenführte – was kümmerte sie das Gequatsch der Leute! Ein Pferdeknecht, der den jungen Gäntschow wecken sollte und keine Antwort aus seiner Stube bekam, nahm seine Peitsche, marschierte zum Schulhaus und klopfte dort mit der Peitsche gegen die Scheiben: Aufstehen, Herr Gäntschow! Jawoll, Zehdenick!

Und dann ein erschrockener Aufschrei Elises.

Aber sie lachten doch. Auch Elise lachte schließlich. Sie war nicht nur ein Bürgerpummelchen, sie konnte wachsen, wenn ein Pfahl ihr half. Unverbraucht und ohne Reue, ein Schimmer von Glück, Seligkeit, vorher und danach, Trunkenheit des Lebens ohne Rausch – es war doch schön!

Und es kam ja auch der Krieg dazwischen, lange Zeit sahen sie sich kaum. Und wenn sie sich sahen, war er aufgeschlossener, sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit war größer, sein Herz weicher und mitteilsamer.

Man muß sie beide so sehen, an irgendeinem Märzabend des Jahres 1918. Sie gehen noch ein Stück auf der Chaussee bei der Station. Der Kleinbahnzug läßt auf sich warten. Er ist übergroß und breitschultrig, sein Gesicht ist noch schärfer geworden, mit den klaren, durchdringenden Augen. Sie, fast klein und zierlich neben ihm, dicht eingehängt, ängstlich bemüht, den Schritt ihrer schlanken, schönen Beine seinem endlosen Schritt anzupassen. Sie sind zehn Tage fast ununterbrochen zusammen gewesen. Auch wenn sie unterrichtete, hat er im Nebenzimmer gesessen bei angelehnter Tür, daß er den Schimmer ihrer Gestalt sehen, den Klang ihrer raschen, eifrigen Stimme hören konnte. Sie haben in diesen zehn Tagen nur dem Glück und dem Beieinander gelebt. Sie haben nie von »dem da draußen« gesprochen.

Aber nun, da schon über dem von der Wintersaat smaragdgrünen Hügel die weiße Rauchfahne des nahenden Zuges weht, wendet er ihr plötzlich sein Gesicht zu, seine Augen sehen sie an, seine Lippen zittern etwas. Es ist zum Kotzen, flüstert er. Und dann senkt er den Kopf, als schämte er sich.

Sie, Elise Schütt, die ihn meistens so schwer versteht, versteht ihn diesmal sofort. Du kommst wieder, sagt sie, du kommst wieder. Ihre Stimme ist eine gläubige Kinderstimme.

Es ist nicht um das Wiederkommen, sagt er gramvoll, es ist alles da draußen ... Er sieht es. Und dann fährt er ab.

So etwas kittet und läßt viel verstehen. Ein Mann verdrängt es, ein Mann will solche Stunde vergessen, aber eine Frau bewegt sie in ihrem Herzen. Und nun schreibt er ihr ein Jahr später, da er zurückgekehrt ist, immer wieder einmal: Ich bin nicht der Mann für dich. Ich bin kein Mann, den man heiratet, tu's nicht. Aber sie weiß schon, wer er ist, wenigstens, was er für sie ist. Er ist ihre ganze Jugend und ihre ganze Zukunft. Was sie mit ihm erlebt hat, wird sie nie wieder in ihrem ganzen Leben, und dauerte es tausend Jahre, erleben können. Er ist ein Stück von ihr, sie kann es sich nicht aus dem Leib schneiden.

Ich weiß, was ich tue, schreibt sie ihm in ihrem leicht etwas zu überschwenglichen Stil, ich gehöre dir für ewig. Es kann gut ein bißchen schlimm kommen, das macht nichts. Ich halte es schon aus. Du darfst dich nie gebunden fühlen an mich, du sollst dich immer ganz frei fühlen.

Er lächelt, wie er diese Antwort liest. Es ist ein doppelbodiges Lächeln. Man könnte schon die Zukunft dahinter grinsen sehen. Dann setzt er sich hin und schreibt ihr einen neuen Brief, von seinen einsamen Stunden in der Meierei, und welch ein Trost die schöne, dunkle Meieristin Jagusch für ihn gewesen ist. Und während er davon schreibt, wird ihm erst recht klar, wie sehr dies stille Handwerken des schönen Mädchens ihm jene Stunden erleichtert hat.

Elise liest den Brief. Sie weint, dann schreibt sie ihre Antwort. Siehe, es ist jetzt vierzehn Tage vor Ostern, die Hochzeit ist nahe, und plötzlich ist sie klarsehend geworden. Es ist, als ob sie alles schon immer gewußt hätte. Sie paßten nicht zueinander, schreibt sie, sie sei auch zu töricht für ihn, was sie denn eigentlich aneinander bände? Wenn sie auch jetzt ihrer Liebe sicher sei, sie hätte ja gesehen, daß jede Liebe in der Ehe schwinde. Und seiner Liebe sei sie nun schon gar nicht sicher. Um es ganz genau zu sagen, sie habe einfach Angst vor dem, was mit ihr und aus ihr werden könne, und sie bäte ihren lieben, guten Hans, ihr nicht böse zu sein und sie freizugeben.

Dann sendet sie den Brief ab und wartet, viel weinend, auf Antwort. Sie hat ihr Schicksal entschieden, sie leidet sehr. Mit niemandem spricht sie von diesem Brief, die bereiten immer weiter die Hochzeit vor, die lächeln immer, wenn sie mit der glücklichen Braut sprechen. Der neue Lehrer (diesmal ein Lehrer) kommt an und wird von ihr ins Amt eingeführt. Sie wartet mit versagendem Herzen. Er hätte längst schreiben können, aber noch ist kein Brief gekommen. Doch schreibt er nie pünktlich. Und sie malt ihn sich aus, wie er da in seinem einsamen Schadeleben um einen Entschluß kämpft, wie auch er Mühe hat, seine Liebe zu ihr auszurotten.

Und dann kommt zwei Tage vor der Hochzeit sein Brief. So und so, habe deinen Brief erhalten. Die Möbel aus Stettin sind angekommen. Die Flachköpfe haben natürlich poliert, statt anpoliert. Hast du diesen Mist angerichtet? Habe versucht, ein Maultier aus dem Stall zu reiten. Sechs Mann hielten die Bestie, die wie rasend um sich schlug und biß, während ich aufstieg. Erst ging es über die Hofpumpe weg, dann in rasender Karriere – plautz! – gegen die Stallwand. Das Maultier und ich haben eine halbe Stunde besinnungslos dagelegen. Ich komme als ein geschundener Raubritter zur Hochzeit. Was übrigens deinen Vorschlag, nicht zu heiraten, angeht, so habe ich mich in sechs kummervollen Jahren allmählich an den Gedanken gewöhnt. Ich konnte in der Eile keine andere Braut mehr auftreiben und komme also, wie ausgemacht, am Sonnabend. Herzlichst Dein Hans.

Sie saß da über diesem Brief. Die ersten heimgekehrten Stare tschilpten. Sie hörte das. Dieser Bengel, dieser verrückte Bengel! Auf einem Maultier reiten! Über die Hofpumpe gegen die Scheunenwand. Es war die höchste Zeit, daß sich jemand mal ein bißchen um ihn kümmerte. Er richtete sich ja zugrunde.

Sie ging strahlend zur Hochzeit.

Er strahlte weniger. Auf seinen Handflächen war nur noch ein bißchen Haut und seine Nase steckte in einem Verband. Seine Stirn war blutig geschunden.

Sie sehen wirklich aus, lieber Schwiegersohn, sagte Frau verwitwete Lehrer Schütt lächelnd zu ihm, als hätten Sie noch schnell vor der Hochzeit einen Selbstmordversuch gemacht.

Jawohl, sagte er. Wissen Sie übrigens, daß ich in unser Gastzimmer ein Klo habe einbauen lassen?

Ein Klo, warum?

Damit wir eben ein Klo und kein Gastzimmer haben. Guten Morgen.

Jawohl. Elise war strahlend in ihrer Pracht, fast übermütig. Mit den schönsten, seligsten Glücksperlen in ihren Augen. Mit einem warmen, läutenden Ja durch die ganze Kirche. Er war brummig, grob, gereizt, wütend und menschenfresserisch. Sein Ja klang wie ein erschreckendes Hoho.

Es waren große Festivitäten vorgesehen. Die ganze Verwandtschaft der Braut war da, von seiner aber keiner. Denn er hatte seinen Leuten den Tag der Hochzeit gar nicht erst mitgeteilt. Alle Bauern aus Klein-Kirschbaum, Eltern der Schulkinder, waren geladen. Die Beamten der Domäne. Herr Domänenrat selbst, der sich für den feuchtfröhlichen Teil eine Rede einstudiert hatte, in der eine Parallele, zwischen dem lecken Dach und der Braut eine große Rolle spielte.

Wie zu einem Schlachtefest, murrte Gäntschow, diese Menschen sind das Roheste von der Welt, und ich bin die Sau, die hier abgekehlt wird.

Mitten in der Rede von Herrn Schulrat zerrte er die junge Frau hoch. Im Eiltempo hinter verschlossene Türen, gegen die von der Verwandtschaft vergeblich getrommelt wurde. Umkleiden und Abfahrt zur Bahn.

Erst im Abteil wurde er gelinder. Sie fuhren direkt nach Schadeleben. Keine Hochzeitsreise, nichts. Es war die Zeit der Frühjahrsbestellung, er war nicht zu entbehren.

In Piepenburg war kein Wagen an der Bahn. Sie wurden so früh nicht erwartet, er mußte telephonieren. Fröstlich saß Elise mit dem Gepäck vier Stunden in der zugigen Wartehalle, es regnete draußen. Er war mit einem Bauern fortgegangen, um sich dessen Wirtschaft anzusehen.

Als er zurückkam, weinte sie. Sie wollte zurück in ihr kleines Schulhaus. Plötzlich war ihr, als fahre sie mit einem finsteren Gefangenenwärter in die Verbannung. Selbst die Ortsnamen Klein-Kirschbaum und Schadeleben schienen ihr symbolische Bedeutung zu haben.

Er saß dann drei Stunden neben ihr im Wagen ohne ein Wort. Sie hatte all ihren Mut zusammengesucht und erzählte ihm etwas. Ganz trübselig sollte doch ihr Hochzeitstag nicht sein. Aber er antwortete auf alles nur mit einem unwilligen Grunzen.

Angekommen in dem kleinen Beamtenhaus, auf einem Hügel über dem Rittergut zwischen Birken, bekam er einen neuen Wutanfall: in seiner Abwesenheit war sein Zimmer mit einer Tapete beklebt worden, die ihm nicht gefiel. Er setzte sich hin und schrieb einen Brief an Frau von Brest: Die Tatsache, daß es noch immer in Deutschland Rosengirlandentapeten gäbe, berechtige Frau von Brest nicht, sie ausgerechnet in sein Zimmer zu kleben. Er verbitte sich solchen sentimentalen Unfug. Er stelle ihr die Tapete für ihr Schlafzimmer zur Verfügung und werde auf ihre Kosten sein Zimmer anders tapezieren lassen.

Kröten, Schlangen und Nattern, murmelte er, unterschrieb, ließ satteln und ritt ab, ohne eine Wort an seine Frau. Frau von Brest kam eine halbe Stunde später. Sie traf die Flitterwöchnerin inmitten unausgepackter Koffer, eine braune Truhe auf dem Schoß, »seine Briefe« aus verflossenen sechs Jahren lesend, verflossenes Glück in ihrem Herzen erneuernd. Die beiden Frauen weinten ein bißchen zusammen. Ja, meine liebe junge Frau, sagte Frau von Brest, so habe ich mir Ihren Eheanfang ungefähr gedacht. Ich rede gar nicht erst von dem unverschämten Brief, den er mir geschrieben hat. Er wird Ihnen noch ganz andere Dinge antun. Er ist genau das, was man einen Wüterich nennt, und er wird sein Lebtag ein Wüterich bleiben. Nicht, daß er ganz ohne Gefühl wäre – aber es macht ihm direkt ein Vergnügen, gegen alle Welt, sich eingeschlossen, zu wüten. Sie müssen eben sehen, wie Sie sich damit abfinden ... Sie sah die junge Frau prüfend an. Die junge Frau sah die gnädige Frau prüfend an. Ihr kam diese interessierte Charaktererläuterung ihres Gatten übertrieben vor.

Mein Mann und ich verstehen uns ausgezeichnet, sagte sie etwas abgekühlt.

Genau, was ich meinte, bestätigte Frau von Brest, Sie werden ihn schon zurecht kriegen. Darf ich Ihnen ein bißchen beim Einrichten helfen?

Sie packten beide gemeinsam aus. Sie waren beide gemeinsam der Ansicht, daß der alte Kleiderschrank für seine Sachen viel zu groß sei: sie hängten ihre Kleider daneben. Es sah direkt hübsch aus, neben den dunklen Anzügen die hellen Kleider. Später verabschiedete sich Frau von Brest, der Ton zwischen beiden war wärmer geworden. Kleider, wenn nicht gerade übermäßig viel und niederschmetternd schöne vorhanden sind, haben zwischen Frauen immer etwas Versöhnendes.

Später aß die junge Frau allein ein wenig trübsinnig zu Abend. Ein kleines Dienstmädchen mit frostroter, tropfender Nase, das zu schüchtern war, mit Ja oder Nein zu antworten, hatte es ihr zurechtgemacht. Es war nichts mehr zu tun. Der Abend war kühl und frostig. Sie ging ins Bett, die braune Lade neben sich, knipste die Nachttischlampe an und las Liebesbriefe, Brautbriefe.

Er war erst auf die Felder, dann in die Forst geritten. Mechanisch hatte er dies und das auf den Äckern gesehen: Daß auf Binnenschlag fünf unmöglich Luzerne gebracht werden konnte, weil er viel zu verqueckt war, und daß es auf Außenschlag zwei jetzt endlich trocken genug zum Pflügen war.

Er ritt weiter durch den Wald, er ließ das Pferd gehen, wie es wollte. Er war wütend auf sich, weil er von der Hochzeit ausgerissen war, weil er den ganzen Tag zornig und gereizt gewesen war und hundert Narrenstreiche gemacht hatte. Aber er war auch wütend auf sie, weil sie ihn zu dieser Hochzeit gebracht hatte. Was brauchte er Frauen? Sollte sie den ganzen Tag etwa um ihn herumsitzen, seine Mienen, seine Laune belauern und dann plötzlich losplaudern, als sei nichts? Es war zum Kotzen eingerichtet auf dieser Welt. Er war geradezu prädestiniert, ohne Frauen zu leben. Und nun saß da eine zu Haus und wartete auf ihn. Schon, daß sie bloß wartete!

Er sah um sich. Er merkte, daß er in der Nähe der Kartoffelmieten war, die am Waldrand lagen. Es würde gut sein, dort einmal um diese späte Abendstunde zum Rechten zu sehen. Es war in letzter Zeit viel geklaut worden. Er ritt leise, Schritt um Schritt, auf dem weichen Waldboden bis an den Rand und spähte hinaus.

Nein, heute nichts, sagte eine versoffene, kratzige Stimme neben ihm – es war der Waldwärter von Schadeleben, ein übles Subjekt.

'n Abend, Heidefraß, sagte Gäntschow. Auch auf dem Posten?

Ich dächte, Sie hätten heute geheiratet, sagte der Waldwärter Heidefraß. Aber Sie sind ihr wohl vorher ausgebimst?

Gäntschow sah prüfend in das gedunsene, rote Gesicht mit dem unförmigen Riechkolben und sagte mit Betonung: Ich habe geheiratet, Heidefraß.

Schön, schön, Herr Administrator, sagte der Waldwärter gleichmütig und richtete den Flintenriemen auf der Schulter, heute kommt hier keiner mehr.

Gäntschows schlechte Laune brach los. Warum stehen Sie also noch hier, Mann? schrie er, scheren Sie sich nach Haus.

Ich habe Sie mir nur betrachtet, sagte Heidefraß ungerührt, denn heute abend jedenfalls sind Sie doch ausgebimst.

Er ging langsam los, ohne sich umzusehen. Der stichelhaarige Jagdhund trottete, mit der Nase tief an seinem linken Fuß, hinterher.

Gäntschow wäre ihm am liebsten nachgaloppiert und hätte ihn über den Haufen geritten. So sehr erbitterte es ihn, daß dieser Saufbruder seine Gefühle erraten hatte. Aber er ritt langsam querfeldein nach dem Hof. Am See hielt er noch lange und sah über die graue Wasserfläche, über der Nebel zogen.

Er wäre gern mit sich allein gewesen in dieser Nacht, und in vielen Nächten noch. Aber in seinem Schlafzimmer lag eine Frau. Seine Frau. Sie hatte ein Recht, dazuliegen.

Als er eintrat, steckte sie hastig Briefe fort, die er kannte: er verstand alles auf einen Schlag. Sie rechnete ihm jetzt jedes Wort nach, das er ihr einmal geschrieben hatte. Er wäre gern ausgebrochen, aber er bezwang sich.

Als er seinen Reitanzug in den Kleiderschrank hängen wollte, sah er, daß kein einziger Bügel mehr frei war. Überall hingen Frauenkleider. Er sagte erbittert: Daß wir verheiratet sind, berechtigt dich noch lange nicht, deine Kleider in meinen Schrank zu hängen. Das sind zwei Sachen, die nichts miteinander zu tun haben.

Er umfaßte mit beiden Armen ihr ganzes Kleiderbündel, riß, zog, zerrte, Aufhänger platzten, Bändchen rissen – und er warf das ganze Bündel über die Chaiselongue: Da!

Sie war entsetzt aus dem Bett gesprungen. Sie starrte ihn fassungslos, ungläubig an: Hans! Hans!

Ich sehe, du willst weinen, sagte er kalt. Da ich schlafen möchte und morgen früh raus muß, weinst du besser drüben in der Stube.

Sie schlich langsam, in ihrem schönen rosa Brauthemd mit der Stickereispitze, Schritt um Schritt hinaus. Er verfolgte aufmerksam ihren Weg, den sie halbnackt ging, dann legte er sich ins Bett und schlief ein.

Es gehört zu den unfaßbarsten Dingen auf diesem unfaßbaren Stern, was Menschen einander zumuten können, und es geht weiter. Es geht sogar gut weiter. Gegen Morgen kam sie wieder herein, sie hatte die ganze Nacht im Wohnzimmer auf einem Korbsessel gesessen, sie war fast taub gefroren, denn sie hatte nicht gewagt, sich eine Decke zu holen, ihre Augen glänzten von ungeweinten Tränen, denn sie hatte nicht gewagt zu weinen, aus Furcht, ihr Schluchzen könnte ihn stören. Das Licht brannte noch, sie beugte sich über ihn, sie sah aufmerksam in dies entspannte, schlafende Gesicht. Ihr kleines, armes Hirn mühte sich zu verstehen, ihr Eigenwille lehnte sich noch einmal auf, aber das schwere, süße Herz sagte immerfort dasselbe: Aber ich liebe ihn doch! Wenn ich nur bei ihm sein kann! Was spielen die paar Kleider für eine Rolle – übrigens hat Frau von Brest schuld, ich hätte ihn erst fragen müssen.

Unter ihrem Blick hatte er langsam die Augen geöffnet, er sah sie voll, aus dem Traum kommend, an. Na, mein Lütten? fragte er.

Plötzlich veränderte sich sein Gesicht erschreckend. Sie begriff, er dachte an den gestrigen Abend. Nun schämte er sich, und darum wollte er wieder wütend werden ...

Sie sagte rasch: Na, Hans! gut geschlafen? Sie schmiegte sich an ihn. Gott, bist du schön warm! Ich bin so kalt, sei nicht böse, daß ich so kalt bin ...

Dann kam noch die Geschichte mit der offenen Tür. Aber auch sie wurde überstanden, ausgestanden. Elise hatte die Angewohnheit, Türen hinter sich offen zu lassen. Er hatte eine Vorliebe für geschlossene Türen: Ehen sind an kleineren Meinungsverschiedenheiten schon zerbrochen.

Elise, die Tür zu, sagte er mahnend, wenn sie an seinen Schreibtisch gestürzt kam mit irgendeiner Kostprobe aus der Küche oder von einer Entdeckung aus dem Garten, mit hochroten Wangen.

Aber ja! sagte sie erstaunt, lief schnell hin, machte die Tür zu, erzählte, lief fliegend und begeistert wieder hinaus – und die Tür stand offen. Er schloß sie seufzend.

Er besaß eine gewisse gar nicht so kleine Portion mitleidiger Geduld. Er sagte es ihr ziemlich häufig, daß er geschlossene Türen wünschte. Sie war bei jeder Ermahnung neu erstaunt. Mache ich denn die Türen nicht zu? Ich kann es höchstens ein einziges Mal in der Eile vergessen haben. Sicher, Hans!

Er wachte nachts davon auf, daß sie mit einer irritierenden Vorsicht hinausschlich. Hinter ihr blieb die Schlafstubentür offen. Er wartete wachend auf ihre Rückkehr. Sie legte sich ins Bett, es war dunkel, aber er spürte unter dem warmen Deckbett den kühlen Luftzug: dann knarrte die Tür.

Die Tür, Elise! sagte er scharf.

Sie schloß sie gehorsam. Sicher hat der Wind sie wieder aufgedrückt, sagte sie eifrig. Die Fenster schließen so schlecht. Immer zieht es. Du mußt sie einmal nachsehen lassen.

Es war nicht Streitsucht, es war eigentlich entwaffnend. Sie glaubte, was sie sagte. Sie konnte nicht anders sein.

Er lag nach dem Essen eine halbe Stunde auf dem Sofa. Er erwachte von Schüsselgeklapper. Auf eine magische Weise hatten sich unterdes vier Türen geöffnet. Er sah vom Eßzimmer ins Arbeitszimmer durchs Wohnzimmer in die Küche. Er sagte streng zu seiner Frau: Elise, es ist nun das letztemal, daß ich es dir sage, du mußt die Türen schließen. Wenn du es so nicht lernen willst, muß ich es dir auf eine Art beibringen, die dir unangenehm sein wird.

Ich will es wahr- und wahrhaftig nie wieder vergessen, sagte sie, legte ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen Kuß. Dann ging sie an ihre Arbeit, und die Tür blieb offen.

Es gab im Ochsenstall einen gewissen Stachowiak, ein zerlumptes, verlaustes, verlogenes Geschöpf. Zu ihm lenkte Gäntschow seine Schritte und sprach lange mit ihm. Als am nächsten Morgen Frau Elise Gäntschow aus der Schlafzimmertür tritt, prallt sie zurück: es steht ein schmutziger Kerl barfuß auf ihrem frischgescheuerten Flur. Sie ruft: Was machst du hier? Scher dich weg, Inspektor auf Hof, auf Hof!

Das Geschöpf schüttelt grinsend den Kopf: Nix Inspektor, Madka, Madka.

Und dann ergreift der Kerl die schön geputzte Klinke, zieht die Tür heran und schließt sie. Er sieht sie triumphierend an.

Und nun, wo sie geht und steht, verfolgt sie dieser Bursche. Er steht in der Küche hinter ihr am Herd, er folgt ihr zur Schlafstube, er steht hinter ihrem Stuhl beim Essen – aber jede Tür schließt er sorgfältig. Sie kommt an diesem langen Vormittag in immer größere Erregung. Sie muß ins Dorf und einkaufen. Er kommt ihr doch wahrhaftig nach und schließt die bimmelnde Ladentür. Er steht auf dem Gartenweg hinter ihr, ja er hält vor der Klotür Wache. Sie schreit ihn fassungslos an. Sie beschwört ihn, er entblößt grinsend das einzig Schöne an ihm, die großen, wohlgeformten, weißen Zähne. Er sagt bedauernd: Panje Inspektor!

Am Mittag macht sie ihrem heimkehrenden Mann die erste Szene ihres Lebens. Es ist eine Schmach, was er tut. Ist sie kein Mensch? Sie schwört, jede Tür selbst zu schließen, nur ... er soll und soll und soll diesen Kerl zurückziehen!

Aber er ist unbeugsam, unerbittlich: Ich habe dich dutzendmal gewarnt. Nun mußt du es so lernen, daß du es nie wieder vergißt. Ich nehme den Stachu erst weg, wenn ich fest überzeugt bin, du hast es gelernt.

Ich habe es gelernt!

Nein, es ist noch zu früh.

Ich bitte dich, Hans, tu's mir zuliebe.

Es handelt sich nicht um Bitten, es handelt sich um Lernen.

Nun gut, nun schlecht. Stachu bleibt. Es hat sich herumgesprochen auf dem Hof und im Dorf, welch glänzendes Gefolge die Frau Administrator hat. Viele Leute machen sich im Haus auf dem Birkenhügel ein Gewerbe. Sie erträgt auch das. Sie erträgt es mit Tränen, aber seine Briefe trösten sie. Und eigentlich hat er ja auch recht.

Dann verschwindet Stachu. Und nun ist die Ehe gewissermaßen stabilisiert. Die Flitterwochen sind vorüber. Sie ist das geworden, was er braucht. Sie fügt sich jeder Stimmung, sie horcht auf jedes Wort, sie ist nichts wie sein Geschöpf. Ist sie glücklich? Ja, es ist seltsam zu sagen, sie ist trotzdem glücklich. Sie war nie sehr viel. Von einer tyrannischen Mutter unterdrückt, von einer eingebildeten Schwester verhöhnt, das kleine Dummchen, ein Garnichts. Aber sie ist eben nur ›trotzdem‹ glücklich.

Irgendwie empfindet sie doch die Schmach, die ihr angetan ist, die Mißachtung, die sie spüren mußte, aber es brennt eine Flamme in ihr, die jetzt noch alles vertilgt, eine reine, zärtliche Flamme. Sie ist so bezaubernd jung. Ihre Stimme ist hell, ihre Augen glänzen. Ein junges Küken kann sie lachen und weinen machen vor Rührung. Ihr Gang ist so rasch ... Sie liebt die Blumen, den Mond, einige schwermütige Gedichte, die sich hinten reimen, nicht die grelle Sonne, aber den abendlichen See, den Leierkasten am Mittwoch vormittag im Dorf, alle verwundeten Tiere, Kinder, die häßlichen wie die hübschen, sich selbst fast gar nicht, die andern Menschen kaum, aber ihren Mann grenzenlos.

Sie richtet sich in ihrem kleinen, engen Leben ein. Sie freut sich, daß sie buttern lernt, und daß ihre Weckgläser nach dem Sterilisieren nicht wieder aufgehen, und namentlich, wenn ihr Mann sie jeden zweiten oder dritten Tag zu einem Spaziergang mitnimmt.

Er lebt unterdessen sein einsames Leben weiter. Oft merkt er durch Tage kaum, daß er eine Frau hat. Sie ist eben da im Haus, wie das Mädchen da ist oder ein Schrank. Er hat hundertzwanzig Leute unter sich, und es sind unruhige Zeiten. Es kommt zwar zu keinem Streik mehr, aber die Leute sind widerwillig oder gedrückt. Immer ist fremdes Volk im Dorf, Verwandtschaft und Freundschaft aus der Stadt, die sich durchfüttern läßt und zum Dank dafür ihren Spruch leiert: Der Pommer ist im Winter so dumm wie im Sommer. Wie rückständig sie seien, daß sie sich »das« gefallen ließen, und »man« würde nicht so dumm sein und es »denen« einmal zeigen.

Unsinniges Geschwätz, aber es tat seine Wirkung. Stand Gäntschow neben einer Arbeit, so ging alles seinen Gang. Aber kaum war er fort, so hielten alle Gespanne, alle Knechte hielten an und stellten die Pflüge flacher: Es ist ja nur eine unsinnige Schinderei, und dem Boden ist es egal, wie tief er gepflügt wird.

Dem Boden war es nicht egal, das zeigte er bei der Ernte. Hatten sie Kunstdünger zu streuen, so murrten sie unter sich, er solle was Klügeres tun und das schöne Geld nicht für solchen neumodischen Dreck rausschmeißen. Und sie streuten den Dünger so, daß der Acker an der einen Stelle verbrannte, an der andern verhungerte. Sie spielten ihm tausend Narrenstreiche, aus Dummheit, aus Unwillen, aus Bosheit. In der wichtigsten Pflugzeit verschwanden alle Pflugschlösser – kein Pflug war mehr zu brauchen. Es konnte nicht mehr gepflügt werden. Die kostbaren Tage verrannen und der Frost drohte. Gäntschow schlug eine Belohnung an für die Rückgabe der Schlösser. Dann schickte er einen Boten nach Stettin, um neue zu kaufen. Es gab in Stettin nicht genug. Der Bote mußte bis in die Fabrik nach Leipzig fahren. Am Morgen seiner Rückkunft, am Morgen ehe die neuen Pflugschlösser eintrafen, lagen die gestohlenen sauber auf einen Draht gezogen vor dem Administratorenhaus.

Das war ein Schurkenstreich – die Streiche aus Dummheit waren fast noch schlimmer. Jeder Pferdeknecht wollte das fetteste, glänzendste Gespann Pferde haben. Sie drückten sich vor aller schweren Zugarbeit, um ihre Gäule zu schonen. Sie stahlen von der Dreschmaschine frisch gedroschenen und noch etwas feuchten Hafer und fütterten ihn den Tieren in solchen Mengen, daß fünf Pferde an Kolik verreckten. Gäntschow stand mit dem Tierarzt vierzehn Stunden im Stall und sah die schönen Tiere sich Stunde um Stunde in einen schrecklichen Tod quälen. Ihre sanften Augen sahen ihn stumm und vorwurfsvoll an.

Nachher kriegte er sich die Leute vor, ob sie wenigstens einsähen, was für eine Dummheit sie gemacht hätten, ob sie es nicht wieder tun wollten.

Aber das ist doch nicht von dem bißchen Hafer, Herr Administrator! Ein bißchen viel fressen schadet keinem. Uns tut es auch gut. Das ist, weil wir unsere Tiere immer so abjagen müssen!

Unbelehrbar, nichts zu machen. Dieser junge Mensch, Johannes Gäntschow, bekam zwei tiefe, gallenbittere Falten vor Menschenverachtung, von der Nase zum Mund. Dieser gewesene Bauernjunge saß zum Platzen voll mit Unfehlbarkeit und Besserwissen. Er hat in seinem ganzen Leben noch nie einen Menschen getroffen, der klüger gewesen wäre als er – den alten Kammergerichtsrat Lenz vielleicht ausgenommen. Und der kam aus einer andern Welt. Immer lebte er in einer Umgebung der Durchschnittlichkeit und des Unverstandes.

Da ging er hin und sinnierte darüber, daß die Regierung jetzt siedeln wollte. Aus den Landarbeitern sollten Bauern werden. Aber aus diesen Landarbeitern konnten noch keine Bauern werden. Es war ein knechtseliges Geschlecht, seit Dutzenden von Generationen unter der Fuchtel von Leutevögten, Inspektoren, Rittergutsbesitzern, adligen Herren. Ihnen war systematisch selbständiges Denken ausgetrieben worden, vom Urahn an hatte es immer geheißen: tue dies und tue das und tue jenes. Kein Funke erleuchtete je ihre Gehirne. Jeder kleine, verhungerte, arme Sandbauer war ihnen überlegen, denn der mußte bei der Aussaat an die Ernte denken. Sie dachten bei der Aussaat an den Feierabend.

Sie liebten den Schnaps, die unverhüllte, grausame Zote, die Faulheit. Auf Schadeleben gab es auch eine Brennerei. Es wurde Kartoffelsprit gebrannt, ein 96%iges höllisches Zeug. Die Reichsmonopolverwaltung nahm es ab. Unter der Aufsicht von grünen Zöllnern wurde es in große Eisenfässer gefüllt. Die Fässer wurden plombiert, auf Leiterwagen geladen, zur Bahn gefahren, in Kesselwagen umgefüllt. Auf dem Bahnhof war die Umfüllvorrichtung noch ganz primitiv: die Fässer wurden in eine große, offene Wanne entleert, die mit einer Pumpe in den Kesselwagen leer gepumpt wurde.

Einmal führte aus Versehen nur ein Zöllner die Aufsicht dabei. Stand er bei den zu öffnenden Fässern, so warfen sich die Leute bei der Wanne flach auf die Erde und soffen den Sprit, daß sie dunkelrot wurden und ihnen der Atem wegblieb. Stürzte der Zollaufseher zur Wanne, so kippten sie die schon offenen Fässer an, daß ein Strom von Alkohol über Gesicht und Brust des davor knienden Mannes sich ergoß.

Sie waren alle sinnlos betrunken, als sie sich mit den leeren Leiterwagen auf den Heimweg machten. Nach drei Minuten kamen sie auf die Idee, eine Wettfahrt zu veranstalten. Zwölf vierspännige Leiterwagen fingen an zu rasen. Sie brüllten und schlugen auf die verängstigten Pferde ein. Auf der schmalen Chaussee prallten die Wagen aneinander, daß das Holz splitterte. Leute stürzten mit zerschlagenen Köpfen ab, Wagen rannten sich an Chausseesteinen fest, Pferde stürzten. Sie johlten und gröhlten. Sie rasten in die Nacht hinein mit geröteten Gesichtern, stieren Augen – nicht einer kam von selbst nach Haus.

Gäntschow, den aufgeregte Telephongespräche von dieser Todesfahrt benachrichtigt hatten, mußte eine Hilfsexpedition ausrüsten. Er fuhr los und sammelte ein. Er fand seine Leute, seine Gespanne in Kneipen, Straßengräben, auf abgelegenen Waldschneisen. Fast kein Wagen war mehr heil. Ein Pferd hatte ein Bein gebrochen, es mußte erschossen werden. Die Leute – nun ja, sie hatten Löcher im Kopf, gebrochene Knochen, zerschrammte Hände, aber es war und blieb eine herrliche Erinnerung, der schönste Tag ihres Lebens! Da sind wir einmal richtig duhn gewesen! Weißt du, wie ich geschrien habe: noch, noch, und ihr habt immer mehr gekippt, bis in den Arsch ist mir der Schnaps gelaufen!

Wir schreiben 1921, 1922, 1923. Es sind trostlose Jahre. Was der Krieg nicht zerstört hat, zerstört die wahnsinnige Inflation. Der junge Beamte – er wird nun bald dreißig – hat ein Recht, bitter zu sein. Er ist grenzenlos einsam. Seine Arbeit ist schwer und scheint vollkommen aussichtslos. Aber es wohnt ja eine Herrschaft im Schloß Schadeleben, eine Familie von Brest, gebildete Leute, ein pensionierter Regierungsrat mit seiner Frau, einer geborenen Freiin von Laeven. Hat er an denen keine Hilfe?

Jawohl, Hilfe. Buchstabiere es, Gäntschow: H wie Hemmung, I wie Ideenlosigkeit, L wie lachhaft, F wie Faulheit, E wie Eigennutz – so sieht eure Hilfe aus! Da weiß man nicht, wo man das Geld zur Löhnung hernehmen soll, und die kaufen sich ein neues Auto. Da hat man den Leuten Arbeit und Arbeit eingeremmelt, es hetzt, es brennt auf den Nägeln – und die kommen mit dem Viererzug aufs Feld gefahren. Eine Fuhre Nichtstuer. Sie klettern lachend und kreischend von der Coach herunter, und indes die Mäher schweißtriefend weiter die Sensen durch den Hafer gehen lassen, die Weiber gebückt dahergehen und die Wische binden, barfuß, jammern die Herrschaften in ihren Lackschuhen über die spitzen Stoppeln. Und eine Dame erkundigt sich bei der Brommen, ob solche Arbeit nicht sehr anstrengend sei. Schließlich ermannt sich sogar der Regierungsrat. Er deutet auf die Haferhalme, die ungebunden verstreut umherliegen, und ruft: Hier muß aber besser nachgelesen werden. Jawohl, nachlesen während Mähen und Binden! Soviel Ahnung hatte er davon. Da doch der Hungerrechen in zwei, drei Tagen aufs Feld kommen und alles nachrechen würde – so etwas können sie sagen. Sie verstehn nichts, sie arbeiten nichts. Auf dem Büro sitzt ein Rechnungsführer, der die Kassengeschäfte macht, auf dem Feld ist ein Administrator, der die Landwirtschaft erledigt – aber sie sind die Rittergutsbesitzer, mit dem Viererzug rasseln sie auf den Acker und lassen Ähren lesen und erkundigen sich nach anstrengender Arbeit.

Der Administrator steht dabei. Er hat sein Reitpferd am Zügel und die Reitpeitsche in der Hand. Mit dieser Reitpeitsche hat er im Frühjahr dreimal die herrschaftlichen Gänse vom herrschaftlichen Roggen geprügelt. Es gab damals einen bösen Krieg mit der Gnädigen. Ein paar Gänse waren kaputt geschlagen. Er könnte jetzt wieder einmal herrschaftliche Gänse aus herrschaftlichem Hafer prügeln. Aber er steigt auf seinen Gaul und reitet ab.

Es ist nicht wieder gutzumachen. Die Leute verstehen diesen Unverstand ausgezeichnet. Warum sollen sie sich mit der Arbeit für solche eigentlich abstrampeln? Wo ist der Sinn und Verstand von alledem? Nein, denkt Gäntschow einmal anders herum, die Leute sind so übel nicht. Sie sind weder Revolutionäre noch Anarchisten und Umstürzler. Sie begreifen sehr gut, was Eigentum ist. Und sie begreifen sogar, daß der eine viel haben kann und der andere weniger. Aber daß der eine gar nichts tut und gut lebt und die andern tun alles und leben schlecht – nun, sie werden eben wieder ein bißchen weniger für die Herrschaft tun.

Da ist der Administrator von Schadeleben, ein gewisser Gäntschow. Ihm sind ein Reitpferd und ein Kutschpferd zugebilligt, nicht aus Luxus, sondern weil die Begüterung groß ist. Er muß oft an einem Tag drei-, viermal von einem Ende zum andern. Es ist ein weiter Weg, immer querfeldein. Aus wirtschaftlichen Gründen hat er zwei Pferde, nicht aus Hoppheh. Einen Nachmittag kommt er mit müde gerittenem Pferd auf den Hof. Er muß sofort weiter. Ein Gewitter steht am Himmel. Er muß auf die Wiesen. Die Leute sollen das Gras noch in Haufen setzen. Er bringt das Pferd selbst in den Stall. Er will mit dem Kutschpferd vor dem Dogcart weiter. Aber das Kutschpferd ist fort, und der Dogcart ist auch fort: die Gnädige hat die Mamsell damit zur Stadt geschickt. So sind sie, ohne Verstand für ihren eigenen Vorteil. Sechs Pferde stehen im herrschaftlichen Kutschstall, aber die müssen geschont werden. Auch sind sie für eine Mamsell eigentlich zu gut. Also muß das Administratorenpferd heran. Darüber kann immerhin das Heu auf den Wiesen verfaulen. Aber daran wird stets der Beamte schuld sein. Er wird doch einmal ein Pferd drei, vier Stunden entbehren können, nicht?

Wäre er fromm und ein Beamter, der Gäntschow, so ließe er Heu Heu sein und tränke daheim bei seiner jungen Frau Kaffee, so aber, da er ein rechter Heide und wahrer Landwirt ist, holt er sich aus dem herrschaftlichen Kutschstall das beste Pferd und verschafft ihm Bewegung. Das ist natürlich nichts wie ein Affront. Es gibt eine Szene. Aber dann tut Frau von Brest wieder so, als sei nichts gewesen.

Das kann sie, sie ist nicht nachtragend, sie hat im Leben wohl einiges erlebt. Sie hat auch tausendmal mehr Blick für Menschen als die vertrocknete Aktenpflanze, ihr Gatte. Sie hat die Tapetengeschichte überstanden, sie übersteht auch das Kutschpferd, ja sie übersteht sogar die Geschichte mit den Maurern. Ihr Mann, die Nachbarn schütteln den Kopf über sie, daß sie sich von diesem rohen Kerl so etwas gefallen läßt. Wem gehört denn nun eigentlich Rittergut Schadeleben? Ihr oder diesem Herrn Gäntschow?

Die Frau von Brest lächelt, sie sagt: Wissen Sie, mein Vater hat schon immer gesagt: Besser laut geflucht als leise gelogen. Nun also, jetzt zitierte sie schon ihren Vater. Sie hatte es grade nötig. Aber man hatte noch seine Erinnerungen, man wußte noch, wie sie sich mit ihrem Vater gestanden hatte. Hatte der nicht sogar einmal einen Kerl aus dem Schlafzimmer der damalig noch Freiin von Laeven geprügelt? Nun, das war damals auch ein bürgerlicher Inspektor gewesen. Wäre der liebe, gute Herr Regierungsrat von Brest nur etwas hellsichtiger für Dinge, die nicht aktenkundig waren, er hätte in diesem groben Herrn Gäntschow schon längst ein kräftiges Haar gefunden.

Alles mochte hingehen, manches mochte man um eines tüchtigen Beamten willen schlucken, aber diese Geschichte mit den Maurern –! Nicht, daß der Kerl ohne Witz gewesen wäre, man konnte sich halbtot lachen, wenn man sich die Gesichter von Herrn und Frau von Brest vorstellte, wie sie die Wand anstarrten. An sich eine ganz gewöhnliche Geschichte. Sie kam auf allen Rittergütern alle Tage vor:

Es war irgend etwas auf dem Schloß zu mauern, auszubessern, etwas Stuck war los, eine Wand sollte gezogen werden, ein Fenster verlegt, – die Herrschaft bestellte sich die Gutsmaurer. Auf jedem großen Rittergut, wo an den Gebäuden immer etwas zu flicken und auszubessern ist, gibt es zwei oder drei fest angestellte Maurer. Eigentlich unterstehen sie natürlich dem Administrator. Aber die Herrschaft läßt sie eben mal rasch durch den Diener holen. Manchmal läßt sie auch dem Administrator Bescheid sagen. Öfter vergißt sie es.

Als auf Schadeleben so etwas vorkam, äußerte Herr Gäntschow den dringenden Wunsch, benachrichtigt zu werden. Schließlich machten die Maurer einmal einen Tag blau und behaupteten einfach später, sie seien auf dem Schloß gewesen. Oder es gab auf dem Hof eine sehr dringende Arbeit – nun gut, die gnädige Frau sah es ein und versprach Erfüllung des Wunsches. Aber wie das eben so geht, es wurde vergessen, oder der Administrator war grade auf dem Felde – Gäntschow suchte wieder mal umsonst seine Maurer. Er protestierte ziemlich heftig. Ziemlich reumütig wurde neuerlich Erfüllung zugesagt. Gut. Drei Tage später dasselbe. Vierzehn Tage später dasselbe.

Eines Morgens um halb sechs bei Arbeitsanfang vermißt Gäntschow wieder seine Maurer. Er geht langen Schrittes ins Schloß. Seine Stirn ist eine Gewitterwolke. Er findet seine Maurer im Keller, an der Zentralheizung rumbastelnd. Es ist Sommer. Eilig ist das also grade nicht.

Nun läßt er die Leute Steine holen, Mörtel, er gebietet ihnen tiefstes Stillschweigen, dann schleichen sie vier Mann hoch leise wie die Indianer hinauf ins Schloß. Dort schläft noch alles. Über die teppichbelegten Gänge pirschen sie sich weiter, höher. Hier, sagt Gäntschow und zeigt auf eine Tür.

Die Tür wird ausgehängt, beiseitegestellt. Dann fangen die Maurer hastig an, die Türöffnung mit Steinen zuzumauern. Sie arbeiten mit einer verdächtigen Schnelle und Lautlosigkeit, sie wagen keine Bemerkung, kein Lächeln. Denn dieses Aas von Gäntschow steht daneben. Aber in ihren Augen glänzt ein verräterisches Licht.

So, sagt Gäntschow. Die Tür ist mit Steinen zugesetzt. Etwas pfuschig, aber zu. Der Bewurf! Rasch noch ein grauer Zementbewurf. Wird auch nicht ganz glatt, aber es geht auch so.

Ab! Nehmt die Tür mit. Ihr arbeitet heute auf dem Vorwerk. Sie verschwinden wie die Geister.

Als eine Stunde später Herr Regierungsrat von Brest aus dem Schlafzimmer ins Badezimmer will, sieht er sich einer glatten, etwas feuchten Wand gegenüber. Ratlos sieht er den Gang auf und ab. Dann greift er mit der Hand nach der gewohnten Türklinke. Seine Knöchel stoßen gegen eine Wand. Nichts zu machen, eine Wand.

Er scheint ein bißchen kränker geworden. Sein Zucker hat ihm schon lange Kummer gemacht. Aber daß es so schlimm ist, hätte er nicht gedacht. Er geht in sein Bett zurück und fängt leise und diskret an zu stöhnen, damit er seine Gattin nicht auf einmal, sondern nur langsam erschreckt.

Es gelingt – und er erzählt ihr seine Geschichte. Sie ist auch der Ansicht, daß er eine Halluzination gehabt hat, aber eine Spur von Mißtrauen bleibt in ihr, und sie steht auf, um sich die Badezimmertür zu beschauen.

Sie kommt zurück ins Schlafzimmer und fängt hastig an, sich anzuziehen.

Ihr Mann stöhnt schon stärker, da sie es nun doch schon einmal weiß.

Ich verbitte mir diese Albernheiten, Erwin, sagt sie in einem Ton, der sofort sein Stöhnen stoppt.

Aber was ist mit der Tür, Malwida? fragt er ängstlich.

Gäntschow, sagt sie mit Nachdruck.

Ich verstehe nichts, sagte er verzweifelt.

Gäntschow, sagt sie noch einmal. Wenn er sich aber gedrückt hat, fliegt er.

Er hatte sich nicht gedrückt. Er stand mitten auf dem Hof, auf seinen Krückstock gestützt, und musterte nachdenklich die Schloßfassade. Sie stieß mit all der frischen Gluthitze ihrer Wut auf ihn nieder.

Er läßt sie reden, reden ... Es ist völlig sinnlos, in diesen Klotz hineinzureden, der keine Miene verzieht. Und was sagen Sie?! fragt sie schließlich ganz knapp.

Gar nichts, sagt er.

Aber Sie müssen doch wenigstens was sagen, eine Entschuldigung.

Aber nein. Übrigens hätte das schon längst geschehen sollen. So bald die Maurer wieder Zeit haben, lasse ich durch die andre Wand eine Tür zum Badezimmer durchbrechen, und Sie brauchen nicht immer über den Gang.

Ausgezeichnet, sagt sie unwillkürlich und setzt hinzu: Sie sind der schlaueste, gerissenste Vogel ...

Schönschön, sagt er. Wir sind also wieder einig. Er setzt sich in Gang.

Hallo, Herr Gäntschow, ruft sie ihm nach.

Hallo, gnädige Frau, dreht er sich um.

Wann können Sie mir denn nun Ihre Maurer schicken?

In ein bis zwei Tagen!

Unmöglich! So lange sollen wir ...

Eine Treppe tiefer! Eine Treppe tiefer! Nachher ist es dann um so bequemer. Und er marschiert ab.

Unverschämter Flegel, denkt sie wieder einmal. Aber sie freut sich.

So lebt er. So lebt er durch vier Jahre. Er hat eine Frau, eine Herrschaft, viele Leute. Er erficht Siege. Er macht es seinem Hirn nicht leicht. Er strengt seinen Kopf an. Es ist anders, als er sich gedacht hatte, aber ganz schlecht ist es nicht. Denn neben dem Umgang mit den Menschen hat er den Umgang mit dem Lande, dem Acker. Auch mit ihm kämpft er, um ihn kämpft er. Auch hier erficht er Siege und erleidet schmerzliche Niederlagen. Er hat den Acker verwahrlost, ausgehungert und verunkrautet, schlecht bestellt dazu, übernommen. Nun liegt er nachts wach, er stützt den Kopf in die Hand und denkt nach. Seine Frau rührt sich in ihrem Bett, sie fragt: Woran denkst du, Hans? Er sagt lange nachher, denn es dauert eine Weile, bis eine Frage von außen her in sein Denken dringt: An die Quecken! An die Quecken doch!

Da sind sie, sie haben sich breit gemacht auf dem Lande. Überall stechen ihre scharfen, hellgrünen Spitzen hervor, und sie stechen in sein Herz. Sie überwuchern alles. Zwischen alle Kulturpflanzen stehlen sie sich, sie nehmen ihnen das Licht und die Nahrung. Ihre langen, weißen Wurzelteile sind dick und mastig geworden. Er verfolgt sie mit Schälpflügen, Kultivatoren, Grubbern, Eggen, er fährt Berge aus ihnen zusammen – und die zerrissenen, verstümmelten Wurzelteile schlagen alle wieder aus. Er erstickt sie unter Futtergetreide, er kränkt sie mit feingemahlenem Kainit, er ersinnt immer neue Listen und Ränke, für jeden Schlag, jeden Schlagteil andere, er ist nimmermüde.

Es ist ein wahrer Krieg, eines Mannes würdig. In der Stille gekämpft, ohne Gerede und Aufhebens, keine Orden und Ehrenzeichen. Jawohl, er hat ein Reitpferd mit Sattel und Zaumzeug. Er ist stattlich anzusehen, wenn er auf den Feldern reitet, aber wenn er etwas sehen will, dann steigt er von dem Gaul. Er wirft sich die Zügel über die Schulter und Harras zottelt hinter ihm her wie ein Lämmchen. Er tritt auf dem Boden herum, er versucht, wie er der Schuhsohle nachgibt. Er bückt sich nach ihm, zerreibt ihn in der Hand. Er beriecht ihn, schmeckt ihn. Nein, der Boden ist noch nicht so weit. Er wird weiter kämpfen müssen, und wenn er sein Ziel erreicht hat, wird er weiterkämpfen müssen, es zu bewahren.

Es ist nicht sein Boden, er ist auf vierteljährliche Kündigung angestellt, aber es ist doch sein Boden allein. Denn die, denen er gehört, haben keine Ahnung von alledem.

Nun nehmen Sie die Pferde schon wieder auf den Außenschlag, Herr Gäntschow, sagt die gnädige Frau. Ich dachte die Gäule bekämen ein paar Tage Ruhe. Sie sehen so abgetrieben aus!

Warum sind es Pferde geworden? antwortet er grob. Es hätten Rittergutsbesitzer werden sollen.

Er dreht sich um und geht.

Der Außenschlag, der Außenschlag, der Schlag seiner schlimmsten Niederlage, eine Blamage, ein Gelächter für die ganze Gegend! Es war ein Versuch von ihm gewesen. Er hatte den Acker schon schön in Ordnung, er düngte ihn im Herbst gut mit Stalldung ab, pflügte den unter, im Frühjahr drillte er Pferdebohnen. Pferdebohnen – eine schöne, weiß-schwarz blühende Pflanze mit langen Schoten, ein eiweißreiches Futter, grade, was man in den Ställen brauchte.

Sie gingen auf, daß es ein Staat war. Ihre tiefgrünen, breiten Blätter entzückten sein Herz. Sie wuchsen empor auf ihren dicken, fleischigen, kantigen Stengeln. Sie waren sattgrün, es war eine Pracht! Er hatte ihnen alles gegeben, was sie haben mußten. Er hatte sie einmal hacken lassen und ein zweites Mal. Kein Unkraut sollte sie stören – also gut, eine Pracht!

Dann fingen sie an zu blühen. Er ritt fast täglich hinaus, er band sein Pferd an einen Chausseebaum und ging auf dem Acker herum, und sein Herz freute sich. Die Blüte roch schwachsüß – wie sich sein Herz freute!

Eines Tages aber blieb er betroffen stehen. Diese Pflanzenspitze sah schwärzlich aus und jene auch. Er brach sie ab und sah sie genauer an: die Feinde kamen, Blattläuse. Sie saßen da in dickem, schwärzlichem Gewimmel nebeneinander, übereinander, sie schienen sich nicht zu rühren. Sie sogen den süßen Saft aus der Pflanze, sie nahmen ihr alle Kraft. Die Blüten mußten ohne Frucht verhungern.

Er ging hin und her. Er brach die befallenen Spitzen ab, es war nicht so schlimm, wie er im ersten Erschrecken befürchtet hatte. Ein paar kühle Tage, ein kräftiger Regen würde den Blattläusen schon Einhalt tun. Er trug die befallenen Spitzen hinaus auf die Chaussee, sorgfältig zertrat er sie auf dem festen Boden. So! sagte er befriedigt und sah zurück auf seinen schönen, saftgrünen, blühenden Schlag.

Als er das nächste Mal hinauskam, es hatte immer noch nicht geregnet, konnte er die befallenen Spitzen nicht mehr abbrechen. Da und dort und dort und da und hier und weiter, – er setzte sich auf sein Pferd und raste ins Dorf. Er ließ alle Frauen und Mädchen und Kinder zusammentrommeln, der Kantor mußte schulfrei geben. Der Schlag wimmelte von Menschen. In Schürzen trugen sie die Spitzen zusammen, an den Schlagrändern lohten Feuer, es prasselte, wenn die Spitzen hineinfielen, dies Ungeziefer! Dies Geziefer!! Und kein Regen, keine Spur von Regen. Dörrende Sonne.

Das liebten diese Läuse. Da wurden sie dick und fett und vermehrten sich zu Heerscharen, sie ließen sich schmoren und sogen dabei weiter den süßen Saft – man konnte von ihnen träumen. Und er träumte denn auch von ihnen.

Zuerst war jede zwanzigste Pflanze befallen, dann jede zehnte, jede fünfte, jede zweite ... jede Pflanze. Da erst gab er den Kampf auf. Er schickte die Leute nach Hause, er ließ die Pferdebohnen wachsen, wie sie wollten, mochte Gott sehen, was er aus ihnen machte! Er ging nicht wieder auf diesen Schlag. Und die Sonne stand über dem Land und dörrte es, aus der saftigen grünen Herrlichkeit wurden häßliche, gelbe, vertrocknete Stiele, die Läuse vergingen, wer wußte, wohin. Aber das Unkraut wuchs. Um die Erntezeit kam er noch einmal auf den Schlag. Nein, es war nichts zu ernten. Nicht einmal die Aussaat eingebracht. Ein vertanes Jahr, ohne Ertrag, ein versauter Schlag – eine schwere, lange schmerzende Niederlage!

Die zweite Niederlage kam ihm aus dem Zusammenleben mit Frau Elise. Sie war zuerst nicht so niederschmetternd, dann tausendmal folgenschwerer.

Die beiden hatten sich ineinander eingelebt, soweit man sich mit einem Einsiedler eben einleben kann. Sie war glücklich, wenn er für sie da war. Und sie hatte fröhliche oder kummervolle Wartezeiten, je nachdem, wenn er aus irgendeinem Grunde, der meistens nichts mit ihr zu tun hatte, nicht einen Blick für sie hatte.

Es war einmal so gewesen, daß es ihn gestört hatte, daß da jemand rechts im Bett neben ihm lag und atmete. Jetzt wußte er nichts mehr davon. Jetzt fing sie beim Kaffeetisch an zu erzählen, und er machte eine Kopfbewegung oder runzelte auch nur die Stirn, und sie war still. Nein, keine Hemmungen, keine Störungen mehr aus dieser Ehe. Aber auch kein Auftrieb, kein Beschwingtsein, kein Glück mehr. Der goldene Schimmer war fort, die zärtlichen Melodien spielten nicht mehr – sie war einmal etwas gewesen wie eine unendlich fröhliche Blüte hinter dem Schulfenster von Klein-Kirschbaum; zerronnen, vorbei. Unbegreiflich unter den Händen zergangen. Sie war eine Frau geworden wie alle andern, mit all den Schwierigkeiten, Albernheiten, Unverständlichkeiten der Frau, ein gar nicht unübler Mensch, von bestem Charakter, mit ein bißchen zu wenig Verstand. Er war nicht einmal schlecht zu ihr, er war so gut zu ihr, wie es ein so eingekapselter Mensch sein kann, so gut zu ihr, wie man zu einem tagtäglich gesehenen Menschen ohne die rechte Liebe sein kann. Aber war das alles? Waren das die Träume, von denen man geträumt hatte? Es war der Durchschnitt, es war der Trott – dazu hätte nicht erst ein Schimmer schimmern, ein Feuer lohen müssen. Die erste Nächste hätte es auch getan. Ach, vielleicht war sie wirklich nur die erste Nächste gewesen, nur die Jugend und die Kriegsentbehrungen hatten sie umgoldet?

Ja, es wäre vielleicht alles noch erträglicher und würdiger geworden, wenn der Abstand zwischen seiner und ihrer Liebe nicht so unendlich groß gewesen wäre! Was auch geschah, was er auch tat, er blieb stets innerster Sinn ihres Lebens, sie liebte ihn wirklich unendlich. Hätte sie ihn nur ein klein wenig weniger geliebt – aber das war ja ewig wie Forderung und Anklage! Es ist ja völlig unmöglich, wenn man mit einem Händedruck, einem freundlichen Wort das andere schon ganz aufgeregt vor Glück machen kann. Man muß sich ja schämen, man darf es ja nun auch nicht mehr zu Händedruck und freundlichem Wort kommen lassen!

Es gab eine Zeit, wo das etwas anders wurde in ihrer Nähe, sie entfernte sich ein wenig von ihm. Er ging sehr viel näher an sie heran. Das war damals, als sie ein Kind erwartete. Sie hatte ihm kein Wort davon gesagt, aber er erriet es in irgendeiner Minute, schon sehr früh, über den Eßtisch weg, als sie still vor sich hinsah. Sie blickte auf einen Teller. Es lag irgend etwas darauf, Pudding oder Fleisch – und da war es! Auf ihren Wangen lag eine kleine Röte, in ihren Augen war ein unbekannter, zärtlicher Schimmer – ja, da war es! Er senkte den Blick, als hätte er etwas Verbotenes gesehen, und aß weiter. Auch er sprach mit keinem Wort darüber, aber nachher stand er lange in seinem Zimmer. Er machte das Fenster auf, der Herbstwind trieb herein mit seinen Blättern, von der Hauskante her, wo sie sich aufgehäuft hatten, roch es faulig nach Vergehen – aber für ihn wuchs es. Und er sah sein Kind, den wahren Gefährten aus seinem Blut, dem er das würde geben können, was er geworden war. Er fühlte die noch kleine Hand vertraulich in der seinen, und schon dann würde er über alles mit ihm reden können – ein unendliches Glück strömte auf ihn ein.

Später holte er sich das Pferd aus dem Stall und ritt lange durch das Land. Eine milde, gelöste Stimmung erfüllte ihn, seine Selbstsicherheit war plötzlich nicht mehr da, es ging auch über ihn hinaus noch weiter. Es war sogar gut, daß es über ihn noch weiterging.

Die feierlich schweigenden Äcker, der Wald mit seinem weichen Boden, später die Sterne, die so deutlich hervortraten und die mit ihrem stillen Funkeln auch sein Herz – wie alle Herzen – mit einer unbestimmten Sehnsucht erfüllten, dann der leichte Bodennebel, der die Nähe undeutlich machte und in einem plötzlichen Durchblick über das Seewasser hin dunkle ferne Wälder sehen ließ, die kalte, zunehmende Sichel des Mondes darüber – all dies und was sein sonst stets so ängstlich behütetes Herz dazutat: es wurde eine Art Einkehr daraus, eine Heimkehr zu den Quellen seines Seins. Ohne billige Reue, aber auch ohne billige Vorsätze.

Von da an veränderte beider Leben durch Wochen und Monate sich seltsam, ohne daß je ein Wort über die Ursache dieser Veränderung gesprochen wurde. Von der Stunde an, wo er heimgekehrt zu seiner Frau gesagt hatte: Ich möchte von heute an in meinem Arbeitszimmer auf dem Sofa schlafen, von der Stunde an, wo sie darauf ohne Frage geantwortet hatte: Ja, Hans – von diesem Augenblick an wurde alles anders. Jetzt war sie es, die öfter schwieg, er, der öfter redete. Gingen sie gemeinsam, richtete er seinen Schritt nach dem ihren. Kam er nicht rechtzeitig fort vom Feld, schickte er einen Boten, damit sie nicht warten sollte. All dies aber hätte mehr für sie und weniger für ihn bedeutet, wenn sie gespürt hätte, es gälte ihr. Aber all diese kleinen Rücksichtnahmen, ein sanfteres Sprechen, ein rasches Streicheln über ihr Haar, es galt ja nicht ihr. Sie war etwas geworden, durch das er nun nur noch hindurch ging. Ein Gefäß, in das er sein Wesen gefüllt hatte: nur noch die Mutter seines Kindes. Sie sitzt da, hell stehen die Haare um die helle, klare Stirn, der Traum von der Freundin und von der Geliebten ist ausgeträumt. Sie ist die Gebärerin seiner Kinder geworden. Hätte sie ein bißchen mehr Schärfe in sich, wäre sie ein reines Metall und nicht eine Legierung, zu der alle hinzutaten und von der alle fortnahmen – und am meisten er. Sie könnte vielleicht das Kind hassen, aber – wie stets bei ihm – senkt sie die Stirn und hebt sie wieder: sie ist die einzige Frau auf der Welt, die Kinder für ihn tragen und gebären darf. Genügt ihr das nicht? Das muß ihr genügen. Und es genügt ihr also auch.

Und so gehen die Tage und die Wochen und die Monate über diesem stillen, veränderten Leben hin. Es gibt Zwischenspiele, es ist nicht immer still, es werden auch Tränen geweint. Die junge Frau befällt etwas wie Angst und Reue, sie sehnt sich plötzlich nach ihrer Mutter, nach der sie sich nie gesehnt hat. Vielleicht wird sie sterben. Sie ist schlecht zu ihrer Mutter gewesen. So kann sie nicht sterben, die Mutter muß kommen.

Nun, es wird ein Brief geschrieben, und der alte Drache läßt sich gehörig bitten: Der unehrerbietige Schwiegersohn muß selbst einladen. Siehe, die Mutter nutzt ihre Position: So leicht komme ich nicht. Nun tu mal erst was dafür.

Er tut es. Und da er nicht ganz ohne Humor ist, tut er es sogar mit einem Grinsen für die Tüchtigkeit der Schwiegermamama. Nun, und der Witz der Sache ist leider der, daß die tüchtige alte Dame, die mit Kisten und Koffern angerückt kam, versorgt für die drei oder vier Monate bis nach der Entbindung, daß sie, die von ihrem Heim und allen Freunden und Bekannten und der töchterlichen Oberlehrerin und Fräulein von Marzahn für ein Leben Abschied genommen hatte – daß sie wieder nach drei Tagen mit Sack und Pack von Schadeleben abreiste als, man kann ganz gut sagen, als Gift und Galle speiender Drache. Und nicht einmal der bösartige, ewig ironisch grinsende Schwiegersohn hatte sie fortgeschickt, sondern die eigene Tochter!

Ach, die tüchtige Mama hatte gar zu kräftig die Zügel des Regiments an sich gerissen. Sie hatte nicht daran gedacht, daß aus dem kleinen, ängstlichen Dummchen eine seit drei Jahren verheiratete Frau geworden war und aus dem reinen Garnichts eine Administratorengattin, vor der hundertzwanzig Leute höflich die Mützen zogen. Sie hatte etwas gar zu überlegen in der Erinnerung an die fröhliche, selige Kinderzeit gesagt: Du wirst das trinken, Elise, sonst werde ich böse.

Und Elise hatte sich schon wie damals schluchzend in der Ecke gesehen und mußte dann so herzlich lachen.

Aber all das, das wäre ja noch hingegangen und wäre von der sterbelustigen Tochter um des guten Zweckes willen mit mehr oder weniger Humor ertragen worden. Ihre Mama aber hatte mit Schrecken gemerkt, daß Elise noch immer einen Heldenschein um die Gestalt ihres Gatten wob. Nach dreijähriger Ehe, man höre bloß, und sie hatte sich emsig daran gemacht, diesen Heldenschein gründlich abzuseifen, mit bitterer Spottlauge. Und wenn dabei ein wenig Haut mit wegging, so machte es auch nichts. Und da hatte es denn ein wenig sehr heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden gegeben, eigentlich gar nicht wie zwischen Mutter und Tochter. Und wenn die eine durch Liebe verblendet war, so war es die andere durch Rechthaberei. Sieh einmal an. Schließlich war es dann so weit gekommen, daß die Mutter zur Tochter gesagt hatte: Du bist ja verrückt, mein Kind, wenn du nicht siehst, daß er ein ganz gewöhnlicher Bauernklotz ohne alle Manieren ist. Jeder gebildete Mensch nimmt ihn bloß komisch. Ich habe es an Frau von Brest, die doch wirklich eine feine Dame ist, wohl gesehen.

Und die Tochter, dies sanfte Schaf, hatte ganz wolfsmäßig geantwortet: Du bist ja bloß neidisch, Mama, weil ich so einen angesehenen Mann abgekriegt habe. Den Papa hast du ja immer bloß verachtet, weil er nichts war und nichts vorstellte.

Worauf sie in nicht endenwollende Tränen ausbrach. Und wenn die Alte auch, schon im Hinblick auf den endgültigen, langen Abschied daheim, nach dem Überlegen einer Nacht bereit gewesen war, einzulenken und gleich drei Löcher zurückzustecken, so wurde ihr dazu leider gar keine Gelegenheit gegeben. Denn am nächsten Morgen trat ihr im gänzlich verwaisten Frühstückszimmer ein älterer, bebauchter Herr mit Backenbart und, wie sie sofort feststellte, mit falschem, stechendem Blick entgegen, stellte sich ihr als Sanitätsrat Krummhübel vor und begann einen endlosen Vortrag, in dem Reizbarkeit, psychische Veränderungen, Depressionen, manische Erregungen, Schwangerschaftspsychosen vorkamen, bis Frau Schütt kurz und klar sagte: Ich soll also abreisen.

Ich würde dazu raten, sagte der Backenbärtige plötzlich ebenso kurz.

Und ehe noch das Stauwerk an ihrem Herzen gebrochen war und sie über diesen Schurken all ihre Anmerkungen, Erläuterungen und Inhaltsangaben ergießen konnte, tat sich die Tür zum Zimmer auf, und dieser verdammte, ironische Schwiegersohn kam vergnügt grinsend herein und sagte unverschämt: Holla, Mama, noch nicht fertig? Der Wagen muß gleich kommen. Sich ein bißchen in den Haaren gehabt? Ja, die Frauen, die Frauen ... Auch die allerbesten Frauen! Haben Sie es gehört, Herr Sanitätsrat? Soll ich es Ihnen nochmal erzählen? – – –

Und wenn nicht Frau Lehrer Schütt eine wirklich ebenso feine Dame wie Frau von Brest gewesen wäre, so wäre sie ihrem Schwiegersohn wohl mit allen Nägeln und Krallen in das Gesicht gefahren. Genug Lust hatte sie dazu. So aber warf sie nur einen niederschmetternden Blick auf die beiden Schufte, schrammte die erste Tür zu, daß Gäntschow »hoppla« rief, schrammte auch noch die zweite und dritte Tür zu, fuhr das düsige, verschnupfte Mädchen am Herd fauchend an, daß es schreckensbleich in die Ecke der Küche floh, warf ihre Sachen kunterbunt in den Koffer und fuhr, ohne einen Blick zurück, ab. Die ausgestreckte Hand des Schwiegersohns brauchte man ja nicht zu sehen.

Übrigens war auch an die Verwandten auf Fiddichow auf dem Ausbauhof Warder geschrieben worden. Aber von dort kam keine Antwort. Von dort kam schon lange keine Antwort mehr. Zum letzten Male war Johannes dort 1918 gewesen, nach Kriegsende. Er hatte seinen Bruder Max wiedergetroffen, der auch den Krieg überstanden hatte, der aber wortkarg und mit der ganzen Welt zerfallen war. Sein Mädchen, die Tochter von Kaufmann Stavenhagen, mit »seinen« beiden Kindern, hatte im Kriege wirklich geheiratet. Irgendeinen kleinen Besitzer, einen »Büdner«, mit einem Pferd wie ein Pony und einer Kuh wie ein Knochensack. Nun strich er in all seiner freien Zeit um die kleine Besitzung herum. Es wurde viel im Lande davon geredet. Der Büdner, ein magerer, hakennasiger Mann mit einem Schnauzbart, sollte den Max schon drei- oder viermal halbtotgedroschen haben. Daß der Vater und Sohn nicht gut miteinander standen, war nicht zu verwundern. Der Sohn war eine Art Knecht auf dem Hof geworden, ein sehr verachteter Knecht. Aber er wartete nur auf die Todesstunde des Vaters, dann würde er dem Büdner die Frau schon irgendwie abkaufen. Der Vater aber wußte von all diesen Absichten des Sohns, den er nicht weniger verachtete, als der ihn haßte, und sagte ihm oft und oft: Wir Gäntschows werden alle uralt, und noch in zwanzig Jahren sollst du bei mir Knecht ohne Lohn sein.

Nein, es war vielleicht kein Wunder, daß Johannes nie mehr Nachricht aus Warder bekam. Schreibselig waren die Fiddichower nie gewesen, aber manchmal wollte ihn doch eine Ahnung wie von kommendem Unheil anrühren.

Nun, auch diese Ahnung verging. Die Tage vergingen, jeder Tag hatte seine eigene Plage, die junge Frau war schwanger, und die kleine Seele, die früher nie gewagt hatte, einen Wunsch zu äußern, hatte jetzt Wünsche genug. Mit der Mutter war es zwar nichts gewesen. Aber sofort nach diesem Besuch kam ein neuer Wunsch mit nicht geringerer Gewalt. Es kam daher, daß ihre Beine und Füße unter dem immer stärker werdenden Leib anschwollen – wo waren die zarten Rehbeine hin, mit den schönen, zierlichen, hohen Fesseln? Die junge Frau war ganz unglücklich darüber. Sie redete und klagte ewig davon. Tag und Nacht.

Aber dann kam die Bücklingsolsch aus Regenwalde, eine dicke Alte, die mit einer Kiste Bücklinge im Lande umherzog, und die erzählte der jungen Frau, sie müsse die Füße nur in zwei etwas ausgehöhlte Kürbisse stecken, dann würden die Kürbisse schon das Fruchtwasser in Beinen und Füßen an sich ziehen: Denn das weißt du ja, mein kleines Mädchen, daß der Kürbis grausam Durst auf Wasser hat, und wo er es wittert, da zieht er es an sich. Und wenn du nur die Geduld hast, daß du ihn sechsunddreißig Stunden an den Füßen leidest, so hast du deine natürlichen Beine wieder, und der Kürbis hat alles Fruchtwasser getrunken. Denn Frucht will zur Frucht.

Nun, da hatte sie ihren Rat und ihre Anweisung, und ihr Mann wäre ihr darin nicht einmal zuwider gewesen, denn schließlich stammte er aus einem Bauernhause, wo man immer wieder Wunderheilungen erlebt. Aber man schrieb Februar, und das ist auf dem Lande eine schlechte Zeit für Kürbisse, wo sie doch alle schon längst süß-sauer eingekocht in Steintöpfen ruhen. Es wurde aber viel geredet im Dorf über die junge, schwangere Frau und ihre Plage, »und ihre Füße sind schon wie welk«, und das Gerede breitete sich aus über das Land, und eines Tages kam ein Gerede zurück aus Fürstenhagen, zweiundzwanzig Kilometer weiter, daß dort eine Bauernfrau lebe, die habe noch zwei Kürbisse zum Einmachen im Kartoffelkeller liegen, weil sie zur eigentlichen Einmachezeit krank gelegen habe und seitdem immer etwas dem Einmachen zuwider gewesen sei, gerade als solle es nicht sein.

Da bekam Gäntschow von Frau von Brest das Auto geliehen und fuhr mit dem hochfeinen Chauffeur durch das verschneite Land bis nach Fürstenhagen, und da er den Namen der Bauernfrau nicht wußte, fuhr er gleich zum Gemeindevorsteher. Ehe er aber dort noch recht mit seinem Anliegen hervorkommen konnte, wurde er auch schon begrüßt als ein bekannter Mann, von dessen Sorgen das ganze Land spricht. Und die dicke Frau des Gemeindevorstehers schob sich zögernd, die Hände unter der Schürze, in die Stube, und er mußte genau Auskunft geben über seine Frau. Und andere Frauen kamen danach, und sie nickten teilnahmsvoll mit den Köpfen, und sie schüttelten sie, nein so was – und auf einem ganz hübschen, langsamen Höllenfeuer rösteten die Weiber aus Fürstenhagen den Herrn Administrator Johannes Gäntschow!

Aber schließlich drängten sich dann doch zwei recht kräftige Burschen durch die Weibermenge in der Gemeindevorsteherstube, und statt alles Gekakels von Fehlgeburten, Schwangerschaftsbeschwerden, Versehen und seltsamen Gelüsten trat eine erwartungsvolle Stille ein. Die Burschen aber, etwas rot im Gesicht vor Anstrengung, legten vor Gäntschows Füßen zwei Prachtexemplare von Kürbissen nieder, jeder wohl einen Zentner schwer, schön weiß-gelb mit genetzter Haut, länglich rund, wahre Elefanteneier. Und wie Gäntschow doch etwas zurückfuhr bei dem Gedanken, die schönen kleinen Füße seiner Frau in diese Untiere zu stecken, da redeten sie wieder alle eifrig los, gegen viel müsse auch viel helfen, und bessere Kürbisse gebe es nicht, und wo denn wohl ein Ort wäre im ganzen Lande Hinterpommern, der jetzt zur Winterszeit solche Kürbisse aufzuweisen habe? Aber als er nun vom Bezahlen zu reden anfing, da verzogen sie alle böse die Gesichter und drehten die Köpfe von ihm weg. Denn diese Kürbisse für die schwangere junge Frau waren eine Ehrensache für das ganze Dorf, und nie konnte er dahinter kommen, welche Bauernfrau denn nun eigentlich die ursprüngliche Besitzerin gewesen war.

Aber schließlich saß er dann in seinem Auto – und es war gut, daß der Fond so breit war, rechts auf dem Sitz einen Riesenmelonenkürbis und links auf dem Sitz einen Riesenmelonenkürbis, die er festhalten mußte, damit die Kürbisse nicht etwa auf der Fahrt kaputtschlugen. Jeder Kürbis war schön in eine Decke gehüllt, denn der Frost durfte ihnen ja nichts tun, aber für ihn war keine Decke übriggeblieben. Und so fuhr er denn seine zweiundzwanzig Kilometer Schneeweg durch die Februarkälte nach Haus zurück und konnte Betrachtungen darüber anstellen, wieso auch der bärbeißigste Mann eigentlich immer sofort lächerlich wird, sobald seine Frau ein Kind erwartet. Und an diesen Betrachtungen ließ er es dann ja auch nicht fehlen.

Zu Haus aber wurde er schon erwartet wie der liebe Heiland und Erlöser, und weder seine Frau noch Frau von Brest fanden die Kürbisse auch nur eine Spur zu groß. Aus seinem großen Armsessel mit der starken Rückenlehne wurde mit Tüchern und Federkissen ein hoher Thron gebaut, und vor den Thron wurden die Kürbisse gerollt. Ganz obenauf kletterte die junge Frau, denn sie mußte ja die Füße in die hohen Kürbisse stecken. Sie zog rasch die Strümpfe aus und sagte sehr höflich zu Frau von Brest: Sie entschuldigen doch, gnädige Frau. Ihre Augen aber glänzten, und ihre Backen waren rot vor Freude.

Gäntschow aber schnitt mit seinem schönsten Rasiermesser und mit unendlicher Sorgfalt nach dem Umriß ihrer Füße einen Schacht in die schönen, saftigen Kürbisse. Und dann kam der große Moment, wo sie die armen geschwollenen Füße in das kühle Fruchtfleisch einsenkte. Und während die andern sie abwartend ängstlich ansahen, schloß sie die Augen, legte den Kopf zurück und sagte mit ganz seliger, heller Stimme: Gott, tut das gut, Gott, bin ich glücklich!

Und da saß sie nun mit geschlossenen Augen, als schliefe sie, und die andern saßen still um sie herum und wagten nicht, sich zu rühren, und sahen auf das erlöste Bild.

Da aber fuhr die junge Frau plötzlich zusammen, und ihr Gesicht verzog sich. Und sie tat einen Schrei und riß den Rock ohne alle Scham hoch – und da lief an ihrem Bein eine häßliche, große Kreuzspinne. Gäntschow sprang auf und griff die Spinne und warf sie ins Ofenloch – doch die junge Frau hatte die Beine schon aus den Kürbissen gerissen und jammerte leise vor sich hin: Nun wisse sie bestimmt, daß sie sterben müsse, und alles gehe ihr schlecht aus. Und die Spinne habe sicher in den Kürbissen gesessen, und der liebe Gott habe sie ihr geschickt als Mahnung, weil sie so schlecht zu ihrer Mutter gewesen sei und sie durch den Sanitätsrat habe fortschicken lassen. Und Hans solle nur gleich, gleich, sofort an die Mutter schreiben ...

Sie hatten gut auf sie einreden, daß Spinnen ihren Wohnort nicht in Kürbissen haben könnten, sondern höchstens ihren Winterschlaf am Kürbisstiel abhielten, und Spinne am Abend sei doch überhaupt erfrischend und labend ...: O weh, o weh, o weh! Bringt mich in mein Bett. Nehmt diese schrecklichen Kürbisse fort! O weh, o weh, o weh!

Ja, so war das. Und dann kam an einem schönen, sonnigen Mittag um den Schluß des Februar herum das Ende. Es kam durch die Sonne, und es kam dadurch, daß bei den Gäntschows die Küchenhandtücher so schlecht waren: sie fusselten. Es ist eine der seltsamsten Entdeckungen in diesem Leben, sich einmal klar zu machen, wie große oder wichtige Ereignisse zustande kommen. Durch welch sinnlosen Kleinkram. Hätte an jenem Februartage die Sonne nicht so schön durch die Scheiben des Administratorenhauses geschienen, so hätte Frau Gäntschow vielleicht nicht gesehen, wie putzbedürftig eigentlich die Fensterscheiben in den vergangenen trüben Wintertagen geworden waren. Trübe und fleckig waren sie, ein wahrer Schandfleck in diesem schönen Sonnenglanz, und sofort mußten sie geputzt werden! Wie die meisten Menschen, hatte Frau Elise Gäntschow, geborene Schütt, den Ehrgeiz, grade auf dem Felde tüchtig zu sein, für das sie die wenigste Begabung hatte. So wollte sie eine besonders tüchtige Hausfrau sein, und also mußten die Scheiben in ihrem Haus auch glänzen. Und zwar sofort! Das Mädchen hatte keine Zeit. Sie mußte für den Herrn das Frühstück machen.

Also holte sich Elise einen Küchenstuhl, einen Eimer mit warmem Wasser, Tücher und Lederlappen zusammen und fing an, in ihres Mannes Zimmer die Fenster zu putzen.

Unterdes hörte sie, wie sie da auf ihrer Fensterbank stand, daß ihr Mann ins Haus kam und nach seinem Frühstück rief. Sie hätte gern selbst zum Rechten gesehen, denn das verschnupfte Mädchen vergaß auch nach vier Jahren Dienst immer noch die Hälfte. Aber sie hatte grade alle Scheiben unter Wasser gesetzt, und das fror sonst an. Ach, sie hätte das Wasser ruhig anfrieren lassen sollen, es wäre so schlimm nicht gewesen. Sie hatte doch gehört, daß ihr Mann in seiner bösen Stimmung nach Haus gekommen war. Das hatte sie an seiner Stimme gehört, als er nach dem Frühstück rief. Dann war es immer besser, wenn sie auf alles achtete und es nicht dem Mädchen überließ, das gar zu leicht Stürme entfesselte.

Aber es blieb so: sie putzte weiter an ihren Scheiben, die nicht anfrieren durften, und ein Zimmer weiter setzte sich Gäntschow an seinen Frühstückstisch. Es lag bei ihm nichts Besonderes vor, nur so der normale Morgenärger – eigentlich war er zum landwirtschaftlichen Beamten so ungeeignet wie nur möglich. Der richtige landwirtschaftliche Beamte muß eben noch all seine Leute zusammengeschimpft haben, daß die Hofwände wackeln, und dann muß er in seine Stube gehen können und in aller Ruhe mit seinen Kindern spielen, ein kräftiges Essen mit allem Appetit verspeisen oder sich auch schlafen legen. Gäntschow aber nahm sich seinen Ärger zu Herzen. Vielleicht lag es daran, daß er Dummheit haßte, vielleicht daran, daß er seinen Beruf liebte, kurz, er giftete sich viel zu sehr.

Da saß er nun also voller Galle vor seinem Frühstückstisch und wartete auf den Kaffee. Schon das war wieder ein triftiger Grund zu neuem Ärger: er hatte es sich schon zehnmal verbeten, ihn auf seinen Kaffee warten zu lassen. Wenn er auch nicht auf die Minute oder auf die Viertelstunde pünktlich kommen konnte, das mußte sich doch machen lassen, daß sein Frühstück drei Minuten später, nachdem er ins Haus gekommen war, auf dem Tisch stand. Aber jedenfalls stand es diesmal nicht da, wenigstens der Kaffee fehlte noch. Und da er nicht essen wollte, ehe er einen Schluck Warmes getrunken hatte, fing er an, sich sein Eßgerät gedankenlos zu betrachten. Er hatte ja nun seine Frau in der heilsamen Furcht des Herrn erzogen, und so waren denn auch Messer und Gabeln und Teller und Brotbrettchen tadellos. Dann aber nahm er die Tasse in die Hand und sah hinein. Und wie er hineinsah, in demselben Augenblick, als er bewußt hineinsah, da nahm er die Tasse und –

Es war nämlich so: Gäntschows hatten schlechte Küchentücher, und diese Küchentücher zeigten ihre Schlechtigkeit dadurch, daß sie fusselten. Unvermeidlich blieben kleine Fäserchen, Fusseln, beim Abtrocknen an dem Geschirr hängen, und Johannes Gäntschow hatte schon viele Male und mit starkem Nachdruck erklärt, daß er Kaffee trinken wolle und nicht Kaffee mit Fusseln, und daß er Suppe essen wolle und nicht Fusselsuppe. Nun hätte Frau Gäntschow natürlich längst neue Küchentücher anschaffen können. So knapp ging es bei ihnen nicht zu. Aber da war immer irgend etwas, was sie sich lieber anschaffte als langweilige Küchentücher – und in allem braucht man seinem lieben Mann auch nicht zu Willen zu sein. Wenn man außerdem nur ein bißchen aufpaßte und das Geschirr des Hausherrn beim Aufdecken mit einem andern Tuch ein bißchen nachrieb, so war alles in Ordnung. Das war es aber eben, was Frau Gäntschow an diesem schönen Februarvormittag über ihrem Fensterputzen versäumt hatte. Nun war es freilich auch gar nicht so tragisch, wenn Gäntschow irgendwo Fusseln fand, immerhin waren sie nicht mehr nur drei Wochen, sie waren schon beinahe vier Jahre verheiratet. Schließlich gewöhnt sich der Galeerensklave auch an die schwerste Kette. Gäntschow machte gar nicht viel Aufhebens. Aber er wollte doch einmal sehen, ob er seine Frau nicht dazu kriegte, neue Tücher zu kaufen: er nahm einfach den befusselten Gegenstand und warf ihn gegen die Wand. O Gott, rief dann regelmäßig Frau Gäntschow, und damit war der Fall erledigt.

Das tat sie auch diesmal, als sie die Kaffeetasse gegen die Wand klirren und scheppernd zerbrechen hörte. Und sie hastete von ihrem Fensterbrett. Gäntschow aber hörte nach diesem ›O Gott‹ etwas wie einen schweren Fall. Dann ein Wimmern, eine lange Stille, dann ein schreckliches Stöhnen. Er stand nur langsam auf, schon als er den Fall und das Wimmern hörte, hatte er alles gewußt. Nein, nicht einmal jetzt dachte er an sie. Er dachte nur an das, was er verloren. Nicht an ihr Leid, nicht an ihren Kummer. Er brauchte das alles nicht, was nun kam, nicht ihr aschgraues, schmerzverzogenes und doch flehendes Gesicht: Ich bin ein bißchen fehlgetreten. Nur einen Augenblick. Nein, danke, ich werde gleich wieder aufstehen, es ist alles gleich wieder gut.

Er brauchte nicht die diskrete, schonende Wichtigtuerei von Sanitätsrat Krummhübel: Ein kleiner, gewiß betrüblicher, aber ziemlich häufiger Unfall, eine Frühgeburt. Für das nächste Mal empfehle er, der jungen Frau Fensterputzen zu untersagen.

Er brauchte nicht das dusslige, verschnupfte Dienstmädchen, das ihm am nächsten Morgen, als ihr langsames Hirn die Zusammenhänge erfaßt hatte, den Dienst aufsagte: Wegen ein paar Fusseln soll ich wohl zum Mörder gemacht werden in diesem Hause! Und an einer so guten Frau! Und so ein süßes Kindlein! (Sie sagte wirklich: Kindlein.) Ich hab's gesehen, Herre, und nie, nie will ich in diesem Haus bleiben.

Trostlos heulend zog sie ab. Er hätte auch trostlos heulen mögen, er hätte auch das »Kindlein« sehen mögen, er kannte es nicht, ihm hatten sie es nicht gezeigt. Er war wieder einmal draußen gewesen, einen Tag lang, mit seinem Pferde Harras, allein im Feld, im Wald, und das Land, das sein erwartungsvolles Glück gesehen hatte, sah nun seinen Schmerz. Seinen eigensüchtigen, bösen Schmerz, nein, seine hilflose, zähneknirschende Wut. Er hatte mal ein Kind, und sie hatte es ihm weggenommen. Verludert, verschludert, unachtsam in ihrem eigensten Beruf, ohne einen Gedanken in ihrem Vogelkopf. Zu nichts nütze!

Da reitet er dahin, er hat eine starke Hand und vermag ein Pferd zu leiten. Er hat einen starken Kopf und er vermag einem großen Betrieb mustergültig vorzustehen – aber von sich weiß er nichts. Sich vermag er nicht zu leiten, sich kann er nicht vorstehen. Er wirft Tassen gegen die Wand und denkt, er ist ein vorzüglicher Mann, ein herrlicher Mann, ein mustergültiger Gatte, wenn er vier Monate lang ein bißchen sanfter zu seiner Frau spricht und ihr mal aus der Fülle seiner Gaben über das Haar streicht, wenn es ihm grade so einfällt.

Das denkt er. Nein, er denkt es nicht. Er weiß alles von sich, er weiß, daß er ein schlechter Gatte ist und untauglich zur Ehe, er weiß, daß er nicht die rechte Liebe zu seiner Frau hat, er weiß, daß er ein armes, ihn hilflos liebendes Würmlein oft grausam quält – das alles weiß er. Aber trotzdem er das alles weiß, trotzdem zürnt er ihr weiter, trotzdem reitet er hier im Lande herum bis in die stockfinstere Nacht (und weiß dabei auch, daß sie auf ihrem schmerzvollen Bett sich nun auch noch um ihn ärgert), reitet herum, ballt die Fäuste, knirscht mit den Zähnen und flucht vor sich hin: Verdammtes Weiberpack! Hirnloses, langhaariges Hühnervolk! Gebärmaschinen sollte man erfinden, die würden wenigstens funktionieren ...! Und dabei laufen ihm die blanken Tränen über das weiße, verkrampfte Gesicht.

Nun, nach einer Woche ist die junge Frau wieder auf den Beinen. Nach einem Vierteljahr ist ihm sein Bett wieder im Schlafzimmer aufgemacht. Nach einem halben Jahr kann sie schon wieder singen. Man muß den Menschen nur Zeit lassen, es renkt sich schon alles wieder ein. Schön, schön. Das mit den Betten war vielleicht noch zu früh. Er hat sie stillschweigend wieder zurückgeräumt. Sie wird nun geduldiger auf ihre Stunde warten. Die wird schon kommen. So sicher er sich auch dünkt, er ist auch nur ein Mensch, tausend Stimmungen unterworfen. Grade er. Sein kalter, böser Ton, sein wütendes Schweigen, sein Stirnrunzeln, das alles kann sie betrüben und erschrecken, entmutigen kann es sie nicht. Sie liebt ihn wie eh und je. Sie sieht, was keiner sieht, was nicht einmal er weiß: hinter all seiner Härte und Herzlosigkeit den kleinen, traurigen Jungen. Er wird einmal seinen Trotz aufgeben und zu mir kommen. Sie weiß das aus all seinen Briefen, und ihr Herz sagt es ihr auch, daß solche Liebe wie die ihre nur zu warten braucht, um gekrönt zu werden.

Und immer hat sie ja seine Briefe aus der Zeit, da sie gemeinsam jung und verliebt waren. Sie liest sie täglich. Und je mehr er sich von ihr löst und entfernt, um so mehr versenkt sie sich in den Johannes Gäntschow von einstmals. Er ist immer bei ihr. Er macht ihr Herz geduldig, ihre Stimme hell, ihr Auge klar, ihr nie versiegendes Lächeln strahlend. Warte, bald ist er wieder da. Warte, bald wirst du belohnt sein. Habe bloß Geduld.

Und in diese ihre Stimmung kommt ein kurzer Brief des Gemeindevorstehers aus Warder, Johannes müsse kommen, der Hof gehe zugrunde, Vater und Bruder seien tot. Ihr Herz jauchzt. So betrübt sie auch ist: dort auf der einsamen Insel unter lauter Bauern wird sie seine einzige Gefährtin sein, er wird wieder zu ihr zurückfinden.

Vierzehn Tage später schon fahren sie.


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