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[Benno Stehkragen]

Ich will ein weniges aus dem Leben Benno Stehkragens erzählen, des kleinen Buchhalters, der über zwanzig Jahre tagsüber den Drehstuhl hinter dem zweiten Pult im Couponbureau der Industriebank zu Frankfurt am Main, Bahnhofplatz drei, drückte. Es war ein ziemlich hoch geschraubter Drehstuhl, denn der ganze Benno Stehkragen maß kaum einen Meter zwölf, und wenn er auf seinem Platze thronte, so baumelten zwischen dem Pult zwei krumme Beinchen und bildeten eine Null. Über dem Pult schaute ein schwarzhaariges Wuschelköpfchen hervor, das dicht zwischen den Schultern saß, das aber ebenso flink drehbar war wie der Stuhl. Eine große Brille vorsintflutlichen Formats saß auf Bennos etwas aufgestülpter Nase, und die Brillenschienen endigten hinter großen, abstehenden Ohren, die die Fähigkeit besaßen zu wackeln, ohne daß die Stirne Falten zog. Durch die Brillengläser aber zwinkerten zwei braune, kluge Äuglein, stillvergnügt und voll gutmütiger Selbstironie.

Ich habe gesagt, der ganze Benno Stehkragen maß nur kaum einen Meter zwölf. Er wäre gewiß mindestens dreißig Zentimeter länger gewesen, hätte es ein Mittel gegeben, den Buckel, der seinen Rücken verunstaltete, auszubügeln.

Aber dieser Buckel saß ebenso pflichtgetreu auf Bennos Rücken wie Benno selbst auf seinem Drehstuhl. Und der einzige Unterschied war, daß Benno des Abends mit dem Glockenschlag Sechs sich von seinem Drehstuhl trennte, um seinem Junggesellenzimmerchen jenseits des Maines zuzuwandeln, während der Buckel auf Bennos Kehrseite ununterbrochen Geschäftsstunde hielt und selbst die höchsten Feiertage ignorierte. Nur war er an diesen Feiertagen von einem säuberlich gebürsteten schwarzen Gehrock umhüllt, indes er Werktags hinter einem nicht immer ganz sauberen braunen, karierten Rock kauerte. Das Alter dieses Rockes zu bestimmen, sei Geschichtsforschern überlassen. Wir wollen uns mehr mit dem Innern als dem wenig verlockenden Äußern Benno Stehkragens befassen.

Wir wissen, daß auch Napoleon der Erste ein klein gewachsenes Menschlein war, das überdies an Epilepsie litt, und daß es dennoch auf seiner kurzen Lebensreise von Korsika bis Sankt Helena ganz Europa umstülpte. Es wäre also durchaus glaubhaft, würde ich auch von unserem kleinen Mann die verblüffendsten Heldentaten erzählen. Allein die Wahrheitsliebe hindert mich daran. Keinen Roman mit glühenden Liebesabenteuern, voll von wundersamen Begebenheiten, sollt Ihr vernehmen. Nur kleine Episoden kann ich Euch vermelden. Episoden von einem Menschen, dessen ganzes Leben nur eine Episode war. Dessen Erscheinen in dieser Welt keine Lücke ausfüllte, und dessen Scheiden keine Lücke hinterließ.

»Die Naturgeschichte wollt' einen Witz machen, und da erschuf sie mich,« sagte Benno von sich selbst. Und wehmütig fügte er hinzu: »Ich hätt' der Naturgeschichte bessere Witze zugetraut!«

Wann und wo hätte auch Benno Heldentaten vollbringen sollen?

Auf seinem Drehstuhl?

Mein Gott, drehte er ihn nach rechts, so sah er die beiden Schalterfenster, die zum Gang hinausführten, und hinter jedem Schalterfenster saß ein Beamter, rechnend, schreibend gleich ihm oder im Flüstertone die Kundschaft abfertigend. Drehte er den Stuhl nach links, so sah er eine Reihe Fensterscheiben, hinter denen melancholisch ein dunkler Hof brütete.

Die Fensterwand entlang standen Pulte, und hinter jedem Pult hockte ein Beamter oder eine Beamtin, mechanisch arbeitend. Am Ende der Wand, ein wenig erhöht, residierte Herr Wittmann, der Bureauchef, ein noch jugendlicher Herr, der Typ eines zielbewußten Strebers, schneidig und grob.

»Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu,« hatte Benno einmal mit Bezug auf Herrn Wittmann zitiert. »Manchmal gibt er ihm auch nur das Mundwerk dazu. Aber er hat eine Zukunft, der Herr Wittmann. In zehn Jahren ist er Prokurist. Die unleserliche Handschrift hat er jetzt schon. Nun ja: ein schwarzer Zylinder, ein schwarzer Frack und ein schwarzes Herz, damit kann man's weit bringen auf der Welt!«

Es kam öfters zu Zusammenstößen zwischen Benno und dem Bureauchef.

»Herr Stehkragen!« schnarrte dann plötzlich eine scharfe Stimme, »Herr Stehkragen, kommen Sie mal her!«

Und alle Köpfe blickten von den Schreibarbeiten auf und drehten sich nach Benno und wußten: Jetzt gibt's wieder ein Donnerwetter.

Nur Benno selbst schien nichts Schlimmes zu argwöhnen, kletterte gemächlich von seinem Drehstuhl, dachte sich: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden, und watschelte zu dem Allgewaltigen.

»Herr Wittmann?« frug er freundlich und mit einer Harmlosigkeit, die selbst einen General bei einer Besichtigung entwaffnet hätte, »Herr Wittmann, ich glaub', Sie haben gerufen?«

»Und ich glaub', Sie haben schon wieder mal an alles mögliche gedacht, nur nicht an Ihre Arbeit!« fuhr ihn Wittmann an. Und indem er ihm eine Faktura unter die Nase hielt, schrie er: »Haben Sie das geschrieben?«

»Wenn Se das Blatt so hoch halten, kann ich nix gucken!« entgegnete Benno seelenruhig, nahm die Faktura, rückte die vorsintflutliche Brille zurecht und prüfte langsam das Schriftstück.

»Ich frage Sie, ob Sie das geschrieben haben?« herrschte ihn der Bureauchef ungeduldig an.

»Meine Handschrift is es!« erklärte Benno, und es zuckte um seine Mundwinkel wie amüsiertes Lächeln.

»So! Also Ihre Handschrift ist es! Und Ihre Nachlässigkeit und Schlamperei ist es auch! Aber das geht nicht so weiter mit Ihnen! Ich hab's satt! Satt hab' ich's!«

Gut, dachte sich Benno. Er hat's satt. Mahlzeit!

»Genug hab' ich von Ihnen! Noch heute spreche ich mit der Direktion. Beim nächsten Fehler werden Sie entlassen! Das gebe ich Ihnen schriftlich!«

Ich glaub's auch mündlich, dachte sich Benno.

Und weiter dachte er sich: Weshalb schimpft er eigentlich so? Nun ja, er is die Primadonna von dem Couponbureau. Er muß seine Stimm' üben. Und immer schreit er dasselbe. Er hat'n Grammophon verschluckt. Hinauswerfen? Mich? Schön! Fall' ich auf die Füß', so tut mir's nicht weh; und fall' ich auf den Buckel, so feder' ich wie e Sprungfedermatratz'. Mein Gott, die Welt is groß, und überall in der Welt gibt's Drehstühl'. Und auf jedem Drehstuhl braucht merr eine menschliche Maschin', die ihr Leben um hundertachtzig Mark den Monat verkauft. Schön! Weshalb schmeißt er nicht?

Das alles dachte Benno nur. Das Reden war seine schwache Seite, und so flink er denken konnte, so schwerfällig sprach er.

Gerade weil er so behende dachte, so intensiv schlagfertig war, stolperte er beim Sprechen über seine eigenen Gedanken. Er war mißtrauisch gegen alle Menschen, die perfekt reden konnten, und wenn er beispielsweise einen Parlamentsbericht las, sagte er sich: Ein hochinteressanter männlicher Kaffeeklatsch. Gute Reden, schlechte Gesetze. Wie man nur so spaltenlange Überzeugungen haben tarnt! Ein Glück, daß der liebe Gott kein Abgeordneter is: er wär heut' noch nicht mit den zehn Geboten fertig! Und der arme Moses hätt' für die Gesetzestafeln ein ganzes Armeekorps Steinträger gebraucht!

Während Benno Stehkragen dachte, schimpfte Herr Wittmann weiter.

Benno wartete geduldig, bis ihm der Atem ausging, nickte zustimmend mit dem Köpf, watschelte an sein Pult zurück, tunkte seine Feder ein und schrieb weiter, als sei nichts geschehen.

»Fräulein Antonie Hochberg, hier. 50 Coupons 3% Preußische Staatsanleihe per 1. Oktober à M. 15. – macht M. 750. –, 20 Coupons per 15. November …«

Und zwischendurch dachte er: Das Fräulein Hochberg hat Geld. Alles im Schweiße ihres Angesichts geerbt. Dafür wohnt se auf der Bockenheimer Landstraß' und hat zwei Diener und eine Zofe, die ihr das falsche Haar frisiert, und spritzt sich mit Parfüm ein, daß merr's Geld nicht so riecht. Und se is dick wie ein Eichbaum und setzt auch jedes Jahr 'n neuen Ring an, und hat 'n Logenplatz im Opernhaus, und der arme Richard Strauß muß ihr jede neue Oper von sich vorspielen lassen und kann sich nicht wehren. Und se hat ein Perlenhalsband, das ausguckt, als wär's von Taubeneiern, und es tut ihr leid, daß es kein Hundehalsband is, weil dann die Steuermarke dran baumelte. Und Ohren hat se und ein Gehirn hat se auch, – aber die Ohren sind mehr wert, weil da Boutons drin sind. Und se zählt zu den Spitzen der Gesellschaft, die so spitzig sind, daß ich lieber nicht damit in Berührung komm'. – Ob se mich wohl hinausschmeißen werden?

Aber sie warfen ihn nicht hinaus. Denn die Direktion wußte, daß sie an Benno Stehkragen einen pflichtgetreuen Beamten besaß, der pünktlich und gewissenhaft funktionierte und zum Hause gehörte wie die Ventilation oder die Wasserleitung.

Sie wußte, daß er in den langen, langen Jahren seiner Anstellung niemals selbsttätig Gehaltsaufbesserung verlangt hatte, daß er zu den Beamten zählte, die, wenn ihnen der Arzt vierzehn Tage Schonung verordnet hat, bereits am siebenten Tage wieder im Bureau erscheinen – aus purer Angst, es könnte etwa in ihrer Abwesenheit das Tintenfaß an einen anderen Platz gestellt werden oder zu den Mitteilungen an Fräulein Antonie Hochberg ein großer Briefbogen statt des kleinen Memorandums verwandt werden oder die Welt durch ein ähnliches Unglück aus dem Gleichgewicht kommen.

Wer Benno deshalb für kleinlich gehalten hätte, hätte ihm unrecht getan.

Benno war einfach einer jener Pflichtmenschen der alten Schule, die ihrem Chef jedes Endchen Bindfaden sammeln und einen verlegten Bleistift lieber aus der eigenen Tasche ersetzen, ehe sie einen neuen fordern. Pflichtmenschen, die das ganze Jahr über auf die Firma schimpfen, und für die die Firma doch eine Art Heiligtum ist, ohne das sie nicht leben können, und für das sie Jugend und Arbeitskraft dahingeben.

Eigentlich gab es ja überhaupt zwei Benno Stehkragen.

Der äußerliche, körperliche Benno trug einen schäbigen, braunen, karierten Rock – der innere Benno, die Seele Bennos, trug das herrlichste Gewand, das es gibt: sie ging splitternackt.

Der körperliche Benno war ein buckliges, übertragenes Brillenmännchen – die Seele Bennos war ein Kind, ein harmloses Kind, das sich über Dinge wundern konnte, die jedem Erwachsenen selbstverständlich erschienen, und andererseits Dinge begriff, für die die Erwachsenen längst das Begriffsvermögen im Lebensgedränge verloren haben; ein Kind, das lieben konnte, grenzenlos, unenttäuscht, wie es nur Kindern gegeben ist.

Nein, Heldentaten vollbrachte Benno Stehkragen nicht.

Sein Dasein spielte sich in gar engen Grenzen ab, und wenn er an den billigen Volkstagen den Zoologischen Garten besuchte, dachte er sich jedesmal: Is nicht das ganze Leben ein Zoologischer Garten? Die Löwen sind eingesperrt, und die Flöh' hüpfen frei 'erum.

Und sah er bei der Fütterung der Tiere zu, so lächelte er: Eben kriegen se ihren Gehalt!

Und er sann weiter: Das Couponbureau ist mein Käfig. Und der Wittmann is mein Wärter. Wenn ich nur emal das Schildchen an dem Käfig gucken könnt', wie ich auf lateinisch heiß', und ob ich eigentlich 'n Löwe bin oder 'n Aff'?

Klein, klein war Bennos Käfig.

Aber Benno besaß den Schlüssel zu einem Luftschloß, schöner als alle Paläste dieser Welt, zu einem Schloß, in dessen unermeßlichen Gärten die Blumen das ganze Jahr blühen, und dieser Schlüssel war das goldene Wörtchen: Wenn.

Wenn ich der Kaiser von China wär', dachte Benno Stehkragen und malte sich aus, was er alsdann tun würde. Es gibt weder in der Geschichte Chinas noch in der Geschichte eines anderen Volkes so übermenschliche Heldentaten, wie sie Benno der Erste, Kaiser von China, vollbrachte. Sein Volk verhimmelte ihn, und als er starb, gab es in ganz China kein trockenes Taschentuch. Zehntausend Jungfrauen, gekleidet in weiße Seide, den Meter zu zehn Mark fünfzig, folgten seinem Leichenzug, und sein Leibelefant legte sich auf sein Grab und nahm keine Nahrung mehr, bis er verendete. Und der Oberpriester des Konfutse hielt eine Leichenrede, eine Leichenrede – geplatzt wär' der Wittmann, wenn er sie gehört hätt'!

Oder er dachte: Wenn ich jetzt einen Onkel in Amerika hätt' – und er wär' neunzig Jahre alt – und er hätt' sich zehn Milliarden Dollars Erspartes von seinem Gehalt zurückgelegt – und es tät' ihn der Schlag treffen – und ich wär' sein Universalerbe – dann …

Und Benno baute von den ersparten zehn Milliarden Dollars ein Luftschloß, geräumiger als sämtliche Wolkenkratzer Neuyorks und Chikagos.

Und in allen Räumlichkeiten wohnten glückliche, zufriedene Menschen, und der Liftboy hätte mit keinem Vanderbilt getauscht.

Denn dies war das Übereinstimmende an fast allen Phantasien Bennos: sie liefen darauf hinaus, die Menschen glücklich zu machen. Sie begannen schier alle mit dem kleinen Bächlein Benno und mündeten in das große Meer Menschheit.

Er schwelgte in einer Utopie von Menschheitsbeglückung.

Aber das goldene Schlüsselchen »Wenn« öffnete ihm nicht nur die Portale der Zukunft, es erschloß ihm auch die Pforten der Vergangenheit.

Und er träumte: Wenn ich jetzt der Bürgermeister von Gomorrha wär' – und es fing' an, Schwefel zu regnen – und Pech zu schneien – und Phosphor zu hageln – und ich hätt' keinen Regenschirm bei mir – und die Feuerwehrspritz' wär' gerad' kaputt – dann …

Oder: Wenn ich jetzt der Columbus wär' – und ich wär auf'm Meer mit mei'm Dampfschiff fehlgegangen – und ich käm' plötzlich an ein Festland – und da tät' ein Wegweiser stehen mit der Aufschrift »Amerika« – und es tät' der Häuptling aus'm Kaktusstrauch hervorbrechen – und tät' sagen, auf indianerisch: »Schlecht sehen Se aus, Herr Columbus« – dann …

Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umfaßten Bennos Träume.

Im ganzen schönen Frankfurter Palmengarten wachsen keine so herrliche Blumen, wie sie unter Bennos Wuschelhaar gediehen, und im Musikpavillon bringt selbst der treffliche Kapellmeister Kämpfert keine so köstlichen Harmonien hervor, wie sie in Bennos Gedankengängen sproßten.

Denn in diesen Träumen sangen die Engel, bliesen die pausbäckigen Posaunenchöre des Himmels, und in der Mitte stand Benno Stehkragen als Musikdirektor, mit einem großen Tintenbleistift als Dirigentenstab, und nur von Zeit zu Zeit klopfte er ab: »'n Augenblick! Bitte, 'n Augenblick! Ich muß nur mein' Taktstock neu spitzen!«

 

Ich habe geschildert, was Benno Stehkragen erblickte, wenn er von seinem Drehstuhl nach rechts, nach links schaute. Aber der Mensch schaut nicht nur seitwärts, er sieht auch geradeaus, und besonders Benno liebte es, geradeaus zu blicken. Im Leben allgemein, und von seinem Drehstuhl im besonderen. Denn ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Pultes saß etwas recht Sehenswertes: das blondköpfige Fräulein Böhle.

Vor zwei Jahren etwa war Fräulein Böhle in die Industriebank eingetreten, direkt von der Handelsschule. Sie hatte sich in der Direktion mit einem schmeichelhaften Empfehlungsschreiben, ausgestellt von einem auswärtigen Geschäftsfreunde des Hauses, eingefunden. Aber ein besseres Empfehlungsschreiben war ihr frisches Wesen, ihre lebhafte Schlankheit, ihre vergnügte Sicherheit in Worten und Auftreten.

Das hübsche Mädchen redete mit dem gestrengen Direktor Hermann in einer drolligen Natürlichkeit und Ungezwungenheit, als spräche sie mit einem Gleichgestellten, und nicht mit dem Mann, bei dessen Erscheinen in den Bureaus auf allen Gesichtern eine Art Leichenstarre eintrat.

Und gerade diese Tapferkeit hatte dem Direktor gefallen.

»Sie haben zwar noch nicht praktisch in einem Geschäft gearbeitet, sondern nur die Handelsschule besucht, auf die ich nicht viel Wert lege, aber wir könnten's ja mal probieren. Meinen Sie nicht, Kollege Birron?«

Und der zitterige Direktor Birron, der stets meinte, was Hermann meinte, nickte mit dem Glatzkopf und sagte: »Schon recht.«

Er wußte gar nicht, um was es sich handelte.

»Wieviel Salär beanspruchen Sie?« frug Direktor Hermann das Fräulein, das inzwischen die Zimmereinrichtung neugierig betrachtet hatte.

Fräulein Böhle war auf diese Frage nicht gefaßt gewesen, sie hatte überhaupt nicht geglaubt, so schnell angestellt zu werden.

Aber sie hatte fix überlegt: »Achtzig Mark, Herr Direktor!«

Hermann lächelte. »Sie schätzen sich sehr hoch ein, Fräulein! Ich meine, sechzig Mark genügten für den Anfang. Denken Sie nicht auch, Kollege Birron?«

Direktor Birron, der gerade angefangen hatte, Briefe zu unterschreiben, hob zerstreut den Kopf und murmelte: »Was stören Se mich fortwährend? Es wird schon recht sein!«

»Nun, Fräulein?« frug Hermann.

Martha Böhle zuckte schnippisch die Achseln. »Für siebzig Mark bleibe ich.«

Direktor Hermann lachte amüsiert. »Wenn ich Sie Ihrem Mundwerk nach bezahlen müßte, wären Sie unbezahlbar. Also meinetwegen siebzig. Und wann können Sie eintreten?«

»Sofort,« antwortete Martha schnell.

»Also nächsten Montag!« verbesserte der Direktor sie. Und plötzlich wieder streng geschäftlich werdend, sagte er kühl: »Sie werden den Kontrakt schriftlich erhalten. Geben Sie Ihre Adresse unten in der Korrespondenz an! Zimmer neunzehn! Daß Damen nicht in die Pensionsanstalt der Bank aufgenommen werden, dürfte Ihnen bekannt sein. Melden Sie sich Montag früh acht Uhr im Wechselbureau!«

Damit war sie entlassen.

»Adjö, Herr Direktor,« sagte sie. Und zu Direktor Birron gewendet, nochmals: »Adjö!«

Birron murmelte, ohne von seiner Beschäftigung aufzublicken: »Es wird schon recht sein, Herr Kollege! Meinetwegen!«

Als Martha die Treppe hinunterging, begegnete ihr Wittmann. Er wollte gerade ins Effektenbureau hinüber. Man hatte ihm von dort einen verkehrten Coupon geschickt, da gab es etwas zu schimpfen, und das besorgte er gern selbst.

»Bitte sehr,« sagte er galant, nachdem er beim Anblick Marthas die Weste selbstgefällig zurechtgezupft hatte, und schmiegte sich schmal an die Wand, um sie bequemer vorbeigehen zu lassen.

Sie nickte ihm flüchtig Dank und ging weiter.

»Donnerkiel!« schmunzelte Wittmann, ihr nachblickend. »Die Figur is nicht von schlechten Eltern! Wer mag denn das gewesen sein?«

Er eilte nach dem Effektenbureau, blieb aber unterwegs stehen, machte kehrt und lief nach der Portierloge.

»Sie, Binder,« frug er den Portier, »was war denn das für eine, die da eben 'raus ging? Die Blonde, Schlanke?«

Der Portier legte die Zeitung weg und erwiderte uninteressiert: »Ich waaß net! Beim Alte war se! Drowwe in der Direxio'!«

Wittmann grinste. »Direktor Hermann hat kein schlechtes Geschmäckchen!«

Er blickte den Portier, weitere Auskunft erwartend, an. Allein der alte Binder hatte keine Lust zu zweideutigen Gesprächen.

Überdies konnte er Wittmann nicht leiden, über dessen herrisches Auftreten er manches Unliebsame gehört hatte. Von seinem Sohn, der im Kontokorrent beschäftigt war. Er begnügte sich daher, mißbilligend zu bemerken: »Herr Wittmann, Se könne aach net alles verantworte, was Se de Dag iwwer zesammeschwätze!«

Und da gerade das Haustelephon klingelte, wandte er sich der Umschalttafel mit den Dutzenden von Stechkontakten zu, um die gewünschte Verbindung herzustellen.

Am Montag früh stellte sich Martha pünktlich in der Industriebank ein.

Sie trug ein einfaches Kleid, schwarzen Rock, helle, schmucklose Bluse. Ihr reiches blondes Haar lag, in Zöpfe gebändigt, wie ein großes goldenes Schneckenhaus auf dem Hinterkopf, bildete vorne einen koketten Scheitel, aus dem eine vorwitzige Locke über die Stirne schaute, als suche sie »ehrbare Annäherung« an die lustigen Augen.

»Guten Morgen,« begrüßte sie den Portier.

»Gu'n Morsche!« sagte Binder. »Sein Sie des neue Fräulein?«

»Tjawoll! Martha Böhle!«

»War'n Se schon in annerne Geschäfter, odder is des Ihr erste Schdell?« ließ sich Binder in ein Gespräch ein. Und das war eine große Gunstbezeigung.

»Das ist mein Debüt,« antwortete Martha amüsiert.

»No, da sin Se ja gleich in de richtige Affe'stall komme! Se wer'n Aage mache! Also gehn Se enuff in de erste Stock, Zimmer dreiunzwanzig! Un viel Glück!«

Binder hatte schon eine große Arbeit hinter sich: das Sortieren der eingetroffenen Post. Natürlich durfte er die Briefe nicht öffnen, aber er hatte die Privatbriefe an das Personal herauszusuchen, die er dann den Empfängern beim Passieren der Portierloge überreichte.

Es gab da Privatbriefe jeden Formats, auch parfümierte kleine Briefchen, deren Inhalt leicht erratbar war, Ansichtskarten mit verliebten Bildern und – wie sich Binder beim Lesen überzeugte – ebenso verliebten Mitteilungen, Kuverts mit Firmenaufdruck, die auf unbezahlte Rechnungen schließen ließen – o, Binder war eine Art Vertrauensperson für alle Angestellten. Mancher kleine Roman hatte sich vor seinen Augen abgespielt, manche Katastrophe hatte er ahnend miterlebt.

Da war zum Beispiel der »schöne Adolf« vom zweiten Kassenschalter gewesen, der eine Zeitlang jeden Morgen ein blaues und ein rotes Brieflein – »mit ere Kron' druff« – bekommen hatte. Bis eines Tags die roten Brieflein ausblieben und sich statt dessen in längeren Zwischenpausen Kuverts mit dem Aufdruck »Kgl. Amtsgericht« einstellten. Damals hatte der »schöne Adolf« den alten Binder instruiert: »Wenn mich eine Dame am Telephon verlangt, sagen Sie, ich bin in Urlaub.« Und dann war eine dicke, keineswegs hübsche Madam' in der Industriebank erschienen und hatte in der Schalterhalle einen derartigen Lärm geschlagen, daß das ganze Haus alarmiert wurde. Und der »schöne Adolf« wurde in die Direktion gerufen und ging nun wirklich in Urlaub, aber gleich für immer.

Der alte Binder, der seine Portierloge durch das Haustelephon mit dem Privatzimmer der Direktoren verbunden hatte, hatte deutlich den Direktor Hermann sagen hören: »Nur aus Rücksicht auf Ihre arme Frau und Ihre bedauernswerten Kinder sehen wir von einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ab!«

Eine Viertelstunde später war der »schöne Adolf« an der Portierloge vorbeigekommen, sorglos sein Spazierstöckchen schwingend, und hatte gerufen: »Adiö, Binder! Ich hab' gekündigt!«

Und der alte, erfahrene Torhüter hatte gedacht: So e Lump! So e ganz gemei' Dreckviech! Pfui Deiwel!

Aber als ihn am nächsten Tag die neugierigen Beamten frugen, was denn eigentlich mit dem »schönen Adolf« sei, und was das für eine geräuschvolle Dame gewesen sei, antwortete er nur: »Waaß ich's? Gekindigt hat er halt!«

Martha ging in das Wechselbureau und stellte sich dem Bureauchef Rittershaus vor. Das war ein verrunzelter, knöcherner Zahlenmensch, der sich langsam auf diesen Posten emporgearbeitet hatte, und dem im Laufe der Dienstjahre das bißchen Verstand und Daseinsinteresse eingetrocknet waren.

Die eigentliche Herrschaft im Wechselbureau führte denn auch nicht er, sondern der dicke Rehle, der Inhaber des Schalterplatzes. Ein gemütlicher Epikureer, beliebt im ganzen Hause ob seiner ewig guten Laune.

Drei Leidenschaften besaß Rehle: gut essen, gut trinken und gut schnupfen. Und wegen dieser dritten Leidenschaft führte er seit nun bald dreißig Jahren mit seiner lieben Alten, die die verschnupften Taschentücher waschen mußte, einen humorreichen häuslichen Krieg.

Gnädig und kalauergesegnet führte Rehle sein Zepter, ein kleiner Schlaraffenkönig. Mit den Damen des Hauses stand er auf einem gemütlichen Papafuß und durfte sich manchen Scherz erlauben, den sie sich von anderer Seite ernstlich verbeten hätten. Nur wenn er, unbekümmert um die anwesende Weiblichkeit, gar zu derbfrankfurterische Stammtischwitze zum besten gab, entstand ein kleiner Aufruhr, so daß sich der Bureauchef Rittershaus auf seine Amtswürde besann und in den Raum krähte:

»Ruhe!! Während der Arbeit darf nicht geschwätzt werden!«

Worauf Rehle regelmäßig mit lauter Stimme zu rezitieren anhub: »Und es entstand eine große Stille im ganzen Lande, und jegliches Volk lauschte den Worten des erhabenen Königs!«

Dann warf ihm Rittershaus einen bösartigen Blick zu. Aber er sagte nichts, denn Rehle hatte ebensoviele Dienstjahre auf dem Rücken wie er selbst und war »oben« gut angeschrieben.

Natürlich wußte der dicke Rehle ebensogut wie der alte Binder, daß ein neues Fräulein engagiert war, und er wußte auch bereits, daß sie eine appetitliche Blondine sei.

Aber so hübsch hatte er sie sich nicht vorgestellt.

Er bemerkte daher bei Marthas Eintritt beifällig: »Da hawwe se endlich emal in der Direxio' en gescheite Gedanke gehabbt, daß se so ebbes Hibsches angaschiert hawwe!«

»Oho!« protestierten die anderen Beamtinnen, »sind wir vielleicht nicht hübsch?«

»Ruhe im Schdaate Dennemark,« begütigte Rehle die Wortführerin. »Du waaßt doch, ich habb' derr ewige Treu geschworn, von morjens Acht bis abends Sechse mit zwei Schdund Mittagspaus'!«

Er duzte grundsätzlich jedermann.

Martha wunderte sich keineswegs über den Ton, der im Wechselbureau herrschte. Sie fand sich mit ihrem unbefangenen Sanguinismus in alle Lebensverhältnisse, griff überall gleich den rechten Ton.

Wo hatte das junge Mädel nur diese Gewandtheit, diese instinktive Menschenkenntnis her?

Nachdem sie ihren näheren Arbeitsgenossen vorgestellt worden war, begann unter der Führung Rittershausens ein Rundgang durch sämtliche Bureaus, bis dicht unter das Dach, wo die Buchhalter der Revisionsabteilung saßen, deren Arbeitszimmer mehr einer Frühstücksstube glich als einem Bureau. Denn dort oben hinauf verirrte sich selten ein Aufsichtsorgan.

Hunderte von Namen glitten an Marthas Ohr vorüber, hundert Male nickte sie freundlich mit dem Kopf oder gab ein paar gleichgültige Antworten auf gleichgültige Fragen.

Und immerfort krähte Rittershausens monotone Stimme:

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Soundso! Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Fräulein Soundso! …«

In etlichen Bureaus wurden von den Herren renommierend die Sonntagserlebnisse erzählt, in anderen gab es schon am frühen Morgen Streit um nichtige Angelegenheiten. In jenen Räumen, die unmittelbar mit dem Posteinlauf zu tun hatten, herrschte schon rege Betriebsamkeit.

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Soundso!« Herrgott, nahm das denn gar kein Ende! Von Tür zu Tür ging es, treppauf, treppab. Auf den Stufen gingen zuweilen Beamtinnen an ihnen vorüber, die Briefe oder Notizzettel in andere Bureaus trugen. Es war eine stillschweigende Übereinkunft zwischen dem männlichen Personal, daß alle untergeordneten Arbeiten, die in anderen Betrieben von den Lehrlingen verrichtet zu werden pflegen, den Damen aufgehalst wurden.

Da Martha hübsch und offenen Blickes war, schwirrten bald galante, bald neidisch-hämische Glossen hinter ihr her.

»Alle Hochachtung, 'n niedliches Tierchen!«

»Scheint auch mehr Prinzessin als Arbeitskraft zu sein!«

»Fesch, tipp-topper Kerl!«

»Für 'ne Neue dürfte sie sich schon ein bißchen weniger selbstbewußt aufführen!«

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Wittmann!«

Wittmann machte eine leichte Verbeugung. »Wir haben uns schon vorige Woche auf der Galatreppe gesehen, wenn ich nicht irre? Ich hielt Sie allerdings damals für 'ne Gräfin oder so was! Weil Sie so würdevoll an mir vorbeirauschten! Na, auf gute Kollegenschaft!«

Es sollte kameradschaftlich klingen, aber Martha hörte die unleugbare Arroganz heraus und ergriff nur zögernd die dargebotene Hand.

»Schade, daß Sie nicht in meinem Bureau sind!« flüsterte Wittmann dabei.

Und weiter ging's, von Pult zu Pult.

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Benno Stehkragen!«

Martha lächelte, und Benno fühlte, daß dieses Lächeln seinem kuriosen Namen galt.

»Ich heiße Stehkragen,« sagte Benno, »und ich bin e Stehkragen. Ein Stehkragen, der in dieser schmutzigen Welt manchen Dreckfleck bekommen hat. Aber wenn ich emal tot bin – und ich komm in den Himmel – zu den Engeln und dem anderen Geflügel – dann wird der Stehkragen gewaschen, in purem Wolkenwasser – und geplättet und gestärkt – und vielleicht setzt der liebe Gott mich als Sternbild an den Himmel – und die Astronomen melden: Ein neues Sternbild entdeckt – in Form eines Stehkragens! Aber irgendwo is doch e winziges Schmutzfleckchen stehengeblieben – vielleicht taugt die himmlische Soda gradsowenig wie die irdische – und e junger Gelehrter guckt das Fleckchen durch sein Fernrohr – und hält's für en Kanal oder 'n erloschenen Krater – und schreibt en Buch drüber – und wird dafür Professor der Astronomie! Und so is der bucklige Benno Stehkragen doch zu ebbes gut gewesen auf der Welt!«

Er schwieg.

So eine lange Rede hatte der schweigsame Benno Stehkragen noch nie gehalten.

Die Kollegen schauten verwundert auf, Wittmann grinste geringschätzig, und Martha blickte den sonderbaren Sprecher groß an.

»Ich habe keineswegs über Ihren Namen gelächelt,« sprach sie und log gutmütig, »wirklich nicht!«

Aber Benno hatte sich schon wieder über seine Arbeit gebeugt und hörte gar nicht mehr hin. Er bereute auch schon, so viel gesprochen zu haben. Unerklärliches hatte ihn dazu gezwungen. Er wollte in den Augen dieses Mädchens nicht lächerlich erscheinen und hatte nun das bittere Gefühl, sich doppelt lächerlich gemacht zu haben.

Sicherlich hat se kein Wort von dem verstanden, was ich ausdrücken wollt', dachte er.

Aber eine heimliche Stimme sagte ihm: Se hat's doch verstanden. Sie is so schön und se muß ein gutes Gemüt haben!

Nachdem sie in das Wechselbureau zurückgekehrt waren, teilte Rittershaus Martha ihre Arbeit zu. Sie hatte die einlaufenden Wechsel in ein großes Buch einzutragen und mit dem Gummistempel »Industriebank« zu versehen, in dessen Mitte die laufende Nummer des Wechselbuchs zu schreiben war.

Dabei mußte sie prüfen, ob die Wechsel richtig ausgestellt waren, ob sie die vorgeschriebene Stempelmarke trugen, und ob die Girierungen stimmten.

Ferner hatte sie das Kopierbuch zu registrieren, die Kopien der am vorigen Tage abgegangenen Fakturen nachzurechnen.

»Zur Übung!« hatte Rittershaus gesagt.

»Damit de die Schlafkrankheit kriehst!« hatte der dicke Rehle sie belehrt.

Zwischendurch gab es kleine Gänge in die anderen Bureaus, Anfragen, Antworten, Schriftstücke zu holen und zu bringen.

Um elf Uhr verließ Rittershaus das Bureau, um an die Börse zu gehen, und das war das Zeichen, die Arbeit einzustellen und eine allgemeine Plauderstunde zu eröffnen, bei der der dicke Rehle das große Wort führte.

»No, was gibbt's dann Neues, Scheckel?« wandte er sich an die zunächstsitzende Beamtin. »Wo hat er dich denn gestern awend hiegefiehrt? Is er brav gewese, odder hat er widder zu viel nach de annern Mädercher geguckt?«

Rehle hatte für jede Beamtin einen Spitznamen erfunden, dessen nur er sich bedienen durfte.

Da war die »Scheckel« (»so haaßt nemlich unser ahl' Katz!«), da war das »Fräulein Hipperich«, das nach seiner Erläuterung »Quecksilwer im Leib hat, awwer 's Wetter net aazeigt«, und die »Madamm' Ungnädig«, eine kleine schwarze Hexe, die einmal dem guten Papa Rehle einen scherzhaft gemeinten, aber unvermutet kräftig ausgefallenen Backenstreich versetzt hatte, so daß sie selbst ganz erschrocken war.

Und bald hatte auch Martha ihren Spitznamen: die »Prinzessin von Kopierbuchshausen«.

Merkwürdig: Wittmann hatte sie Gräfin tituliert, Rehle erhob sie gar zur Prinzessin.

Und doch war es nur ihre lachende Jugend, die sie mit einem Glanz von Hoheit umgab und jeden für sie einnahm, der mit ihr sprach, vom gestrengen Direktor Hermann bis hinab zum alten unbestechlichen Binder und dem stets übersehenen Benno Stehkragen.

Nachmittags erwartete Martha die gleiche eintönige Arbeit. Erst als Rittershaus bemerkt hatte, daß sie eine flotte, gutleserliche Handschrift hatte, ließ er sie gelegentlich auch Fakturen schreiben. Aber das war nicht viel interessanter.

Martha war beliebt bei den Kollegen. Das hinderte jedoch keineswegs, daß sich alsbald der Bankklatsch mit ihrer Person und ihren Privatangelegenheiten beschäftigte.

Denn der Klatsch ist eine Giftpflanze, die in jedem Klima und auf jedem Boden gedeiht.

Man hatte herausgebracht, daß sie die Tochter solider Kleinkaufleute aus Hannover war.

Weshalb betätigte sie sich nicht im Geschäft ihrer Eltern? Weshalb ging sie unter fremde Leute, in eine fremde Stadt? Da mußte etwas dahinterstecken.

Und bald löste sich der Klatsch auf seine Art das Rätsel. Natürlich war es ein weibliches Gehirn, dem die Fabel entstammte, die allgemeinen Glauben fand: Martha hatte ein uneheliches Kind und sich deshalb mit ihrer Familie überworfen.

Bis diese Neuigkeit aus den Parterreräumlichkeiten hinauf in das Dachgeschoß gestiegen war, hatte sich die Fabel bereits zu einem Roman ausgewachsen: Das Kind, ein Junge, stammte von einem Grafen, und das dumme Ding hatte sich eingebildet, der Graf würde sie heiraten.

Andere wußten es wieder besser: Das Kind, ein Mädchen, stammte von einem Metzgermeister, aber der konnte sie nicht heiraten, denn er war bereits verheiratet und hatte vierzehn Kinder.

Schließlich behauptete sich siegreich die Wendung: Es waren überhaupt Zwillinge, und der eine war kurz nach der Geburt gestorben.

Die Vaterschaft wechselte, das Kind blieb.

Auch zu Benno Stehkragen war diese Verleumdung gedrungen. »Wisse Se 's schonn: die Böhle hat e ledig Kind?«

»Von mir aus,« hatte Benno achselzuckend erwidert.

Und hatte sich heimlich gedacht: E Glück, daß ich kein Weib bin! Mir täten se e ganzes Säuglingsheim andichten!

Damit war die Angelegenheit äußerlich für ihn erledigt.

Innerlich freilich beschäftigte sie ihn noch lange. Wäre es möglich, daß ein so lachendes Geschöpf, dem der Frohsinn jauchzend von den Lippen sprang, so Schweres erlebt hätte?

Denn eine Entbindung, das mußte etwas ganz Schreckliches sein. Benno war wirklich froh, daß er kein Weib war.

Und von dem Geliebten verlassen werden – – nein, sagte sich Benno, wem so was passiert, der kann sein ganzes Leben nicht mehr lachen.

Und gar aus der Familie ausgestoßen zu sein – das war für seinen in jüdischen Traditionen erzogenen Sinn der schrecklichste der Schrecken, ein Unglück, dem kein zweites glich.

Nein, nein, das alles war gemeiner Klatsch, Neid, Bosheit! Pfui über die schlechten Menschen!

Und doch: Es kamen im Leben so seltsame Sachen vor, Dinge, die man sich gar nicht erklären konnte, und die dennoch Wirklichkeit waren … Ach, wenn man ihm die dumme Geschichte doch gar nicht erzählt hätte!

Als Benno Stehkragen sich dermaßen den Wuschelkopf zerbrach, war Martha bereits nicht mehr im Wechselbureau beschäftigt.

Es war zwischen ihr und Rittershaus zu einem Krach gekommen. Rittershaus hatte sie, die er ihrer Lebhaftigkeit wegen nicht leiden konnte, angeschrien, Martha hatte ihm eine zwar zutreffende, aber reichlich kecke Antwort gegeben, und das Ende vom Lied war, daß Rittershaus, vor Wut an allen Gliedern zitternd, in die Direktion lief, um die Entlassung »dieser Person« zu verlangen.

»Des hast de gut gemacht!« ermunterte Rehle, indessen Martha die Tränen in den Augen standen. »Endlich hat er's doch emol zu heern krieht, was er for e Dreckspatz is!«

Und zu den übrigen Beamtinnen gewandt: »Nemmt euch e Beispiel draa! Aach du, Madamm' Ungnädig! Des is gescheiter, als ehrwerdige Familjevätter uff de Backe zu haage!«

Fünf Minuten später saß Rittershaus triumphierend wieder auf seinem Platz, und Martha wurde in die Direktion befohlen.

Direktor Hermann empfing sie sehr ungnädig.

»Wie können Sie sich unterstehen, einem alten verdienten Beamten eine solche Antwort zu geben! Sie sind wohl nicht recht bei Troste?«

Martha blickte ihm gerade ins Gesicht. Ihre Tränen waren versiegt. Sie war völlig mit sich im reinen und sagte mit ruhiger Stimme, mehr um den Fall aufzuklären als zu ihrer Verteidigung: »Er hat mich in einem Ton angeschrien, den ich nicht gewöhnt bin! So schreit man keine Dame an!«

»Wir haben hier keine Damen, sondern nur Beamtinnen!« erklärte Hermann schroff. »Merken Sie sich das gefälligst! Sie werden Herrn Rittershaus um Entschuldigung bitten.«

»Nein!« rief Martha lebhaft, »das werde ich nicht tun!«

Der Direktor zerbiß seinen Schnurrbart. Es war schwer zu entscheiden, geschah es, um seinen Ärger oder um eine aufkeimende Vergnügtheit zu verbergen? Er erhob sich jäh und kreuzte in langsamen Schritten das Zimmer.

»Wir pflegen Disziplinlosigkeit unbarmherzig mit Entlassung zu beantworten,« sprach er heftig. »Unbarmherzig! Verstehen Sie, Fräulein Böhle? Unter keinen Umständen lassen wir so was einreißen! Unter keinen Umständen!«

Er wandte sich nach Martha und schien eine Einwendung zu erwarten.

Martha stand mit trotzig aufgeworfenen Lippen da. Ihre Augen funkelten, aber sie antwortete nichts.

Hermann setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort, blieb am Fenster stehen, schob die Gardine zurück, sah auf die Straße hinunter und sagte nach einer Weile, mehr zur Fensterscheibe als zu Martha: »Aber diesmal wollen wir in Anbetracht Ihrer Unerfahrenheit eine Ausnahme machen. Aber nur dieses eine Mal!«

Und plötzlich drehte er sich um, ging auf Martha zu und sprach mit beinahe väterlichem Wohlwollen: »Sie müssen sich nicht gleich so aufregen, Kindchen! Meinungsverschiedenheiten gibt es überall auf der Welt! Auch hier in der Bank! Ausgenommen natürlich in der Direktion!«

Dabei streifte sein Blick mit leisem Lächeln die Glatze des Direktors Birron, der in das Kursblatt vertieft dasaß und überhaupt keine Notiz davon genommen hatte, daß jemand in das Zimmer getreten war.

Als Martha immer noch nichts entgegnete, nahm er unvermittelt wieder seinen schneidenden Geschäftston an: »Sie werden von heute mittag ab im Couponbureau arbeiten! Melden Sie sich bei Herrn Wittmann! Und jetzt gehen Sie sofort nach Hause!«

Er setzte sich grußlos wieder an seinen Schreibtisch.

Doch als die Tür ins Schloß gefallen war, blickte er nochmals auf und schmunzelte: »Ein famoser Racker! Meinen Sie nicht auch, Kollege Birron?«

»Es wird schon recht sein!« brummelte es hinüber. »Ganz wie Sie wollen, Herr Kollege!«

Martha holte ihr Jackett und ging nach Hause.

»No?« frug der alte Binder. »No, Fräulein Böhle? So frieh schon haam? Hat's was gewwe?«

Und nachdem er ohne Erregung Auskunft erhalten hatte, meinte er: »Des hätt' ich Ihne im voraus sage könne! E Mädche wie Ihne läßt merr net so mir nix, dir nix fort! Also zum Wittmann komme Se? Schad'! Des dhut merr laad! Nemme Se Ihne in acht vor dem! Des is e Heimticker! Unner uns Parrersdöchter gesacht!«

 

»Na, sehen Se,« begrüßte Wittmann am Mittag Fräulein Böhle. »Na, sehen Se: Schöne Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande! Die Götter haben mein Flehen erhört.«

Ganz wie damals, als Rittershaus vorgestellt hatte: »Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Wittmann,« machte er eine leichte Verbeugung und streckte ihr die Hand hin:

»Auf gute Kollegenschaft, Fräulein!«

Und diesmal ergriff Martha herzhaft die dargebotene Hand und lächelte:

»Auf gute Kollegenschaft!«

Sie hatte in der Zwischenzeit manches gelernt und fühlte aus dem Ton salopper Vertraulichkeit, den sich die meisten Beamten im Verkehr mit den weiblichen Angestellten erlaubten, kaum mehr die Ungezogenheit heraus.

Wittmann sah sich im Bureau um. »Wohin plazieren wir Sie denn? Dahinten, gegenüber von Herrn Stehkragen, is noch 'n Sitz frei. Also nehmen Se Platz, und schmücken Se unser Heim!«

Und so kam es, daß Benno Stehkragen, wenn er von seinem Drehstuhl nicht nach rechts, nicht nach links, sondern geradeaus schaute, das höchst sehenswerte Fräulein Böhle erblickte.

Und er guckte jetzt öfter von seiner Arbeit auf, als es sonst seine Gewohnheit gewesen war, und seine beweglichen dunklen Augen nahmen dabei einen ruhigen, beschaulichen Blick an.

Etwa so, als betrachte ein Kunstfreund aufmerksam ein seltenes Meisterwerk, das immer neue Wunder offenbarte.

Das erstemal am Tag schaute Benno Stehkragen des Morgens, wenige Minuten nach acht Uhr, empor, wenn Martha sich niedersetzte.

»Guten Morgen, Herr Stehkragen!« sagte sie dann, indem sie die Schreibärmel überstülpte.

»Guten Morgen, Fräulein Tulpe!« erwiderte Benno und erntete ein freundliches Lächeln.

Er begrüßte sie jeden Vormittag mit einem anderen Blumennamen, und ihm schien an jedem Tag, daß just der heute gewählte Name am besten für sie passe.

Das zweitemal hoben sich seine altmodischen Brillengläser gegen zehn Uhr, und dann sahen Bennos Augen zwei stattliche Schinkenbrote hinter Marthas kerngesunden Zähnen verschwinden.

Sein Blick frug ermunternd: »Schmeckt's?«, und ein Gegenblick antwortete vergnügt: »Danke, ausgezeichnet!«

Und einmal phantasierte Benno vor sich hin: Wenn ich jetzt das Schwein wär', von dem der Schinken abstammt – und ich wär' gemästet – und ich tät' drei Zentner wiegen, Gott behüt' – und es käm' der Metzger – und tät' sagen: »Benno Schwein,« tät' er sagen – »du mußt jetzt sterben! – Denn da ist ein reizender Gaumen – ein Gaumen von einer Königin – und die Königin muß notwendig zwei Schinkenbrote essen – sonst kann se kein Kopierbuch registrieren« – dann …

Er brach die Phantasie jäh ab, denn der Gedanke, ein Schwein, ein verbotenes, unreines Tier zu sein, war seinem strenggläubigen Gemüt doch zu schreckhaft.

Das drittemal guckte Benno Stehkragen geradeaus um dreiviertel zwölf Uhr.

Da fingen im Bureau die Vorbereitungen zur Mittagspause an. Die Federhalter wurden beiseite gelegt, Formulare in die Fächer eingeordnet, Schubladen, Schränke verschlossen, Hände gewaschen und gemächlich die Arbeitsjoppen mit den Straßenröcken vertauscht.

»Es is noch nicht Zwölf, meine Herrschaften!« rief Wittmann täglich gereizt.

Und erhielt täglich prompt die Antwort: »Ihne Ihr Uhr geht nach! Uff maaner is es schon drei Minute driwwer!«

Benno beobachtete, wie Martha die Schreibärmel herunterzog, sie glatt strich und in der Pultschublade verwahrte.

Von Samt und Seide sollten se sein, dachte er, und nicht von schundigem Leinen! – Und lauter rote Herzchen sollten drauf gestickt sein! – Und ganz oben das oberste Herzchen, wo die Sicherheitsnadel durchgeht, wenn se sich die Schreibärmel feststeckt – das wär' dem Benno Stehkragen sein Herz – und tät' jeden Morgen und jeden Nachmittag sagen: »Autsch, Se tun merr weh, Fräulein Reseda!« – Und es tät' ein kleiner Blutstropfen herausquellen und den Schreibärmel hinunterlaufen – wo jetzt die schwarzen Tintenklexe hinunterlaufen – bis zuletzt der ganze Schreibärmel rot wär'! – Und dann tät' se ihn wegwerfen und dem buckligen Benno Stehkragen sein Herz dazu …

»Mahlzeit, Herr Stehkragen!« sagte Martha und wandte sich zum Gehen.

»Mahlzeit!« sagte Benno und machte sich langsam fertig.

Am Portal der Bank aber holte er sie wieder ein und lief neben ihr her, die Kaiserstraße hinunter, vom Bahnhofsplatz bis zum Uhrtürmchen, ohne ein Wort zu sprechen.

Wie ein Hündchen lief er neben ihr her. Und seine Gedanken liefen dabei die konfusesten Pfade, die alle von dem Wegweiser » Wenn« abzweigten.

Diese Begleitung war Martha etwas lästig.

Aber sie wollte den spaßhaften Bureaugenossen nicht kränken, und so ließ sie ihn gewähren. Bis zum Uhrtürmchen. Dort nickte sie ihm zu, sagte »Adjö!« und stieg in die Elektrische.

Benno bog in die Promenade ein, ging durch die Große Gallusgasse, über den Roßmarkt, nach dem koscheren Restaurant, in dem er seit Jahren zu Mittag speiste.

Und Marthas »Adjö« begleitete ihn auf seinem Weg und leuchtete ihm vorauf wie der Stern den heiligen drei Königen.

Dieses »Adjö« schwamm als Markklößchen in der Suppe, kicherte ihn an aus den Preißelbeeren und lachte ihm als Rosine aus dem Schalet entgegen.

Und die kleinen Bläschen, die im Selterswasser aufstiegen, das waren lauter kleine, goldhelle »Adjös«, und die Serviette, mit der er sich zum Schluß den Mund abwischte, das war einer von ihren Schreibärmeln, und der Mundwischer war ein scheuer, andächtiger Kuß.

Benno Stehkragen erwachte erst erschrocken aus seinen Träumen, wenn der Oberkellner, der stoppelbärtige Josef, der ebenso zum Inventar des koscheren Restaurants gehörte wie Benno zum Inventar der Industriebank, unaufgefordert an seinen Tisch trat und diskret frug: »Hawwe Se net gerufe, Herr Stehkrage'? Unn ich wollt' Ihne aach sage, Ihne Ihr Abonnementskaart is abgelaafe! Ich habb' Ihne gleich e neu' ausgestellt!«

Er überreichte auch sofort die neue Abonnementskarte, indem er dabei mit der Serviette wedelte wie eine fliegengeplagte Kuh mit dem Schwanz und wußte: Jetzt gab es eine Mark Trinkgeld.

Das war die seit vielen Jahren zwischen ihm und diesem Stammgast übliche Taxe, die als Trinkgeld ausreichte für die zwölf Mahlzeiten, über die die Karte lautete.

Hätte ihm Benno einmal versehentlich nur neunzig Pfennig gegeben, so würde der stoppelbärtige Josef mit ruhigem Gewissen gesagt haben: »Se hawwe Ihne geerrt, Herr Stehkrage'!«

Und hätte ihm Benno mehr gegeben, so würde er den Betrag zwar eingesteckt, aber dabei sich gedacht haben: Er is meschugge wor'n! No ja, halb war er's schonn immer!

Zum vierten Male sah Benno nach Martha mittags um ein Viertel über Zwei.

Dann erst traf sie im Bureau ein, wie es denn überhaupt die Angestellten nachmittags mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nahmen.

Denn um zwei Uhr waren die meisten Bureauchefs und Prokuristen, die die Börse besuchten, noch beim Mittagessen. Die Junggesellen unter ihnen leisteten sich sogar noch ein Verdauungsviertelstündchen im Kaffeehaus.

Die Nachmittagsunpünktlichkeit und die darauffolgende halbe Stunde süßen Nichtstuns, das sich freilich unter dem Schein eifrigster Arbeit verbarg, war übrigens den Beamten wohl zu gönnen. Denn gegen dreiviertel drei Uhr trafen die Ausgeher mit den Auftragsbüchern, Notizheften, Telegrammen von der Börse ein und brachten eine Unmenge Arbeitsstoff, der unter allen Umständen bis sechs Uhr abends bewältigt sein mußte.

Von Bureau zu Bureau wanderten diese Auftragsbücher und Notizhefte – jedes wollte sie zuerst haben – jedes fand, daß man sie in den anderen Bureaus über Gebühr lang zurückhielt. Streit und Schimpfen begannen als würdige Einleitung zu der Arbeitshetze, die nun alltäglich einsetzte.

Da gab es Stöße von Fakturen auszuschreiben, zu berechnen, nachzurechnen, Wertpapiere aus den Schränken und Gewölben zu entnehmen, vielseitige Nummerverzeichnisse anzufertigen, Couponbogen und Coupons auf ihre Richtigkeit zu prüfen, Wechsel zu girieren, endlose Einträge in dicke Bücher vorzunehmen, Briefe, Briefe, Briefe zu schreiben.

Da gab es Dutzende von Unklarheiten, Mißverständnissen, Fehlern, ewig wiederkehrenden Dummheiten.

Telephone und Haustelephone läuteten ununterbrochen, gellende Klingelzeichen riefen Angestellte in die Direktion und zu den Prokuristen, Türen wurden heftig zugeschlagen.

Jedermann befand sich in gereizter, überhitzter, aggressiver Stimmung, die sich bei der geringsten Kleinigkeit in Grobheiten und Wutausbrüchen entlud.

»Zum Donnerwetter, was legen Sie da für einen Wisch auf meinen Platz?«

»Das ist nicht meine Arbeit! Das geht mich gar nichts an!«

»Fragen Sie nicht so albern! Woher soll ich das wissen?«

»Es gibt doch nichts Dümmeres auf der Welt als ein Weib! Wenn wir nur keine Weiber mehr im Geschäft hätten!«

»Sie sehen doch, daß ich jetzt keine Zeit hab'! Scheren Sie sich zum Kuckuck!«

»Ach was, beschweren Sie sich bei der Direktion, wenn's Ihnen nicht paßt!«

Mitunter wurden sogar Ohrfeigen angeboten, und manchmal kam es um ein Haar zu Tätlichkeiten.

Nur ein Beamter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, das war der dicke Rehle. Rauchend und schnupfend behauptete er seinen Schalterplatz im Wechselbureau, mit unerschütterlichem Humor gefeit gegen alle Anstürme.

»Fräulein Scheckel, komm emal 'ebei! Schleich dich emal zu merr, mei Herzche! Was hast de dann da widder for'n Stiwwel zesammegerechent?«

Und nachdem das Fräulein »Scheckel« zerknirscht seinen Fehler eingesehen hatte:

»Da hast de mei Radiermesser! Geh hin unn besser' dich! Sonst kriehst de dei Lebdag kaan Mann unn sterbst als ahl Jungfer, mit eme Mops unn zwaaundreißig falsche Zähn'!«

Es wäre freilich praktischer gewesen, das Fräulein hätte gleich ein Loch in die falsche Nota radiert. Denn die Rasur entging nicht dem geschärften Auge Rittershausens, dem alle Schriftstücke, ehe sie das Bureau verließen, vorgelegt werden mußten.

Und alsbald krähte seine langweilige Stimme: »Radierte Notas dulde ich nicht! Fräulein Bär, schreiben Sie die Nota ab!«

Vorsichtshalber zerriß er sie gleich in zwei Hälften.

»Schreib' die Nota ab,« echote der dicke Rehle. »Merr hawwe ja Zeit! Es is noch lang bis Mitternacht!« – –

»Guten Tag, Herr Stehkragen!« begrüßte Martha ihren Pultgenossen nachmittags.

»Guten Tag, Fräulein Nelke!« erwiderte Benno.

Sie quittierte die naive Huldigung wieder mit einem freundlichen Lächeln und reichte ihm gewohnheitsmäßig ihren Bleistift und Tintenstift zum Spitzen hin.

Benno war durch jahrelange Übung ein Künstler auf diesem Gebiete geworden.

So ein Bleistift is wie eine Zwiebel, dachte er. Da kommt auch immer eine Schal' nach der anderen, bis merr auf den Kern stößt. Oder man kann auch sagen: er is wie ein Verband, oder wie e Wickelgamasch'!

Für alle Dinge und kleinen Ereignisse seines Lebens fand er Vergleiche und Bilder. Und wenn auch diese Metaphern oft recht kindlich und töricht waren, sie bereiteten doch seinem talmudistisch geschulten Geist eine harmlose Freude und eine gewisse Genugtuung, die nicht ganz frei war von unschuldiger Eitelkeit.

»Danke schön!« empfing Martha ihre messerscharf gespitzten Stifte zurück, die ihr der kleine, bucklige Benno mit der Grandezza eines Mundschenks überreicht hatte.

Und dieses »Danke schön« klang noch tausendmal schöner als vormittags das »Adjö«.

Das »Adjö«, das war das silberhelle Klingen einer Tischglocke, dieses »Danke schön« aber, das war das bedeutungsvolle Dröhnen der Sturmglocke oben im Dom, die nur bei Großfeuer geläutet wurde.

Und es war ja ein Großfeuer entstanden: Schon brannte der kleine Benno Stehkragen lichterloh.

Gegen vier Uhr gab es in der Industriebank eine kleine Vesperpause.

Die meisten Beamten, bis über den Kopf in dringlichen Arbeiten steckend, begnügten sich damit, ihre Brote und Brötchen auszupacken, um unter der Arbeit hie und da einen Happen abzubeißen.

Die natürliche Folge war, daß es alle Tage einige Fettflecke auf Briefen und Fakturen gab, die nun neu geschrieben werden mußten, was ebenso natürlich die Ursache zu neuem Ärger, neuen Vorwürfen, Schimpfen und Gezänk abgab.

Im Couponbureau, dessen Tätigkeit weniger von der Börse abhing, so daß sich hier die Arbeit gleichmäßiger auf den ganzen Tag verteilte, gönnte man sich eine geruhigere Vesperpause.

Aber während dieser Vesperpause blickte Benno nicht zu Martha hinüber.

Denn in dieser Vesperpause trat Herr Wittmann an das Pult, um kauend sich ein bißchen mit Martha zu unterhalten.

Benno steckte seine Nase tiefer in die Couponpäckchen, er wollte nicht hören, was die da drüben plauderten. Er wollte nicht.

Aber er konnte doch nicht hindern, daß Marthas helles Lachen zu ihm herüberdrang, und daß einzelne Sätze an sein Ohr schlugen wie Peitschenhiebe.

Meistens sprachen die beiden vom Theater.

Martha ging oft in die Oper, und auch Herr Wittmann schien über die Vorgänge vor und hinter den Kulissen gut unterrichtet zu sein.

Es fiel Benno auf, daß Wittmann seltener die Kunstwerke als die darstellenden Künstler kritisierte, die er offenbar für den wichtigeren Teil hielt, und daß er nach Altfrankfurter Tradition mit Vorliebe, auf Kosten der gegenwärtigen Bühnenkräfte, ehemalige, zum Teil längst verstorbene Theatergrößen Frankfurts himmelhoch pries.

Gar bittere Empfindungen flammten in Benno während dieser Vesperpause empor.

Der reine Himmel seines Kindergemüts überzog sich mit dicken, schwarzen Wolken, die Sonne war erloschen, und ihm war, sie würde nie, nie mehr scheinen.

Am liebsten hätte er sich die Ohren mit beiden Fäusten zugehalten.

Am liebsten hätte er den Kopf in ein großes Tintenfaß gesteckt, wie der Nikolaus im Struwwelpeter die bösen Buben. Um nichts zu sehen und zu hören.

Wenn ich jetzt nicht der Benno Stehkragen wär', dachte er, sondern der Benno Strauß, – dann tät' ich mein' Kopf in den Sand stecken – und tät' nix hören – und nix gucken, – sondern ich tät' nur ganz hinten mit der Schwanzfeder abwinken: »Hört auf! Aufhören sollt ihr!!« – und ich tät' …

Am liebsten hätte er jetzt den Bleistift und den Tintenstift Marthas genommen, die Stifte, die er mit so viel Hingabe gespitzt hatte, und hätte wie ein unartiger Schuljunge absichtlich die Spitzen abgebrochen: »Da! Da! So! Das ist dafür, daß du mich so mißhandelst!«

Und Benno Stehkragen, der nie nach der Würde eines Bureauchefs gegeizt hatte, wünschte sich nun inbrünstig nur zwei Minuten Bureauchef zu sein, um gellend durch das Zimmer kreischen zu können: »Ruhe!! Während der Arbeitszeit wird nicht geschwätzt!«

Seine »Wenn«-Phantasien liefen in solchen Augenblicken keineswegs auf Menschheitsbeglückung hinaus; sie waren keine seligen Gefilde mehr, nein, es waren schluchtenverzerrte Abruzzengegenden, und mitten drin hauste er als wilder Räuber, Signor Benno Stehkragenino, der Schrecken der Berge, Fra Diavolo, Karl Moor, Schufterle, Spiegelberg, Kneißl und Rinaldo in einer Person.

Endlich begab sich Wittmann wieder an seinen Platz.

Kaum zehn Minuten hatte er mit Martha geplauscht – Benno schätzte die Zeit eine Ewigkeit.

Auch die übrigen Arbeitskräfte beobachteten mit Interesse die Vorliebe Wittmanns für das hübsche Fräulein Böhle. Aber sie regten sich deshalb nicht auf, höchstens klatschten sie ein bißchen darüber und sorgten dafür, daß auch in den übrigen Bureaus dieser Flirt bekannt wurde.

Im ersten Stock hieß es noch: »Herr Wittmann sucht Familienanschluß,« im zweiten Stock hieß es bereits, Fräulein Böhle und »ihr« Bureauchef seien Arm in Arm im Foyer des Zirkus Schumann gesehen worden, und im Dachgeschoß galt es als feststehende Tatsache, daß der Vater des nächsten Dutzends Böhlescher lediger Kinder – Wittmann heißen würde.

So blind ist der Klatsch, daß er gierig die ganz nichtigen Beziehungen Marthas zu Wittmann ergiebig ausbeutete, aber die verliebte Aufdringlichkeit Benno Stehkragens überhaupt nicht bemerkte.

Und welch dankbares Spottobjekt hätte der bucklige Benno als Liebhaber abgegeben!

Die Vesperpause war vorüber, und die Arbeitshetze in der Industriebank steigerte sich zur Tollwut. Und mit dieser Steigerung häuften sich natürlich auch die Fehler, Versehen, Mißverständnisse, und mit den Irrtümern der Verdruß und Skandal.

Man fand jetzt in sämtlichen Bureaus, daß viel zu wenig Arbeitskräfte vorhanden seien, und daß es eine Gemeinheit sei, an Personal zu sparen, nur damit die dickköpfigen Herren Aufsichtsräte und Direktoren fettere Tantiemen schlucken könnten.

Man sei doch kein Stück Vieh, daß man so schuften müsse. Und es sei überhaupt die höchste Zeit, daß sich einmal die Presse mit den unerhörten Zuständen in der Industriebank beschäftige.

Am lautesten schimpften natürlich diejenigen Herren, die am tiefsten vor den Direktoren zu knixen pflegten.

Je näher der Uhrzeiger auf Sechs vorrückte, desto geräuschvoller wurde es in den Bureaus. Keiner nahm mehr Rücksicht auf den anderen, jeder hatte genug mit sich selbst zu tun und arbeitete verzweifelt an dem Material, das vor und neben ihm hoch aufgeschichtet lag und nicht weniger werden wollte.

Über die Gänge hasteten Beamtinnen, die Stöße von Briefen und Wechseln zur Unterschrift in die Zimmer der Direktoren und Prokuristen schleppten, und die von einem Prokuristen abwehrend zum anderen geschickt wurden, denn keiner hatte jetzt Zeit. Es dauerte eine Ewigkeit, bis jeder Brief und jedes Dokument endlich die vorschriftsmäßigen zwei Unterschriften trugen.

Wer die erste Unterschrift gab, hatte die Pflicht, die Richtigkeit des Schriftstückes zu prüfen, und dabei gab es wieder Dutzende von Beanstandungen, Vorwürfen, Rüffeln.

»Herr Mayer soll 'rüberkommen!« schrie ein Prokurist durchs Haustelephon, und der unglückselige Mayer, der mitten aus seiner Arbeit geschreckt wurde, warf wütend die Feder hin: »Was paßt ihm denn schon wieder nicht, dem alten Schikaneur?!«

»Haben Sie das geschrieben? Es ist wirklich nicht zu glauben: Jetzt sind Sie schon fünf Jahr im Geschäft und können nicht einmal einen so einfachen Brief schreiben! Jeden Schmarren muß man selbst diktieren! Es ist zum Haarausraufen!«

Der Prokurist diktierte, der wutschnaubende Mayer stenographierte und fand natürlich, daß er selbst den Brief zehnmal klarer und deutlicher geschrieben hatte, und daß dieser Schafskopf von einem Prokuristen ein Deutsch von sich gab, dessen sich jeder Hottentotte geschämt hätte.

Und dann sauste Mayer wieder in die Korrespondenz und schrieb den verfluchten Brief zum zweitenmal und verhaspelte sich natürlich in seiner Aufregung – gerade im letzten Absatz des dreiseitigen Briefes – und mußte ihn noch einmal abschreiben! – Und endlich war das schwierige Werk gelungen, die zwei Unterschriften prangten darunter, und dann verwischte ihn beim Kopieren so eine »Gans von einer Bankbeamtin, die auch gescheiter Waschfrau geworden wäre«, und der Brief mußte zum viertenmal geschrieben werden.

Und Mayer bewunderte seinen eigenen Edelmut, daß er nicht den Nächstbesten umbrachte.

Wie hatte doch der alte Binder bei Marthas Eintritt in das Unternehmen gesagt?

»No, da sin Se ja gleich in de richtige Affe'stall komme!«

Etwas ruhiger ging es während dieses allgemeinen Tohuwabohus nur im Couponbureau zu.

Das war nicht zum wenigsten das Verdienst Wittmanns. Man konnte diesem Mann manches Böse nachsagen – er war ein rücksichtsloser Streber, ein roher Gewaltmensch und Grobian – aber niemand konnte ihm absprechen, daß er ein vorzüglicher Organisator, begabt mit einem Riesengedächtnis war, der unermüdlich arbeitete.

Was er in die Hand nahm, klappte. Mit Geschrei, Kränkungen, Ungerechtigkeiten – aber es klappte.

Es kam übrigens seit Marthas Versetzung in das Couponbureau nur noch selten zu Zusammenstößen zwischen Benno Stehkragen und Wittmann.

Wittmann wollte sich vor Martha keine Blöße geben.

Und Benno fühlte instinktiv, wer an dieser Veränderung die Schuld trug, und war Martha dankbar dafür. Denn wenn ihn auch die ordinären Anrempeleien Wittmanns nie sonderlich erregt hatten, sie waren ihm doch peinlich gewesen, wie alles Geräuschvolle.

»Sind Sie so weit, Herr Stehkragen?« frug Martha gegen fünf Uhr.

Benno, dessen Seele noch von Weh und Zorn verdüstert war, nickte grollend Bejahung.

Nun kam Martha zu ihm hinüber, und es begann das »Kollationieren«.

Benno nahm die an die Kundschaft abgehenden Fakturen, las sie der Reihe nach vor, und Martha verglich mit dem Couponbuch, in das alle Posten eingetragen waren.

Aus Rücksicht auf die arbeitenden Kollegen fand dieses Ablesen im Flüsterton statt.

Und dieses Geflüster kam Benno wie etwas ungemein Geheimnisvolles vor, beinahe wie ein tête-à-tête.

Nach jedem Posten machte er beim Verlesen eine kleine Pause, um Marthas bestätigendes »Stimmt!« zu hören.

Und mit jedem »Stimmt!« schrumpfte sein Groll mehr zusammen, hellte sich sein Gemüt auf.

Bei den neunzehn Coupons 3% Portugiesen des Herrn Isidor Seligmann war der Himmel seiner Seele noch mit tiefschwarzen Gewitterwolken bedeckt – bei den sieben Löwenbräu-Dividendenscheinen der Firma Gassner und Sohn hatten sich diese schwarzen Ungetüme bereits in schmutzig-graue Regenwölkchen verwandelt – bei den dreißig Coupons 4% Rumänische amortisierbare Rente des Herrn Friedrich Rottler, Offenbach, guckte schon ein Sonnenstrählchen fürwitzig hinter einem Wölkchenrand hervor, als wollte es mit dem Kinde Benno »Kuckuck – Tata!« spielen.

Und bei den vierundzwanzig Zinsscheinen 3½% Deutsche Reichsanleihe der Henriette Bergmüller sel. Witwe, Hattersheim – o Jubel, da lachte die liebe Sonne wieder riesengroß vom blauesten Himmel und machte dem kleinen Benno Stehkragen so warm, daß er den Schweiß von der Stirne tupfen mußte.

»'n Augenblick, Fräulein Heckenröschen, ich muß bloß emal Atem schnappen!«

Und endlich war es sechs Uhr abends, und die Beamten strömten aus dem Bankgebäude.

Nur die Korrespondenten saßen noch hinter ihren Tischen und kritzelten eifrig und ärgerten sich, daß sie nicht zeitig fertig geworden waren.

In den Tresors lagen die Wertpapiere, Coupons, Wechsel, Dokumente, ausländischen Geldsorten, Scheckbücher, das Bargeld der Kasse und die wichtigsten Geschäftsbücher wohlgeordnet verwahrt.

Die am nächsten Vormittag zu erledigenden Botengänge waren bis ins kleinste geregelt und das dazugehörige Material zurechtgelegt.

Das gesamte Personal der Bank hätte über Nacht sterben können, ohne daß die geringste Unordnung eingetreten wäre; das neue Personal hätte einfach dort weitergearbeitet, wo das alte aufgehört hatte.

Beinahe zwei Stunden länger wurde in der Expedition geschafft, die am Gangende des zweiten Stockwerkes lag und lediglich die Kuvertierung und Absendung der Briefe zu besorgen hatte. Alle weiteren Postangelegenheiten waren bereits von den einzelnen Bureaus erledigt worden.

Es war in der Industriebank der Modus eingeführt, daß jeder Korrespondent zu dem von ihm geschriebenen Briefe auch den Umschlag zu schreiben hatte. Der Briefumschlag wanderte sogleich in die Expedition und wurde dort in alphabetisch eingestellte Regale eingeordnet, während die Briefe, die beizulegenden Notas und Dokumente erst später in der Expedition eintreffen konnten.

Sechs Angestellte waren von fünf Uhr ab in der Expedition damit beschäftigt, die aus dem ganzen Hause dort zusammenströmenden Schriftstücke in die dazugehörigen Kuverts zu stecken und zuzukleben.

Abwechselnd hatten sämtliche Angestellte diese Tätigkeit auszuüben.

Natürlich gab es auch in der Expedition Ärger in Hülle und Fülle.

Da fehlten zuweilen die in den Briefen erwähnten Einlagen, die nach langem Suchen endlich in irgendeinem Bureau gefunden wurden; da war ein Brief, zu dem kein Umschlag geschrieben war, und dort war ein Umschlag, zu dem kein Brief heraufkam.

Dann wieder stimmte eine Umschlagadresse nicht mit der Briefadresse überein, auf dem Umschlag stand Gebrüder Lautenschläger in Pforzheim, und im Brief stand Gebrüder Lautenschläger in Bückeburg; es mußte konstatiert werden, wo eigentlich die Gebrüder Lautenschläger residierten, und das verursachte wieder einen höchst unerwünschten Aufenthalt.

Ferner kam es vor, daß der Expedient eine Einlage in ein falsches Kuvert gesteckt hatte, so daß sie jetzt an der richtigen Stelle fehlte und nicht gefunden werden konnte und unter Umständen die sämtlichen Briefe wieder aufgerissen werden mußten.

Und zwischen den Expedienten liefen die Kassenboten herum und drängten zur Eile:

»Wir kommen zu spät zur Post! Die Briefe werden uns nicht mehr am Schalter abgenommen, wenn wir nach dreiviertel Acht kommen! Wir können uns nicht die Lunge aus dem Hals laufen!«

Waren die Briefumschläge geschlossen, so wanderten sie in die Hände des aufsichtführenden, greisen Herrn Bittenberger, der sie frankierte.

Dieser Posten galt halb und halb als Gnadenbrot.

Bittenberger, der an Schreibkrampf litt, und dessen Hände beständig zitterten, war seit Jahren pensionsberechtigt. Aber die Pension betrug nur drei Vierteile des Gehalts, und Bittenberger, der eine zahlreiche Familie und einen mißratenen ältesten Sohn hatte, konnte und wollte nicht auf das vierte Viertel seines Gehalts verzichten.

Was sollte die Direktion tun? Einem so greisen Beamten kündigen? Nein, das ging nicht. So hatte man ihn denn auf diesen stumpfsinnigen Posten gesetzt. Mochte er dort weiterwursteln, solange es sein kläglicher Gesundheitszustand zuließ!

Schließlich erlosch auch das Licht in der Expedition.

Es hatte wieder Verschiedenes nicht gestimmt, und Bittenberger wankte, auf seinen Spazierstock gestützt, bekümmert und hoffnungslos die Treppe hinunter, in der Gewißheit, daß ihn zu Hause noch weit härterer Kummer erwartete.

Für die letzten Briefe war es richtig wieder zu spät zur Postablieferung geworden. Und da sich ein wichtiges Schreiben nach Norddeutschland darunter befand, so mußte halt ein Kassenbote nachts nach zehn Uhr diesen Brief persönlich in den Berliner Schnellzug werfen.

Der betreffende Kassenbote hatte darob den schuldlosen Bittenberger mit einer Flut von Vorwürfen und massivsten Grobheiten übergossen, die der greise, kranke Mann zitternd und wehrlos über sich ergehen ließ.

»Gu'n Nacht, Vadder Bittenberger,« grüßte der alte Binder, als Bittenberger an der Portierloge vorbeikam.

Auch der alte Binder hatte schon lange ungeduldig darauf gewartet, daß »die oben in der Expedition« endlich fertig würden, aber er ließ den kranken Kollegen nichts von seiner Ungeduld merken. »Gu'n Nacht, Vadder Bittenberger! Alleweil fleißig! Alleweil morjens der ehrschte, awends der letzte!«

Bittenberger lächelte müde. Ja, der alte Binder war eine gute, ehrliche Haut, der sagte ihm gerne was Liebes – aber was nützte das?

»Wie geht's dann alleweil, Vadder Bittenberger? Was macht des verflixte Asthma?«

»Schlecht geht's, Binder! Schlecht! Ich werd' wohl nicht mehr lang mitmachen.«

»Gell, mache Se kaan Stuß!« protestierte Binder, scheinbar tief entrüstet. In Wahrheit teilte er vollkommen Bittenbergers pessimistische Ansicht.

Und indem er die Sache ins Scherzhafte hinüberzuleiten suchte, fuhr er fort: »Leut' wie mir zwaa! In de beste Jahr'n! Basse Se nor uff: mir schdecke noch manche Neujahrsgradifikatio' ei', eh merr ans Abkratze denke!«

Bittenberger winkte traurig mit der zittrigen Hand ab. Er dachte daran, was aus seinem ältesten Sohn werden würde, wenn er selbst nicht mehr da wäre …

»Also Gute Nacht, Binder!« seufzte er und humpelte durch das Portal.

Kopfschüttelnd sah ihm Binder nach. Auch er seufzte jetzt.

»Ja, des is e Lewe!« philosophierte er. »Da soll merr noch an e Gerechtigkeit glaawe! E Saustall is die ganz' Welt! E Saustall, unn nix weider!«

Er nahm die großen Schlüssel von der Wand und verschloß das schwere Eisentor vor dem Portal.

Dann machte er den allabendlichen Rundgang durch sämtliche Räume des Hauses, sah nach, ob überall die Rolläden geschlossen und die Lampen ausgedreht seien, zog die Kontrolluhren für die nächtliche Ronde auf, überzeugte sich noch einmal, ob die Panzertür, die zu den Kellergewölben führte, verschlossen war, und schaltete die elektrische Klingelleitung zum Schutze gegen Einbrecher ein.

So, jetzt war sein Tagewerk vollbracht.

Mit ruhigem Gewissen konnte er das Schlüsselbund dem Nachtportier übergeben und sich in seine kleine Wohnung, bestehend aus drei neben der Portierloge gelegenen Zimmerchen, zurückziehen, wo seine Frau und sein Sohn bereits bei Hering und Pellkartoffeln auf ihn warteten.

Martha hatte sich mit einem kurzen »Guten Abend« vom Couponbureau verabschiedet.

Flüchtig und zerstreut klang dieser Gruß. Denn ihre Gedanken weilten schon halb im Theater oder Kino, wo es den vortrefflichen Spieltenor Schramm als David, die süße Henny Porten als erstaunlich schicksalsreiches Findelkind zu bewundern gab.

Benno begriff Marthas Vorliebe fürs Theater nicht recht.

War es nicht viel genußreicher, die Werke unserer Klassiker daheim im stillen Stübchen mit Andacht zu lesen, als sie sich zwischen bemalten Pappdeckeln und Leinwand vorgestikulieren zu lassen?

Und von Musik, so sehr er sie liebte, verstand er nicht viel.

Ein Lied konnte ihn tief rühren, aber die stundenlange lärmende Opernmusik sagte ihm nichts.

Er war mit den meisten Opernhelden durchaus nicht einverstanden.

Da war zum Beispiel der Siegfried, ein Held, für den man sich wohl begeistern konnte, solange er sich in Mimes Schmiede befand und Ambosse entzweischlug. Auch daß er den Fafner tötete, war aller Achtung wert – schon weil der Drache so dummes Zeug redete. Es gibt in der menschlichen Großstadt schon genug quasselnde Drachen – braucht's auch noch im Wald solche Viecher zu geben?

Also bis dahin war gegen den Siegfried nichts einzuwenden.

Aber weshalb kümmerte sich dieser unverdorbene, jugendstrotzende Naturbursche um den Nibelungenschatz und den Ring?

Für so etwas durfte ein Held, in Bennos Augen, keinen Sinn haben. Das war geradeso, als hätte man ihm seinen angebeteten Schiller beim Couponschneiden abgemalt!

Und was das Waldvöglein erzählte, das mußte dem Siegfried erst recht ganz schnuppe sein! Ein Held durfte sich nicht von einem Piepmatz verführen lassen.

Wahrhaftig, der Siegfried hätte ihm mehr imponiert, wenn er sich inmitten der redenden Tiere hoch aufgerichtet und mit Rittershausens Stimme dazwischengekräht hätte:

»Ruhe! Während der Arbeitszeit wird nicht geschwätzt!«

Aber das Unverzeihlichste war die Erweckung Brünhildes.

Wenn er, Benno Stehkragen, ein gepanzertes Weib in einem Feuer, das nicht versengte, im besten Schlaf gefunden hätte, er hätte sie nie und nimmer geweckt.

Ja, ein kleines Kind, das hätte er auf den Arm genommen und ihm das Köpfchen gestreichelt und ihm zugeredet: »Du brauchst dich nicht vor dem Feuer zu fürchten!« und hätte es mit nach Hause genommen und bei sich behalten, bis sich die Mutter meldete.

Aber ein Weib mit Schwert, Helm und Brünne, gepanzert bis über die Nasenspitze?

Nein, das war keine Partie für Siegfried. Er hätte dem Siegfried ein wunderzartes, treues, hingebendes Mägdelein zum Weibe gewünscht, aber nicht eine rabiate Athletin, die im Freien übernachtete und eine ganze Waffenkammer mit sich herumtrug.

Und wenn sie von selbst erwacht wäre, so hätte er, Benno Stehkragen, an Siegfrieds Stelle gesagt: »Entschuldigen Se, falsch verbunden!« und hätte die Brünhilde Brünhilde sein lassen.

Nein, dieser Siegfried war kein reiner Held für seine Begriffe.

Und so erging es ihm mit den meisten Helden der Oper und des Musikdramas: sie sangen wohl recht schön, wenn auch ein bißchen viel und lang, aber lieben konnte man sie nicht, noch sich für ihre Taten begeistern.

Schade, daß Martha eine solche Vorliebe für das Theater besaß.

Es war Benno ein Rätsel.

Und dennoch war dieses Rätsel so einfach zu lösen:

Er, Benno Stehkragen, besaß eine ungestüme, krause Phantasie, die freien Flug brauchte. Die sinnfällige Darstellung von Kunstwerken auf der Bühne legte seiner Phantasie Ketten an. Im Theater befand sich nicht nur seine kleine, buckelige Körperlichkeit in einem geschlossenen Raum, auch sein Empfinden, sein Denkvermögen waren in eine große Schachtel eingesperrt, wie ein Maikäfer in eine Botanisierbüchse, und stießen auf allen Seiten schmerzhaft an, sobald sie sich zum Fliegen anschickten.

So war es ihm schon als Kind gegangen.

Als kleiner Bub hatte er einmal zum Geburtstag einen großen Baukasten erhalten. Damit baute er die wunderschönsten Häuser, Brücken und Paläste.

Aber es lag diesem Baukasten auch ein Heftchen mit Vorbildern und Anleitungen bei – und nach diesen Vorbildern brachte er beim besten Willen nichts zustande.

Der Vater, zornig über den dummen, ungeschickten Jungen, zankte, und Benno zog sich verschüchtert mit seinem Baukasten in die dunkle Speisenkammer zurück, kauerte auf den kalten Boden nieder und errichtete dort in der Finsternis die herrlichsten Schlösser.

Hatte er eines beendet, so öffnete er die Türe, ließ das Licht hereinfallen, bewunderte sein Werk und belohnte sich freigebig mit den Rosinen, die so nahe standen.

Bis seine Mutter fand, daß diese eigenmächtigen Belohnungen zu tief in ihr Haushaltungsbudget eingriffen, und der Baukasten in einem wohlverschlossenen Schrank verschwand.

In Gedanken aber baute Benno noch lange die prächtigsten Gebäude.

Im Gegensatz zu Benno besaß Martha, dieses kluge, lustige Mädel, nur wenig Phantasie.

Wollte sie sich über das Ackerland des Alltags erheben, so bedurfte sie dazu der groben Vermittlung all des Plunders von Schminke, Puder und Flitter.

Eine Flugmaschine, ja, das war etwas, was sie begriff – sie selbst hatte keine Flügel. Ein Drama zu lesen wäre für sie etwas maßlos Langweiliges gewesen.

Sie lebte in angeborener, unverwüstlicher Daseinsfreudigkeit dahin, ein praktisches, vergnügtes, gesundes Menschenkind.

Für Martha gab es keine Märchen, nur eine höchst lebenswerte Wirklichkeit. Für Benno war alle Wirklichkeit ein Märchen.

Ein närrisches Märchen, in dem er selbst mitagierte, nur wußte er nicht: Hatte er aus dem Zauberquell getrunken, der ewiges Glück verleiht, oder hatte er von den Feigen des Zwergs Nase gegessen, von deren Genuß man lange Schlappohren und eine ungeheure Nase bekam?

Und in dieses Märchen war mit dem Erscheinen Marthas die Feenkönigin eingetreten, und unter jedem ihrer Schritte blühten Vergißmeinnicht, Veilchen und Nelken und all die Blumen, mit deren Namen er sie alltäglich begrüßte.

Auch einen bösen, mächtigen Hexenmeister gab es in dem Märchen, der der Feenkönigin nachstellte, und das war der Herr Wittmann.

Die alten Griechen, dachte Benno, haben für alle Gewerbe ihre Spezialgötter gehabt; der Ackerbau hatte seine Göttin, die Viehzucht hatte ihre Göttin – vielleicht ist Fräulein Böhle die Göttin des Bankgeschäfts, und die dummen Menschen merken's nur nicht.

Benno Stehkragen war verliebt, rettungslos verliebt.

Freilich, hätte ihm jemand auf den Kopf zugesagt: »Herr Stehkragen, Sie haben sich in Fräulein Böhle vergafft,« er hätte es nicht geglaubt.

Verliebt? Er? – Wieso?

Wenn man ein Weib liebt, so begehrt man es doch. Man will sie küssen, sie in seine Arme schließen, sie ganz für sich allein besitzen, mit ihr, für sie und durch sie glücklich sein.

An so etwas aber dachte Benno Stehkragen mit keinem Gedanken.

Nicht ihr üppiges blondes Haar, nicht ihre weichen Arme, nicht ihre Schlankheit oder ihr hübsches Gesicht wollte er sich zu eigen machen – es war der Duft von Jugend, von lachender Frische, der ihn unterjochte.

Er spiegelte sich in diesem Quell, der sein Bild tausendfach verklärt zurückwarf – aber sollte er mit plumpen Füßen hineintappen und den Quell schlammaufwühlend trüben?

Martha war für ihn ein Heiligtum, das man nicht berühren durfte.

Er konnte sich kaum vorstellen, daß er den Saum ihres Kleides küssen würde, und gar ihre roten Lippen? – Niemals.

Ich und Martha vereint, dachte er bitter, das wär', als wollt' man ein Reh mit einem Pavian kreuzen!

Seine Liebe war ein wortloses Anhimmeln, und wenn Benno Stehkragen nicht ein so ausgereiftes Männlein gewesen wäre, hätte man es pennälerhaft nennen dürfen.

Vor dem Bilde Marthas verschwand ihm das Bild eines anderen Mädchens, das ihn bisher manches Mal beschäftigt hatte: das Bild des Fräuleins Rita von Veldern.

Wer war das?

Begleiten wir den kleinen, buckeligen Benno ein wenig auf dem Nachhausewege, sehen wir uns ein bißchen sein Junggesellenheim droben auf dem Sachsenhäuser Berg an; so wird auch in diese bis jetzt noch dunkle Angelegenheit Licht kommen.

 

Benno ging die Kaiserstraße hinunter.

Er hatte am Vormittag in Marthas Begleitung keine Zeit gehabt, sich die Schaufenster zu betrachten, und er holte das jetzt mit Behagen nach.

Besonders die Auslagen eines Porzellangeschäfts fesselten seine Aufmerksamkeit.

Da war seit etlichen Wochen eine zierliche Rokokopuppe ausgestellt: zwei Edelleute und zwei Hofdämchen, die gemeinsam Karten spielten. Benno hatte den Gesichtsausdruck der vier spielenden Figürchen genau studiert, und er war sich darüber klar geworden: die eine Dame mogelte.

Jawohl, die eine Dame, die gerade das Herz-As ausspielte, und zu deren Füßen ein Windhund kauerte, mogelte ungeniert.

Jeden Tag betrachtete er sich die Gruppe von neuem und dachte sich: Merken die's denn immer noch nicht, daß das Luder mogelt?

Wenn die Kaiserstraße nicht eine so belebte Straße gewesen wäre, wahrhaftig, er hätte leise an die Fensterscheibe geklopft: »Attention, mesdames et messieurs, c'est votre amie, qui mogelt!«

Auch Benno hatte in jüngeren Jahren gelegentlich im Kaffeehaus Karten gespielt. Skat. Er hatte das Spiel schnell begriffen, aber er verlor immer.

Denn seine Gedanken waren ganz woanders.

Wenn ich der Eichelkönig wär', dachte er – da täten in meinem Reich lauter Eicheln wachsen – und meine Untertanen täten nur von Eichelkaffee leben – und ich tät' sagen: »Ich guck' schon: Eichelkönig, das is nix für mich! Ich will lieber der Grünkönig sein!« – Und plötzlich bin ich der Grünkönig – und überall wächst nur Spinat – und ich sag': »Was nutzt mich der Spinat ohne Spiegelei? – Is das e Menü für en König? – Ich wollt', ich wär' der Herzkönig!« – Gesagt, getan, Hokuspokus, bin ich der Herzkönig! – Und mein ganzes Land is voll Liebespärchen – und jeden Tag muß ich von fünf Uhr morgens bis elf Uhr nachts Scheidungsklagen entscheiden – und es wächst merr zum Hals 'eraus, – und …

Und: »Mit Ihne kann merr iwwerhaapts net spiele, Herr Stehkragen!« schrie sein Partner wütend. »Sie dhun ja net emal Farb' bekenne'!«

Das hatte Benno auch eingesehen und hatte das Kartenspielen leichten Herzens aufgegeben.

Die nächste Station auf seinem Nachhausewege war das Schaufenster einer Schreibwarenhandlung.

Die Spezialität dieses Geschäftes waren zärtliche Ansichtspostkarten, mit denen das ganze Schaufenster übersät war. Und diese Dokumente menschlicher und unmenschlicher Geschmacklosigkeit bereiteten Benno täglich von neuem ein ungeheures Vergnügen.

Wie man nur solches Zeug zeichnen, drucken, kaufen und gar verschicken konnte?

Also diese weiblichen Puppengesichter waren der Idealtyp der Frauenschönheit! Diese fettsüchtigen Busen und Elefantenwaden sollten einen Mann entzünden! Und diese faden geschniegelten Mannspersonen mit dem schneidigen Schnurrbart und Pomadescheitel waren das Höchste, was Allmutter Natur an männlicher Schönheit hervorbringen konnte!

Die Menschen sin meschugge, dachte Benno. Da is mitten in der Stadt ein Lachkabinett, wie's auf keinem Jahrmarkt köstlicher zu finden is – unn die Leut' stehn mit todernsten Gesichtern davor!

Er selbst hätte sich vor Lachen schütteln können.

Das Herrlichste waren entschieden die blondzöpfigen Mädchen, die an einem Tisch saßen und mit verklärten Kalbsaugen irgendwohin nach der Decke sahen, als ob sie sich in den Gaslüster verliebt hätten. In der Ecke stand etwa:

Weilst du auch ferne in der Ferne,
Ich schwebe bei dir überall,
Ich hab' dich ja so lieb und gerne
Und lausch' dem Lied der Nachtigall.

Also die Nachtigall war an den Kalbsaugen schuld – nicht der Gaslüster.

In vergnügtester Stimmung kam Benno am Uhrtürmchen an, wo er wieder durch die Promenade nach der Großen Gallusgasse abbog.

Das war eigentlich ein kleiner Umweg, aber er machte ihn täglich, um das Stückchen Promenade, inmitten des Häusermeeres, zu genießen.

Und dann stand in diesem Abschnitt der Frankfurter Anlagen, die den beneidenswertesten Schmuck der Stadt bilden, der Trompetenbaum.

Vor vielen, vielen Jahren, als Benno noch in die Schule ging, hatte der Naturgeschichtslehrer die Klasse auf diesen Baum aufmerksam gemacht und empfohlen, sich die eigenartig geformten Blätter zu betrachten.

Der Lehrer war nun schon lange tot, aber noch immer stand alltäglich Benno vor dem Trompetenbaum still und beschaute ihn ein Weilchen. Und dachte dabei hie und da des ehemaligen Naturgeschichtslehrers, des Professors Noll, der der Abgott aller seiner Schüler gewesen war.

Noch aus einem anderen Grunde bog Benno Stehkragen am Uhrtürmchen links in die Promenade ab: rechts vom Uhrtürmchen stand in den Anlagen das Riesendenkmal Bismarcks, das er nicht leiden konnte.

Nicht als ob Benno ein schlechter Patriot gewesen wäre, oder ein »Gegner« Bismarcks. Benno liebte sein Vaterland inbrünstig, und vor Bismarck besaß er einen tiefen, beinahe ängstlichen Respekt.

Aber an dieser Stelle hatte ehemals ein anderes Denkmal gestanden: das Denkmal eines Stadtgärtners, der sich um die Anlagen besonders verdient gemacht hatte. Das schlichte Monument des Stadtgärtners hatte dem Reichsgärtner Platz machen müssen und war an eine weniger verkehrsreiche Stelle der Anlagen versetzt worden.

Und das verzieh Benno der Stadt nicht.

Damals hatte er in Gedanken eine große Rede zugunsten des alten Stadtgärtners gehalten, der in Erz gegossen so freundlich dasaß, als wollte er jedem Vorübergehenden einen guten Tag wünschen, eine große Rede über das bittere Thema: »Immer müssen die Kleinen den Großen den Platz warm halten, bis sie beiseite geschoben werden.«

Es war eine fulminante Rede gewesen, viel zu pathetisch für den geringfügigen Anlaß, und man konnte Benno nur dazu gratulieren, daß er diese Rede, wie alle seine Volksreden, lediglich in Gedanken gehalten hatte.

Der Trompetenbaum war besichtigt – »Trompetenblüte«, das wäre eigentlich eine ganz schöne Morgentitulation für Fräulein Böhle gewesen; die Blumennamen gingen ihm sowieso aus – und Benno kam auf dem Roßmarkt an.

Diesen Platz liebte er.

Sah man doch von ihm aus zwei Denkmäler von Männern, denen er die heiligsten Stunden seines Daseins verdankte: Gutenberg und Goethe.

Und er dachte: Wenn ich da droben der Gutenberg wär' – und ich tät' die vielen Menschen mir zu Füßen 'erumwimmeln sehen – die vielen, miesen Menschen – und könnt' nicht davonlaufen – weil mich der Fust am Rockzipfel festhalten tät' – und könnt' merr nicht die Haar' ausraufen – weil mir der Bildhauer so e mittelalterliche Kapp' aufgesetzt hat – ich tät' sagen: »Ihr Menschen,« tät' ich sagen – »is es e Wunder – daß euer Gemüt beständig friert – und euer Herz den Schüttelfrost hat – und eure Seele den Schnupfen? – An dem heiligen Feuer der Kunst geht ihr vorüber – und wollt euch wärmen an dem Streichhölzchen des Amüsements! – Was gründet ihr ewig Kinos – und Tingeltangels – und Kabaretts – und neue Weinkneipen mit alter Damenbedienung? – Für das Veilchensträußchen, das ihr einer Chansonette zuwerft – die ihr'n Rock hochgehoben hat – weil se mit Recht findet, daß sie im Schmutz watet – könntet ihr euch fünf Reclam-Bändchen kaufen – und könntet für zwanzig Pfennig mit der Jungfrau von Orleans – oder der Iphigenie – oder dem Klärchen – das Wasser des Lebens trinken, – statt mit einer baufälligen Schickse für zehn Mark gepanschten Sekt! – Seid ihr überhaupt wert, daß die Buchdruckerkunst erfunden worden is?« – Und während ich, der Johannes Gutenberg, so red', seh' ich plötzlich aus der Junghofstraß' e Licht näherkommen – und das is ein Blondkopf – und es is der Fräulein Böhle ihr Kopf, der da kommt – und ihr Leib kommt natürlich auch – und ich spring' herunter von dem Sockel – und der Fust kann mich nicht mehr festhalten, sondern er behält meinen Rockzipfel in der Hand – wie die selige Potiphar dem Joseph seinen Paletot – und er tät' verdutzt ausrufen – ganz wie damals die Potiphar: »No, was is?« – und ich tät' schreien: »Fräulein Böhle, für dich hab' ich die Buchdruckerkunst erfunden – ich, Benno Stehkragen – und alles, was die Dichter an Frauenlob gesungen haben, gilt dir« – und dann …

Und dann war er in seinem Traum wieder bei Martha angelangt, er, der entschieden bestritten hätte, verliebt zu sein.

Während des langen Wachtraumes waren seine krummen Beinchen in das Salzhaus getrippelt und wandelten jetzt durch die Altstadt, in die die Bautätigkeit der Neuzeit klaffende Breschen gelegt hatte – mehr zur Freude der Kriminalpolizei als zur Freude der Geschichtsfreunde – und schritten über die alte Mainbrücke, deren Schicksal gleichfalls bereits besiegelt war.

Er blickte in den Main hinab, wo in flinken Ruderbooten zur nächsten Regatta geübt wurde, sah die schweren Lastkähne und hörte den Schlepper prusten.

Und malte sich im Weiterschlürfen aus, wie es wäre, wenn …

Wenn er jetzt auch den Main hinunterschwämme, der auf altfrankforterisch »Mää« geschrieben wird und auf neufrankforterisch »Moi« gesprochen wird – und ein Haifisch wär' – und hätt' den Jonas im Bauch – und es käm' der Wildschütz, der aus der Sage und einem schönen Stoltzeschen Gedicht bekannt is – und tät' ihm einen Neuner in den Bauch schießen – wie seinerzeit in die Wetterfahne des Eschersheimer Turms – und wie dann …

Und er kletterte bereits den Sachsenhäuser Berg hinauf und schwitzte, denn es war ein warmer Vorfrühlingstag.

Dort oben wohnte Benno Stehkragen im letzten Hause, als solider Zimmerherr der Tapeziererswitwe Josephine Petterich.

War Benno menschenscheu, daß er sich in das letzte Haus der Stadt zurückzog?

Flüchtete er vor der Großstadt in die Natur?

Nein. Denn sonst hätte er gewiß das rückwärtige Balkonzimmerchen bewohnt, das ihm Frau Petterich zuerst angeboten hatte, dieses Zimmerchen, das den Vorzug eines separaten Eingangs von der Treppe aus besaß, und das eine liebliche Aussicht in die Gemüsegärten und Obstpflanzungen des gesegneten Sachsenhäuser Berges bot, bis hinter an den Rand des Waldes.

Auch von den Vorderzimmern, die auf einen kleinen Hof hinaussahen, hatte er keines genommen, obwohl ihn dort sicherlich kein Straßenlärm gestört hätte.

Ein Zimmer an der Nordfront hatte er gewählt, durch dessen Fenster er nichts erblickte als die Rückwände der Nachbarhäuser, Fenster mit verblichenen Vorhängen, Küchenbalkone, die oft genug als Reserve-Rumpelkammern dienten.

Und an dieser unbegreiflichen Wahl war eben Fräulein Rita von Veldern schuld – jenes Fräulein Rita, dessen Bild Martha in Bennos Gedächtnis beinahe ausgelöscht hatte.

Die Sache war so:

Lange Jahre hatte Benno im Zentrum der Stadt gewohnt, nicht unweit der Industriebank, die sich damals noch im Oederweg befand.

Er wohnte bei der streng rituell jüdischen Familie Seligmann, die ihn wie einen Sohn des Hauses behandelte und alle seine Eigenarten willig in Kauf nahm. Dort hatte er mit dem Oberhaupt der Familie nach Herzenslust der Neigung zu talmudistisch-spitzfindigen Erörterungen frönen können, und wenn die soziale Frage, das Rätsel des Fortlebens nach dem Tode und das Problem der Abstammung des Menschen immer noch nicht endgültig gelöst sind, so kommt das einfach daher, daß niemand die Abendgespräche dieser beiden kreuzbraven, aber recht skeptischen Juden mitstenographierte.

Diese Diskussionsabende ohne Ende und mit Allerweltstagesordnung begannen in der Regel erst nach dem Abendessen, wenn die Kinder, an denen Benno innig hing, zu Bette gebracht waren und die Frau des Hauses sich mit einer Handarbeit in eine Zimmerecke zurückgezogen hatte.

Dort saß sie schweigend, stolz auf das Wissen ihres Mannes, und »freute sich, wenn kluge Männer reden, daß sie verstehen konnt', wie sie es meinen«.

Die Stunden zwischen Geschäftsschluß und Abendessen verbrachte Benno in der Regel in seinem Zimmer.

Und da hatte er zum ersten Male durch das offene Fenster eine Frauenstimme singen hören:

Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt …

Der belesene Benno glaubte sich zu erinnern, daß dieses Gedicht von Eichendorff ist; von wem die Komposition stammte, wußte er nicht. Und noch weniger wußte er, wer die Sängerin war.

Aber so viel Musikempfinden besaß er, daß er merkte: Diese nicht sehr große Stimme hatte einen ungewöhnlich lieben, weichen Klang, und das begleitende Klavier war ein unmöglicher Kasten.

Er legte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch und hielt am Fenster Umschau nach der Sängerin.

Da war das Lied plötzlich abgebrochen, und so aufmerksam er lauschte, der Gesang ließ sich an diesem Abend nicht mehr hören.

»Wohnt hier in der Näh' eine Sängerin?« frug Benno Stehkragen beim Abendessen die Frau des Hauses.

»Es is merr nix bekannt,« erwiderte Frau Emilie. »Soll ich emal das Dienstmädche' frage?«

»Nein, nein!« dankte Benno. »Ich hab' nur gemeint!«

Aber Frau Emilie frug doch das Dienstmädchen, als dieses das Bier brachte, und das Mädchen antwortete achselzuckend: »E Sängerin? Ich waaß net! Es kreischt als so aane!«

Mehr wußte sie nicht.

Und die Sängerin »krisch« noch öfters.

Am nächsten Abend ertönten freilich nur Vokalisen und leichte Gesangsetüden. Das war wenig genußreich für Benno, aber er war vernünftig genug, einzusehen, daß dieses Übel notwendig war.

Dafür wurde er zwei Abende später reichlich entschädigt: er bekam nicht nur das schöne Schumannsche Lied mehrfach zu hören, sondern auch den dankbaren »Lenz« von Hildach und das flotttriviale »Noch sind die Tage der Rosen«.

Lauter Frühlingslieder! sagte er sich. Es muß ein junges, frisches Geschöpf sein, das aus Lust am Singen ihre Lieder in den Abend jauchzt.

Er konnte ja nicht wissen, daß die unbekannte Sängerin diese drei Lieder für das Stiftungsfest des Schornsteinfegervereins »Die lustigen Rauchfänger« einstudierte.

Der Abendgesang wurde ihm bald etwas Vertrautes, etwas, worauf er wartete und sich freute.

Und an den Abenden, da der Gesang ausblieb, empfand er eine Enttäuschung und gab bei den Diskussionen mit seinem Hausherrn über die Seele des Menschen auffallend pessimistische Ansichten zum besten.

Bald hatte er auch herausgebracht, aus welchem Fenster der Gesang ertönte: aus dem vierten Stock einer benachbarten Mietskaserne.

Viertes Stockwerk – also gehörte die Sängerin der weniger bemittelten Volksschichte an, und das war ihm, aus einem unklaren Gefühl heraus, angenehm.

Auch das entsetzliche Klavier, das Benno Stehkragen ein gelindes Grauen einflößte, ließ darauf schließen, daß die Besitzerin keineswegs an Geldüberfluß litt.

So is die Welt, meditierte Benno Stehkragen. Könnte die Antonie Hochberg von der Bockenheimer Landstraß' nicht einmal eine halbe Handvoll Coupons dazu verwenden, einem armen talentierten Mädchen ein anständiges Klavier zu bescheren? Nur zwei, drei Perlen aus ihrem Halsband hätte sie zu opfern brauchen, um ein erstklassiges Instrument zu erstehen!

Mit diesen Gedanken tat Benno Stehkragen übrigens der dicken Antonie Hochberg unrecht. Er konnte ja gar nicht wissen, ob diese Frau nicht in der Tat sehr wohltätig war.

Bennos Interesse an der Sängerin wuchs von Tag zu Tag.

Sie begann bereits, in seinen Phantasien eine Rolle zu spielen:

Wenn ich das alte Klavier wär' – und ich wär' seit drei Jahren nicht gestimmt – und nicht gereinigt – sondern meine Tasten täten aussehen wie schlecht geputzte Zähn' – und es kämen zehn rosige Mädchenfinger – und täten auf merr 'erumtippen – bimbimbim in die hohen Tön' – und bumbumbum in die tiefen Tön' – und so schnell, als wär' ich e Schreibmaschin' – ich tät' alle Kraft zusammennehmen, die Lust und auch den Schmerz – und tät' klingen wie e Konzertflügel für monatlich hundertfünfzig Mark Abzahlung – oder dreitausend Mark bei Barzahlung! – Und alle Leut' müßten sagen, die auf dem Klavier spielen täten: »Gott, was hat der Benno Stehkragen for en schönen Ton!« – und wenn die schöne Sängerin auf die Pedale treten tät' – dann tät' ich nicht etwa stöhnen: »Au, meine Hühneraugen!« – sondern ich tät' nur denken: »Was se für reizende, kleine Füßchen hat! – Ihr ganzer rechter Fuß is kaum so breit wie bei mir die linke große Zeh'« – und ich wär' das glücklichste Klavier auf der Welt – und ich …

Benno versuchte, sich ein Bild der unbekannten Sängerin zu machen.

Das war freilich nicht so einfach, denn die einzige Dame, mit der Benno nähere Beziehungen angeknüpft hatte, war die Göttin Phantasie, ein heidnisches Fräulein, das mit dem lieben Gott die gemeinsamen Eigenschaften hat, unsichtbar und gestaltlos zu sein.

Benno begann, die weiblichen Köpfe in den Schaukästen der Photographen zu studieren, aber keiner entsprach dem Bild, das seine dunkle Ahnung von der Sängerin entworfen hatte.

Die einen waren ihm zu selbstbewußt, die anderen zu schmächtig, jene zu walkürenhaft, diese zu unbedeutend.

Blond, jung, mit großen, träumerischen Augen stellte er sich das Mädchen vor, dessen Stimme ihn behext hatte.

Eines Abends, als er sie wieder singen hörte, trat er vor den Spiegel und beschwor ihn:

Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?

Aber der Spiegel warf nur sein eigenes Bild zurück, von dem sich schwerlich behaupten ließ, es sei das schönste Bild im ganzen Land.

Die Neugier nach dem Aussehen der großen Unbekannten ließ ihm keine Ruhe, und schließlich faßte er den für seine Begriffe ungeheuerlichen Entschluß, ihre Bekanntschaft zu suchen.

Wäre er ein Stuart Webbs gewesen, von dessen Spitzfindigkeit die Kinos sämtlicher Weltteile Wunder berichten, oder ein Nick Carter, dessen Detektivtaten in unzähligen Zehnpfennigheften mit furchtbar farbigem Umschlag gefeiert werden, so hätte er wohl gewußt, wie er sich hätte anstellen müssen.

Stuart Webbs wäre in einem solchen Fall einfach in das Hinterhaus gestiegen, in das vierte Stockwerk, hätte die Fußspuren auf dem Boden nachgemessen und die Füße sämtlicher Frankfurterinnen so lange mit diesen Spuren verglichen, bis er die Sängerin herausgefunden hätte.

Leider aber pflegte Benno kein Kino zu besuchen, und er kam deshalb nicht auf einen so genialen Einfall.

Er ging vielmehr geradewegs auf das Haus zu, aus dessen viertem Stockwerk der Gesang zu tönen Pflegte, schlich sich wie ein Einbrecher die vier Treppen empor, um an der Türe den Namen der Bewohner zu erforschen.

Ach, es war das erstemal, daß Benno Stehkragen auf Liebespfaden wandelte, und er stellte sich dabei keineswegs kühn wie ein Kinoheld an. Jeder Quartaner hätte mitleidig über den Anfänger gelächelt.

Sein Herzchen klopfte bis in den Buckel hinauf, und wäre ihm jemand auf der Treppe begegnet, er hätte in seiner Verzweiflung die Hände emporgestreckt und gerufen: »Ich ergeb' mich!«

Atemlos stand er vor der Türe im vierten Stock.

Dort war ein verrostetes Blechschild angebracht mit der Aufschrift: »Adam Käsberger, Schornsteinfeger.«

Und darunter war eine schmutzige Visitenkarte angenagelt, der die rechte obere Ecke fehlte: »Rita von Veldern, Mitglied des Frankfurter Opernhauses.«

Benno nahm ehrfurchtsvoll seinen Hut ab und machte eine tiefe Verbeugung.

Also Rita hieß sie. Natürlich kam es ihm so vor, als hätte er noch nie einen schöneren Namen gehört.

Er hätte sich gar nicht gewundert, wenn sich in diesem Augenblick die Tür geöffnet hätte und eine Prinzessin hervorgetreten wäre, um ihn mit einer unsagbar lieblichen Geste einzuladen: »Treten Sie näher in unser Königreich.«

Und er hätte dann mit verklärtem Antlitz gestammelt: »Sehr angenehm! Königliche Hoheit gestatten, daß ich mich vorstelle: Benno Stehkragen, Beamter der Industriebank. Noch zu haben!«

Aber die Tür öffnete sich nicht. Wohl aber entfiel den zitternden Händen Bennos der Hut und rollte die vier Treppen hinab, und hinter ihm her rollte alsbald Benno Stehkragen, erhaschte im Hausflur seinen Hut, der nun allerdings nicht mehr aussah, als ob er aus einem Königreich käme, und machte sich auf den Heimweg.

Und obwohl der Text zu Lohengrins Schwanenlied unabänderlich feststeht, sang er doch während des ganzen Weges auf diese Melodie den neuen Text: »Rita, Rita, Rita.«

Wer erst einmal auf verbotenen Wegen gewandelt ist, kann es bekanntlich nicht mehr lassen. Denn gerade auf den verbotenen Wegen blühen die schönsten Blumen, leuchten die hellsten Sterne und wachsen die dicksten Kartoffeln.

Benno, der schüchterne, tugendsame Benno, beschloß, auf dem verbotenen Weg weiter zu wandeln, und sollte er auch schnurstracks in die Hölle führen.

Wiederum zeigte es sich, daß Stuart Webbs und Nick Carter an Bennos Stammbaum gänzlich unbeteiligt waren.

Zwischen seiner Wohnung und dem schornsteinfegerlichen Königreich lag eine Delikatessenhandlung, die das Stelldichein sämtlicher Dienstmädchen der Umgegend zu bilden pflegte. Dort wollte Benno Näheres über Rita erfahren. Er gedachte, dort irgendeinen Einkauf zu machen und bei dieser Gelegenheit die Besitzerin des Geschäftes auszufragen.

Kaum hatte er diesen Entschluß gefaßt, als er auch schon vor der Kühnheit seines Unternehmens zurückschreckte.

Drei Tage zauderte er.

Als aber am Abend des dritten Tages wieder der Sirenengesang durch das offene Fenster in sein Zimmer getönt war, und zwar diesmal das für alle unverliebten Ohren schreckenerregende Lied »Lieb' mich, und die Welt ist mein«, da raffte sich Benno auf mit dem festen Entschluß, die Welt zu diesem billigen Preise zu erwerben.

Lange stand er am nächsten Mittag vor der Tür des Delikatessengeschäftes. Er hatte seinen besten Anzug angezogen. Wohl zehnmal hatte er die Hand auf die Türklinke gelegt, bis er es unter Aufgebot seines ganzen Mutes über sich gewann, die Klinke niederzudrücken.

Mit einem jähen Ruck öffnete sich die Tür, Benno erschrak heftig über das Klingelzeichen und wäre gern wieder davongelaufen. Aber schon hatte sich der blondgescheitelte Verkäufer, der während der Mittagsstunden die Ladeninhaberin vertrat, und der aussah, als sei er aus dem Schaufenster eines Friseurs durchgebrannt, des unglücklichen Benno bemächtigt, und alsbald rasselte eine solche Fülle von Warenanpreisungen auf Bennos verstörtes Haupt hernieder, daß sich der Ärmste nicht mehr zu helfen wußte.

O, es war ein tüchtiger Kommis, und er wußte genau, daß Müllers Stiefelwichse die beste ist und Bergers Hühneraugenpflaster, nur echt mit dem Namenszug des Erfinders, Wunder wirken, und er machte aus diesen Kenntnissen Benno gegenüber kein Geheimnis.

Als Benno zehn Minuten später wieder vor dem Laden stand, hatte er fünf Büchsen Brechbohnen, drei Pfund gedörrtes Obst, zwei Pakete Margarine, eine Kokosnuß und für dreißig Pfennig Bartwichse gekauft – dem Königreich aber war er keinen Schritt näher gekommen.

So also ging es nicht.

Überhaupt, sagte sich Benno mißmutig, als er zu Hause die Pakete auspackte, was geht dich die Sängerin an? Schreib' deine Fakturen und kümmer' dich nicht um fremde Damen! Geh' nicht auf die Mädchenjagd, du bringst's doch nur bis zum Sonntagsjäger! Du weißt's doch aus der Odyssee: Wenn die Sirenen singen, soll merr sich die Ohren mit Watte verstopfen!

Und Benno verschloß an den nächsten beiden Abenden, sobald der Gesang Ritas ertönte, heroisch die Fenster und hielt sich das rechte Ohr zu.

Und hörte nur ganz heimlich mit dem linken Ohr hin.

Aber der Kopf denkt, das Herz lenkt.

Benno ertappte sich dabei, daß er täglich den Theaterzettel des Opernhauses studierte, um den Namen Rita von Veldern zu entdecken.

Aber er fand ihn nicht. Und das bedeutete keinen Mangel an Scharfsinn, denn selbst ein Stuart Webbs und Nick Carter würden den Namen dort nicht entdeckt haben. Aus dem einfachen Grunde, weil er nicht dort stand.

Sollte die Visitenkarte an der Tür des vierten Stockwerkes gelogen haben?

Benno überlegte.

Er wollte der Visitenkarte nicht unrecht tun; sie hatte so vertrauenerweckend schmutzig ausgesehen.

Er sagte sich: Wahrscheinlich tritt sie nicht unter ihrem Familiennamen von Veldern auf, sondern sie hat sich einen Bühnennamen zugelegt.

Er fand dies sogar ganz in der Ordnung.

Und gestand sich: Wenn ich ein großer Schauspieler wär', ein so großer Schauspieler, wie ich ein kleiner Schlemihl bin, ich tät' auch nicht unter meinem Namen Benno Stehkragen, oder Benno von Stehkragen, auftreten.

In solchen Gedanken ging Benno eines Abends den Oederweg hinunter. Die Straßenlaternen brannten trübe, und trübe flackerte das Lämpchen in Bennos Herzchen. Ihm fehlte das Öl der Leidenschaft.

Wenn ich jetzt der Don Juan wär', philosophierte er, der große Liebespraktikus aus Spanien – dann tät' ich merr eine Mandolin' kaufen – und tät' in der nächsten Vollmondnacht nach dem Oederweg 69 schleichen – und tät' mich in den Hof stellen wie en Orgelmann – und mein Diener Leporello müßt' achtgeben, daß kein Schutzmann kommt – und ich tät' auf meiner Mandolin' 'erumpauken – und tät' mit mei'm Mozartschen Bariton meinen Liebeskummer in die Nacht 'erausheulen – und dabei mit großen Schritten auf und ab gehen und e bißchen mit dem Säbel scheppern – und wär' unwiderstehlich! – Und es tät' sich im vierten Stock ein Fenster öffnen – und ein weiblicher Mädchenkopf 'erausgucken – und se tät' merr ebbes herunterwerfen – nicht zwei Pfennig in Papier gewickelt, sondern ihr Herz – ihr gerührtes, rotes Herz – und ich tät's mit mei'm spanische Käppche' auffangen – und ich …

Benno blieb plötzlich mitten auf der Straße und mitten in seiner Träumerei stehen.

Ihm entgegen kam ein Fräulein, das einige Notenhefte unter dem Arm trug.

Benno wußte sofort: das ist sie.

Er blinzelte nach dem obersten Notenheft – es war der »Lenz« von Hildach.

Rita von Veldern trug einen karierten Rock, eine verwaschene hellblaue Bluse mit einem breiten, maschinengearbeiteten Spitzenkragen. Ihre Kleidung schien etwas vernachlässigt und geizte offenbar danach, für kostspieliger zu gelten, als es der Wahrheit entsprach.

Ich weiß nicht, welche Altersberechnung im Feenreich üblich ist – nach irdischer Berechnung stand Rita in der Mitte der dreißiger Jahre.

Ein unscheinbares, verblühtes Persönchen, das auf recht ausgiebig geratenen Füßen durchs Dasein trippelte. Das spärliche dunkle Haar war unter einem großen, abenteuerlichen Hut verborgen, der aussah wie »von Herrschaften abgelegt«.

Das Gesicht war nicht hübsch, nicht häßlich, ein gutbürgerliches Durchschnittsgesicht, das ehemals, als noch die Jugend es belebte, wohl küssenswert gewesen sein mochte. Den entschwundenen Glanz ersetzte die Kosmetik nur höchst unvollkommen.

Benno mußte zugeben, daß man sich eine Märchenprinzessin gewöhnlich etwas anders vorstellt.

Machte nichts. Hatte er, der bucklige Benno Stehkragen, ein Recht, über die körperlichen Vorzüge und Fehler seiner Mitmenschen zu Gericht zu sitzen?

Und wäre Rita häßlich wie die Nacht gewesen, ihre Stimme war zart und lieblich und besaß die Gabe, Licht in die Seele eines unansehnlichen, harmlosen Hagestolzes zu gießen und Frühling in ein schmuckloses Junggesellenzimmerchen zu zaubern.

Unwillkürlich hatte Benno sie gegrüßt.

Rita von Veldern schaute ihm erstaunt in die Augen, und er fühlte, daß sie sich umkehrte und ihm nachsah.

Daß sie ihm in die Augen sah, konnte Benno, der blutrot geworden war, nicht erschrecken, aber daß sie ihm nachblickte, war peinlich. Denn nun mußte sie den Buckel sehen.

Und wenn ihr vielleicht seine Augen gefallen hatten, der Buckel mußte jede Sympathie ersticken.

»Eigentlich,« hatte Benno einmal in seiner selbstironischen Art gesagt, »eigentlich hat der liebe Gott aus mir ein Kamel machen wollen. Aber wie er den Buckel geschaffen gehabt hat, da war er ihm doch für ein Kamel nicht schön genug! Und da hat er halt den Benno Stehkragen draus gemacht.«

Übrigens übertrieb Benno die Wirkung des Buckels bedeutend. Es ging ihm wie jenem Prüfungskandidaten, dem ein Knopf an der ungeeignetsten Stelle offen stand, der nun meinte, jeder Professor fixiere gerade diese Stelle, und der darüber durchs Examen fiel, obwohl sein kleines Toilettemißgeschick von niemandem bemerkt worden war.

So brachte sich Benno um jede Freundschaft mit Frauen und um das höchste Erdenglück, um Liebe, durch seinen eigensinnigen Argwohn, sein Buckel müsse jeden Menschen abstoßen.

Seit Benno Stehkragen Rita mit Augen gesehen hatte, ward ihm ihr Gesang noch wertvoller.

Freilich, die Illusion des goldblonden Engels war unrettbar dahin. Aber der Verlust dieser Illusion hinterließ keine brennende Wunde.

Es trat einfach an die Stelle seines schönen Traumes ein anderer schöner Traum, der in weniger überirdischen Gefilden spielte, dafür aber an Leben und Wahrscheinlichkeit gewann.

Benno kannte nun die Sängerin von Angesicht, und damit erhielten ihre Lieder für ihn etwas Persönliches, Intimeres.

Er konnte sie sich jetzt recht gut während des Singens vorstellen, und ihm war, als sänge sie für ihn allein.

Er sah Rita öfters auf der Straße, und jedesmal grüßte er sie.

Sie wunderte sich nicht mehr über diesen Gruß, sie dachte sich: Wahrscheinlich ist es irgendein Bekannter vom Schornsteinfegerball. Und sie erwiderte lächelnd seine Begrüßung.

Weiter als bis zu diesem Grußverhältnis entwickelte sich die gegenseitige Bekanntschaft vorerst nicht. Und Benno war damit vollauf zufrieden.

Ja, mehr als das, er war glücklich.

Bis die Stimme der Sängerin mehrere Abende hintereinander stumm blieb.

Die Fenster von Bennos Zimmer standen weit offen, ausgebreiteten Armen vergleichbar, die des Liebsten harren. Oder, um ein echteres Bennosches Bild zu wählen: einer Mausefalle vergleichbar, in der als Speckbrocken Bennos Herz hing.

Kein Gesang wogte herein. Nur die feuchte Herbstluft zog ein, machte es sich auf Bennos Sofa, in Bennos Bett bequem, kletterte die Wände auf und ab, bis sie sich zuletzt in Bennos aufgestülpte Nase verkroch und in Gestalt eines Stockschnupfens dort bis in den Januar wohnen blieb.

Keines der gebräuchlichen Schnupfenmittel erkannte sie als Kündigungsgrund an.

War Rita krank?

Er sah sie jetzt auch nicht mehr auf der Straße.

Seine Unruhe wuchs von Abend zu Abend.

Alle die Besorgnisse, die sonst nur in liebevollen Mutterängsten ihr Unwesen treiben, erwachten in ihm. Am Ende war sie von der Elektrischen überfahren worden?

Oder auf der Straße ohnmächtig geworden und lag jetzt irgendwo in einem Krankenhaus und konnte in ihrem Fieberzustand keine Auskunft über ihre Personalien geben?

Oder … oder … Jede Frankfurter Mama kennt einen ganzen dicken Konversations-Lexikons-Band voll solcher »Oders« – eines immer katastrophaler als das andere.

Benno dachte daran, auf die Polizei zu gehen. Schließlich zog er es vor, wieder das Orakel des Delikatessengeschäftes zu befragen.

Und diesmal war die Pythia selbst anwesend und nicht der stellvertretende Hohepriester mit dem Pomadenscheitel und den Billige-Jakobs-Manieren.

Diese Pythia drückte sich weit eindeutiger aus als ihre berühmte delphische Kollegin.

»Wo die Käsbergers sin? Wo wer'n se sein? 'nausgeschmisse sein dhun se! Des wär' merr des Rechte: de liewe lange Dag de Leut' die Ohr'n vollorjele unn kaa Miet' berappe! Nix wie enaus mit so're Gesellschaft!«

Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküßt – das nannte die Frau »die Ohr'n vollorgeln«!

Jetzt erfuhr Benno auch, daß Rita von Veldern nur ein Bühnenname sei, und daß die Rita (»No, ich will nix sage, awwer wann ich redde wollt' …!«) die Tochter Katharine des Schornsteinfegers Käsberger war.

Das alles war sehr niederschmetternd.

Und Benno kaufte in seiner Zerknirschung mehrere Pfund Stücksoda, zehn Büchsen Leipziger Allerlei und drei Bündel Knoblauch.

Mühsam raffte er sich zu der Frage auf, ob die gute Frau nicht wisse, wo die Käsbergers jetzt wohnten?

O ja, das wußte die gute Frau sehr genau. Sie hatte ein großes Interesse an der Adresse, denn die »Bagasch« war ihr noch Geld für Waren schuldig. Und nicht nur ihr, sondern fast sämtlichen Geschäften in der Nachbarschaft.

»Uff'n Sachsehäuser Berg sin se gezoge. Vielleicht dhun ihne de Sachsehäuser noch ebbes bumbe, die Frankforter dhun's net mehr!«

Die volle Wahrheit über Rita von Veldern, geborene Katharine Käsberger, erfuhr Benno auch hier nicht.

Nur so viel hörte er aus der lieblosen Schilderung heraus, daß die Rita ein armes Geschöpf war.

Und das war sie in der Tat.

Ursprünglich war Katharine keineswegs zur Künstlerin bestimmt gewesen. So schwarze Pläne hegte der Schornsteinfeger nicht mit seiner Tochter. Er hatte sie vielmehr als Lehrmädchen in ein großes Warenhaus gesteckt, wo sie alsbald in die Geheimnisse des Wareneinpackens und Verschnürens eingeweiht wurde.

Nebenbei nahm sie Schreibstunden, denn ihre Schriftstücke hatten bisher stets ausgesehen, als habe ihr Vater beim Nachhausekommen vom Beruf sich die Hände daran abgewischt.

Der Schreibunterricht hatte befriedigenden Erfolg, und es läßt sich nicht leugnen, daß die heimlichen Zettelchen, die sie nach etwa einjähriger Lehrzeit einem Kommis der Seidenabteilung zukommen ließ, eine bedeutend bessere Handschrift aufwiesen als der Briefwechsel, den sie ein halbes Jahr zuvor mit einem Buchhandlungsgehilfen postlagernd geführt hatte.

Den Gesang übte sie damals nur als Dilettantin aus; sie sang wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet, nur nicht so schön.

Und sie dachte nicht daran, diese Gabe Gottes als Erwerbsquelle auszubeuten – bis zu jenem verhängnisvollen Abend, an dem sie im Verein »Die lustigen Rauchfänger« das ergreifende Lied vortrug von dem schlechten Kerl, der »mich nie geliebt« hat. Und als Zugabe das Baßlied von der »Krone im tiefen Rhein«, für Sopran bearbeitet.

An jenem Abend befand sich unter den Zuhörern als Gast auch der ehemalige Chorist Lebrecht Breivogel, der sich seit Verlust seiner Stimme den Titel »Gesangspädagoge« zugelegt hatte.

Er schlängelte sich an Papa Käsberger heran und machte ihn darauf aufmerksam, daß seine Tochter, die, nebenbei bemerkt, eine herrliche Bühnenfigur besäße, ein Vermögen in der Kehle habe. Ein Vermögen, das keineswegs so schwer zu heben sei, wie die Krone im tiefen Rhein.

Und es ginge zwar gegen seine Prinzipien, und er habe auch alle Hände voll zu tun, aber er wolle ausnahmsweise, ganz ausnahmsweise die Stimme des gnädigen Fräuleins völlig kostenlos – prüfen.

Papa Käsberger war berauscht von den Zukunftsbildern, die der Gesangspädagoge ihm malte.

Mama Käsberger weinte auf Vorschuß Tränen der Freude und des Stolzes.

Und Katharinchen sah sich bereits in den illustrierten Blättern abgebildet. In einem tiefdekolletierten Seidenkleid, und mit einem Faksimile ihrer verbesserten Handschrift.

Lebrecht Breivogel prüfte die Stimme, und da er dringend Schülerinnen brauchte, entdeckte er ein außergewöhnliches Material. In spätestens zwei Jahren werde das Fräulein ein erstklassiges Engagement haben, dafür garantiere er.

Wenn ein Lebrecht Breivogel für etwas garantiert, so kann es kein Besinnen mehr geben.

Das Warenhaus wurde um eine Einwicklerin ärmer und der große Einwickler Breivogel um eine Schülerin reicher.

Auf dem Auktionswege wurde ein Klavier erstanden, äußerlich so gut wie neu und innerlich ebenso miserabel, und Katharine Käsberger wanderte zweimal wöchentlich zu ihrem Gesangsprofessor Lebrecht.

Und denselben Weg wanderten ihre kleinen Ersparnisse und Papa Käsbergers sauer erworbene Notpfennige.

Vielleicht wäre aus Katharines Stimme etwas zu machen gewesen, hätte ein solider Lehrer sie fleißig gebildet.

Zur Solistin an einem kleinen Stadttheater hätte es das von Hause aus musikalische Mädchen wohl bringen können.

Den Mißhandlungen des Breivogelschen Unterrichts aber war die kleine Stimme nicht gewachsen. Es spricht immerhin zugunsten Katharines, daß ihr Organ den natürlichen Wohlklang nicht vollends einbüßte, und daß sie in verhältnismäßig kurzer Zeit leidlich Klavier spielen lernte.

Ihre Stimme blieb unentwickelt, die Höhe wurde scharf, für die Hebung ihres Geschmacks geschah gar nichts, aber die Stimme nahm in der Mittellage einen rührenden Ausdruck an, wie die Augen eines mißhandelten Kindes.

Und dieser Ausdruck war es, der Benno so sehr bezaubert hatte.

Es war, als klage diese Stimme ihr Leid über die erlittenen Züchtigungen in die Welt hinaus und finde Trost in ihrem eigenen Klang.

Zwei Jahre nach Beginn der Gesangslektionen hatte Katharine zwar kein Engagement, wohl aber ein Kind von ihrem Lehrer.

Mama Käsberger trug das freudige Ereignis mit dem Fatalismus, der so vielen unbemittelten Leuten zur Gewohnheit wird.

Es war eben ein Unglück, da war nichts zu machen.

Papa Käsberger hingegen hatte im ersten Kummer geschworen, er werde dem Breivogel alle Knochen einzeln entzweischlagen. Aber die Wogen seiner Erregung glätteten sich wieder, als Lebrecht versprach, Katharine, die jetzt bereits Rita hieß, zu seiner ehelich angetrauten Gattin zu machen. Er wisse, was seine Pflicht als Ehrenmann sei! Was man eigentlich von ihm glaube? Ritas wundervolle Stimme, ihre Zukunft als gefeierte Sängerin seien ihm Mitgift genug.

Zum zweitenmal fiel die Familie Käsberger auf die Versprechungen Breivogels hinein.

Denn als der lockere Breivogel merkte, daß man Miene machte, ihn beim Wort zu nehmen, entfaltete er seine Flügel und verschwand spurlos aus Frankfurt.

Er überließ seiner Schülerin in uneigennützigster Weise den alleinigen Genuß ihrer glänzenden Zukunft.

Der kleine Lebrecht war ein hübsches Bübchen mit kohlschwarzen Augen. Mama Rita und Großmama Käsberger verliebten sich in ihn, verhätschelten ihn und merkten infolgedessen nicht, daß der kleine Lebrecht eine Eigenschaft besaß, die in bessersituierten Kreisen kein Hindernis in der Karriere ist, für arme Teufel aber verhängnisvoll zu sein pflegt: er war strohdumm.

Mit der Pointe Klein-Lebrecht schloß das Couplet von Ritas Jugend.

Was nun kam, war schlichteste Prosa: eine Prüfung der Stimme durch Sachverständige, die schmerzliche Eröffnung der Wahrheit, ein resigniertes Engagement als Choristin.

Selbst auf diesen gewiß bescheidenen Erfolg war Papa Käsberger noch stolz. Seine Tochter war doch beim Theater, ein Schimmer jener rätselhaften Welt von Glanz und Herrlichkeit drang in seine karge Häuslichkeit, er genoß den Kitzel all des Kulissenklatsches, den seine Tochter von den Proben mit heimbrachte, und der beim Erzählen am Stammtisch und im Verein ihn mit dem Glorienschein des »Wissenden« und gewaltigen Kunstsachverständigen umgab.

Und besaß nicht Rita auch ein sichtbares, lebensgroßes Zeichen ihres Künstlertums?

Ich meine damit nicht den kleinen Lebrecht, sondern den riesenhaften Lorbeerkranz, der in der guten Stube über dem Sofa hing, und dessen Schleife in goldenen Buchstaben die Inschrift trug: »Der vortrefflichen Künstlerin – Die dankbaren Schornsteinfeger.«

Auf die Bildung des musikalischen Geschmacks wirkte die Tätigkeit als Choristin unverkennbar günstig ein. Der Chormeister des Opernhauses war ein gütiger Mann, dem zu einer glänzenderen Karriere nur eines gefehlt hatte: das Glück.

Ein Mann voll Musikverständnis, voll echter Liebe zur Kunst, die ihm auch sein jetziger, wenig erfreulicher Beruf nicht hatte verkümmern können. Ihm fiel bald der natürliche Wohlklang der Stimme Ritas auf, er ließ es nicht an guten Ratschlägen fehlen, nahm wohl auch nach den Chorproben das eine oder andere Lied mit ihr durch, und ihm war es zu verdanken, daß Rita auch Schumannsche und Schubertsche Lieder kennen und singen lernte. Das Bewußtsein, der heiligen Cäcilie als treuer Jünger gedient zu haben, war dem wackeren Manne Lohnes genug für die geopferte Zeit und Mühe. –

Schwere Gedanken belasteten das Hirn Benno Stehkragens auf dem kurzen Heimweg von der Delikatessen-Pythia. Nicht Liebe war es, die ihn für Rita beseelte, nicht einmal Freundschaft. Aber er hatte nun einmal Interesse für dieses Mädchen gefaßt, und er pflegte seine Interessen mit Zähigkeit zu verfolgen.

Und war er ihr nicht auch zu Dank verpflichtet? Zu Dank für die vielen genußreichen Viertelstunden, die ihr Gesang ihm geschenkt hatte?

Gab es hier nicht vielleicht etwas zu helfen, ein bitteres Los zu lindern? Und Hilfe leisten, das war ja eine Lieblingsbeschäftigung Bennos, der in seinen Träumen die ganze Menschheit zu beglücken pflegte.

Oft, wenn er in den Zeitungen die Sammellisten für wohltätige Zwecke las, und dabei auf den Vermerk stieß, »N. N. M. 1000. –«, wünschte er sich: Dieser N. N. möchte ich sein! Kann es etwas Schöneres geben, als unerkannt, ohne anderen Dank als den Dank eines guten Gewissens Wohltaten ausstreuen?

War das nicht noch tausendmal herrlicher als die Kaiserkrone Chinas, der Bürgermeisterhut Gomorrhas?

Um jene Zeit siedelte die Industriebank aus dem einfachen Geschäftshaus im Oederweg in den Dividendenpalast am Bahnhofsplatz über.

Benno beschloß nach schwerem Zögern, diesen Umzug als Grund zur Kündigung seiner Wohnung zu benutzen.

Zwischen zwei großen Bissen polnischen Karpfens brachte er es würgend übers Herz, seinen Hausleuten diesen Entschluß mitzuteilen, und wunderte sich selbst, daß ihm dabei keine Gräte im Hals steckenblieb.

Er müsse näher an das neue Geschäftslokal heranziehen, er verliere sonst zu viel Zeit in der Mittagspause, es täte ihm ja selbst unsagbar leid – der polnische Karpfen wurde schier kalt über seiner Verlegenheitsrede, und dem armen Benno stand der Angstschweiß auf der Stirn.

Am Ende war er doch ein Haifisch? Und diese Rede hielt nicht er selbst, sondern der Jonas in seinem Bauch?

Die Hausleute ließen ihn ungern ziehen. Die Kinder weinten, und auch dem Vater Seligmann war das Schluchzen nahe, als er beim Abschied wehmütig lächelte:

»Beinahe hätten merr die soziale Frage gelöst gehabbt – und grad da müssen Se ausziehen!«

Benno zog »näher« der Industriebank, nämlich – nach dem Sachsenhäuser Berg.

Drei Häuser von Ritas Wohnung.

Dort fand er bei der Tapeziererswitwe Petterich ein Heim, und sogar an der Nordfront des Hauses ein Zimmer, von dem aus er Rita singen hören konnte.

»E Zimmerche wolle Se hawwe?« hatte Frau Petterich an der Flurtüre auf seine Frage geantwortet. »E Zimmerche? Hm, was sin Se dann?«

Die Auskunft »Bankbeamter« hatte sie befriedigt, sie ließ Benno Stehkragen eintreten.

Er sah sich einer kleinen, rundlichen Frau im molligsten Mittelalter gegenüber, deren Auftreten echtestes, resolutestes Sachsenhäuserinnentum verriet: derb, kernbrav, hausmütterlich, handfest.

Der Eindruck des Hausmütterlichen wurde noch verstärkt durch das achtjährige, sauber gekleidete Mariechen, ihr Töchterlein, das neugierig, aber ohne Ängstlichkeit, den Fremdling beguckte.

»Du, Mama, der hat'n Buckel!« sagte es.

»Des guck' ich selwer!« wies Frau Petterich ihre Tochter zurecht.

Und zu Benno gewendet: »So sin die Kinner! Waaß Gott, merr hat sei Last mit dem Gezeppel! Ach, wann mei guder Mann noch lewe dhät, mei Schorsch-selig, der mißt'r alsemal 's Fell versohle – awwer wisse Se, ich selbst breng's net iwwer's Herz! Also hier wär' des Zimmerche! Vom Balkoo aus könne Se bis hinner in de Wald gucke, wann's net grad regne dhut! Der vorigt' Mieter – wisse Se, der Brofessor Langeberjer vom Senkeberjische Inschdidut, e hochaastänniger Mann, vielleicht kenne Se'n? – der hat oft schdunnelang dagesesse unn hat ää Sigarr nach der annern geraacht – es wunnert mich nor, daß'r net aach noch die Schachtel mitgeraacht hat! Ich habb's em hunnertmal gesacht: ›Se verraache Ihne noch des ganze bissi Verstand!‹ awwer gradsogut hätt' ich's der Kommod' do preddige könne – unn er hat vergniegt zugeheert unn hat gesacht: ›Frau Petterich,‹ hat er gesacht, ›net for e Milljoo geww ich des Zimmerche her!‹ ›Ich gebb's for de zehnte Teil,‹ haww ich erwiddert. Ich verzähl's Ihne aach nor, Herr Umlegkrage', damit Se wisse, wie schee der Balkoo is! Mei Schorsch-selig – ach, des war e Mann! So aan gibbt's net widder! Da könne Se ganz Sachsehause in e Sieb schitte unn dorchschittele, so aaner fällt net eraus – der hat als uff dem Balkoo gesesse unn hat gesacht: ›Josephinche,‹ hat'r gesacht, ›des hier is mei Keenigreich. Ich bin der Keenig, bloß haww ich nix zu sage!‹ Des war sei Lieblingsplätzche, bis'r emal erunner geschderzt is iwwer's Gelänner, weil er ze viel gesoffe gehadt hat. Ach Gott, er hat so'n gude Abbedit gehabt, mei Schorsch! Besonnersch Weckklöß mit gekochte Quetsche, da hat'r finf Stick fresse kenne! Unn hat doch nor hunnertdreißig Pund gewoge! Es war e Rätsel, wo des Fresse bei dem Mann hie' komme is! Ja, vier Jahr hat der Brofessor Langeberjer bei merr gewohnt, bis er bletzlich de Rappel krieht hat, unn hat geheierat'. Mit finfunfuffzig Jahrn, e Mädche von einunzwanzig. E ganz arm Mädche. Unn hibsch war se aach net. Awwer ich sag's ja alleweil: Je schdudierter e Mensch is, desto meschuggener is er! Also, wie gefällt Ihne des Zimmerche?«

Benno Stehkragen hatte den Eindruck, als sei Frau Petterich etwas gesprächig.

Er vermutete, daß der selige Schorsch wohl nicht sehr oft zu Worte gekommen sein mochte. Aber die Frau gefiel ihm trotz ihrer Redseligkeit.

Und noch mehr gefiel dem Kindernarr Benno das Mariechen, mit dem er in der Folgezeit gar gut Freund wurde.

Nach zweistündiger Unterredung, in der er sowohl Frau Petterichs als auch Professor Langenbergers vollständige Lebensgeschichte erfuhr, hatte er das Zimmerchen an der Nordfront gemietet.

»Ich dhu noch e besser' Dischdeck' her unn annern Vorhäng an die Fenster! Unn gell, gewwe Se merr ja uff de Deppich acht, es is e Familje-Erbschdick, da hat schonn mei Großmudder de Großvadder geschimbft, wann er mit dreckige Schdiwwel in die Schdub gedappt is.«

Benno zog ein und genoß wieder bei geöffnetem Fenster den Gesang der Käsbergerin.

Er hörte ihn herzlich gerne, aber die ehemalige Verzückung stellte sich nicht mehr ein.

War die neue Umgebung daran schuld?

Oder hatte die lieblose Enthüllung der Käsbergerschen Privatverhältnisse durch die Delikatessen-Pythia doch einen Stachel in Bennos Gemüt hinterlassen?

Rita von Veldern war von der Nachtigall zur Amsel degradiert.

Gewiß, auch die Amsel ist ein recht respektabler Singvogel, aber ihr schwarzes Köpfchen trägt nicht das Diadem der Poesie, mit dem die Dichter einstimmig die Nachtigall gekrönt haben.

Als Katharine an einem theaterfreien Abend mit dem kleinen Lebrecht einen Spaziergang von ihrer Wohnung nach dem Waldrand machte, begegnete ihr Benno.

Sie stutzte, dann brach sie in Lachen aus. Wer war dieser merkwürdige Mensch? Schon auf dem Oederweg hatte er sie immer so feierlich gegrüßt, und jetzt tauchte er plötzlich auch in dieser Gegend auf.

War diese Begegnung Zufall, oder handelte es sich um einen schüchternen Liebhaber?

Mit einer raschen Entschlossenheit, deren Benno nie fähig gewesen wäre, trat sie auf ihn, der vor Staunen den Hut ratlos in der Hand behielt, zu und frug geradewegs:

»Wer sind Sie eigentlich? Ich habe Sie schon öfters gesehen.«

Ehe Benno eine Antwort stammeln konnte, erhob der kleine Lebrecht, der sich vor jedem Fremden fürchtete, ein erschreckliches Geheul und klammerte sich an seine Mutter.

»Ein sehr liebes Kind!« stotterte Benno und legte seine Hand auf Lebrechtchens Kopf – ein Beruhigungsversuch, den dieser angenehme Knabe mit verdreifachtem Gebrüll beantwortete.

Hatte er dieses kräftige Organ von seinem Vater oder von seiner Mutter geerbt?

Rita und Benno starrten sich verdutzt an.

»Er ist etwas nervös,« bemerkte Rita entschuldigend.

»Aber er scheint ein guter Junge zu sein,« sagte Benno verbindlich und zog eiligst seine Hand zurück, denn der gute Junge hatte nach ihr gebissen.

»Ist das Ihr Brüderchen? Er sieht Ihnen so ähnlich.«

»Es ist mein Sohn,« antwortete Rita ruhig und gelassen.

Es gab Benno einen Stich.

»Sie sind verheiratet?« frug er enttäuscht.

»Ich wäre es beinahe einmal gewesen,« belehrte sie ihn freundlich. »Das Lebrechtchen hier ist die Verlobungskarte. Aber die Verlobung ging zurück. Lebrecht, gib dem Herrn die Hand!«

Lebrecht streckte Benno die Zunge heraus.

»Er kennt Sie noch nicht,« erklärte Rita das eigentümliche Verhalten ihres Sprößlings. Und fügte lächelnd hinzu: »Auch ich kenne Sie noch nicht. Wer sind Sie eigentlich?«

»Wer ich bin?« sagte Benno, als Lebrechts Mund endlich mit einem mütterlichen Konfektstück gestopft war, im Weitergehen. »Wer ich bin? In der Hauptsach' bin ich e Buckel. Ich bin – hm, wie soll ich das ausdrücken? – ein Etwas, das so lange Zahlen geschrieben hat, bis es selbst ein Null geworden is. Sie finden meine Verdienste in keiner Literaturgeschichte, in keinem Geschichtsbuch und in keinem Konversations-Lexikon. Und zu allem Unglück heiß' ich auch noch Benno Stehkragen. Aber ich glaub', ich hab' kein schlechtes Herz – nur, wie mitunter die delikateste Leberwurst in schofles Zeitungspapier eingewickelt is, so is mein Herz eingewickelt in meine schofle Gestalt. Und ich frag' mich manchmal selbst, wenn ich morgens beim Aufstehen im Nachthemd vor dem Spiegel steh': bin ich wirklich ein menschliches Hauptwort in dem großen Buch der Schöpfung oder bloß en Druckfehler? Ich bin emal auf dem Rhein gefahren, und wie die Lorelei mich geguckt hat, hat sich vor Schreck ihr goldenes Haar entfärbt, und se hat ihren Frisierkamm ins Wasser fallen lassen, und ihr Lied is ihr im Hälschen steckengeblieben – und da steckt's heut' noch drin! Seit der Zeit singt se nicht mehr. So, jetzt wissen Se, wer ich bin!«

Solch krauses Zeug redete Benno der erstaunten Katharine vor, die nicht wußte, sollte sie lachen oder ernst bleiben.

»Und weshalb grüßen Sie mich immer?« frug sie. »Ich kenne Sie doch gar nicht.«

»Kennt mich der Mond?« gab Benno zurück. »Und doch grüßt er mich jeden Abend! Außer es is grad Neumond.«

Und nun erzählte er ihr, wie viele schöne Augenblicke er ihr schon verdankte, und daß es ihm ein Bedürfnis gewesen sei, sie zu grüßen, ohne daß er sie deshalb mit dem Mond oder sonst etwas Astronomischem vergleichen wolle.

Und jedesmal, wenn in ihrem Gesang der Himmel still die Erde geküßt hätte, hätte er, Benno, in Gedanken ihr kleines Händchen geküßt. Und er bitte nachträglich tausendmal um Entschuldigung.

Katharine fühlte sich durch diese Huldigung geschmeichelt und erfreut. Und auch in Benno keimte eine frohe Gehobenheit.

War er nicht ein Mordskerl? Schritt er nicht elastisch als Kavalier neben einer leibhaftigen Sängerin?

Wenn ihn einer seiner Bankkollegen so sähe, würde er nicht anerkennend schmunzeln: »Sieh mal an, was Bennochen Stehkragen für Sachen macht! Wer hätte das von ihm gedacht?«

Ja, es schlummern männliche Talente in einem, die man selbst nicht ahnt!

Ein Gespräch über Gesang kam in Fluß. Benno lauschte Katharines Weisheiten nur mit halbem Ohr. Er warf von Zeit zu Zeit einen scheuen Blick auf die neben ihm schreitende Choristin, sein Gang ward unbewußt zu einem leicht verwegenen Tänzeln, so daß er ein wenig einem Dromedar, das sich verschluckt hat, glich.

Je öfters er zu ihr hinüberblickte, desto günstiger wurde sein Urteil über ihre äußere Erscheinung.

Im Grunde genommen besaß doch die Menschheit keinerlei authentische Mitteilungen über das Aussehen der Feenkönigin. Wo steht geschrieben, daß sie keine spitze Nase hat und keine verwaschene blaue Seidenbluse trägt?

Und er dachte: Wenn ich jetzt so frech wär' wie der Casanova oder der Herr Wittmann – und ich tät' plötzlich meinen Arm um ihre Taille legen – und tät' mich auf die Zehenspitzen stellen – und ihr einen Kuß aufpappen – oder zwei – und se tät' merr eine Ohrfeige geben – oder zwei – und es tät' ihr im selben Augenblick leid – und se tät' flüstern: »Ich hab' Ihnen doch nicht weh getan, Herr Stehkragen?« – und ich tät' antworten: »Unberufen, und wie!« – und ihr kämen die Tränen in die Augen – und se – –

Rita richtete eine direkte Frage an Benno, er mußte seinen schönen Traum abbrechen und antwortete: »Wie haben Se soeben bemerkt, gnädiges Fräulein?«

Nun entwickelte auch Benno seine musikalischen Ansichten und sprach lang und gut.

Rita gewann den Eindruck, daß er ein ungeheuer gescheiter Mensch sein müsse, von dem sie etwas profitieren könne, und so lud sie ihn ein, sie doch gelegentlich zu besuchen und ihr beim Üben mit Ratschlägen behilflich zu sein.

Das war mehr als Benno erwarten konnte.

Er war auf dem besten Wege, ernstlich Feuer zu fangen – die Obstbäume dufteten so süß, die Spatzen zwitscherten so lustig, und hinter einer Weißdornhecke legte der kleine Amor mit einem spöttischen Lächeln bereits einen Pfeil auf den Bogen – da brach im kritischen Moment der kleine Lebrecht wieder in ein markerschütterndes Geheul aus.

Der schreckliche Lebrecht hatte versäumt, ein kleines Bedürfnis anzumelden, und bejammerte nun herzzerbrechend seine Hosen.

Gott Amor flog hellauf lachend hinter der Hecke hervor und wälzte sich, vor Vergnügen quietschend, in den Brennesseln.

Statt zärtlich-geheimnisvoll Liebesworte auszutauschen, gerieten die beiden nun in ein höchst prosaisches Familiengespräch. Statt Arm in Arm zu wandeln, führten sie auf dem Heimweg den heulenden Lebrecht rechts und links an der Hand.

O, wie schnöde endete, was so schön begonnen hatte!

Der Bengel war nicht zu beruhigen, so daß eine vorbeigehende Sachsenhäuserin dem schuldlosen Benno erbost zurief:

»Verhaage Se doch den Lausbub emal or'nlich! Sie sin merr e scheener Waschlappe von eme Vadder!«

Bald darauf fand der erste Besuch Bennos bei den Käsbergers statt, und das riesige Blumenbukett, mit dem er sich bewaffnet hatte, erweckte das helle Entzücken Katharines und der Großmama Käsberger.

Herr Lebrecht Breivogel hatte sich nie in solche Unkosten gestürzt. Im Gegenteil, er war noch die Kosten für die Hebamme schuldig.

»Merr guckt doch gleich uff de ehrschte Blick, was e vornehmer Mensch is!« belehrte Großmama Käsberger ihre Tochter, als Benno sich verabschiedet hatte.

Sie fand, daß sein Buckel eigentlich gar nicht so groß sei, als er von außen aussehe. Und er habe so viel Seele in den Augen.

Was schadete ein Buckel? Pah, so viele Buckels konnte ein Mann gar nicht haben, daß sie ihn deshalb als Schwiegersohn verschmäht hätte.

Die gute Großmama Käsberger schwamm bereits in standesamtlichen Träumen. Wenn die Töchter einmal in die dreißiger Jahre gekommen sind, sitzt bei den Müttern der Segen sehr lose.

Jeder ledige junge Mann gilt ihnen als Schmetterling, sie haben beständig das Schmetterlingsnetz bei sich, sie verstehen das Fangen virtuos, und ehe der arme Junggeselle Böses geahnt hat, haben sie ihn auf dem Spannbrett der Ehe aufgespießt.

Der harmlose Benno ahnte nicht, welche Gefahr ihn bedrohte.

Um so schärfere Augen hatte die erfahrene Frau Petterich, die die Besuche ihres Mieters bei »dere Komödiantegesellschaft da driwwe« mit Mißfallen sah.

»Genau so hat's beim Brofessor Langeberjer aagefange!« warnte sie ihren Schützling. »Uff de Kopp genau so! Zuehrscht harmlose Besuchercher, dann so e merkwerdige Zerstreutheit, unn uff aamol hat'r vor'm Traualtar geschdanne, de Zylinner verkehrt in der Hand, unn hat ›Ja‹ gesacht – unn des Unglick war ferdig! Herr Stehkrage', ich warn' Ihne!«

Benno stutzte und wurde vorsichtig.

Er wiederholte in angemessenen Abständen seine Besuche, ließ sich von Katharine etwas vorsingen, half dem kleinen Lebrecht gelegentlich bei den Schulaufgaben, mit dem Erfolg, daß er nach einem Vierteljahr bereits nur noch der zweitschlechteste in der Klasse war.

In hohe Gunst geriet er bei Papa Käsberger. Dieser erwies ihm die höchste Ehre, die er zu vergeben hatte: er nahm ihn mit in den Schornsteinfegerverein.

Benno fühlte sich sehr geschmeichelt. Da sich aber das Gespräch im Verein fast ausschließlich um die Qualität des Äpfelweins und des Magistrats drehte, wobei der Äpfelwein besser wegkam als der Magistrat, so ging Benno vorsichtig einer Wiederholung seines Gastspiels bei den »Lustigen Rauchfängern« aus dem Wege.

Etwas gespannter wurden mit der Zeit seine Beziehungen zu der gnädigen Frau Großmama.

Sie konnte noch so oft betonen, daß das Junggesellenleben doch unmöglich einen Mann auf die Dauer befriedigen könne, und daß ein kluger Mann niemals eine junge Schneegans, sondern nur ein gereiftes, erfahrenes Mädchen – »Rita, wie alt bist du eigentlich?« – heiraten würde. Benno gab ihr vollständig recht, aber er zog nicht die gewünschten Konsequenzen.

Großmama Käsberger fand infolgedessen, daß der Buckel Bennos in der letzten Zeit bedeutend gewachsen sei. Eigentlich sei der Buckel noch viel größer, als er von außen aussehe.

Und sie gewöhnte sich an, gar lieblos von Benno zu reden, und nannte ihn ihrer Tochter gegenüber mit Vorliebe: »Dein buckliger Judd.«

Katharine nahm alsdann Benno kräftig in Schutz. Sie hatte längst herausgefühlt, daß Benno ein guter Kerl war, und seine wohlwollende Bewunderung tat ihr wohl. Kam doch durch ihn wieder ein bißchen Wärme in ihr liebeleeres, verblühtes Dasein.

Und ähnlich ging es Benno selbst.

Er hegte für sie eine väterliche Freundschaft, er machte ihr kleine Geschenke, ja, er nahm sie sogar einmal mit in das koschere Restaurant.

»Derf merr gratuliere?« hatte am nächsten Tag der stoppelbärtige Joseph gefragt. »Wieviel krieht se dann mit?«

»Sie gehören ja auf den Affe'stein Frankfurter Irrenanstalt.!« hatte Benno ihn barsch zurechtgewiesen. »Ich heirat' überhaupt nicht. Mit mir stirbt mei Geschlecht aus. Bloß meine Seitenlinie, der Apollo von Belvedere, pflanzt sich noch fort.«

Benno und Katharine, zwei vom Schicksal vernachlässigte, an Enttäuschungen gewöhnte Menschenkinder, freuten sich ihrer wunschlosen Sympathie.

So standen die Dinge, als plötzlich Martha in Bennos Gesichtskreis trat.

Neben dem Sonnenglanze dieses neuen Erlebnisses mußte der freundliche Schimmer jener harmlosen, allmählich zu einer angenehmen Gewohnheit herabsinkenden Freundschaft verblassen.

Als erste bemerkte die gute Frau Petterich die Veränderung, die mit ihrem Mieter vorging. Aber da ihr Marthas Existenz unbekannt war, führte sie sein seltsames Verhalten auf die Beziehungen zu Katharine Käsberger zurück, die sie schon lange auf die ziemlich umfangreiche Liste jener Mitmenschen gesetzt hatte, die sie »net rieche« konnte.

»Haww ich's net gesacht?!« jammerte sie. »Jetz is es bald werklich so weid! Awwer des sag' ich Ihne: Ich geh' net zu Ihrer Trauung, ich net! Wann's dem Esel zu wohl is, geht er uff's Standesamt! En Ring sollt' merr Ihne dorch de Nas' ziehe unn Sie im Zoologische Garte ausschdelle! Ich sag's ja: Seit mei Schorsch-selig dod is, gibbt's kaa vernümfdige Mannsbilder mehr. Mei Schorsch-selig – ach, so aan find ich meiner Lebdag net mehr! Der war noch von der gude ahle Rass'! Danze hat er könne, Schottisch, Galobb, Walzer rechts erum, Walzer links erum, uff eigne Zehespitze unn uff fremde Zehespitze – der geborene Balletöserich! Dorch's Danze hawwe merr uns ja aach seinerzeit kenne unn liewe gelernt. An eme Sonntag war's, in Nidderrad, beim Bamberger. Finf Glas Bier haww ich'm bezählt, unn nach'm sechste hat er merr ewige Treu' geschworn. Unn er hat se aach gehalte, wenigstens haww ich nix bemerkt! Des war e Mann, mei Schorsch-selig, e Herz wie Gold hat er gehabbt, unn so schee war er: wie e Feldwewel in Zifil hat er ausgesehe. Se misse awwer net glaawe, daß ich net vielleicht aach noch annerne Partiee hätt' mache könne. Minnestens Sticker zehe Verehrer haww ich gehabbt, ich war aach emal jung unn schee – so schee werd' Ihne Ihr hochgeborenes Fräulein Käsberger ihrer Lebdag net, unn wann se hunnert Jahrn alt werd! Da is zum Beischbiel der zwette Gehilf vom Metzger Westheimer gewese, der wär beinah wege mir in de Mää gehippt, glicklicherweis' war er damals grad zugefrorn! Unn der Ausläufer Philipp vom Schepeler, der hat sogar Gedichtcher uff mich gemacht, so unzurechnungsfähig war er. Godd, wann ich draa denk, wie ich emal mit'm Philipp beim Bamberger gedanzt habb unn der Schorsch is dazukomme, unn eh' ich die Herrn habb mitenanner bekannt mache könne, hat der Philipp schonn verbunde wer'n misse. Dann mei Schorsch-selig, der hat Kraft gehabt wie e Eisbär, Muskele, sag' ich Ihne, so dick wie Ihr Buckel! Unn hat doch schderwe misse. Es is e Kreuz!« – –

Wir haben Benno auf seinem abendlichen Heimweg ganz allein den Sachsenhäuser Berg hinaufkraxeln lassen, ihn diskret seinen Träumen nachhängen lassen, nun aber wollen wir uns ihm wieder anschließen und ihm in sein Zimmerchen folgen, um einmal nachzuschauen, wie es dort aussieht.

»Guten Abend, Herr Stehkragen!« begrüßte ihn Mariechens frohlockende Stimme im Hof.

Das Mariechen hatte in dem Schuppen, der dem seligen Herrn Petterich als Sommerwerkstätte gedient hatte, gespielt und war, sobald sie Benno erblickt hatte, ihm freudig entgegengesprungen.

»Guten Abend, Mariechen,« erwiderte Benno den Gruß und zupfte ihr das Haarband, das sich beim Spielen verschoben hatte, zurecht. »Die Schulaufgaben schon gemacht?«

»Natürlich, Herr Stehkragen!« beteuerte das Kind. »Soll ich sie Ihnen zeigen?«

»Später, später!« sagte Benno freundlich. Sein Kopf war noch mit Gedanken an Martha gefüllt, und er überhörte beim Betreten des Hausflurs ganz den Gruß der Frau Petterich.

Kopfschüttelnd sah ihm seine Wirtin nach.

»Jetzt glaaw ich's bald selwer,« seufzte die brave Frau, »daß es Zeit werd, daß er unner'n Bandoffel kimmt! Dem Riese Goliath sei' Bandoffel, des wär' so die richtige Größ' for en. Er werd schonn ganz daub vor Zerstreutheit, die Lieb' hat sich bei em uffs Ohr gelegt, nächstens schnappt er iwwer!«

Beim Betreten seines Zimmers fand Benno auf dem Tisch einen Strauß frischer Wiesenblumen.

Den hatte ihm Mariechen gepflückt, die mit kindlich-überschwenglicher Verehrung an ihrem Hauslehrer Benno hing.

Wie gut konnte er ihr alles erklären! Viel besser als die Lehrerin in der Schule. Und nie schimpfte er. Immer war er gleichmäßig freundlich, verlor nie die Geduld, so viel man ihn auch fragte. Und merkwürdig: Bei der Lehrerin in der Schule verspürte man immer, sobald sie sich umdrehte, den unwiderstehlichen Drang, ihr die Zunge herauszustrecken, eine Nase zu schneiden oder wenigstens ein Gesicht zu ziehen – bei Benno kam ihr nie dieser Gedanke.

Benno war ihr guter Freund, ihr Vertrauter. Nur wo die Kinder herkommen, sagte er ihr nicht. Wahrscheinlich wußte er's selber nicht.

Und noch eines war dem Mariechen aufgefallen: daß er ihren Namen nicht behalten konnte. Er redete sie oft mit »Martha« an.

Sie hatte es einmal lachend ihrer Mutter erzählt, und diese hatte die rätselhafte Antwort gegeben: »Wann er dich widder mit Martha aaredt, dann reddst du en mit ›Herr Käsberger‹ an!«

Benno nahm den Blumenstrauß in die Hand, seine aufgestülpte, bebrillte Nase verschwand in den Blüten.

Er zog eine Marguerite aus dem Strauß und zupfte die Blätter ab und flüsterte dabei: »Sie liebt den Wittmann – se liebt ihn nicht – se liebt ihn – se liebt ihn nicht – se liebt … der Schlag soll ihn treffen!«

Er seufzte tief auf, hängte Hut und Mantel an den Türhaken und legte sich auf das Sofa.

»Wolle Se gleich die Fieß vom Sofa erunner dhun!« erklang auch schon Frau Petterichs vorwurfsvolle Stimme.

Frau Petterich war ins Zimmer getreten, um seinen Mantel zum Ausbürsten zu holen.

Oder, ehrlicher gesprochen, sie kam unter diesem Vorwand, um sich zu überzeugen, ob ihr Mieter wieder seufzend auf dem Sofa lag und »seine Zuständ'« hatte.

Den Hauptschmuck des Zimmerchens bildete der große Bücherschrank. Da standen unsere Klassiker in Reih und Glied, arg zerlesen, fleckig und vergilbt, so daß man sie beim ersten flüchtigen Anblick für wertvolle alte Ausgaben hätte halten können. Aber dem war nicht so. Stuart Webbs hätte mit Leichtigkeit festgestellt, daß diese Flecken Bennosche Fingerabdrücke und Butterbrotspuren waren.

Über dem Sofa hing ein Brautbild von Bennos verstorbener Mutter.

Zweifelsohne hatte diese Photographie einst in dem Brautbild des Vaters ein Gegenstück besessen. Aber dieses Bild fehlte.

Hatte der kurzsichtige Benno es einmal fallen lassen, oder war es beim Umzug verlorengegangen?

Nein, die Geschichte verhielt sich ganz anders, und sie war wieder einmal eine echt Bennosche Geschichte.

Der alte Stehkragen und sein Sohn hatten sich zeitlebens schlecht verstanden. Der Vater, ein Kleinkaufmann, hatte den kleinen Benno unter schweren Opfern das Gymnasium besuchen lassen und hoffte, in ihm dereinst eine Leuchte der medizinischen Wissenschaft zu sehen.

Benno sträubte sich hartnäckig gegen diesen Plan. Gewiß, es mußte Befriedigung verleihen, körperliche Leiden zu heilen, Wunden zu schließen – aber sein ganzes Leben mit dem Anblick von Krankheiten, von häßlichen Zerstörungen zuzubringen, all das Elend unserer Hinfälligkeit tagein, tagaus von neuem zu studieren, dazu fühlte sich Benno nicht stark genug. Ein prophetisches Gefühl ängstigte ihn, er werde als Arzt keine frohe Stunde mehr genießen können, er werde die Welt durch eine blutige Brille ansehen.

Der Literatur- und Kunstgeschichte wollte er sich einstens widmen – ein Studium, zu dem der Vater schon aus materiellen Gründen nie seine Zustimmung geben konnte.

So oft die Berufsfrage besprochen wurde, kam es zu hitzigen Auseinandersetzungen, bei denen die Mutter bittere Tränen vergoß.

»Wein' nicht, Mutter,« tröstete Benno die alte Frau, wenn der Vater den Hut aufgesetzt hatte, die Tür wütend zugeworfen und das Haus verlassen hatte, um durch erregtes Spazierenlaufen in den Promenaden seinen Kummer zu ersticken. »Flenn' nicht, Mama! Wenn ich erst emal e berühmter Mann bin, wird sich der Vater schon beruhigen! Ich kann nun emal kein Bauchaufschneider werden, es interessiert mich nicht, wie die Leut' inwendig aussehen! Mir is e gutes Gedicht lieber wie der schönste Blinddarm – hab' Vertrauen in mich und putz' derr die Tränen ab!«

Und die alte Frau trocknete ihre Tränen, sie hatte ja so gern Vertrauen zu ihrem einzigen Kind.

Man konnte es unter diesen Umständen beinahe ein Glück nennen, daß Stehkragen senior starb, ehe die Berufsfrage zur Entscheidung drängte.

Benno ging damals in die Untersekunda und machte statt der Schulaufgaben Gedichte an den Mond, an die Lotosblume und andere aus Heinrich Heine entlehnte Requisiten der Verliebtheit.

Die Mutter, die schon früher dem Vater bei der Arbeit geholfen hatte, führte opfermutig das kleine Geschäft weiter, aber trotz verzweifelter Anstrengungen ließ sich kaum so viel herauswirtschaften, daß Benno das Gymnasium weiter besuchen konnte.

Nur wenige Jahre überlebte seine Mutter den Vater.

Benno fand sich kurz vor dem Abiturientenexamen allein auf der Welt, als Erbe eines Geschäftes, von dem er nichts verstand und zu dem er keine Neigung hatte.

Wo sollte das Geld zum Studieren herkommen? Alle seine Hoffnungen brachen zusammen. Es blieb keine Wahl: Ein Brotberuf mußte ergriffen werden.

Freunde der Familie nahmen sich des jungen Menschen an, der eine fatalistische Gleichgültigkeit zur Schau trug, liquidierten das heruntergekommene Geschäft, retteten dem Erben eine unbedeutende Summe und verschafften ihm mit Mühe durch die Protektion von Leuten, die Benno kaum dem Namen nach kannte, eine Stelle als Lehrling in der Industriebank.

So sehr dieser Beruf Benno bald zuwider ward, er fand zeit seines Lebens nicht mehr die Energie, sich loszureißen und einen anderen Lebensweg einzuschlagen.

Mit ein paar Möbelstücken aus dem Nachlaß der Mutter, mit ein paar Bildern richtete sich Benno ein bescheidenes Heim ein. Dem Bild der Mutter gab er den Ehrenplatz über dem Sofa, das Bild des Vaters aber, das er nicht ohne Groll betrachten konnte, verkaufte er mit allerlei Gerümpel. Seine Schulbücher warf er an einer unbeobachteten Stelle in den Main.

Den voreiligen Verkauf des väterlichen Bildes bereute er freilich später.

Denn als er älter und reifer geworden war, erschien ihm sein Vater mitunter doch in einem ganz anderen Lichte, als ihn seine jungenhafte Unduldsamkeit gesehen hatte.

Der alte, abgearbeitete Mann hatte es in seiner Einfalt sicherlich sehr gut mit ihm gemeint, vielleicht am besten von allen Menschen.

Jetzt hätte Benno gern ein Bild seines Vaters besessen. Aber nun war es zu spät. Aus der Verwandtschaft lebte nur noch eine sagenhaft alte Tante, der Benno niemals geschrieben hatte, und von der er lediglich die Erinnerung besaß, daß seine Mutter gelegentlich von ihr als von der »geizigen Amalie« gesprochen hatte.

Nach langem Zögern frug er brieflich bei ihr an, ob sie ein Bild seines Vaters hätte. Der Brief kam zurück mit dem Vermerk:

»Adressatin seit Jahren verstorben.«

Wenn nun Benno auch keine Photographie seines Vaters besaß, so war das Brautbild über dem Sofa doch nicht ohne Gegenstück. Dieses Pendant freilich war abermals ein echt Bennosches Kuriosum.

Da hing nämlich in breitem Goldrahmen, säuberlich unter Glas, eine Landkarte von Deutschland.

Ursprünglich hatte ein Plan der Stadt Frankfurt diesen Platz eingenommen. Aber als der einmal von der Wand gefallen war, hatte Benno diesen Zufall für einen Wink von oben erklärt, sagte: »Dein Vaterland muß größer sein« und ersetzte den Stadtplan durch die Karte von Deutschland.

Statt des väterlichen Bildes prangte also ein Bild des Vaterlandes über dem Sofa, neben dem Bilde seiner leiblichen Mutter das Bild der geistigen Mutter.

Oft stand Benno vor dieser Landkarte, fuhr mit dem Zeigefinger die Grenzlinien entlang, gleichsam die Karte liebkosend, und flüsterte: »Dies ist das Herz der Welt!«

Ja, dieser kleine bucklige Mensch war ein glühender Patriot, und seine Überzeugung lautete: »Es ist eine Streitfrage, ob es ein Glück ist, überhaupt geboren zu sein. Wenn man aber schon einmal geboren wird, dann ist es das größte Glück, in Deutschland geboren zu werden.«

Deutschland, das war ihm nicht ein Land, in dem man zufällig zur Welt kommt, Deutschland war ihm das Land der Länder, der Tempel der Menschheit.

In deutscher Sprache hatte er reden, denken und fühlen gelernt, in deutschen Schulen war er erzogen; alles, was er an Bildung und Kultur genoß, war für ihn unmittelbar und unlösbar mit dem Deutschtum verknüpft.

Er ging so weit, zu behaupten, Shakespeare sei in deutscher Sprache tausendmal schöner als in englischer.

Und alle seine liebende Freude an Naturschönheit wurzelte in der Anschauung deutscher Natur. Oder war es nicht ein deutscher Wald gewesen, der ihn zuerst seine Geheimnisse hatte ahnen lassen, war es nicht ein deutscher Strom, dessen Rauschen ihm zum erstenmal Unendlichkeit gesungen hatte? Waren es nicht deutsche Wiesen, in denen er sich als Kind getummelt, in denen er als Jüngling den Wolken nachgeschaut und den Gesang der Vögel enträtselt hatte?

Mochte Italien immerhin das Land sein, wo die Zitronen blühen, in Deutschland wuchs der Blüten edelste: die blaue Blume der Romantik.

Mochten immerhin kalte Wissenschaftler die Internationalität der Gestirne nachweisen, seinem liebenden Überschwang waren es deutsche Sterne die ihm des Nachts zu Häupten leuchteten.

Ja, er zweifelte in seinem tiefsten Innern nicht daran: Der alte Jehova hatte sicherlich längst das Hebräische als himmlische Hofsprache abgeschafft, und wenn er jemals wieder den Menschen Gesetzestafeln aufschreiben würde, so würde er's im reinsten Hochdeutsch tun, in der neuesten Orthographie.

Wohl eine Stunde mochte Benno in Gedanken auf dem Sofa gelegen haben, als es plötzlich klopfte.

Er hatte während dieser Stunde nur ein einziges Mal seine Siesta für einen Augenblick unterbrochen gehabt, als es durch das offene Fenster herübergetönt hatte:

»Du meine Seele, du mein Herz,
Du meine Wonne, du mein Schmerz …«

Da hatte er schnell das Fenster geschlossen.

Nein, er konnte jetzt die Käsbergerin nicht singen hören.

Und hatte sich wieder auf das Sofa gelegt und weitergeträumt.

Frau Petterich brachte den ausgebürsteten Mantel.

»Lieche Se schon im Bett?« fragte sie an der Türe. »Warum mache Se dann kaa Licht an? Sie sin wohl lang net mehr vom Sofa erunnergeplumpst? Odder wolle Se sich gern de Kopp am Bicherschrank ei'renne? Herr Stehkrage, Se gefalle merr net mehr! Was hocke Se jetz schonn widder e Ewigkeit im Dunkle unn fange Grille? Ich kann Ihne nor sage: Sein Se froh, daß Se net mei Mann sin, mit Ihne dhät' ich emal deutsch redde! Awwer mit Musikbegleidung von mei'm Deppichklopfer!«

»Sie brauchen kein Licht anzuzünden,« rief ihr Benno zu, indem er sich melancholisch vom Sofa erhob. »Halten Sie mir bitte den Mantel! Ich geh' noch aus.«

»Wie kann ich Ihne de Mantel halte, wann ich nix guck?!« beklagte sich Frau Petterich. »Komme Se wenigstens eraus uff de Gang, da brennt e Petroleumfunsel!«

Und während sie ihm den Mantel hielt, ließ sie ihre Blicke mütterlich bekümmert über Benno gleiten, und ein tiefer Seufzer entstieg ihrem molligen Busen.

»Sein Sie nicht böse, liebe Frau!« entschuldigte sich Benno. »Sein Sie nicht böse, wenn ich manchmal etwas sonderlich bin. Ich kann nichts dafür.«

»Kann etwa ich ebbes dafor?« empörte sich seine Hauswirtin. »Awwer ich waaß schonn, was Ihne fehlt! Ich bin e ahl Fraa, mir mache Se nix vor! Sollt merrsch for meglich halte: So e ahler Esel muß sich noch e Eselin suche! No ja, mir kann's recht sei'! Maantswege fahrn Se in die Terkei unn heierate Se gleich e ganz Ahljungfernstift! Vielleicht dhun Se dann widder zor Vernumft komme!«

Und sie zog dem kleinen Benno in ihrer Erregung den Mantel so energisch über die Schultern, daß er beinahe vornüber gestolpert wäre.

Benno ging im Dunkeln dem Walde zu. Er biß sich auf die Lippen, das Weinen war ihm nahe.

Sie hatte ja so recht, die gute Frau Petterich, wenn sie auch auf einer falschen Fährte war.

Ja, ich bin ein alter Esel, sagte er sich, aber hat nicht auch Titania einen Esel in den Armen gehalten? Ich bin ein alter Esel, und ich verdiene Prügel. Mit einem weit härteren Instrument als mit einem Teppichklopfer.

Aber während er sich so bittere Vorwürfe machte, schwoll sein Herz von Süßigkeit. Und alle Versuche, Martha aus seinem Gedächtnis zu reißen, gruben ihr Bild nur noch tiefer darein.

Er wandte sich um und blickte auf das nächtliche Frankfurt hinab.

Da lag die Stadt, ein glitzerndes Lichtmeer, beherrscht von der edlen Silhouette des Domes. Dort drüben, das war die Kuppel der Hauptpost, dort spielte der zackige Giebel des Römers, und jene Lichtquelle, von der sich Lichtschlangen weithin ins Land zogen, das war der Hauptbahnhof, von dem aus man nach der Türkei fahren konnte, um einen Harem zu gründen.

Benno kannte alle Kuppeln und Türme seiner Vaterstadt, und sie schienen ihm inmitten der Häuser aufgestellt wie die Figuren eines Schachbretts.

Etwas wie Ahnenstolz regte sich in ihm, als er es so vor sich sah, das unermüdliche Frankfurt, die Hochburg des Bürgerfleißes, in seiner siegreichen Selbstsicherheit.

Er liebte diese Stadt und grollte ihr zugleich. Er liebte sie um ihrer kaufmännischen Großzügigkeit, ihres imponierenden Zielbewußtseins willen – er grollte ihr ob ihres Materialismus, der auch die Kunst für ein Rechenexempel hält.

Und ihm war, die edle Francofurtia, die freie Patriziertochter, trüge jetzt einen Federhalter hinter dem Ohr und habe Bureaustunden und verzeichne die Taten ihrer Schutzbefohlenen nicht mehr auf goldener Tafel, sondern in einem wohlliniierten Hauptbuch, und wenn man sie früge, wer ihr bedeutendster Sohn sei, so antworte sie: Rothschild.

Er malte sich, während er in den Abend schritt, das Bild einer solchen Francofurtia aus, er sah sie vor sich, hochgewachsen, mit goldenem Haar – und erkannte plötzlich, daß es Marthas Bild war, das ihm vor Augen schwebte.

Er blickte empor und war überrascht von dem reichen Sternenhimmel. Und da er sich erinnerte, daß der Aberglaube die Geschicke der Menschen von den Gestirnen regieren läßt, so begann er spielerisch nach dem Stern zu suchen, unter dem wohl er, Benno Stehkragen, geboren sein mochte.

War es der flackernde Sirius, der so kokett am Himmel tanzte und glitzerte wie ein Brillantring?

War es der stolze Jupiter? Der Mars? Die Venus?

Ach nein, sagte sich Benno wehmütig. Wie käm' ich zu solch vornehmen Geburtshelfern? Mein Gestirn ist der Mond, und er war, wie ich geboren wurde, sicher im abnehmenden Viertel. Der Mond, der kein eigenes Licht hat, das ist für mich der einzig mögliche Planet. Und einen Buckel hat er auch! Die Gelehrten behaupten zwar, das sei das Mondgebirge – aber was verstehen die Gelehrten von der Wissenschaft?

Durch die Stille brach das Rattern eines nahen Eisenbahnzuges und lenkte Bennos Gedanken wieder vom Himmel auf die Erde.

Er hatte nun den Wald betreten, und Dunkel umfing ihn. Die Baumkronen standen so dicht, als schmiegten sie sich furchtsam aneinander, die Büsche und Sträucher verschwammen zu einer Nebelmauer.

Benno ging, wohin ihn der Weg führte; er hatte kein bestimmtes Ziel. Die Stille, die Finsternis taten ihm so wohl, es ließ sich dabei so schmerzlich-süß träumen.

Tönte da nicht Musik? Nein, das Rauschen eines Bächleins war es, und er wußte sogleich: Das war das Königsbrünnchen.

Er sah es in Gedanken vor sich, wie er es so oft bei Tage gesehen hatte, er sah die Quelle über die vom Eisengehalt des Wassers geröteten Felsbrocken sprudeln, und er bedachte:

Wenn ich jetzt an dem Königsbrünnchen säß' – mit einer großen Angel – und einem Regenwürmchen vorn dran – weil die Fische auf einen leeren Angelhaken nicht anbeißen – (so dumm sind nur die Menschen) – und ich tät' nix fangen – weil's in dem Königsbrünnchen überhaupt keine Fische gibt – sondern es ging' mir wie dem Fischer von Goethe – und die Flut tät' sich plötzlich teilen, und es käm' eine von den Wassernixen hervor – die's in dem Königsbrünnchen auch nicht gibt – und die Wassernix' tät' sagen: »Schöner Jüngling,« tät' se sagen – »legen Se ab und kommen Se herein« – und dabei tät' se schmeichelnd ihren weichen Nixenarm um meinen Hals legen – und küßt' mich – und ich wehr' mich nicht, denn warum auch? – und plötzlich fällt der Mondstrahl gerad auf ihr Gesicht – und es ist die Martha Böhle – und …

Und plötzlich schlug Benno Stehkragen die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

Es war spät in der Nacht, als er heimkehrte, und ein starker Entschluß war in ihm gereift: Er wollte sich Martha offenbaren, er wollte ihr sagen, daß er ihr Sklave sei für alle Zeit, und daß sie ihn erhöhen oder vernichten müsse.

Er hatte den Hausschlüssel vergessen und mußte deshalb seine Wirtin aus dem Schlaf schellen.

In einem flanellenen Unterrock kam Frau Petterich, einen Fünfminutenbrenner in der Hand, gewichtigen Schrittes die Treppe herunter.

»Schonn dahaam?« frug sie bösgelaunt über die Störung. »Sie war'n wohl beim Ebbelwei?«

»Ja, ich war beim Äpfelwein,« log Benno.

»So? Des nächstemal iwwernachte Se nor aach gleich im Wertshaus! Odder maane Se, ich habb Lust unn bild' mich wege Ihne zum Nachtwächter aus?«

Schuldbewußt stieg Benno hinter ihr die Treppe empor.

Auf der fünfzehnten Stufe versagte der Fünfminutenbrenner, und Frau Petterich schrie, indem sie einen neuen in Brand setzte: »Jetz verbrenn' ich merr aach noch wege Ihne die Pfote!«

Unheilvoll schweigend legte sie den Rest der Treppe zurück, unheilvoll schweigend zündete sie ihm seine Petroleumlampe an. Sie hatte noch einige kräftige Worte auf der Zunge – ach, es war ja so lange her, daß sie keine Gardinenpredigt mehr hatte halten können – aber als sie Bennos klägliche Miene sah, überkam sie wieder das Mitleid.

»Sie wer'n immer reifer zum Heierate: sogar unbünktlich haamkomme dhun Se schonn! No, die Käsbergerin werd Ihne schonn ziehe!« sagte sie und verabschiedete sich mit einem energischen »Gu'n Nacht, Herr Nachtschwärmer!«

Benno hörte sie in ihrem Zimmer noch eine kurze Weile rumoren, vernahm noch ihre Worte: »Schlaf nor, Marieche, es war nor der Herr Käsberger« – dann ward es stille.

Wenige Minuten später lag er selbst im Bett. Aber er konnte nicht einschlafen.

Er wälzte sich auf die rechte Seite, starrte in das Licht der Petroleumlampe und stöhnte: »Ich lieb' se, ich lieb' se, ich bin verrückt, es hat noch nie einen so meschuggenen Menschen gegeben wie mich – aber ich lieb' se!

Und ich muß es ihr sagen.

Aber wie? Ich kann ihr doch nicht im Bureau eine Liebeserklärung machen? Ich kann doch nicht mitten auf der Kaiserstraß' vor sie hinknien und einen Volksauflauf verursachen?

Soll ich vielleicht einmal mit ihr ins Kino gehen? Und wenn's dunkel wird, und auf der Leinwand küßt sich gerade ein Liebespaar – es wird nirgends auf der Welt so viel geküßt wie auf einer Kinoleinwand –, dann nehm' ich sacht ihr Händchen und streichel's und flüstre – ja, wenn ich nur wüßt', was man bei solchen Gelegenheiten flüstert!«

Er wälzte sich auf die linke Seite.

»Ist die Menschheit nicht närrisch? Weshalb nimmt man nicht einfach das Mädchen, das man liebt, beim Arm und packt se in eine Droschke und fährt se nach dem Standesamt und zieht dort seinen Füllfederhalter heraus, unterschreibt, fährt heim und is verheiratet? Weshalb muß man vorher erst eine Liebeserklärung loslassen und Sonne, Mond und Sterne beschwören und sich die Zunge aus dem Hals und die Vernunft aus dem Kopf stammeln? Weshalb genügt es nicht, daß man fühlt? Weshalb muß man die Gefühle auch noch in überschwengliches Deutsch bringen?«

Benno wälzte sich auf die rechte Seite.

»Überhaupt, will ich sie denn heiraten? So weit sind wir doch noch gar nicht. Weiß ich denn, ob sie mich wiederliebt? Vielleicht sagt se: ›Herr Stehkragen, Sie sind noch zu jung zum Heiraten! Und Sie essen gern Apfelschalet, den ich nicht ausstehen kann, und ich ess' gern Grünekernsupp', vor der's Ihnen graust – Herr Stehkragen, das wird keine glückliche Ehe!‹

Nein, vom Heiraten will ich ihr noch nicht sprechen. Nur meine Liebe will ich ihr mitteilen. Aber wie, aber wie?«

Benno wälzte sich auf die linke Seite.

»Wenn mir's nur einer vormachen wollte! Natürlich nicht bei der Martha. Es gibt doch Tanzstunden und Sprachstunden und Unterricht in der doppelten Buchführung, warum gibt es keinen Unterricht in einfacher Liebeserklärung?«

Und plötzlich kam ihm eine Erleuchtung.

Er sprang im Nachthemd aus dem Bett, eilte an seinen Bücherschrank und nahm einen Band Shakespeare heraus.

Er wollte in »Romeo und Julia« nachsehen, wie's der Romeo gemacht hatte.

Den Band im Arm kroch er ins Bett zurück und blätterte krampfhaft.

Da, am Schluß des ersten Aktes, war eine passende Stelle:

»Entweihet meine Hand verwegen dich,
O Heil'genbild, so will ich's lieblich büßen.
Zwei Pilger, neigen meine Lippen sich,
Den herben Druck im Kusse zu versüßen.«

Hm, ob Martha das verstehen würde? Es war ein bißchen hoch für ihre Verhältnisse. »Den herben Druck im Kusse zu versüßen.« Und gleich mit Küssen anfangen, nein, es ging nicht, es ging unmöglich. In Verona war man in solchen Dingen offenbar liberaler als in Frankfurt am Main.

Benno legte sich auf den Rücken und blätterte emsig weiter.

»Ich bin kein Steuermann, doch wärst du fern
Wie Ufer, die das fernste Meer bespült.
Ich wagte mich nach solchem Kleinod hin.«

Benno ließ aufstöhnend das Buch auf die Bettdecke sinken.

Alles sehr schön, wunderschön sogar, aber für seine Zwecke ganz unbrauchbar.

Vielleicht gab's im Schiller ein besseres Rezept?

Er wollte abermals aus dem Bett springen, da machte die Lampe knacks.

Der Zylinder war geplatzt, nachdem die Lampe schon die ganze Zeit geblakt hatte.

Benno fuhr entsetzt auf, hob den Kopf nach dem Nachttisch und blies das Licht aus.

»Frau Petterich wird toben, wenn sie die kaputtene Lampe sieht,« ächzte er. Womöglich war der Zylinder auch ein Erbstück von ihrem Großvater? Und die ganze Bettdecke voll Ruß!

Seine Gedanken nahmen eine andere Richtung, er wälzte sich noch eine Weile fiebernd im Finstern, bis ihn die Müdigkeit überwältigte.

Morgens beim Erwachen fiel ihm ein, daß er heute abend ins Theater mußte. Er hatte es Katharine versprochen, die zum erstenmal eine kleine Solorolle singen durfte, die erste Brautjungfer im »Freischütz«.

Seit vierzehn Tagen übte sie nichts anderes mehr als »Wir winden dir den Jungfernkranz«.

Benno stand noch in Unterhosen, da brachte Frau Petterich den Kaffee. Er hatte wieder einmal das Klopfen überhört.

Schweigend stellte sie das Frühstück auf den Tisch, würdigte weder Benno noch die demolierte Petroleumlampe eines Blicks, schweigend entfernte sie sich.

Und als Benno fortging, ließ sie sich nicht sehen, sondern blieb, eine gekränkte Juno, in der Küche.

Mit gesenktem Kopf schlürfte Benno seinen Weg zur Industriebank. Und vergrämt sagte er sich: Du verlierst noch wegen deiner aussichtslosen Liebe die wenigen Freunde, die dich gern haben …

 

Was gucken Sie mich denn so an?« frug Martha gereizt, als sie eines Vormittags an dem gemeinsamen Arbeitspult im Couponbureau Platz nahm.

»Ich guck' Sie nicht an, ich guck' in Sie!« gab Benno in ungewöhnlich scharfem Ton zurück.

Martha Böhle zupfte verärgert an der Perlenhalskette, die sie neuerdings trug, warf ihrem Gegenüber einen bösen Blick zu, den dieser mit mißachtendem Achselzucken aufnahm.

Die Kollegen im Couponbureau stießen sich heimlich an, die Beamtinnen kicherten.

Benno grollte. Er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, ihr seine Verliebtheit zu offenbaren, und selbst wenn sich eine Gelegenheit geboten hätte, würde er sie jetzt ungenutzt vorübergehen lassen. Seine Liebe hatte das goldfarbene Gewand der Sehnsucht abgeworfen und sich in den strohgelben Mantel des Hasses gehüllt.

Ja, er haßte Martha in diesem Augenblick.

Der Theaterabend hatte ihm ein bitteres Erlebnis gebracht, einen Argwohn geweckt, der nicht mehr zur Ruhe kommen wollte.

Bis zur großen Pause war der Abend so schön verlaufen.

Schon nach der Ouvertüre hatte sich Benno, befeuert von der herrlichen Musik, gesagt: Du solltest doch öfter ins Theater gehen! Vielleicht ist es doch nicht recht von dir, daß du dich von der Welt abschließest, vielleicht birgt die Welt reichere Schönheiten, als du, ein trotzköpfiger Eigenbrödler, zugeben willst. Du verstaubst, Benno! Du bist ein altmodisch gewordener Überzieher, der in einem Schrankwinkel verkommt und sich beleidigt fühlt, daß freudigere Farben modern geworden sind. Und der in schmollender Eingebildetheit deklamiert: Auch meine Zeit wird wiederkommen, auch ich werd' wieder modern! Und seine Farbe wird auch wieder modern – aber bis dahin haben ihn längst die Motten gefressen!

Eine stille Seligkeit zog bei den Arien Max' und Agathes in sein Herz ein.

Waren diese melodischen Liebesergüsse nicht noch werbender, umstrickender, lodernder als die kühnsten Beschwörungen eines Romeo?

Einen Tenor sollt' ich haben, dachte er, und damit singen können sollt' ich – dann wüßt' ich's, wie ich der Martha meine Liebe erklären müßte! Ich wollt' mich in ihre Seele hineintrillern und wollt' se bekantilenen, daß se gar nicht mehr anders könnt', als mir um den Hals fallen und seufzen: »Mein Benno, mein süßer Benno!«

Und ich tät' vor ihr hinsinken und tät' meinen Wuschelkopf in ihrem Schoß bergen, und hauchen tät' ich: »Ich bin dein! Alles ist dein: mein Herz, und mein Buckel, und mein hohes C – alles, alles dein!«

Beifallsklatschen störte seine Träumerei.

Er sah sich erstaunt von seinem Galerieplatz um: Das Dämmerlicht des Zuschauerraums war von voller Beleuchtung abgelöst worden, ringsum saßen applaudierende Leute, und tief unten hob sich der Vorhang, und winzig aussehende Menschen in bunten Kostümen verbeugten sich an der Rampe.

Benno nahm das geliehene Opernglas zur Hand und ließ seine Blicke umherwandern.

Dort, auf einem Seitenplatz des zweiten Ranges, saß der dicke Rehle vom Wechselbureau und schmauste ein kräftig belegtes Butterbrot, das ihm seine fürsorgliche Alte mitgegeben hatte. Kauend unterhielt er sich mit einem bezwickerten Mädchen, das neben ihm saß und von Zeit zu Zeit vergnügt zu seinen Reden auflachte.

Benno lenkte das Opernglas nach der anderen Seite des Hauses und entdeckte in einer Loge das üppige Fräulein Antonie Hochberg, im Schmucke übergroßer Brillanten.

Ob die auch etwas empfand bei der Musik?

Sie saß steif auf dem Logenvorderplatz, mit einer Miene, als gehöre ihr das ganze Opernhaus, und als dulde sie nur aus Gnade die Anwesenheit minderbemittelter Staatsbürger und Staatsbürgerinnen.

Vor ihr auf der Brüstung lagen ihre Glacéhandschuhe, und Benno phantasierte:

Wenn ihr jetzt ein Handschuh hinunterfiele – wie im Schiller – mitten zwischen die Salonlöwen und die Parkettigerinnen – und sie tät' zu mir heraufrufen: »Herr Delorges Stehkragen – ei, so hebt mir den Handschuh auf!« – ich tät' herunterrufen: »Edles Fräulein Kunigunde Hochberg,« tät' ich rufen, »wie kommen Se merr vor? – Heut abend bin ich nicht der Stehkragen vom zweiten Pult im Couponbureau der Industriebank, der vor jeder Kundin seinen Knicks machen muß – heut abend bin ich der Kunstgenießer und Kunstmäzen Ritter Benno – und ich sitz' so stolz auf meinem numerierten Galerieplatz wie der König auf seinem unnumerierten Thron – und von mir aus kann auch noch Ihr zweiter Handschuh hinunterfallen – und Ihre Brillantenausstellung – und Sie selbst dazu – ich seh' gar nicht einmal hin nach Ihnen – denn ich schwärm' für ein junges Mädchen – das mir gegenüberwohnt am Kontorpult – und goldene Haare hat – und …«

Das Haus verfinsterte sich wieder, und die Wolfsschluchtszene begann. Wie ein Kind freute sich Benno über die Regiewunder dieses Gespensteraktes. Er war ja so lange nicht mehr im Theater gewesen und hatte keine Ahnung davon, welche Illusionen ein geschickter Regisseur vermittelst Leinwand, Pappdeckel und bengalischer Beleuchtung hervorzaubern kann.

Er amüsierte sich herzlich über die tanzenden Skelette, über die Totenschädel, die mit den leeren Augen so schaurig glitzern konnten, und wahrhaftig, ihn gruselte dabei ein wenig.

Und als gar der Höllenfürst Samiel erschien, da schmunzelte er in dem stolzen Bewußtsein seiner eigenen Bravheit vor sich hin: Wie viel besser es doch sei, als ordentlicher Mensch tagsüber Coupons nachzuzählen und Fakturen zu schreiben und des Nachts in einem soliden Federbett zu schlafen, an den lieben Gott zu glauben und am Samstag in die Synagoge zu gehen, als sich mit dem wilden Jäger in Duzbrüderschaft einzulassen, seine einzige Seele gegen irdischen Profit zu verramschen und um Mitternacht in einer Gegend, in der sogar eine Wildsau ohne Leine herumläuft, zwischen allerhand unangenehmen Knochenfragmenten Freikugeln zu gießen.

Benno fühlte sich erleichtert, als der höllische Spuk vorüber war und die Leute aus dem Zuschauerraum strömten, um sich während der großen Pause zu ergehen.

Als er die Treppe nach dem Foyer hinunterstieg, klopfte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Er wandte sich um und sah in Papa Käsbergers strahlendes Gesicht.

Herr Käsberger hatte sich alle Spuren seines Berufes aus dem Gesicht gewaschen, er steckte in einem schwarzen Gehrock, den er sonst nur bei Stiftungsfesten trug, seine riesigen Hände quälten sich in schwarzen Stoffhandschuhen von unwahrscheinlicher Größe.

»Des is nett von Ihne, Herr Stehkrage, daß Se zu dem Erfolg von meiner Tochter gekomme sin!« sprach er so laut, als ob er sich an seinem Stammtisch befände. »Ich habb Se schonn die ganz' Zeit mit de Aage gesucht, awwer ich habb' Ihne net gefunne! Dann wisse Se, ich habb' kaan Operngucker, als Schornstaafeger braacht mer so was net, unn ich wer' doch an der Garderob' kaa fuffzig Fennich for so e Ding zahle!«

Benno war diese Begegnung nicht eben angenehm, aber es gelang ihm nicht, den alten Käsberger abzuschütteln.

So drängten sie sich nebeneinander durch das Foyer.

Papa Käsberger ging ans Büfett, nahm eines der belegten Brötchen in die Hand und fragte: »Was kost' des?«

Als er hörte, es koste dreißig Pfennig, legte er das Brötchen wieder zurück und begann seinem Unmut über diese »Räuwerei« so erregt Luft zu machen, daß es Benno angst und bange wurde.

Benno Stehkragen wandte den Kopf weg, als gehöre er nicht zu diesem polternden Menschen – da fiel sein Blick auf einen blonden, lächelnden Frauenkopf.

Das war Martha.

Und dicht vor ihr stand im Frack Direktor Hermann und hielt ihr mit verbindlicher Geste eine Schale Eis, aus der sie geziert aß.

Benno war zumut, als hielte ihn der schwarze Jäger beim Kragen. Er stand mit offenem Mund da, er wollte aufschreien – da wandte auch Martha den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich.

Er fühlte sofort, daß sie ihn erkannt hatte, ihn aber nicht kennen wollte.

Sie sah ihn ruhig an, während Direktor Hermann lachend in sie hineinplauderte.

Benno überlegte einen Augenblick, ob er sie trotzig ansprechen sollte, aber die Gegenwart des allmächtigen Direktors erstickte diesen Gedanken im Keim. Martha hatte den Kopf ein wenig gehoben und blickte nun abweisend über ihn hinweg.

Tief verstimmt und gekränkt suchte er wieder seinen Galerieplatz. Der Zuschauerraum verdunkelte sich, die Musik setzte ein, aber er hörte nur noch mit halbem Ohr hin. Das Stück interessierte ihn nicht mehr.

Er saß mit geballten Händen, und wäre jetzt der schwarze Jäger neben ihm aufgetaucht, so wäre er gar nicht abgeneigt gewesen, mit ihm einen Vertrag abzuschließen.

Was war das mit Direktor Hermann? Seit wann war er, der Unnahbare, so liebenswürdig? War dies die erste Begegnung gewesen, oder hatten sich die beiden schon öfter im Theater getroffen? Und mit welcher Selbstverständlichkeit hatte Martha seine Galanterie angenommen! Lachend, wie sie sich von Wittmann den Hof machen ließ, hatte sie sich die Huldigungen Hermanns gefallen lassen!

Zu allen Menschen war sie freundlich, alle Menschen wurden fröhlicher in ihrer Nähe, nur ihn, Benno Stehkragen, trat sie mit Füßen.

Im Orchester setzte das Lied vom Jungfernkranz ein, und Benno kam wieder zu sich. Auf der Bühne knickste Katharine und sang ihr Liedchen, aber Benno hielt es nicht einmal der Mühe wert, das Opernglas auf sie zu richten.

Ihre Stimme kam ihm in dem großen Haus erschreckend dünn und metallos vor.

Nein, es war nichts mit ihrer Künstlerschaft. Er empfand es in diesem Augenblick mit einer gewissen Schadenfreude.

Dennoch regte sich, als Katharine geendet hatte, unerwarteter Applaus. Die Mitglieder des Schornsteinfegervereins »Die lustigen Rauchfänger« waren vollzählig im Hause vertreten, und sie ließen es sich nicht nehmen, der Tochter ihres zweiten Vorstandes den Weg in die Unsterblichkeit mit den Rosen des Beifalls zu bestreuen.

Auf der Stehgalerie stand enggeklemmt Papa Käsberger und lachte über das ganze Gesicht. Wildfremde Menschen hatten geklatscht, er hatte es deutlich gesehen – vielleicht hatte der Lebrecht Breivogel, der Lump, doch recht gehabt, und in seiner Rita steckte eine Großfürstin im Reiche der Kunst.

Als der wohlwollende Beifall schon längst verstummt war, klatschte Papa Käsberger noch immer, bis ein ärgerliches Pssst!! seine Riesenhände zur Ruhe zwang. Aber das dämpfte sein jubelndes Triumphgefühl nicht.

Er vertiefte sich in den Theaterzettel und las ihn zum hundertstenmal, den köstlichen Zettel, auf dem ganz unten stand: Erste Brautjungfer … Fräulein Rita Veldern.

Das Adelsprädikat »von« hatte der Zettel rücksichtsvoll unterdrückt.

Der Zwischenaktvorhang fiel, Benno erhob sich und ging nach Hause.

Seine Freude am Theater war zerstoben, die rohe Faust der Wirklichkeit hatte den Traumschleier zerrissen.

Er mied die hellen Hauptstraßen und schlich sich durch Seitengassen heimwärts.

Er übersann das Erlebte, er versuchte, sich die Szene im Foyer nochmals Zug für Zug zu vergegenwärtigen, und gab sich die größte Mühe, objektiv zu sein.

Ich will gerecht sein, ich will nicht nach dem Schein urteilen, mich nicht von einer Gefühlswallung bestechen lassen. Was hat sie eigentlich so Schlimmes verbrochen? Sie hat ihrem Chef zugelächelt, sich seine Löslichkeit gefallen lassen. Hätte das nicht auch jede andere Beamtin getan? Konnte sie überhaupt anders handeln? Durfte sie eine Gefälligkeit, auf die jede Dame Anspruch hat, mit einer Ungezogenheit erwidern?

Sein Verstand verteidigte Martha gegen die Anklagen seines Herzens. Aber seinen Verteidigungsreden wohnte keine Beweiskraft inne.

Er hatte das Faunlächeln Hermanns gesehen, dieses Lächeln lüsterner Eroberersicherheit, das ihm an Wittmann so zuwider war.

Sein Mißtrauen blieb wach, mochte er es noch so eifrig mit dem Schlafpulver der Objektivität einzuschläfern versuchen.

Zwar begleitete er noch immer Martha des Mittags von der Bank bis zum Uhrtürmchen, lief neben ihr her wie ein Hündchen, jedoch er war kein folgsames, willenloses Schoßhündchen mehr, er war ein kleiner lauernder Pinscher, der tückisch nach rechts und links schielte, jeden Augenblick bereit zu geifern und zu beißen.

Die Verstellung tat Benno weh. Das war etwas Unaufrichtiges, Unreines, was ihm bisher fremd gewesen.

Ich fühle, daß ich schlecht werde! sagte er sich. Ich fange an zu hassen. Der Haß des Ohnmächtigen bäumt sich in mir und macht mich rachsüchtig, wie er einst die Seele des alten Shylock vergiftet hat. Aber man will mir mein Liebstes beschmutzen, wie man es einst ihm befleckt hat. Wer weiß, vielleicht hätte der alte Shylock seinen Feinden und Unterdrückern allen Hohn, jeden Speicheltropfen, jeden Fußtritt verziehen, vielleicht hätte er vor dem Gericht des Dogen erklärt: »Ich habe euch nur ängstigen wollen, ich wollte nur einmal euch Stolze, Übermütige in der Rolle der Bittenden sehen, ich verzichte auf das Pfund Fleisch aus dem Busen meines Feindes« – hätten sie ihm nicht seine Tochter, seine Jessika, geraubt. Mochten sie ihn knechten, ihm seine Geschäfte stören, ihn und sein Volk durch Ausnahmegesetze peinigen – der alte Ghettojude durfte sie innerlich verlachen: Sein Volk war ja dennoch das Lieblingsvolk Gottes, der ihm den Messias verheißen hatte und der sein Wort halten würde, so gewiß er einst die Vorfahren aus der ägyptischen Knechtschaft geführt hatte.

Aber sie haben ihm seine Tochter geraubt – da gab es kein Erbarmen. »Der Fluch ist erst jetzt gefallen auf mein Volk, ich hab' ihn niemals gefühlt bis jetzt,« sagt er zu seinem Glaubensgenossen Tubal. Seiner Tochter gilt seine erste Frage, als Tubal ihm Neuigkeiten von auswärts bringt, seiner Tochter gelten seine Gedanken, während er im Gerichtssaal das Messer zur Rache wetzt. Und indes er sich anschickt, in unstillbarem Haß den Busen seines Feindes zu zerfleischen, vergibt er gleichzeitig halb und halb dieser undankbarsten aller Töchter und flüstert:

»Ich hab' ne Tochter,
Wär' irgendwer vom Stamm des Barrabas
Ihr Mann geworden, lieber als ein Christ!«

Benno stachelte sich selbst zum Haß auf, redete in sich hinein: Hätte ich einen solchen Schuldschein gegen Wittmann oder Hermann, auch ich würd' keine Gnade kennen!

Aber er glaubte seinen eigenen Racheschwüren nicht. Der großartige Haß des venezianischen Ghettojuden hatte keinen Platz in seinem gutmütigen Phantastenherzen, und während er sich in die Rolle des steinharten Gläubigers hineinzuschauspielern versuchte, liebte er Martha mehr als je.

Über ein folterndes Mißtrauen wuchs seine Enttäuschung nicht hinaus.

Unwillkürlich schweiften jetzt seine Gedanken häufiger zu Katharine Käsberger hinüber. Er verglich sie mit Martha, und der Vergleich fiel nicht mehr so kraß zu ihren Ungunsten aus.

Obwohl Katharine ein uneheliches Kind hatte, obwohl sie in der Scheinwelt der Bühne heimisch war, erschien sie ihm jetzt reiner und unschuldiger als Martha. Dieses verblühte, unbedeutende Mädchen hätte es sicherlich niemals übers Herz gebracht, so tyrannisch mit seinen heiligsten Empfindungen zu spielen, wie Martha es tat. Und in einer plötzlichen Eingebung kaufte er einen großen Strauß weißer Rosen und brachte ihn Katharine.

»Ich will mich in sie verlieben,« sprach er sich auf dem Wege zu ihr vor, wie ein Schulkind, das einen Satz auswendig zu lernen hat. »Ich will mich in sie verlieben, damit ich die Martha vergess' und wieder zurechnungsfähig werd'.«

Katharine war entzückt von den Blumen. Und ihr Entzücken wuchs noch, als er ihr die plumpesten Komplimente über ihr Auftreten als Brautjungfer machte.

Papa Käsberger wies mit Stolz auf den Freischütz-Theaterzettel, der eingerahmt über dem Klavier hing. Die Worte »Erste Brautjungfer … Rita Veldern« waren mit roter Tinte unterstrichen.

»Ja, es war e Bombe'erfolg, mei liewer Stehkrage,« lachte der glückselige Schornsteinfegermeister. »Ich habb' vor lauter Uffregung gar net haamgehe könne. Ich habb' merr ehrscht noch mei sechs Schöppcher Ebbelwei kaafe misse. Ja, merr kann sage, was merr will: Kunst is Kunst.«

Und Benno überbot diese Lobpreisung noch und erzählte begeisterte Äußerungen aus dem Publikum, die er angeblich gehört hatte.

Und dabei peitschte ihn sein Gewissen: Benno, wie tief bist du gesunken, wie lügst du, und wie beschämend leicht fällt dir das Lügen!

Katharine nahm die Huldigungen mit der verlegenen Verschämtheit einer alten Jungfer entgegen. Sie bemühte sich, möglichst bescheiden auszusehen, während doch das Glück ihr Herz schwellte, und sie machte ein Gesicht, das jeder unbefangene Zuschauer als strohdumm hätte bezeichnen müssen.

Mama Käsberger hatte das Sofa mit Beschlag belegt und konnte beim besten Willen nicht stillsitzen. Sie rutschte aufgeregt hin und her, entschuldigte sich ein dutzendmal, daß sie so eine alte Nachtjacke anhabe, aber sie hätte doch nicht auf so angenehmen Besuch gefaßt sein können, nachdem sich Herr Stehkragen leider in den letzten Tagen so selten gemacht habe, man hoffe aber, jetzt wieder öfter das Vergnügen zu haben.

Und ihr tränendes Mutterauge fand, daß Bennos Buckel, wenn man genau hinsehe und das eine Auge zukneife, tatsächlich im Abnehmen begriffen sei.

Während dieser Familienszene bewahrte nur Lebrecht, der angenehme Knabe, seine Gemütsruhe. Er saß auf einem Schemel in der Zimmerecke, zerpflückte Bennos Rosenstrauß und stopfte die weißen Rosenblätter in das Tintenfaß. Seine Absicht war, dieses Tintenfaß, sobald es bis zum Rand voll wäre, auf den Teppich umzugießen und dann ins Bett zu gehen.

Benno machte tiefen Eindruck auf alle Käsbergers.

Dennoch gestand er sich auf dem Heimweg: Es is unmöglich, ich kann mich nicht in se verlieben, ich lieb' die Martha, ich komm' nicht von ihr los!

Und so war es.

Da traf ihn ein zweiter harter Schlag.

Martha erhielt, außerhalb der Reihe und ohne jede äußere Veranlassung, eine beträchtliche Gehaltsaufbesserung.

In der Industriebank gärte Empörung. Der Neid zischelte: »Nun ja, kein Wunder! Wenn man mit seinem Bureauchef ins Kino geht …«

Die Beamtinnen konstatierten giftig: »Und eine Perlenkette trägt die Person auch noch! Aber so ist die Welt! Unsereins, der anständig ist, bringt's natürlich zu nichts.«

Selbst der alte Binder mußte sich kopfschüttelnd sagen: »Merkwürdige Zuständ' herrsche uff unserer Bank! No ja, es is halt e Affestall!«

Benno hörte die gehässigen Reden, die sich Martha zur Zielscheibe nahmen, aber er verteidigte sie nicht mehr in seinen Gedanken.

Diese plötzliche Gehaltsaufbesserung war ihm ein neues Glied in der Beweiskette ihrer Leichtfertigkeit, ihrer frivolen Genußsucht.

Und deshalb sah er sie beim Morgengruß so sonderbar an und erwiderte ihre erstaunte Frage mit so ungewohnter Schärfe. Den ganzen Vormittag über vergrub er sich tapfer in seine Arbeit und vermied es ängstlich Marthas Blick zu begegnen.

Heut' muß ich ernstlich mit ihr reden, nahm er sich vor. Heut' auf dem Nachhausweg sag' ich ihr alles, daß ich se lieb', und daß der Wittmann kein Verkehr für sie is, und daß der Direktor Hermann ein alter Mädchenjäger sei, der schon viele Jungfrauen ins Unglück gestürzt habe.

Das letztere wußte er nicht so genau, aber er wollte es jedenfalls einmal behaupten. Jetzt kam's auf eine Lüge mehr nicht mehr an.

Ich muß hart sein, beredete er sich, indes er die dreißig Coupons vierprozentige Bayerische Vereinsbank-Pfandbriefe der Antonie Hochberg nachzählte. Da sagt man immer – dreizehn, vierzehn – die Liebe veredle den Menschen – siebzehn, achtzehn – aber es ist nicht wahr – einundzwanzig, zweiundzwanzig – rachsüchtig und unaufrichtig macht die Liebe – sechsundzwanzig, siebenundzwanzig – und selbstsüchtig und boshaft – neunundzwanzig, zweiunddreißig.

Und dann mußte er die Coupons von neuem durch die Hand gleiten lassen, denn er hatte sich verzählt.

Benno legte sich die Rede zurecht, die er über Martha ergießen wollte. Aber er kam wieder einmal nicht dazu, seine Rede zu halten.

Denn als er mittags, wie gewöhnlich, am Portal der Bank wartete, ging Martha rasch an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen.

Er hüpfte ein paar große Schritte, um sie einzuholen. Da drehte sie sich schroff um und sagte: »Ich verbitte nur Ihre Begleitung! Nehmen Sie erst einen Anstandskursus, damit Sie sich Damen gegenüber einen anständigen Ton angewöhnen!«

Zum erstenmal seit langer Zeit mußte Benno mittags allein bis zum Uhrtürmchen traben. Und der Prophet Elias kam sich in der Wüste nicht halb so verlassen vor wie der arme Benno in der belebten Kaiserstraße.

Trübselig guckte er an den Häusern empor und ihm war, sie erwiderten seinen Blick und starrten ihn mit ihren kalten Fensteraugen feindselig an.

Nicht einmal die mogelnde Kartenspielerin in dem Porzellangeschäft vermochte ihn aufzuheitern.

Und vor dem Trompetenbaum gedachte er nicht seines geliebten Naturgeschichtslehrers, sondern er malte sich aus:

Wenn ich doch an dem Baum hängen tät' – einen soliden Strick um den Hals – und es tät' mir nichts mehr weh, kein Hühnerauge, kein Backenzahn und kein Herz – sondern ich wär' tot – und die Martha Böhle käm' vorbei – mit dem Herrn Wittmann neben sich – und se täten mich gucken, und der Wittmann tät' fragen: »Was is denn das an dem Baum? Hängt dort nicht ein Stehkragen?« – und die Martha tät' einen Schrei ausstoßen, und das Pralinee blieb ihr im Hals stecken, wo se grad' dran lutscht – und se tät' ohnmächtig hinfallen, mitten in die Stiefmütterchen – wo angeschrieben steht »Betreten verboten« – weil se mich doch heimlich geliebt hat und es mir bloß nicht sagen wollt' – und auf einmal wär' ich doch noch nicht ganz tot, sondern ich tät' noch e bißchen mit den Augen zwinkern und tät' sagen: »Siehst du, das kommt davon, ich verzeih' dir alles, und jetzt hast de den Salat!« – und ich …

Benno zog das Taschentuch hervor und wischte sich die Augen.

Das Essen im koscheren Restaurant schmeckte ihm heute gar nicht. Die Klößchen in der Suppe waren lauter Totenschädel aus der Wolfsschlucht, und der stoppelbärtige Joseph schlich umher wie der schwarze Samiel, und sein Frack verriet deutlich, daß in der Hölle mit Gänsefett geschmort wird.

»Herr Stehkrage,« wandte sich Joseph beim Kompott an ihn, »Sie sin doch e gescheiter Mann, Se gehen auf die Börs' und haben auch sonst eine Bildung, sagen Se merr im Vertrauen: Was geht in der Politik vor? Se wissen, ich hör' nie zu, was die Gäst' miteinander reden, aber sie sprechen jetzt fortwährend vom Krieg. Ich sag' Ihnen, ich bin jetzt so nervös, gestern abend hab' ich'n Teller fallen lassen mit Rindsgulasch, für eine Mark zwanzig Rindsgulasch, auf dem Herrn Jakob Rosenthal seine gestreifte Hos' – ich hab' geglaubt, die Welt geht unter, so hat der Herr Rosenthal angestellt! Unn Ihne Ihr Abonnementskaart is aach abgelaafe!«

Benno gab ihm keine Antwort, zahlte die neue Karte und ging.

Er gab aus Versehen eine Mark fünfzig Trinkgeld, und damit war der Moment eingetreten, den der stoppelbärtige Joseph schon lange prophezeit hatte: Benno war in Josephs Augen meschugge geworden.

Zu Hause empfing ihn Frau Petterich mit lautem Weinen. Sie stand vor dem Schuppen des Hofes, vergoß Tränenströme und jammerte: »Heut is mei'm Schorsch-selig sei' Gebortsdag … Siwweunverzig Jahr wär' er heut geworn, wann er's noch erlebt hätt'! Ach, so e scheener Mann unn hat so frieh schderwe misse. An sei'm letzte Gebortsdag hawwe merr noch en Mordskrach mitenanner gehabbt, da hat'r den Leimtopp nach merr geschmisse unn de Pinsel hinnerdrei'! Ja, des war'n selige Zeite! Unn nachts im Bett hat'r mich so sieß um Verzeihung gebete, unn seit dere Zeit muß ich immer heule, wann ich den Schuppe seh'. Ach, wenn er nor noch lewe dhät, er derft merr ja jedden Tag sei' ganz Handwerkszeug an de Kopp werfe, ich dhät' gewiß nix sage, ich bin ja so e schweigsam' Fraa!«

Benno ließ sie stehen und ging auf sein Zimmer.

Das kleine Mariechen kam herein und rief triumphierend: »Null Fehler hab' ich im Diktat. Und das Fräulein hat gefragt, ob mir jemand bei den Rechenaufgaben geholfen hätt'? Aber ich hab' nix verraten, sondern ich hab' gesagt: Fräulein, wo denken Se hin!«

Sie erwartete ein Lächeln Bennos.

Aber Benno lächelte nicht.

Es war heute ein schlimmer Tag für ihn, und während er nun mit dem Mariechen Schulaufgaben machte, geschah ihm neues, unerwartetes Leid.

Die Kleine hatte das Chamissosche Gedicht »Die Sonne bringt es an den Tag« auswendig zu lernen, und als sie an die Stelle kamen: »Da kam mir just ein Jud in die Quer«, frug er sie in Gedanken: »Was ist denn das, ein Jud?«

»E Judd?« antwortete das Mariechen. »Das is ein böser Mensch.«

Benno wurde kreidebleich und biß sich auf die. Lippen.

Wer hatte dem Kind diese Gehässigkeit beigebracht? Oder redete es nur eine gewissenlose Dummheit nach, die es von Erwachsenen gehört hatte?

Er hätte dem Kind eine lange Rede halten können, er hätte ihm sagen können, daß Gott nicht nach Konfessionen richtet, sondern daß es vor ihm nur gute und schlechte Menschen gibt, er hätte ihr erhabene Beispiele aus der Leidensgeschichte seines Volkes erzählen können, ihm schwebte die Frage vor: »Mariechen, du kennst mich doch? Auch ich bin ein Jud. Bin ich ein schlechter Mensch?« Doch eine unsichtbare Macht hielt ihn; die Lippen zu.

Nur kam ihm ein echt Benno Stehkragenscher Gedanke: er nahm sich vor, am nächsten Abend Mariechen mit in den Tempel zu nehmen.

Der Nachmittag in der Bank ließ sich noch trübseliger an als der Vormittag.

Was dem gewissenhaften Benno seit Jahren nicht passiert war, er kam zu spät ins Bureau.

Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend tadeln. Eine unerhoffte Freude harrte seiner: In der Vesperpause gab es eine beglückende Sensation.

Wittmann war wie stets an das Pult getreten, um mit Martha zu plaudern. Er schien heute besonders galant gestimmt und ergriff wie in Gedanken Marthas Hand, um sie zu streicheln.

Jäh entzog Martha sie ihm, und in demselben Ton, in dem sie vormittags am Portal den wartenden Benno abgefertigt hatte, fuhr sie auf: »Ich möchte Sie bitten, Ihr Frühstück künftig an einem anderen Platz zu verzehren!«

Die Beamten beugten sich geschäftig über ihre Arbeiten, als hätten sie nichts gehört. Innerlich jubelten sie.

So etwas war noch nicht dagewesen.

Blutrot vor Wut schrie Wittmann: »Ich bin hier der Bureauchef, und ich kann mich hinstellen, wo mir's paßt! Verstanden!?«

Von oben herab erwiderte Martha: »Ich werde Herrn Direktor Hermann fragen, ob er derselben Ansicht ist!«

Benno war entzückt. Also war sein Verdacht gegen Wittmann doch ungerechtfertigt. Also waren die faden Komplimente ihr doch im Grunde des Herzens zuwider, und sie hatte es nur nicht gewagt, gegen den mächtigen Bureauchef Front zu machen.

Er lachte über das ganze Gesicht, aber seine Miene erstarrte sogleich wieder, da Wittmann ihn andonnerte: »Unterlassen Sie dieses freche Grinsen, Herr Stehkragen! Mit Ihnen habe ich sowieso noch ein Hühnchen zu pflücken. Sie werden mit jedem Tag nachlässiger!«

Die Kunde von dem unerhörten Vorfall machte rasch die Runde durch das Haus.

Die Meinungen waren geteilt. Die Damen fanden, Martha sei ein ganz hochmütiges Geschöpf, und solche Zustände dürften unmöglich einreißen!

Die Herren schmunzelten: Endlich einmal eine, die kein Blatt vor den Mund nimmt und den hohen Herrschaften, die sich Halbgötter dünken, gehörig die Meinung sagt!

Der verknöcherte Rittershaus im Wechselbureau rieb sich die Hände und kicherte schadenfroh:

»Diesmal bricht sie sich den Hals. Diesmal fliegt sie!«

Und in einer Aufwallung seines Selbstgefühls krähte er in das Bureau: »Ruhe! Während der Arbeitsstunden wird nicht geschwätzt!«

Das war der zweite Zusammenstoß Marthas mit einem Bureauchef. Erst Rittershaus, dann Wittmann. Aber der Streber Wittmann war viel zu schlau, um beschwerdeführend in die Direktion zu laufen; er durchschaute, wie die Dinge standen. Und so verlief die Angelegenheit im Sand.

Am nächsten Abend nahm Benno das Mariechen mit in die Synagoge.

Er setzte sich nicht auf seinen Stammplatz in der dritten Reihe, sondern er suchte einen Platz ganz weit hinten und stellte das Mariechen neben sich auf die Bank, so daß es den ganzen Tempel überschauen konnte.

Eigentlich gehörte das Kind ja in die Frauenabteilung auf die Empore, aber dem so pünktlichen Synagogenbesucher Benno übersah der Gemeindediener diese kleine Abweichung von der Regel.

Das Mariechen machte große Augen, als es den feierlichen Lichterglanz sah, die bunten Arabesken an den Säulen, den goldbestickten Thoraschrein, vor dem der seltsam gekleidete Rabbiner den Gottesdienst leitete. In der Synagoge gab es keine Bilder zu beschauen und doch so viel Glanz zu bewundern.

Sie hörte die volltönende Stimme des Vorbeters, dem die Gemeinde mit Murmeln und Verneigungen antwortete, und der fremdartige, uralte Wechselgesang machte einen tiefen Eindruck auf das Kinderherz. Das Mariechen verstand kein Wort von den hebräischen Gesängen und Anrufungen, aber es fühlte, hier handelte es sich um etwas Heiliges, Tiefehrwürdiges.

Und als nun unter jubelndem Chorgesang der Schrein geöffnet wurde und der Rabbiner die Gesetzesrolle zärtlich, als wiege er ein Kindchen, nach dem Lesetisch trug, da war ihr zumute wie bei einer Weihnachtsbescherung.

Und nun wies ihr väterlicher Freund Benno Stehkragen auf die andächtige Menge und flüsterte: »Siehst du, Mariechen, die Menschen da sind lauter Juden. Glaubst du wirklich, daß sie alle schlechte Menschen sind?«

Da schüttelte das Mariechen mit Überzeugung und ein wenig beschämt den Kopf. Und da sie ringsum alles beten sah, faltete auch sie ihre Händchen, und mitten aus der jüdischen Gemeinde stieg ein stummes Gebet zur Jungfrau Maria empor.

»Mein liebes Kind,« sagte Benno gerührt, »merke es dir fürs ganze Leben: Wenn man dir Schlechtes von einem Menschen erzählt, ob von einem Juden oder Christen, so glaube es nicht, ehe du dir nicht die untrüglichsten Beweise verschafft hast! Wenn man dir aber Gutes erzählt, so glaube es ohne weiteres! Der Mensch ist edel von Natur aus, und die Menschheit ist weit besser als ihr Ruf.«

Eine erhabene Feierlichkeit war über ihn gekommen, er vergaß bei den alten Gesängen und Zeremonien, die schon seinen Urvätern in den bittersten Leidenszeiten Trost gewährt hatten, seine Schmerzen, und eine süße Stille erfüllte sein Herz.

Beim Verlassen des Gotteshauses redete ihn im Gedränge der Herr Seligmann an, bei dem er so viele Jahre im Oederweg gewohnt hatte.

»Wie geht's, wie steht's?« erkundigte er sich jovial bei Benno, der das Mariechen behutsam an der Hand führte. »Leben Se noch? Warum lassen Se sich denn gar nicht mehr bei uns sehen? Kommen Se doch emal zum Abendessen! Ich kann Ihnen im Vertrauen sagen, meine Frau kocht noch immer sehr gut polnischen Karpfen. Und ich hätt' auch gern emal wieder mit Ihnen die soziale Frag' gelöst.«

Benno antwortete ausweichend.

Mit dem Verlassen der Synagoge und dem Betreten der trüben Straße war der Friede seines Herzens wieder zerstört.

Seine Gedanken kreisten schon wieder um Martha, und während er mit Seligmann die Zeil entlangwanderte, argwöhnte er bei jedem Kino, an dem sie vorüberkamen: »Vielleicht sitzt se da drin! Vielleicht hat se sich schon wieder mit Herrn Wittmann ausgesöhnt, und er hält im Dunkeln ihre schöne Hand, und sie entzieht se ihm nicht mehr, sondern sitzt unbeweglich und wirft die Perlen ihres Lächelns vor den Herrn Wittmann! …«

»Sie sehen schlecht aus, Herr Stehkragen! Ganz mager sind Se geworden!« fuhr Seligmann besorgt fort. »Ich kann Ihnen nur raten, kommen Se wieder zu uns, polnischen Karpfen essen! Das ist ein guter jüdischer Fisch, der schon manche seelische Verstimmung beseitigt hat! Also kommen Se nächsten Sonntag!«

Benno versprach alles, sagte zu allein Ja und Amen und dachte dabei: Vielleicht is se auch im Theater, und der Direktor Hermann füttert se mit Eis und macht seine Faunfratze dazu, und es is niemand da, der ihm dafür ins Gesicht schlägt, sondern die Leut', die ihn kennen, machen eine Verbeugung und lispeln andächtig: »Das is der Direktor Hermann von der Industriebank, ein Mann mit vierzigtausend Mark Einkommen …«

Indessen Benno so seinen Gedanken nachhing und das kleine Mariechen auf ihn achtgeben mußte, daß er unter kein Auto geriet, redete Herr Seligmann ununterbrochen weiter.

Er war nun auf das beliebte Thema von der Not der Zeit gekommen und klagte: »Ich sag' Ihnen nix als: Sein Se froh, Herr Stehkragen, daß Se keinen militärpflichtigen Sohn haben! Die Zeitungen gefallen merr gar nicht mehr, es liegt was in der Luft, aber nix Gutes. Was spricht man denn an der Börs'? Die Börs' hat doch eine Witterung wie ein Jagdhund und riecht an jedem Eckstein der Politik. Und die Kurse sind die besten politischen Laubfrösch', bei gutem Wetter klettern se in die Höh', und bei schlechtem Wetter hupfen se 'erunter. Ich hab' Russen, ich mein' nicht die Küchenkäfer, sondern russische Staatspapiere – soll ich se verkaufen oder soll ich se behalten oder soll ich noch welche dazu kaufen – nu, so reden Se doch auch einmal einen Ton!«

Und Benno dachte: Vielleicht is se auch im Zirkus und sieht dressierte Affen und denkt doch ein bißchen an mich. Oder sie is im Tingeltangel und sieht einen Jongleur, der Gläser in die Luft wirft, und eins fällt hin und is kaputt, und wie se genau hinsieht, is es mein kaputtenes Herz, und se hebt's auf und läßt sich's vom Kellner einwickeln und nimmt's mit nach Haus zum Andenken an den schönen Abend …

Er überließ Herrn Seligmann seinen russischen Besorgnissen und verabschiedete sich.

Erst als ihm Seligmann längst aus den Augen war, fiel ihm ein, daß er ganz vergessen hatte, sich nach dem Befinden der Frau und der Kinder zu erkundigen und ihm Grüße aufzutragen.

Der Kopf schmerzte ihn, seine Beine waren so müde, und ihm war in diesem Augenblick alles so gleichgültig, daß er trotz des Verbotes, am Schabbes zu fahren, mit dem Mariechen in die Elektrische stieg.

Und als der Schaffner ihn frug »Wohin?«, da antwortete er zerstreut: »Zweimal Wolfsschlucht!«, so daß das kleine Mariechen ihn ganz entrüstet korrigieren mußte: »Nach'm Sachsehäuser Berg, Herr Schaffner! Ein Erwachsenes und ein Kind unter sechs Jahren!«

 

Ein Trompetenstoß zerriß die Luft, gellend wie die Posaune des Jüngsten Gerichts.

Die Gräber öffneten sich – aber nicht um die Toten freizugeben, sondern um Millionen junger, blühender Leben zu nehmen.

Der Weltkrieg war ausgebrochen.

Ein heiliger Taumel ergriff unser Volk, mit seinem Blute dem Vaterland zu danken für alles Große, was es von ihm empfangen.

Auch Benno dachte enthusiastisch daran, sich unter die Scharen der Freiwilligen zu gesellen: Endlich war eine Gelegenheit da, dem geliebten Heimatland Treue mit Treue zu zahlen, durch die Tat sich des Ehrennamens Deutsch würdig zu zeigen.

Aber als er sich im Spiegel besah, da verzerrte sich sein leuchtendes Antlitz zu einer schmerzlichen Fratze. Er war ja ein Krüppel, ein lächerliches Spottbild, verglichen mit den sehnigen Gestalten, die von allen Seiten zu den Fahnen eilten.

Sie würden ihn auslachen. Und wenn er gewiß auch auf dem Schlachtfeld sich von keinem würde an Opfermut überbieten lassen – auf dem Exerzierplatz würde er eine komische Figur spielen, und sie würden seinen heiligen Eifer mit höhnischem Witzeln entweihen.

Er besaß nur eine einzige militärische Erinnerung, und die war beschämend genug. Vor vielen Jahren war er einmal gemustert worden, als er sein Einjähriges abdienen wollte, und da hatte der Stabsarzt mit einem lächelnden Blick auf seinen Buckel gesagt: »Sie brauchen sich erst gar nicht auszuziehen!« Und alle Anwesenden waren in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Nein, er taugte nicht zum Soldaten. Die Natur, die ihn zum Krüppel geschaffen hatte, verwehrte ihm auch diesen Eingang zum Reiche der Unsterblichkeit.

Bitter empfand er es: Wieder einmal war er ausgeschlossen, wo es galt, Schönes, Großes, Ewiges zu vollbringen.

Auf der Bank rief der Ausbruch des Krieges zunächst ein großes Durcheinander hervor. Da waren ausländische Coupons, von denen man nicht wußte: sollte man sie noch einlösen oder nicht; da waren Stöße ausländischer Wechsel, auf die Kredite eröffnet waren, und deren Wert jetzt höchst zweifelhaft geworden war; alle Auslandspost blieb plötzlich aus; da belagerten überängstliche Kunden die Direktion, wollten ihre Depositen und Guthaben zurückziehen, baten um Ratschläge, die sie hinterher doch nicht befolgten; da schwirrten Alarmgerüchte abenteuerlichster Art über angebliche Schwierigkeiten bedeutender Unternehmungen, an denen die Bank beteiligt war.

Auch etliche Herren, die die Hilfe der Bank zu Kriegsspekulationen gewinnen wollten, stellten sich ein. Das Öl würde bestimmt in absehbarer Zeit knapp werden, sie hätten es aus bester Quelle; wenn man es aufkaufe, könne man ein Vermögen verdienen.

Diese ehrenwerten Mitbürger kamen freilich schneller die Treppe hinunter, als sie heraufgekommen waren.

Direktor Hermann erwies sich in diesen stürmischen Tagen als ein wahres Genie. Mit unerschütterlicher Ruhe und Sicherheit leitete er das Unternehmen, und fast alle seine Maßnahmen erwiesen sich späterhin als richtig.

Auch Antonie Hochberg erschien auf der Bank, um sich Rat zu erholen.

Sie bestürmte erregt den wehrlosen Hermann mit tausend Fragen, die ihr nicht einmal der Reichskanzler hätte beantworten können, wollte wissen, wie lang der Krieg dauern werde, und wie sich Hermann, der doch ein gescheiter Mann sei, die Friedensbedingungen denke.

Sie erinnerte sich noch deutlich des Deutsch-Französischen Krieges, sie konnte ihrem Alter nach auch noch das Jahr Achtzehnhundertsechsundsechzig miterlebt haben, und sie jammerte bei diesen Reminiszenzen anhaltend: »O Gott, o Gott, die armen Menschen, die armen Menschen!« Dabei trug sie aber beängstigend große Brillanten in den Ohren, und an ihren Fingern glitzerte eine ganze Juwelengeschäftsauslage.

Von den Schrecken des Krieges schweifte sie dann zu einer eingehenden Kritik des letzten Museumkonzerts ab, um mit der entrüsteten Schilderung des vorvorletzten Frankfurter Ehescheidungsprozesses zu schließen.

Eine Stunde lang hielt sie den armen Hermann auf, der die verzweifeltsten Anstrengungen gemacht hatte, sie schon früher mit höflicher Gewalt zum Gehen zu zwingen.

Unter den Beamten riefen die Einberufungen große Erregung hervor.

Da konnte man Charakterstudien machen.

Leute, die man allgemein für trockene, verschlafene Philister gehalten hatte, überraschten mit der Meldung, sie hätten sich freiwillig zum Heeresdienst gestellt; andere wieder, die im Schwadronieren stets Meister gewesen waren, liefen ob ihrer Einberufung mit Trauermienen umher und beschworen die Direktion, sie als unabkömmlich zu reklamieren.

Einer der ersten, die diesen beschämenden Gang in die Direktion antraten, war Herr Wittmann.

Er hatte gelegentlich einmal betont, Leutnant der Reserve zu sein – nun stellte es sich heraus, daß er niemals Soldat gewesen, sondern seiner Plattfüße wegen »Landsturm ohne Waffe« war.

Eifrig diskutiert wurde die Frage, wie sich die Bank ihren einberufenen Beamten gegenüber verhalten werde. Würde sie ihnen die Stellen bis zum Friedensschluß offenhalten? Würde sie den Familienangehörigen die Gehälter voll oder wenigstens teilweise auszahlen?

Die Beamten beschlossen, eine Deputation, in die Direktion zu schicken, zu deren Sprecher der dicke Rehle gewählt wurde, der allseitiges Vertrauen genoß, und dem man vor allem das nötige Mundwerk zutraute.

Diese Maßregel erwies sich freilich als überflüssig, denn noch ehe die Deputation in Tätigkeit zu treten brauchte, gab die Direktion einen Ukas heraus, der den Wünschen der Beamten auf das weiteste entgegenkam.

Direktor Hermann hatte die Angelegenheit mit Direktor Birron besprochen, das heißt: er hatte gesprochen, und Birron hatte gesagt: »Es wird schon recht sein, Herr Kollege! Ganz wie Sie meinen!«

Amtliche Bekanntmachungen erschienen und wurden in den Bureaus angeheftet. Darunter auch eine Anweisung, wie sich die Bevölkerung im Falle eines möglichen Fliegerangriffes zu verhalten habe: die Straßen seien zu leeren, die Lichter zu löschen und Schutz in den Kellern zu suchen.

Seit diese Bekanntmachung im Wechselbureau prangte, war der zittrige Rittershaus nicht mehr zu beruhigen.

»Ach Gott, ach Gott!« stöhnte er den lieben, langen Tag vor sich hin. »Und der Hauptbahnhof, auf den's die Hunde doch in erster Linie absehen werden, liegt uns gerade gegenüber!«

Jeden dritten Tag ließ er sich von neuem vom alten Binder das Kellergewölbe zeigen und verbrachte dort zur Freude seines Bureaus ganze Stunden mit angeblich notwendigen Revisionen.

Er wollte vom Krieg nichts hören, und so oft Truppen die Kaiserstraße hinauf zum Bahnhof zogen und das Personal an die Fenster stürzte, um Abschiedsgrüße zu winken, geriet er außer sich und krähte verzweifelt: »Ruhe!! Während der Arbeitsstunden wird nicht hinausgesehen!«

Rittershaus war jetzt Alleinherrscher im Wechselbureau, denn der dicke Rehle trug des Königs Rock. Nie hatte er davon gesprochen, daß er Vizewachtmeister der Reserve war. Man wollte es ihm anfangs gar nicht glauben, daß er, in seinen Jahren, sich als Freiwilliger gemeldet habe.

»Mei Alte flennt wie e Schloßhund,« sagte er, »awwer ich kann'r net helfe! Ich kann doch als ahler Soldat bei dem Krieg net zugucke! Ich müßt mich ja vor merr selwer schäme!«

Und beim Abschied hatte er gescherzt: »Gell, Fräulein Scheckel, du schreibst merr alsemal unn schickst merr Socke ins Feld, awwer um Gottes wille kaa selbstgestrickte! Sonnern, wo merr aach drin laafe kann! Unn poussiert merr net zu viel, Kinner! Daß ich kaa Sache hör', wann ich widderkomm! Unn du, Madamm' Ungnädig, gewöhn derrsch ab, ahle Leut ze haache – en junge kriehst de jetzt sowieso kaan mehr!«

Und dabei standen ihm die Tränen in den Augen, und die Damen trockneten sich die Wimpern ab und konnten vor Trennungsweh kaum ihr »Auf glückliches Wiedersehen!« hervorbringen.

Übrigens wurde der dicke Rehle nicht ins Feld abgestellt, sondern zur Rekrutenausbildung dabehalten, und er war bald der beliebteste Vizewachtmeister des ganzen Ersatzbataillons.

Auch der Junge des alten Binder wurde eingezogen, und der Vater war stolzer darauf als der Sohn. Auf der Livree des alten Binder tauchte jetzt plötzlich eine Medaille auf, die ihn als Teilnehmer am Siebziger Kriege auswies. Mit Vorliebe erzählte er jetzt Erlebnisse aus seiner Kriegszeit, die man nicht allzu genau auf ihre Wahrheit prüfen durfte – es war schon ein bißchen lange her.

Was seinen Sohn anging, so beseelte ihn ein unerschütterlicher Optimismus: »Mei' Sohn kimmt widder, da haww ich gar kaa Angst net! Es is ja aach der Vadder widderkomme! Des Heule unn Zähneklappern iwwerlasse merr de Weiwer! Dene dhut's wohl, wann se als e bissi flenne könne!«

Um so pessimistischer sah der kranke Bittenberger, der Aufsichtsführer der Expedition, in die Zukunft. Auch seinen ältesten, mißratenen Sohn hatten sie geholt, und nun schwebte der arme Vater beständig in Todesängsten, sein Sohn könne beim Militär böse Streiche machen.

Ein erschütterndes Bild des Jammers war der alte Mann, wenn er des Abends als letzter, auf seinen Stock gestützt, die Treppe hinunter gewankt kam, und im ganzen Hause sagte man sich:

»So geht's nicht mehr weiter mit dem Bittenberger! Wir sind doch kein Altersversorgungsheim! Er muß sich einfach pensionieren lassen! Mit solchen Leuten kann man nicht zusammen arbeiten!«

Benno Stehkragen glich in den ersten Kriegstagen einem Narren.

Er schämte sich vor jedem Soldaten, der an ihm vorüberging. Wozu bin ich überhaupt auf der Welt? grämte er sich. Wozu bin ich überhaupt zu gebrauchen? Wie kann ein Mensch vor mir Respekt haben? Wie kann ich mir einbilden, ein Mädchen könnt' mich lieben?

Das häßliche Wort »Drückeberger« gellte ihm in den Ohren.

Wenn er noch wenigstens sich hätte in einem der Wohlfahrtsausschüsse nützlich machen können! Aber dazu ließ ihm sein Beruf keine Zeit.

»Ich sitz' erum und fress' andern Leuten 's Brot weg,« klagte er sich an. »Ein Schmarotzer, ein überflüssiger Mensch! Draußen sterben Väter und Söhne, und ich sitz' hinter'm warmen Ofen und les' Leitartikel! Und was für welche!«

Zu den Käsbergers ging er jetzt fast gar nicht mehr, und der kleine Lebrecht bekam in der Schule einen Strafzettel nach dem andern. Seit Benno einmal angefangen hatte, dort die Rolle des bewundernden Verehrers zu spielen, erwarteten Katharine und insbesonders Großmama Käsberger von ihm deutlichere Erklärungen, und die brachte er nicht übers Herz.

Selbst Marthas Bild schien ihm in diesen Tagen in weite Ferne gerückt.

Er bekam sie nur noch selten zu sehen, denn Martha war nach dem Zusammenprall mit Wittmann aus dem Couponbureau versetzt worden.

Sie hatte dem Direktor Hermann die Affäre erzählt, und Hermann hatte kurz entschlossen angeordnet: »Von morgen ab sind Sie als meine Privatsekretärin in der Direktion beschäftigt! Sie sind doch damit einverstanden, liebes Fräulein?«

Höchst betriebsam ging es im Hause Petterich zu. Die gute, mollige Frau Josephine war völlig von allerlei Fürsorge für die Feldgrauen in Anspruch genommen. Sie, die sonst so sparsam mit Petroleum und Gas umgegangen war, saß jetzt bis spät in die Nacht hinein in der Küche und strickte Socken, nähte Leibbinden, wobei ihr das entzückte Mariechen bis neun Uhr abends helfen durfte.

In jedes Paar Socken webte sie die ehrlichsten Segenswünsche hinein, aber auch urkräftige Flüche gegen unsere Feinde:

»Verhaacht die miserawele Franzose, daß die Lappe flie'e!! Nix wie druff uff die schleechte Engelänner!! Kabutt misse se wer'n, die ganze Lumpegesellschaft!! Mir soll nor noch emal e Engelänner ins Haus komme!! De ganze Kücheschrank krieht'r uff de Kopp!! Wann ich nor en Russ' da hätt' – ich dhät' dem Oos de Buckel mobilisiere, daß er genug hätt' for die nächste hunnert Jahrn!!«

So schimpfte die gute Frau Petterich, während die Stricknadeln klapperten, in ihrer ehrlichen Entrüstung.

Für ihren Mieter hatte sie nur mehr wenig Zeit übrig, und das war Benno lieb, denn er hätte jetzt die Lobreden auf den seligen Schorsch nicht ertragen können.

Weshalb läßt du mich nicht sterben, lieber Gott! flehte er. Du führst doch Buch über die Taten aller Menschen, über die guten und die schlechten, vielleicht is bei dir ein Stellchen frei als Buchhalter? Ich will ja aufs genaueste Buch führen, und ich will ohne Murren Überstunden machen und nix sagen, wenn du merr die ekligste Seele im ganzen Himmel zum Bureauchef gibst! Nur nimm mich weg aus dieser Welt!

Oder er dachte in seiner närrischen Art: Wenn ich nur emal den Kaiser persönlich sprechen könnt'! »Majestät,« tät' ich sagen, »Majestät, vielleicht is irgendwo ein verlorener Posten, auf den man einen opferwilligen Menschen braucht, vielleicht is irgendwo was in die Luft zu sprengen und man weiß bestimmt, der Mann fliegt mit in die Luft – nehmen Se mich dazu, Majestät! Ich bitt' Se um alles: nehmen Se mich! Sie werden Ihre Freud' an mir erleben!«

Als die ersten beglückenden Siegesnachrichten eintrafen, da gab es unter den Jubelnden einen, der tiefunglücklich war, tiefunglücklich, daß er den großen Ereignissen müßig zuschauen mußte.

Wenn ich wenigstens als Sanitätshund auf die Welt gekommen wär'! dachte er. Oder als Schrapnell. Aber ausgerechnet als Benno Stehkragen mußt' ich geboren werden!

Eines Tages wurde Benno in die Direktion gerufen.

Sein erster Blick beim Betreten des Raumes fiel auf Martha, die dicht beim Fenster vor einer Schreibmaschine saß und Stenogramme übertrug.

Sie senkte den Kopf tiefer und tippte doppelt eifrig, als sie Benno bemerkte.

»Fräulein,« sagte Direktor Hermann, »gehen Sie, bitte, hinaus, solange ich mit Herrn Stehkragen rede! Man versteht ja bei der Tipperei sein eigenes Wort nicht!«

Martha erhob sich und ging.

Es war Benno, als habe sie ihn mit einem fragenden Blick gestreift.

»Mein lieber Stehkragen,« wandte sich Direktor Hermann ungewöhnlich freundlich an ihn, »ich weiß nicht, ob es Ihnen bereits bekannt ist, daß unser Gesuch betreffs Unabkömmlichkeit des Herrn Wittmann abschlägig beschieden wurde? Herr Wittmann wird also in absehbarer Zeit unsere Bank verlassen. Und es scheint mir fraglich, ob er wieder auf seinen Posten zurückkehren wird. Wir brauchen daher einen neuen Bureauchef. Dabei dachten wir in erster Linie an Sie. Nicht wahr, Kollege Birron?«

Birron murmelte zerstreut: »Es wird schon recht sein, lieber Herr Kollege! Ganz wie Sie meinen!«

»Sie sind nicht nur der älteste Beamte im Couponbureau, mein lieber Stehkragen, sondern wir haben zu Ihnen auch besonderes Vertrauen. Und außerdem haben wir auch bei Ihnen die bestimmte Gewißheit, daß Sie dauernd militäruntauglich sind und uns nicht eines Tages weggeholt werden!«

Benno zuckte schmerzlich zusammen.

Die Aussicht, Bureauchef zu werden, bedeutete ihm eine freudige Überraschung, allein die Begründung demütigte ihn aufs empfindlichste.

»Und außerdem«, fuhr Direktor Hermann fort, während ein Lächeln sein Gesicht überzog, »hat mir Fräulein Böhle, die ja längere Zeit mit Ihnen im selben Bureau gearbeitet hat, so viel Gutes von Ihnen erzählt, daß ich mich freue, Sie in eine höhere Stelle aufrücken lassen zu können.«

»Nein!« schrie Benno auf. »Nein, nein! Ich will die Stelle nicht! Ich bin zu dumm dazu! Ich will nichts befehlen! Ich will nicht!«

Hermann sah ihn befremdet an.

»Hm!« meinte er nach einer Weile. »Hm! Sie scheinen mir doch andere Gründe zu haben, als Sie angeben, aber das ist Ihre Sache! Im übrigen scheint es mir jetzt beinahe selbst, als wären Sie viel zu nervös für so einen Posten! Sie können gehen!«

Zitternd vor Erregung kam Benno im Couponbureau an.

So tief schätzte sie ihn also ein, daß sie ihm hatte ein Gnadengeschenk zuschanzen wollen. O, wie erbärmlich tief war er gesunken, daß man ihm so etwas antun durfte!

Am Abend begegnete Martha ihm auf der Treppe.

Er wollte ihr ausweichen, aber sie kam munter auf ihn zu und frug in herzlichem Ton: »Was haben Sie eigentlich gegen mich? Was habe ich Ihnen denn getan?«

Benno sah sie eine Weile stumm an. Seine Kinderaugen weiteten sich, seine Hände falteten sich unwillkürlich.

»Wissen Sie das wirklich nicht?« sprach er langsam und gab sich die größte Mühe, das Beben seiner Stimme zu verbergen.

Martha lächelte. »Aber, bester Herr Stehkragen, wenn ich es wüßte, würde ich doch nicht erst fragen. Zürnen Sie mir denn immer noch, weil ich damals sagte, Sie sollten einen Anstandskursus nehmen?« Nun lachte sie herzlich. »Das war doch nicht so bös gemeint! Herrjeh, man legt doch nicht jedes Wort auf die Goldwage! Sagen Sie, tragen Sie mir wirklich immer noch dieses dumme Wort nach?«

Benno schüttelte traurig den Kopf.

»Nun tun Sie mir aber den einzigen Gefallen und machen Sie keine solche Leichenbittermiene!« rief Martha und schnitt ein lustiges, parodistischtragisches Gesicht. »Ich bin heute so famos gelaunt und mag keine traurigen Menschen sehen! Hopp, ziehen Sie Ihren Mantel an und begleiten Sie mich! Ich verzichte heute Ihretwegen auf den Kientopp – mehr können Sie doch wahrhaftig nicht verlangen!«

Wenige Minuten später wandelte Benno an ihrer Seite die Kaiserstraße hinab.

Martha plapperte und plapperte, und ihr heiteres, unbekümmertes Geplauder schien ihm köstliche Musik.

Das geträumte Feenreich tauchte wieder vor ihm auf, und an seinem Eingang stand ein lachendes Elfchen und winkte und zwitscherte: »Worauf wartest du noch? Was zögerst du noch?«

Alle die großen elektrischen Bogenlampen leuchteten: »Los, Benno, sei tapfer! Weshalb besinnst du dich noch?«

Und in allen Telephondrähten wisperte es: »Verbinden Sie mich mit Fräulein Martha Böhle! Schnell, schnell! Es eilt!«

Als sie an das Uhrtürmchen kamen, raffte sich Benno auf und frug: »Fürchten Sie sich, mit mir durch die dunklen Anlagen zu gehen?«

»Fürchten?« lachte Martha. »Vor wem soll ich mich denn fürchten? Aber Sie müssen mir den Arm geben, daß ich über keinen Zaun fall'!«

Benno fühlte ihren weichen Arm sich in den seinen schmiegen, er wußte, jetzt kam der Augenblick, in dem er reden mußte, und brachte doch kein Wort hervor.

»Weshalb zittern Sie denn so?« frug Martha. »Wissen Sie, wir haben zu Hause bei meinen Eltern einen Dackel gehabt, der hat auch immer so gezittert. Peter hat er geheißen. Ein Spitzbub' ersten Ranges.«

Und nun fing sie an von dem Dackel zu erzählen und sprudelte von Laune und Übermut.

»Und geradeso haben Sie vorhin gezittert, Herr Stehkragen!« schloß sie ihren Bericht.

Benno zog sanft seinen Arm aus dem ihren, blieb stehen und sagte schmerzlich: »Haben Sie noch nie einen Menschen so von ganzem Herzen lieb gehabt, Fräulein Böhle?«

Es durchzuckte Martha heiß. Sie hatte ihn sofort verstanden, und in maßlosem Erstaunen stammelte sie: »Ja lieben Sie mich denn? …«

Und nun, da er Martha so ernst sah, löste sich Bennos Zunge, und er fand glühende Worte der Leidenschaft, er redete sich alles vom Herzen, was er so lange unter Folterqualen mit sich herumgetragen hatte, und er bemerkte es gar nicht, daß Martha beharrlich schwieg und sich nur von Zeit zu Zeit wie zufällig mit dem Handrücken über die Augen fuhr.

Wohl eine Stunde war verflossen, als sie vor Marthas Wohnung anlangten.

Sie standen im grellen Licht einer Laterne, Benno hielt ihre Hand umschlossen und flüsterte: »Ich will heut' noch keine Antwort, heut' noch nicht. Aber lassen Sie mich nicht zu lange auf Ihre Entscheidung warten, Martha! Sie wissen nicht, wie ich leide, und wie bitter ich schon durch Sie gelitten hab'!«

Martha drückte ihm die Hand und eilte, wie flüchtend, in das Haus.

Beseligt schaute Benno ihr nach.

Er war von einem schweren Bann erlöst, er hatte den Mut gefunden, ihr von seiner Liebe zu sprechen, er fühlte sich so stark, er hatte den Kampf um sein Glück aufgenommen, und er würde ihn durchfechten und sein Glück zu verteidigen wissen.

Oben in ihrem Zimmer aber lag Martha auf der Chaiselongue, drehte die Daumen und überlegte, überlegte …

Seit diesem Abend wurde sie nicht mehr auf der Bank gesehen.

Niemand wußte, wohin sie gekommen war.

Bis eines Vormittags ein Beamter aus der Korrespondenz lachend in das Couponbureau gestürzt kam und jubelte: »Neues von Fräulein Böhle! Das Neueste vom Direktions-Kriegsschauplatz! Hurra, es ist so weit: Direktor Hermann hat ihr eine Wohnung auf der Eckenheimer Landstraß' gemietet! Bald fährt sie auf Gummirädern und – nanu, was haben Se denn, Herr Stehkragen?«

Benno war röchelnd zurückgesunken.

Aber er faßte sich schnell wieder.

»Mir is unwohl,« stammelte er, »Herr Wittmann, dürft' ich nicht nach Haus geh'n?«

»Meinetwegen!« schnarrte Wittmann ärgerlich. »Aber sehen Sie zu, daß Sie bald wieder auf den Damm kommen! Wir können jetzt kein Personal entbehren, wo ich jeden Tag zum Kommiß geholt werden kann!«

Benno räumte sein Pult auf und eilte, ein Auto zu nehmen.

Unterwegs gab es einen Aufenthalt. Eine Kompanie, die von einer Felddienstübung heimmarschierte, sperrte die Straße. Im Marschschritt klang es von ihren Lippen:

Es welken alle Blä-ätter,
Sie fallen alle ab, alle ab.

Denn mein Schatz hat mich verla-assen.
Das kränket mich so sehr.

Ins Kloster will sie ge-ehen
Will werden eine Nonn', eine No…

Erstaunt sah sich der Autolenker nach seinem Fahrgast um, der gellend aufgelacht hatte: »Ins Kloster … Martha ins Kloster, hahaha …«

Todmüde und zerschlagen kam Benno zu Hause an.

Er legte sich in den Kleidern aufs Sofa und verfiel alsbald vor Erschöpfung in einen fiebrigen Schlummer.

Qualvolle Träume suchten ihn heim.

Er sah sich im Couponbureau, die Couponkasse stimmte nicht, und je öfter er nachzählte, desto größer wurde der Fehlbetrag, und desto höher wurde seine Verzweiflung. Er zählte immer eifriger und eifriger, schneller und schneller, der Angstschweiß stand ihm auf der Stirne, und plötzlich riß ihm ein heftiger Windstoß die Coupons aus der Hand, daß sie in groteskem Wirbel ihn umtanzten. Aber nun waren es keine Coupons mehr, sondern scheußliche kleine Teufel, über das Pult krochen ekle Schlangen, eine große, schlüpfrige Kröte guckte aus dem Tintenfaß, und als er sich in seiner Not umsah, da saß auf dem Platz des Bureauchefs in einem schwarzen Mantel der Direktor Birron und hielt als Zepter einen Totenschädel aus der Wolfsschlucht in der Hand, und nickte beständig mit dem Kopf und lallte: »Es wird schon recht sein, Herr Kollege, es wird schon recht sein!«

Entsetzt schrie Benno im Schlaf auf.

Frau Petterich stürzte in das Zimmer und schüttelte ihn vollends wach.

»Um Gottes wille, was hawwe Se dann?« wehklagte sie, »Sie kreische, daß merr maane könnt, es brennt!«

Und da sie Bennos verstörte Augen sah, setzte sie sich mütterlich neben ihn und fing an zu weinen.

Der arme, unglückliche Benno verspürte einen hilflosen Drang, seinen Kopf in ihren Schoß zu legen, die Augen zu schließen und nichts zu denken … nichts zu denken. Aber er traute sich nicht.

»Wann nor mei Schorsch-selig noch lewe dhät,« schluchzte Frau Petterich, »der dhät Ihne schon de Kopp zurechtsetze!«

Aber es dauerte nicht lang, und die resolute Frau Petterich hatte ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. Sie war überzeugt, daß nur die Liebe zu Katharine Käsberger, »dere Komödiantin«, an Bennos Verzweiflung schuld sei, und deshalb sprach sie so sanft, als es bei ihren kräftigen Stimmitteln möglich war: »Lasse Se emal vernimftig mit sich redde, Herr Stehkrage! Wann's halt gar net annerschter gehe dhut, wann Se's halt gar net aushalte dhun, no, dann gehn Se in Gottes und Dreideiwels Name niwwer zum ahle Käsberger unn halte Se um sei schepp Dochter an! Er gibbt se Ihne mit Handkuß! Er zahlt noch was druff! Unn de klaane Lebrecht kriehe Se gratis unn franko in die Eh'!«

Benno fuhr auf.

Ja, Frau Petterich hatte recht: das war das letzte Mittel, seinem Zustand ein Ende zu machen. Er wollte Katharine Käsberger heiraten, nicht weil er sie liebte, sondern weil er ein Wesen brauchte, für das er sorgen konnte, weil er seinem verpfuschten Leben irgendeinen Inhalt geben mußte, und sei es auch nur die pflichtkalte Fürsorge für ein ungeliebtes, verblühtes Mädchen.

Er wollte gleich vom Sofa springen, doch Frau Petterich drückte ihn sanft nieder: »Ehrscht dhun Se Ihne e bissi erhole! Sie gukke ja aus, als ob Se aus'm Friedhof dorchgebrannt wärn! Nor ruhig Blut! Hat der Käsberger sei' Dochter so lang uff'm Buckel gehabbt, kann er se aach noch finf Minute länger drowwe hawwe!«

Aber Benno war nicht mehr zu halten. Er riß seinen Hut vom Haken und stürmte geradewegs zu Katharine.

Bekümmert sah ihm Frau Petterich nach und murmelte:

»Liewer Gott, mach's gnädig! Laß se wenigstens kaa Kinner kriehe! Dann bei dene Eltern wern's doch nor Unglickswermer!«

Als Benno bei Käsbergers schellte, öffnete ihm ein fremder Mann, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen maß, sein Gesicht zu einem Grinsen verzog und dann mit herablassendem Schauspielerpathos sprach: »Junger Mann, wenn mich Ihr Buckel nicht täuscht, habe ich das Vergnügen mit Herrn Benno Stehkragen! Sie sehen in mir den bekannten Gesangspädagogen und Heldenbariton Breivogel, Lebrecht Breivogel. Ich bin gestern von einer längeren Kunstreise zurückgekehrt, die mich an die verschiedensten Fürstenhöfe führte. Davon ein andermal! Heute feiere ich die Wiederverlobung mit meiner geliebten Braut. Wenn Sie aber ein andermal wiederkommen, junger Mann, sollen Sie uns hochwillkommen sein!«

Damit machte er eine gravitätische Verbeugung und schloß die Türe.

Fort, fort! stöhnte Benno. Nur fort! Auf die Bank, dort ist dein Platz! Eine Maschine unter Maschinen!

Und während er wie ein Besessener durch die Straßen eilte, dachte er: Was habe ich nur verbrochen, daß Gott mich so hart straft!

Er rannte blindlings drauf los, instinktiv und aus alter Gewohnheit den richtigen Weg findend, sah nicht die Menschen, sah nicht die Häuser.

Und gerade wollte er in die Industriebank einbiegen, als plötzlich hinter ihm der Ruf erscholl: » Flieger!!«

» Flieger!« schrien hundert Stimmen durcheinander, und ehe Benno wußte, wie ihm geschah, war er von einem Menschenstrom in das Portal der Industriebank gerissen.

Er kam erst wieder halbwegs zur Besinnung, als er an einem Fenster des Couponbureaus allein stand und auf den Bahnhofsplatz hinausstarrte.

Da sah er einen verlassenen Wagen der Elektrischen breitspurig stehen, und seitlich vor dem Wagen stand ein Kind und wartete offenbar, daß der Wagen weiterfahren sollte, damit es die Schienen überschreiten könne.

Es war ein vornehm gekleidetes Kindchen, das wahrscheinlich bei dem Schreckensschrei »Flieger!« von der flüchtenden Gouvernante im Stich gelassen worden war.

Bennos Herz durchzuckte ein Schreck.

Er stürzte auf die Straße, das verlassene Kind zu retten.

Das lief, als es den mißgestalteten, wild gestikulierenden Menschen auf sich zueilen sah, laut schreiend in den nächsten Hausgang.

Benno hob wie in Verzückung die Hände zum Himmel, da hörte er hinter sich ein polterndes Geräusch. Er drehte sich um und wurde im selben Augenblick von einem führerlosen Lastfuhrwerk erfaßt, das die Kaiserstraße heraufgerast kam.

Die Fliegergefahr hatte sich als falscher Alarm erwiesen. Aber sie hatte dennoch ein blutiges Opfer gefordert.

Auf dem Sofa in der Direktion lag Benno. Der alte Binder hatte eine Decke über die zerschmetterten Glieder gebreitet. Benno hatte die Augen geschlossen, seine rechte Hand tastete suchend durch die Luft und geriet an Direktor Birrons welke Finger, die er sogleich umschloß und zärtlich streichelte.

Birron warf einen hilflosen Blick auf Direktor Hermann, er wollte seine Hand zurückziehen, aber als Hermann ihm zunickte, überließ er sie achselzuckend dem Sterbenden.

»Martha,« flüsterte Benno, indem er fortfuhr Birrons Finger zu liebkosen, »Martha … nun sterbe … ich doch … gewissermaßen … fürs … Va … ter … land …!«

Er schlug die Augen auf, legte den Kopf zur Seite, stöhnte –

Der alte Binder zog ihm die Decke über das Gesicht und nahm die Mütze ab. Und Direktor Hermann frug: »Hat er Verwandte, die man benachrichtigen muß?«

Drei Tage später wurde Benno begraben.

Eine zahlreiche Trauerversammlung gab ihm das letzte Geleit.

Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde war vollzählig vertreten und der Rabbiner hielt eine schöne Leichenrede, in der er den Verstorbenen als einen frommen, gesetzestreuen Juden pries und ihn als einen guten Menschen lobte. Bei einer guten Tat, bei der Rettung eines Kindes habe er ja auch sein Leben eingebüßt.

Er habe zwar nicht das biblische Alter erreicht, dafür aber sei er ein wahrhaft glücklicher Mensch gewesen.

Nach dem Geistlichen sprach Direktor Hermann, und er nannte Benno das Muster eines pflichtgetreuen Beamten, dem die Bank stets ein ehrendes Andenken bewahren werde.

Mitten in der Rede sah er auf die Uhr, denn er hatte das Gefühl, es sei schon spät, und er durfte doch in dieser aufgeregten Zeit keine Börsensitzung versäumen.

Für die Beamten krähte Herr Rittershaus einige trockene Worte, die er sich für solche Gelegenheiten auswendiggelernt hatte.

Als er zu der Phrase kam: »Und so lege ich diesen Kranz am Grabe des Entschlafenen nieder,« fiel ihm plötzlich ein, daß es ja bei jüdischen Begräbnissen keine Blumenspenden gibt, und daß er gar keinen Kranz in den Händen hatte, und es entstand ein peinliches Räuspern.

Auf einem benachbarten Grabstein saß ein Sperling, zirpte und beschaute sich die Trauerversammlung.

Da war unter anderen Herr Käsberger, der wieder seinen Stiftungsfestgehrock anhatte und sich vergeblich bemühte, den ungezogenen kleinen Lebrecht im Zaum zu halten.

Auch Herr Breivogel war erschienen und erzählte während der Leichenreden einem ihm völlig unbekannten Bankbeamten von seinen beispiellosen künstlerischen Erfolgen. Er gedenke, demnächst auch in Frankfurt ein Konzert zu geben. Und der Bankbeamte schiene ihm, soweit er dies nach dem Sprechen beurteilen könne, eine ausgezeichnete Stimme zu besitzen, ja, er habe in Anbetracht seiner herrlichen Bühnenfigur geradezu ein Vermögen in der Kehle, und er, Lebrecht Breivogel, sei gerne bereit, diese Stimme einmal ausnahmsweise, aber wirklich nur ganz ausnahmsweise, völlig kostenlos zu prüfen.

Der dicke Rehle war in der Uniform eines Vizewachtmeisters erschienen und nahm sich gar stattlich aus. Ihm liefen die Tränen über die Backen, als sie Bennos Sarg zunagelten.

Ferner war da der Herr Seligmann, der wehmütig seufzte: »Er hat mich zwar damals Sonntag Abend sitzen lassen und is nicht zum polnischen Karpfen gekommen, aber ein seelenbraver Mensch war er doch!«

Der stoppelbärtige Joseph schluchzte trostlos; da ihm die gewohnte Serviette fehlte, wußte er nicht recht, was er mit der rechten Hand anfangen sollte, und drehte verlegen seinen vorsintflutlichen Zylinder. Er flüsterte dem ehrlich betrübten alten Binder zu: »Es war ein lieber Mensch, bloß in der letzten Zeit e bißchen meschugge! Gott hab' ihn selig!«

Der zittrige Bittenberger glich nun vollends einer Ruine, nachdem sein ältester Sohn in einem der ersten Gefechte gefallen war.

Aufsehen erregte ein fremder blonder Mann in tadellosem Gehrock.

Er war der Vater des Kindes, für das Benno sein Leben dahingegeben hatte. Er war mit der Absicht gekommen, ein paar Sätze am Grabe zu sprechen, aber als sich die Beerdigung so in die Länge zog, gab er diese Absicht auf und stand nun etwas geniert, mit seiner goldenen Uhrkette spielend, unter den unbekannten Leuten.

Frau Petterich war trostlos gewesen, als sie erfahren hatte, daß an jüdischen Begräbnissen keine Frauen teilnehmen.

Sie saß, während Benno zu Grabe getragen wurde, in seinem Zimmer und weinte mit dem Mariechen um die Wette.

Und schluchzte abwechselnd bald: »Der arm' Herr Stehkrage'!« und bald: »Mei guder seliger Schorsch!«

Die Trauerversammlung zerstreute sich. Der Sperling, der auf dem benachbarten Grabstein gesessen hatte, flog auf den frischen Grabhügel und begann lustig und unbekümmert zu zwitschern.

Benno aber lag friedlich in seinem Sarg, gekleidet nach alter Vätersitte, und um seine Lippen spielte das Lächeln der Toten.

 


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