Hermann Essig
Ueberteufel
Hermann Essig

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Erster Aufzug.

Personen:
Frau Maria Weber,  |  Oberst Schipper,
Karl, 17 Jahre alt,  |  Kaufmann Hecht,
Selma, 1 Jahr älter,  |  Musiklehrer Lüstling.
Marie, 10 Jahre alt  | 

Scene: Empfangszimmer im Hause Weber. Großer teppichbelegter Raum, Sofa, Tisch und Stühle. Hinten Türe zum Korridor, rechts Türe ins Speisezimmer. Links sieht man durch hohe Fenster über Terrasse und Garten auf die Straße.

(Karl sitzt auf dem Sofa, Selma steht vor ihm leidenschaftlich erregt und knöpft ihre Bluse auf.)

Selma (wenig gedämpft). Du – ist das hübsch? – »Ausgeschnitten.«

Karl (haftet mit großen Blick an Selmas aufgeregtem Atem).

Selma (mit verstärktem Herzklopfen). Mir ist so heiß. Ich zöge mich am liebsten ganz aus.

Karl (gleichgiltig an sich haltend). Mir auch. Ich zog den Rock aus.

Selma (entschlossen). Soll ich auch? (Sie knöpft weiter auf, hält inne.) Wenn ich mich auszieh, mußt du's auch tun. Du tust es doch? Nicht, daß du mich nachher allein läßt. (Sie küßt Karl.)

Karl (heiß). Selma! darf man das?

Selma (glühend). Du weißt doch, was ich bin?

Karl. Meine Schwester.

Selma. Nicht bloß. Du mußt anders sagen. – Weißt du, was ich bin?

Karl (leiser). Schön.

Selma (eindringlich). Gefall' ich dir? Ob du mir auch gefällst?! Was bin ich gegen dich?

Karl (schweigt).

Selma (hastig). Mädchen.

Karl. Selma! das dacht' ich gleich. (Stürmisch.) Schon oft, wenn ich allein war und nicht schlafen konnte, dann klopfte mir das Herz vor Sehnsucht wild nach dir, die Liebe brannte mich im Traum und nachher weinte ich.

Selma. Du bist mein Karl, Liebster. (Sie umhalst ihn.)

Karl. Dein Bruder bin ich. Selma, mach' nicht weiter!

Selma. Wenn ich dich aber liebe wie . . .

Karl. Sag's voll, Selma.

Selma. Wie meinen Mann.

Karl. Das dürfen ja Geschwister nicht.

Selma. Lieben, Karl, das muß das schönste sein – lieben.

Karl. Das dürfen wir.

Selma. Hier sind wir nicht allein, man sieht herein.

Karl. Es ist so kahl und groß.

Selma. In meinem Zimmer. Komm!

Karl. Wir bleiben lieber hier.

Selma. Man sieht uns, Karl folg' mir. Wir müssen uns verriegeln wie die Mutter.

Karl. Die Mutter?! – Selma!

Selma. Sag's Vater nicht. Ich bitte, Karl. Gelt, sagst es nicht. Wir lieben uns ja. Karl, bitte, sag' es nicht.

Karl. Ich schweige, wenn du mir's erzählst.

Selma. Die Mutter hat mich hinausgesteckt.

Karl. Und Vater?

Selma. War verreist.

Karl. Was soll das heißen? Du erzählst mir nichts.

Selma. Jemand anders war bei der Mutter.

Karl. Du hast dich getäuscht.

Selma. Ich hörte doch den Riegel.

Karl. Damit du nicht hinein sollst.

Selma. Nein, Katharinchen sagte es mir.

Karl. Dienstmädchen sind boshaft.

Selma. Soll ich dir erzählen, was die gesagt hat?

Karl. Nun, was?

Selma. Es sei was schlimmes, ich verstehe es aber noch nicht, ich sei noch ein Junges, hopstausendsassa!

Karl. Was ist da dran?

Selma. Du weißt's so gut wie ich.

Karl. Jetzt soll ich erraten.

Selma. Von was sprechen wir denn? Komm mit, dann sag' ich's dir.

Karl. Das merkt man doch.

Selma. Nur wenn man Angst hat. Komm, ich pass' auf. Was sagt denn Mutter von mir? »Ich sei vernünftig, mich betrüge einmal kein Mann.« Das bezieht sich doch darauf. Man muß herzhaft sein. Kommst du nicht?

Karl. Ich mag nicht.

Beide (horchen auf Säbelrasseln und Schritte draußen).

Selma (verändert). Mit dir darf man nur anfangen. O, was! Mit dir fang' ich nicht wieder an. (Zur Tür tanzend.)

Karl. Ich liebe dich. Bloß . . .

Selma (dem Eintretenden entgegen fliegend, ruft neckend ihrem Bruder zu). Der Oberstonkel, sieh' . . .

Karl (verächtlich). Dirne!

Selma (hat verstanden und sieht Karl von da ab scheu an).

(Oberst Schipper, der Freund des Vaters, in Uniform.)

Oberst. Ist euer Vater schon zu Haus?

Karl. Nein – ich glaube nicht.

Selma (ängstlich umherblickend). Vater! – Du, Karl! –

Karl (ruhig). Er hat sich nie versteckt.

Oberst. Liebe Kinder, suchet nicht. – Wenn er noch kommt, – wird er schon kommen.

Karl. Es ist sehr spät. Vielleicht hat ihn die Mutter abgeholt. Sie gehen oft in Wertheims Warenhaus und kaufen etwas ein.

Oberst. Zerbrech dir nicht den Kopf. Ich kann warten. Wenn es nur wird.

Karl (auffordernd). Wollen Sie sich nicht setzen?!

Oberst. Meine Beine haben das Gehen, sie geben keine Ruhe. (Zu Selma.) Du, Kleine, es ist mein voller Ernst.

Selma (hängt sich dem umher gehenden Oberst in den Arm, Karl geht mit umher). Du machst immer Witze.

Oberst. Immer? So, ich will dir etwas erzählen. Ich kenne eine Familie, in der ist ein Unglück passiert. – Lach doch nicht immer! Das ist ja gräßlich, immer lachen. Ist ein Unglück ein Witz?

Selma (etwas eingeschüchtert). So wie du davon anfängst.

Oberst (halb seufzend, zitierend):

Weh dem Witzbold, will er ernst sein,
wird sein Ruf im Witze tot,
und statt Mann wird er ein Männlein
keinen Schuß wert, keinen Schrot.

(Pause.)

Selma. Oberstonkel, ich möchte einmal mit dir allein sein..(Mit einem kurzen Blick nach Karl.)

Karl (bleibt stehen).

Oberst. Und ich mit dir.

Selma (sprachlos).

Oberst (durchschauend). Allein im dichtesten Wald.

Selma (blickt starr zu dem Oberst hinauf).

Oberst. Du würdest mitgehen?

Selma (verschleimt). Ja.

Oberst. Im Walde würden wir uns lagern, wo recht viel Gebüsch ist, damit wir ungestört wären, dann lägen wir so da, unter dem blauen Himmel und über uns die goldenen Laubzweige, auf dem duftenden Boden. Die Vögel würden singen »Vitrulalala, juhe«, ein Weilchen horchten wir zu, dann machten wir's wie sie und schließlich würden wir im heißen Mittag mit ihrem Gesang einnicken. Wir schliefen und träumten, jedes von uns beiden dasselbe. Oder würden wir uns anders unterhalten? Mit Büchern?

Selma (lächelt errötend).

Oberst. Oder wie? Ich merk, du weißt etwas Besonderes.

Selma (verlegen).

Oberst. Nein? – Doch. Sag es mir, ich denke wohl dasselbe.

Selma (auf den Zehenspitzen dem Oberst ins Ohr). Karl –.

Oberst. Dein Bruder? Ach, der soll es nicht hören. Er könnte verletzt werden (gehobener) beim Steckenschneiden.

Selma (gekränkt). Alter E . . . (Sie will sich losmachen, der Oberst hält sie fest, sie bricht in heiße Tränen aus.)

Karl (gehen die Tränen nahe). Sie dürfen ihr's nicht übel nehmen.

Oberst (scharf). Karl! Trotz deiner Siebzehn, zeig ich's dir. So müßtest du als Vater sein, streng. Das Jährchen, das sie älter ist, ist sie auch indolenter.

Karl (guckt erstaunt).

Oberst. Karl, wenn dein Vater nicht kommt, (der Satz erstickt) nie weinen, sag ich gleich. Tränen sind Spülwasser.

Selma (hat sich losgemacht und setzt sich geärgert in die Sofaecke).

Karl (steht erschüttert vor dem Oberst).

(Frau Weber mit Kaufmann Hecht, im Straßenanzug. Selma bleibt mit dem Taschentuch im Mund sitzen, während sich der Oberst und Karl knapp verbeugen. Frau Weber grüßt herablassend und stellt mit erzwungener Sicherheit den Kaufmann vor.)

Frau Weber. Herr Hecht – Herr . . . Schipper.

Oberst. Oberst Schipper.

Frau Weber (mit schnippischem Mund rasch ins Nebenzimmer).

Selma (ruft). Mutter –

Frau Weber (blickt sich kurz um, wirft ein Päckchen auf einen Stuhl, Selma bleibt träge sitzen).

Hecht (nach einer Kunstpause). Ich bin mit der Familie näher bekannt.

Oberst. So, so.

Hecht (wieder nach einer Pause). Ich nehme immer an allen Familienereignissen regen Anteil.

Oberst. Ist eine Taufe in Aussicht?

Hecht. Nein, ich meinte ganz allgemein, ich nehme an den Geschehnissen des Tages Anteil.

Oberst. So, so. Ich merkte schon, da Sie mich nicht kennen.

Hecht. Oh doch, vom Hörensagen. Ich hatte aber leider bis jetzt nie die Ehre, den Herrn Oberst kennen lernen zu dürfen.

Oberst. Man hat Sie mir als kostbarsten Juwel im Haushalt verborgen gehalten, ganz natürlich.

Hecht. Es hat sich offenbar nie recht getroffen.

Oberst. Ja, ja, das Treffen ist eine eigene Sache. Gerade heute hat man Sie aus dem Schächtelchen genommen und mir unter die Nase gehalten. Frau Weber dachte eben nicht an mich, der so daher stolpert.

Hecht. Ist es ein Wunder, wenn Freunde an den Trauertagen ganz besonders eilen?

Oberst. Besonders, hm. Sie sind sehr zielbewußt.

Hecht (stimmt mehr und mehr Predigerton an). Ich wollte meine Hilfe immer anbieten, aber der eigensinnige, leichtfertige Mann nahm sie nicht an. Ich war ihm zu wenig, ein gewöhnlicher, untergeordneter Kaufmann. Er hielt sich für so gebildet, daß er immer höflicher gegen mich wurde –

Oberst. Er fürchtete zu teuren Wucherzins. (Heftig.) Ich hätte ihn gegeben, er hätt' ihn sehr rasch abgezahlt mit einer Scheidemünz. Man kann die Tropfen nicht am Himmel fesseln, ich sagt es ihm, er wollte nicht verstehen, er konnte nicht. (Auf Hecht eindringend.) Sie! Muß das nicht furchtbar brennen? – Das Gefühl, ein untreu Weib in des Bekannten Bett zu haben. Und es nicht merken lassen dürfen, weil man sonst gar kein Mann mehr ist. – Ich würde Weib und Kerl – (er packt den Kaufmann an den Schultern) ausziehen und zu Tomatensuppe machen.

Selma (leis zu Karl). Sie meinen den Vater.

Karl (unterbricht die Stille). Was ist mit Vater?

Oberst. Hm, wie's vielen geht. Der Hausfreund weiß Bescheid.

Karl. Hausfreund? – Oberst!

Hecht. Ich bin nie anders als mit der ehrenwertesten Absicht in diesem Hause aus- und eingegangen. Mein Geschäft ist eine altehrenwerte Firma. Sie haben einen abscheulichen Glauben von ihren Nebenmenschen.

Oberst (schweigt).

Karl. Was mit Vater ist, werd ich doch wissen dürfen, ich bin der Sohn, Ihr Herren.

Hecht. Ich bitte um Verzeihung. Offen gestanden halte ich es für meine Pflicht, Ihnen und Ihren Geschwistern nicht länger die Kenntnis einer Sache vorzuenthalten. Ihr geschätzter Herr Vater hat die ganze Familie ins Unglück gestürzt, in ein Unglück, das Sie erst allmählich in vollem Umfang kennen lernen werden.

Karl. Ich will den ganzen Umfang gleich erfahren. »'raus damit!«

Hecht. Er hat Schiebungen vorgenommen, die ihn dem Abgrund der Hölle immer näher brachten.

Oberst (lacht schallend, wie über den besten Witz).

Hecht (laut predigend). Ich kann behaupten, daß er mit unerhörter Gewissenlosigkeit im Gelde wirtschafte, daß er schuld ist an dem Kummer seiner ausgezeichneten Frau, die mit ihren Kindern der Ungewißheit des Schicksals überlassen ist.

Oberst. Das ist ja alles Blödsinn, Karl, damit du nicht lang zitterst. Dein Vater hat unterschlagen und ist heute verhaftet worden.

Karl (will hinaus stürzen).

Oberst (mächtig). Halt!

Karl (festgewurzelt).

Selma (herunterhaspelnd). Der Vater ist ein gemeiner Mensch.

Oberst. Geh du zu deiner Mutter.

Selma (mit Knicksen ins Nebenzimmer). Das tu ich, tu ich, tu ich.

Oberst. Karl, deine Schwester.

Karl. Sie ist verdorben. (Er setzt sich wie teilnahmslos.)

Hecht. Wieso? Hat sie nicht recht? Was ist eine Gewissenlosigkeit? Eine Gemeinheit?!

Oberst. Ist Gutmütigkeit eine Gemeinheit? Eine Sünde wegen mir, noch mehr eine Dummheit. Ich bin auch so ein gutmütiger Simpel, nur bin zum Glück nicht verheiratet, mich kann nichts Weibliches ins Unglück stürzen.

Hecht. Man staune! Er hat nicht unterschlagen, das tat seine Familie, seine Frau, die über alles ehrenwerte.

Oberst. Unterschlagen hat er, aber gezwungen, von seinem »herrlichen« Weib.

Hecht. Er hat ihr nie ein Wort gestanden, wie er steht.

Oberst. Ei, ei, Sie Eingeweihter. – Das weiß man nur, wenn man in guter Ehe lebt. – Warum gestand er nichts? – Weil er sich nichts vor der Nase abtreiben lassen wollte. Weil der Esel – pardon, ich bin sein bester Freund – – sein Weib liebte wie einen Hautpickel. Man kratzt, bis er weg ist und kratzt, bis er wieder kommt.

Hecht. Nehmen Sie doch Rücksicht auf den Sohn. Was wird er von seiner Mutter denken müssen, von seiner guten Mutter?

Karl (mürrisch). Ich denke nie.

Oberst. Er wird noch vieles hören müssen, vor Gericht, auf offener Straße hinter blinden Rücken, von Leuten, die die Anschlagsäulen angiraffen.

Karl (erhebt sich). Nur weiter, Oberst. Vor einem Tagelöhner schweigt man nicht.

Oberst. Karl, sprich nicht so, dann taugst du nicht. Verstand!

Karl (höhnisch, brutal). Verstand ist mir gleich Null. Ich weiß nur soviel (immer bewegter werdend, die Zähne zurückziehend), daß ich einem Tiere gleiche, zerstickt und tot. (Häßlich lachend.) Karl Weber wird wie Aussatz klingen. Die Blicke, das Mitleid . . . (Das Weinen stockt in ihm.)

Hecht. Ich will der erste sein, wo Mitleid hat.

Karl (lachend). Ich sage ja, da haben wir schon einen. (Bedeutungsvoll.) Ich sage Ihnen, Oberst, was liegt noch daran . . .

Oberst. Noch sehr viel, Bursche! Jetzt hast du Pflichten.

Hecht. Ich will für alles sorgen.

Karl (rauh). Damit ich mich selbst anspucken lerne und meinen Unwert spüre?!

Oberst. Karl, du bist der Sohn und trittst an deines Vaters Stelle.

Karl. Dann fang ich an, daß alle Welt erschrickt. Von morgen ab bin ich ein Tagelöhner und die Familie nährt sich mit Roßfleisch und Tränen.

Hecht (einfältig lachend). Herr Weber, so weit kommt es nicht.

Oberst. Ich wünschte, daß es käme. Bloß sofort, sofort. Zum Beispiel, hast du uns gleich hinauszuwerfen. Mit Peitschen, dann wirst du sehen. Haue zuerst um dich, mache dir Platz zum Ueberlegen.

Hecht. Ich werde mit der Mutter reden.

Oberst. Was, Unsinn. Törichter Gedanke. Karl, folge mir.

Hecht. Ich werde den Zusammenbruch der Familie mit meiner Person aufhalten.

Oberst. Nachdem Sie ihn herbeigeführt haben.

Hecht. Ich? – Herbeigeführt!

Oberst (geht mit wuchtigen Schritten der Türe zu).

Hecht. Ich fordere Erklärung.

Oberst (zu Karl). Der Herr wird heute nacht hier Gast sein oder Wirt.

Karl. Was soll die anrüchige Bedeutung? Sind Sie von Sinnen?! Oberst! Bedenken Sie doch, wer wir sind.

Hecht (hetzend). Er sagt es, weil Sie nichts mehr sind in seinen Augen.

Karl. Wer wir waren.

Oberst. Ich nehme nichts zurück. Geb' Gott, daß er beleidigt sein kann.

Hecht (betont). Sie haben mich beleidigt.

Oberst. Wir werden sehen. (Karl blickt dem weggehenden Oberst verständnislos nach. Hecht sendet ihm einen giftigen Blick nach. Unter der Türe wendet sich der Oberst um).

Oberst. Hier kommt Mariechen, wie sie weint! (Er hebt das Kind zu sich empor.) Du armes Kind, halte du zum Bruder.

Karl. Oberst, bleiben Sie doch hier!

Oberst. Warum?

Karl. Sie müssen öfter kommen, wir haben keinen Vaters mehr.

Oberst. Du hast gehört. was ich dir riet, nun brauchst du bloß die Augen aufzumachen. Die Zukunft kenn' ich auch nicht, kennst du sie?

Karl. Nein. Das ist ja wie ein Trost.

Oberst. Nun sieh, du hast noch Hoffnung. Also wacker sein. (Schlägt in Karls Hand, ein leichter Blitz und fernes Brummen.) Es kommt ein Wetter. Gute Nacht, Mariechen. (Ab.)

(Mariechen ist ins Zimmer eingetreten, leicht gekleidet, ein Schulmädchen von zehn Jahren.)

Mariechen (schluchzend). Gute Nacht . . .

Karl (zu Hecht in gleichgiltigem Ton). Es scheint ein schweres Gewitter zu kommen.

Hecht (sich räuspernd). Ich denke, ja.

Karl. Sie brauchen keine Sorge mehr um uns zu haben, ich bin nun ganz gefaßt, es ist mir so klar im Gemüt. Wie dort der blendend weiße Streifen unter dem schwarzen Himmel. Wie ein fern winkendes, noch nie gekanntes Glück geht's in mir auf, eine seltsame Seligkeit in fester, ernster Trauer. So jammervoll und erbärmlich erscheint mir die Umgebung, wie sie mit der Vergangenheit zusammenhängt, so klein, so leer; mich fühl' ich glücklich, ich bin so hoch erfüllt.

Hecht (weiß nichts zu sagen).

Mariechen. Karlbruder, ich habe Angst.

Karl. Wir zünden bald Licht an.

Hecht. Es wird immer düsterer.

Karl. Was planen Sie, Herr Hecht, für heute abend?

Hecht (unruhig erwartend). Ich habe mir noch nichts vorgenommen.

Mariechen (guckt zum Fenster hinaus, gedankenvoll).

(Die Mutter Weber in leichtem Hauskleid zur Nebentür eintretend.)

Mutter. Ist der Oberst endlich fort? Sie glauben gar nicht, wie unheimlich, wie entsetzlich widerlich er mir ist, wie ein Feind, wie heimtückisch . . .

Karl. Hast du denn Grund dazu?

Mutter. Grund?! er will bloß schnüffeln, weil der Hausherr fehlt. Meinst du, er sei aus anderem Grund gekommen? Ich kenn den Schleicher. (Zu Hecht.) Und vor dem heißt's »sich in acht nehmen,« der verdirbt die Ehrbarsten.

Hecht. Vielleicht hatte er die beste Absicht, wenn er gerade heute kam.

Mutter. Ist nicht etwa Ihr Ernst? (Abschweifend.) Sie essen doch mit uns das Abendbrot?

Hecht. Das kann ich doch nicht annehmen, gnädige Frau.

Karl. Wir essen solches Abendbrot?

Mutter. Wie einfältig! ach wie lustig!

Karl (aufs tiefste verletzt). Das kann man fragen. – Mutter, wer bezahlt's?

Mutter (rasch antwortend). Ich habe doch reiche Verwandte. – Ueberhaupt. –

Hecht. Ich gehe, gnädige Frau, es ist diesmal sicher besser.

Mutter (zum Sohn, Baß). Du Jüngling! (Zu Hecht, Tenor.) Hören Sie doch nicht auf meinen Karl. (Plötzlich in weinerlicher Erregung). Gewiß, ich sterbe vor Angst, vor Not, vor Kummer, vor Unglück. Natürlich jetzt wollen Sie mich im Stiche lassen.

Karl. Mutter, hast du Vater ganz vergessen?

Mutter (wie nicht hörend). Wenn das Lothar wüßte, der arme Mann, daß uns jetzt auch die treuesten Freunde verlassen wollen! Und mein eigener Sohn verbietet Ihnen den Beistand.

Hecht. Ich wollte allerdings aus Freundschaft alles tun. Wenn man aber nicht wünscht.

Mutter (drohend). Karl, bedenke!

Karl. Was ich dir helfen kann. – Ich bin der Herr im Hause.

Mutter (auflachend). Was bist denn du?

Karl. Und ich gestatte nicht, daß Fremde hier im Hause bleiben.

Mutter. Gestatte nicht. Was fragt man dich? und Herrn Hecht so zu beleidigen, ist eine große Unverfrorenheit.

Hecht. Wenn Herr Weber nicht wünscht, so räume ich das Feld gerne.

Karl (brüllend). Dann zögern Sie nicht mehr!

Mutter. Herr Weber! – Herr Weber sitzt. (Sie schiebt den Kaufmann, der nicht sehr widerstrebt, ins Speisezimmer.)

Beide (ab).

(Donner rollt über die Decke.)

Karl (nach einer Pause). Der Oberst hatte recht. Wir haben doch nichts mehr – – – Was denk' ich von der Mutter, von der eigenen Mutter? (Er faßt sich an die Kehle.)

(Die Türe geht. Selma sachte herein.)

Selma. Jetzt könnten wir auch allein sein.

Karl. Rede vernünftig, du bist meine Schwester.

Selma. Es ist ja der von damals.

Karl. Selma, weißt du, was du mir sagst? Wenn es verlogen ist, dann nimm es zurück.

Selma (frech). Ich werd' wohl blind sein? Nicht?

Karl (kurzatmig). Die Peitsche! (Er holt sie.)

Selma (hat ihm ein Weilchen vergnügt nachgeblickt, dann hinterbringt sie's der Mutter, ruft ins Nebenzimmer). Mutter, Mutter – –

(Die Mutter, hinter ihr Hecht, rasch hereintretend.)

Selma. Karl holt die Peitsche.

Mutter (hält unter der Türe Hecht zurück). Warum, mein Liebchen?

Selma. Ich habe Karl erzählt, Herr Hecht sei . . .

Mutter. Weiter.

Selma. Mutter, nein.

Mutter. Sag's oder!

Selma. Mutter, nicht hauen!

Mutter. Man sollte gleich . . .

Selma (rasch). Bei dir gewesen.

Mutter. Ist das was Arges? liebste Tochter Selma. (Im Schmeichelton.)

Selma. Aber Karl holt die Peitsche.

(Man hört Karl die Treppen herauf eilen, Hecht sieht sich nach Flucht um)

Mutter (man merkt ihr die Angst an). Er soll sich untersteh'n.

Selma. Und wie's jetzt anfängt! (Gießender Regen fängt an.)

Karl (mit einer kräftigen Reitpeitsche, nachdem er ruhig hereingeschritten ist). Mutter, trete auf die Seite!

Mutter. Warum denn?

Karl. Ich sage dir, geh weg!

Mutter (kreischend). Wirst du mich schlagen? (Blitz.)

Karl. Wenn du nicht weg gehst. (Donner, Karl greift an die Mutter.)

Mutter (schreiend.) Sei nicht so roh.

Karl. So kommen Sie hervor, ich schlage zu.

Hecht (mit einer krampfhaften Bewegung nach seinem Taschenmesser). Jawohl. – (Grausam, angstvoll hervorgestoßen.)

Mutter (brüllt entsetzlich). Karl! (Zugleich ein furchtbarer Blitz und Donnerschlag, die Mutter sinkt zu Boden, die beiden stehen einander gegenüber, aber unfähig, sich zu rühren, Selma kauert an der Wand, Mariechen hat sich furchtsam herangemacht.)

Karl (bricht zuerst die Stille, er läßt den aufgehobenen Arm sinken). Verflucht mich. (Erst allmählich kommen alle aus der Lähmung heraus.)

Hecht (bewegt, im Selbstgespräch). Ich darf sie nicht verlassen.

Karl. Mutter, lebst du noch?

Mariechen (streichelt über das Gesicht der Mutter). Mutter.

Hecht. Es scheint bedenklich, wir sollten Tropfen haben.

Karl (nervös). Tropfen. (Er eilt hinaus.)

Hecht. Selma, helfe Karl. (Selma zögert.) – Ja, wird es? (Selma geht. Hecht beugt sich auf Frau Weber nieder.)

Mutter. Du bleibst doch da?

Hecht. Ich kann's riskieren, es hat ihn sehr gepackt, mich übrigens nicht minder.

Mutter. Mariechen, ich glaubte, der Vater sei's. – Aber der ist ja fort. Ja, dein Vater, war so gut zu dir, er mochte dich allein.

Mariechen (weinend). Ist der – Papa – tot?

Mutter. Du Dummchen, (streichelt Mariechen) wenn's gleich besser wäre.

Hecht (lächelt. Er richtet Frau Weber auf).

(Karl und Selma mit dem Tropfenfläschchen zurück.)

Karl. Wie ist's dir, Mutter?

Mutter (schluchzend). Ach, Karl, sei nicht so bös zu mir, ich kann nicht dafür, daß ich deine Mutter bin.

Karl. Ich glaubte, du habest Vater vergessen.

Mutter (mit langem Kopfschütteln). Wie soll ich den vergessen? Und so rasch! Was müßt ich da für eine sein?

Karl. Du sprachst so leicht von allem.

Mutter. So leicht? – (Im Verrücktenton) Als ob ich nicht am besten merkte, wenn mein Mann im Zuchthaus ist.

Mariechen (an der Mutter zerrend und entsetzt flehend). Mutter, tu doch nicht so.

Karl (taumelnd). Im Zuchthaus? – Vater? (Rascher.) Zuchthaus, Papa?

Mutter (nickt, halb vernehmlich). Ja.

Karl. Und weintest nicht und bliebest ruhig und dachtest noch ans Essen und den Kram? Warum sagst du's so spät? Es ist bald Nacht. – Ich muß ihn heut noch sehen.

(Ein Blitz zuckt fern, Karl macht sich auf.)

Mutter. Karl, willst du's noch heut?

Mariechen (weinend hinter Karl her). Karlbruder, Karlbruder.

Karl. Mariechen, du darfst mit, wir gehen zu Papa.

(Donner zum vorhergehenden Blitz, Selma guckt den beiden durchs Fenster nach, erst nach einer Weile sieht man Karl mit umgeworfenem Mantel, den Hut ins Gesicht gedrückt und Mariechen mit einem Schirm die Treppe hinuntergehen. Ein furchtbarer Platzregen hebt an.)

Mutter. Wir dürfen's nicht, komm lieber morgen.

Hecht. Das bißchen Wetter.

Selma (weicht vor einem grellen Blitz zurück, der Himmel ist fortwährend erleuchtet, ein fortwährendes Krachen und Knattern).

Mutter (entsetzt). Der Weber, ganz lichtweiß im Fenster.

Hecht (schweigt und blickt starr zum Fenster).

Mutter. Er ist's, ich seh ihn.

Hecht. Das ist Selma.

Selma (lügt). Ich sah ihn aber auch.

Mutter (beim letzten Blitz). Erbarm dich, Jesus, er kommt.

(Weil eine Pause bis zum Donner ist, erholt sich die Mutter und zuckt beim Donner wieder zusammen.)

Hecht. Ihr seid verrückt, denkt lieber an die beiden, die im Regen tapsen.

Selma. Die waren dumm.

Mutter (wieder kühner). Ist's Ihnen lieber, daß sie fort sind? Sie tun es wohl um ihren Vater.

Hecht. Nachher – süßes Weib. (Er drückt Frau Weber an sich, die wieder an einem Blitz erschrickt. Beide ins erleuchtete Speisezimmer.)

Selma. Hast du mir etwas mitgebracht? Muttchen.

Mutter. Natürlich, du. Dort liegt ein Paket.

Selma. Süßes Muttchen, wo?

Mutter. Auf dem Sessel. (Ab, man hört den Riegel gehen.)

Selma (reißt das Paket auf und zieht eine Federboa hervor und bindet sich dieselbe vor dem Spiegel um). Ich kann noch sehen.

(Es ist inzwischen fast Nacht geworden. – Donner. – Lüstling, Musiklehrer, kommt während des Donners durch die Türe.)

Lüstling. Immer kommt zur rechten Zeit, wer kommt.
Ist es anders bei gewissen Pflanzen?
Immergrün bricht man durchs ganze Jahr,
Schachtelhalme nicht und Kirchenwanzen.
's ist nur Sach' vom richtigen Gefühl,
alle Spuren riechen und sie finden,
wer dann Mut zum Stubensteigen hat
und die Zunge kann zu Worten winden,
dem gelingt's. Wie mir. – Schön guten Tag.

Selma (sieht sich um und seufzt).

Lüstling. Seht Erinnerung, sie sah mich schon.
Bin ihr vor dem Cabaret begegnet.
»Ja, der war schön wie roter Siegellack,
Hätt's gehagelt oder sehr geregnet!«
Mir war's damals nicht so recht geschickt,
mußte singen, klimpern, five o'clock tea.
– Hätte sie den Pelz schon umgehabt
und den Rock gehoben bis zum Fußknie –
welche Stimme gab dir diesen Wink?

Selma. Meine Mutter ist ein Goldschatz.

Lüstling. »Mutter.«
Solche Mutter wird von mir besucht.
Mit den Müttern, ohne Vater, schwätz' ich gern.
Wären alle Mütter solche Kutter,
dann, dann, gäb es überschwere Fracht.
    (Schnobbert, dann niest er laut.)
Hatzi! sitzt sie horchend nebenan?

Selma. Wer hat da genossen? Antwort. – Keiner.
    (Seufzt.)
Keiner als der Kaufmann, dieser Hecht.

Lüstling. So gefällt mir's. Jeder ist nicht einer.
Augenblicklich hat sie noch Geschmack.
Hat sie? Weil sie ihn nicht hat? Womöglich.
Leis. Sie spricht von ihrer Schönheit. Ach.

Selma. Niemand sah von mir den Körper.

Lüstling. Löblich.

Selma. Meine Freundin ist nicht halb so schön.
Warum wünschen jene alle Männer?

Lüstling. Weil sie lügt, damit du neidisch wirst.
Mädchen, wette, du hast tausend Gönner,
laufen sie doch kreuzweis mir in Weg.
In der Tasche hab ich deine Bildgraphie,
aber diese bleibt doch immer angezogen,
vorerst ist sie wenigstens für mich,
denn ich stahl sie mir beim Photographen.
– Denke nur an den vom Cabaret,
frecher kenn' ich keinen Häckelaffen,
saub'rer, stutz'ger, putz'ger und nicht reicher –

Selma. Mutter gab mir auch den guten Rat,
»Wenn es ginge, Einem treu zu bleiben.«

Lüstling. Holla, leuchtend kommt mir eine Prachts-Idee.
Meine Karte
leg ich auf den Boden – »dufte hold« –.
Mache tüchtig Lärm, sie ruft um Licht.
Bis der Zünder zündet, bin ich fort.
Warte nur, wann's endlich wieder blitzt.

(Blitz – Donner, Lüstling verschwindet durch die Tür.)

Selma. Bringt mir Licht!
    (Sie zündet die Gaslampe an [Selbstzünder], steht in fahler Beleuchtung.)
Seht nur dieses Notenduftpapier!
(Liest.) »Unterricht im – wie das riecht – Singen und Klavier
erteilt, Zimmerstraße – Lüstling, Lehrer«.
Eigentlich ist's gut, daß Vater nichts mehr sagt.

(Die Mutter erscheint.)

Mutter (gerötetes Gesicht). Selma kommst du nicht zum Essen? Zeige! (Entreißt ihr die Visitenkarte.) Kennst du diesen Herrn?

Selma. Nein.

Mutter. Das scheint gar nicht übel zu sein. An dem Namen brauchst du keinen Anstoß zu nehmen. Hast du keinen Hunger? Wir sind fertig. (Mutter geht wieder nebenan).

Selma. Jetzt reizt mich's doppelt. Ich könnte also Anstoß nehmen. Das ist einmal etwas, wie ich's in den braunen Büchern lese.


(Vorhang.)


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