Otto Ernst
Jugend von heute
Otto Ernst

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2. Akt.

Gemeinsames Wohnzimmer Erichs und Egons im Oberstock. Einfache, aber behagliche Einrichtung. Links Sofa mit größerem Tisch und Stühlen. Rechts Chaiselongue mit kleinerem Tisch und Stühlen. An den Wänden geringwertige Bilder, Öldrucke, Stahlstiche, Photographieen. Das Zimmer entspricht baulich dem des 1. Aktes. Zwei Fenster im Hintergrund. Hinten links eine Thür, die auf den Flur und zur Treppe führt, vorn links eine Thür, die zu Hermanns und Hansens, hinten rechts eine, die zu Erichs und Egons Schlafzimmer führt. Zwischen den beiden Fenstern ein nicht mehr neues Klavier.

1 Scene.

Erich. Egon.

Erich (im Schlafrock, schwarzer Plüsch mit rotem Futter, liegt auf der Chaiselongue und raucht).

Egon (kommt in unordentlicher Toilette aus dem Schlafzimmer, reckt sich und gähnt).

Erich (nach einer kurzen Weile): Guten Morgen, Wolf.

Egon: Morgen.

Erich (sanft): Lieber Wolf, gewöhnen Sie sich doch etwas Manieren an.

Egon: Hm.

Erich: Sagen Sie mal – den Kragen, den Sie da umhaben, den kenn ich schon lange. Er hat nämlich besondere Kennzeichen.

Egon (finster): Ist er nicht mehr rein?

Erich (sanft): Leider nein, lieber Wolf. 47

Egon (nimmt den Kragen ab).

Erich: Und gekämmt haben Sie sich auch nicht.

Egon (ärgerlich): Natürlich hab ich mich gekämmt!

Erich: Natürlich, ja. Mit den Fingern. (Steht auf:) Bedenken Sie doch: wenn jemand kommt, Wolf!

Egon (höhnisch): Für einen Individualisten nehmen Sie merkwürdig viel Rücksicht auf andere. (Ab ins Schlafzimmer.)

Erich (an der Thür zum Schlafzimmer, lässig, aber bestimmt): Soweit ich es will, kann ich es thun. (Macht ein paar Schritte durchs Zimmer, dann wieder an der Thür:) Übrigens: wenn ich von den anderen spreche, denke ich eben an mich selbst. Ich wünsche in einer reinlichen Umgebung zu erscheinen. Ich verlange von meiner Umgebung Reinlichkeit.

Egon (kommt wieder, ist noch mit dem Befestigen des Kragens beschäftigt).

Erich (ihn aufmerksam betrachtend): – Aber lieber Wolf, das ist ja derselbe Kragen!

Egon (entschieden): Nein, das ist 'n andrer.

Erich (sanft): Dann nehmen Sie noch einen andern.

Egon: Ich hab doch nur die zwei!

Erich: Dann nehmen Sie einen von meinen. Ich denke, daß er passen wird.

Egon (reißt wütend den Kragen ab, geht ins Schlafzimmer und kommt mit einem reinen Kragen zurück).

Erich: Paßt er?

Egon: Hm. – Für Ihre Genialität, lieber Goßler, sind Sie viel zu äußerlich.

Erich: Und für Ihr Äußeres, lieber Wolf, sind Sie nicht genial genug.

Egon: Ich bin kein Litteraturgigerl. 48

Erich (mit sanfter Entschiedenheit): Nein, Wolf, das sind Sie nicht. Aber wenn Sie so genial wären, wie Sie unordentlich sind, dann wären Sie mindestens der Weltgeist.

Egon (mit verunglückter Heiterkeit): Wer sagt Ihnen, daß ich's nicht bin. So genial wie Ihr Freund Kröger hoffe ich immer noch zu sein.

Erich (aufmerksam): Was?

Egon: Na, hören Sie mal – gestern abend hab ich's erst recht gemerkt – das ist doch 'n furchtbarer Idiot.

Erich: Hermann Kröger?

Egon: Ja.

Erich (in ein langes, erregtes Gelächter ausbrechend): Hahahahahaha – lieber Wolf – lie–ber Wolf! – Machen Sie sich doch nicht ridikül! – Es ist sehr drollig. – (An Wolf herantretend und leicht seine Schultern berührend:) Drei solche Leute wie Sie, lieber Wolf, steckt er in eine Westentasche!

Egon (höhnisch auflachend): 'n Mensch, der noch von »Ziel« und »Fortschritt« faselt –

Erich (erregt): Na, kurz und gut, lieber Wolf, wenn Sie sich nicht furchtbar blamieren wollen, dann sagen Sie so was nie wieder!

Egon: – Das ist ja merkwürdig! Warum behandeln Sie ihn denn so schnöde?

Erich (stutzt, dann hart, mit abgewandtem Gesicht): Das ist meine Sache. (Pause.)

Egon: Ich habe gedacht, ob er sich vielleicht an meiner Zeitschrift beteiligen würde.

Erich: An Ihrer Zeitschrift?

Egon: Ich will eine Wochenschrift gründen. Da fällt mir übrigens ein: ich wollte Sie bitten, heute abend 49 auch 'n bißchen in den »Reichsadler« zu kommen, da sind einige Verehrer von mir, die wollen mich natürlich gern mal sehen – nachdem sie so viel von mir gelesen haben.

Erich: So.

Egon: Und wenn ich Kröger vor Tische nicht sehen sollte, vielleicht sagen Sie's ihm auch.

Erich: Gewiß. Warum nicht? (Es klopft.) Herein!

 

2. Scene.

Anna. Die Vorigen.

Anna: Guten Morgen. Ich wollt' bloß mal sehn, ob der Herr (mit einem Blick auf Egon) schon auf wär'. Soll ich den Kaffee 'raufbringen?

Egon: Ist unten denn schon Kaffee getrunken?

Anna (lachend): Djä gewiß! Es ist doch schon nach elf!

Egon: Schon nach elf? Donnerwetter, ich muß ja an meinen Verleger schreiben –

Anna: Djä, soll ich ihn nu 'raufholen oder –?

Egon: Wen?

Anna (kichernd): Den Kaffee!

Egon: Ja natürlich.

Anna: Schöön! (Ab.)

 

3. Scene.

Egon (verächtlich): Haben Sie bemerkt, wie das Frauenzimmer kokettiert?

Erich: Mit Ihnen?

Egon: Ja. Achten Sie mal darauf: so der richtige 50 weibliche Sphinxtypus: Wollust und Grausamkeit. Achten Sie mal auf die Augen!

Erich: Hm. – (Belustigt:) Also Sie wollen eine »Wochenschrift« gründen. Wolf!

Egon: Ja, ich stehe schon in Unterhandlung mit einem Verleger.

Erich: So. In welcher Art denn? So etwas Reinigendes, wie?

Egon: Das weiß ich selbst noch nicht. Etwas Anderes – Verblüffendes vor allen Dingen. Verwegen aristokratisch! Ich werde vor allen Dingen immer den Standpunkt einnehmen, den keiner erwartet. (Großspurig:) Ich werde immer mit der kleinsten Minorität gehen.

Erich: Hm. Ja – das ist wenigstens ebenso blödsinnig wie das Gegenteil.

Egon: Blödsinnig?

Erich: Und dann ist es modern.

Egon: Das mein' ich.

Erich: Gewiß. Sie werden viele Abonnenten haben. Die Majoritäten haben das ganz gern. Die Rhinocerosse haben es gern, wenn man ihnen die Haut mit einem gespaltenen Rohre kratzt.

Egon: Verblüffend – das ist die Hauptsache. Und mit souveräner Frechheit geschrieben. Fühlung mit einem Minister hab ich schon. Da ist noch was zu machen: meinen Sie nicht auch?

Erich: Gewiß.

Egon: Nehmen wir mal einen bestimmten Fall. Ich denke da z. B. an die Schutzleute, die da kürzlich sogenannte anständige Damen verhaftet haben, so daß der 51 sogenannte »Sturm der Entrüstung« durch den deutschen Blätterwald rauschte – da würde ich z. B. – die Partei der Polizei ergreifen.

Erich: Wie das denn? Sie sind doch für freie Liebe!

Egon: Ja – das – ja – na, das findet sich dann. Das findet sich dann bei dem einzelnen Artikel. – Ich rechne natürlich ganz besonders auf Ihre Mitarbeit.

Erich: Rechnen Sie? Lieber Wolf, Sie wissen doch, daß ich kein Schriftsteller bin.

Egon: Na, wenn Sie wollen

Erich: Ja: ich will aber nicht. Ich habe kein Bedürfnis nach – »Abonnenten«. Es genügt mir durchaus, meine Gedanken allein zu haben. Wenn fünf »Abonnenten« mir zustimmten, würde mir ja angst und bange werden!

Egon: Na ja, aber –

Erich: Ja Sie, Wolf, Sie werden sich ganz gut dazu eignen. Ich sehe Sie schon als Aristokrat von 15 000 Abonnenten, hahaha! – Na, und nun dachten Sie, Kröger sollte sich beteiligen? Wieso denn?

Egon: Na, als Mitarbeiter, als wissenschaftlicher Redakteur vielleicht. Ich brauche vor allen Dingen eine tüchtige, zuverlässige Arbeitskraft.

Erich: Ein Arbeitspferd – kann ich mir denken. Und Sie – als Genie und Herrenmensch wollen diesen Kröger für Ihre Zwecke – was man so nennt: verbrauchen, als Arbeitspferd?

Egon (mit naivem Lächeln): Warum nicht? Der Mann kann mir nützen, also werde ich ihn poussieren.

Erich: Wolf, Wolf, ich fürchte nur Eines!

Egon: Und? 52

Erich: Er könnte hintenausschlagen und Sie vor den Kopf treffen!

Egon (lacht höhnisch auf): Da lassen Sie nur meinen Kopf sorgen!

Erich: Sehn Sie, lieber Wolf, ich könnte diesen Bukephalus vielleicht reiten –

Egon (spöttisch): Alexander der Große!

Erich: Es giebt verschiedene Arten von Alexander, lieber Wolf!

 

4. Scene.

Anna. Die Vorigen.

Anna (kommt mit Kaffee, Brot, Butter &c. und stellt es auf den Tisch links): 'n Brief für Herrn Wolf.

Egon (zu Erich): Von dem Verleger. (Zu Anna:) Na, Sie möchten wohl gern 'n Kuß haben, wie?

Anna (gemütlich): Och jaa?! – Aber bloß nich von Ihnen!

Egon (will ihr den Arm um die Taille legen).

Anna (sehr energisch): Na?! Das lassen Sie aber man 'n bischen unterwegs!

Egon: Na thun Sie man nich so. Gegen Ihren Soldaten sind Sie doch auch nich so!

Anna: Jaaa – mein Soldat un Sie: das 's aber auch 'n Unterschied! (Ab.)

 

5. Scene.

Erich. Egon. Später Anna.

Erich (Anna belustigt nachblickend): Grausamkeit, Wolf, bis jetzt seh ich nur die Grausamkeit. (Ist beim Auf- und Abgehen an das rechte Fenster getreten.) Wolf, ist das nicht das Fräulein Hendrichs von drüben? 53

Egon (ist an das linke Fenster getreten): Ja.

Erich: Hat sie nicht 'n Buch in der Hand?

Egon: Hm. Scheint so.

Erich: Sie wird möglicherweise heraufkommen und mir das Buch wiederbringen –

Egon (höhnisch): Na, sie wird doch nicht »ledigen Herren Besuche machen«?

Erich: Daraus wird sie sich jedenfalls nichts machen. – Sie können sich aber so nicht sehen lassen, Wolf!

Egon (an sich hinuntersehend): Wieso denn nicht? – Ich muß doch essen!

Erich: Nehmen Sie Ihren Kaffee mit! Schnell! Ich muß meinen Schlafrock ausziehen – (Ab ins Schlafzimmer.)

Egon (nimmt sorgfältig Kaffee, Brot und Butter zusammen und trägt es ins Schlafzimmer, fortwährend kauend).

Erich (tritt wieder auf im Gesellschaftsrock. Es klopft): Herein.

Anna: Das Fräulein Hendrichs von nebenan fragt, ob Sie zu sprechen sind.

Erich: Ich lasse bitten.

Anna: Und ob ich jetzt die Betten machen könnte.

Erich: Wer fragt das?

Anna: Frau Kröger.

Erich: Ja natürlich.

Anna (geht links hinaus, um Clara zu verständigen, erscheint sofort wieder und geht dann in die Stube hinten rechts).

Erich (bemerkt, daß auf dem Tisch links noch Serviette, Milchtopf und Zuckerdose stehen): Na, was macht denn der – (nimmt diese Sachen und gewahrt, als er sich umdreht, Clara, die gleich nach Annas Abgang eingetreten ist). 54

 

6. Scene.

Erich, Clara in vornehm-pikanter Promenadentoilette. Sonnenschirm. Ein Buch in der Hand.

Erich: Pardon, gnädiges Fräulein – ich stehe sofort zu Ihren Diensten.

Clara (mit freundlichem Lächeln): Bitte!

Erich (nachdem er die Sachen ins Schlafzimmer getragen): Darf ich bitten, Platz zu nehmen?

Clara (geht links am Sofa vorbei und setzt sich in die linke Sofaecke).

Erich (setzt sich in einen Sessel an der rechten Seite des Tisches): Hoffentlich ist Ihnen der gestrige Abend gut bekommen, mein Fräulein.

Clara (ernst): Herr Goßler!

Erich (verwundert): Ja?

Clara (milde, wie überhaupt während der ganzen Scene liebenswürdig und ohne alle Schärfe): Warum regalieren Sie mich mit Phrasen! Ist ihre Verachtung des Weibes so groß und so allgemein?

Erich: Phrasen – wieso?

Clara: Sie fragen nach meinem Befinden, (wehmütig) das Ihnen gewiß so gleichgültig ist wie irgend etwas auf der Welt!

Erich: Aber mein Fräulein, diese kleinen netten Höflichkeitslügen – ohne Lügen ist doch kein Verkehr unter Menschen möglich.

Clara: Von der großen Masse gilt das ja gewiß. Aber die Starken sollten darüber erhaben sein.

Erich (ironisch): Ah? Gnädiges Fräulein gehören zu den Starken? 55

Clara: Seitdem ich dieses Buch gelesen – ja. Sie haben ein Recht zu spotten; denn gestern muß ich noch recht albernes Zeug geredet haben.

Erich (allmählich interessierter): Das will ich nicht sagen; Sie haben sogar mein Denken angeregt. Sie haben das Buch merkwürdig schnell bewältigt –

Clara: Ich habe eine Nacht drangegeben, ja. Was liegt an dem bißchen Schlaf! (Mit Beziehung.) Geschlafen hat man wahrhaftig genug. Ich sagte Ihnen schon gestern abend, wenn ich nicht irre, daß das Buch einem keine Ruhe läßt, wenn man nur fünf Zeilen davon gelesen hat.

Erich: Ja ja, das sagten Sie.

Clara: Ach – was ich auch gestern abend gesagt haben mag – ich möcht' es heute zehnfach gesteigert wiederholen. Daß ein einziges Buch solche Umwälzungen hervorrufen kann! Unsere inneren Erlebnisse sind doch wirklich größer und entscheidender als alle äußeren!

[Erich: – Pardon, gnädiges Fräulein, aber ich bin ganz hypnotisiert von dem Rot Ihrer Blouse –

Clara: Ah, sind Sie so farbensinnig?

Erich: O ich bitte! Was giebt es denn noch außer der Farbe? Ich kann mich verlieben um einer kleinen Schleife willen.

Clara: Wie interessant!

Erich: Diese wundervolle Portweinfarbe!

Clara (sehr liebenswürdig): Pardon, es ist Bordeaux.

Erich: Ah pardon –bitte tausendmal um Verzeihung – – köstlich –! Es wirkt auf mich wie ein herrliches Auto-da-fé – von brennenden Ketzerleibern – wie schwüle Seufzer – 56

Clara: Wie seltsam. Ich muß dabei immer an ein Glas Rotwein denken, durch das die volle, breite Sonne fließt.

Erich: Aber nein! Das ist es nicht –] (Man hört aus dem Zimmer hinten rechts ein lautes Klatschen.)

Clara: Was war das?

Erich: Das Mädchen ist nebenan und räumt auf.

Clara: So.

Egon (stürmt, im Mantel, den Hut auf dem Kopf, aus der Thür rechts): Ich muß meinem Verleger telephonieren! (Macht Clara eine kurze, komische Verbeugung:) Morg'n! (und stürmt ab).

Anna (erscheint sofort hinter ihm, trägt einen Eimer in der Linken, macht hinter seinem Rücken mit dem rechten Zeigefinger eine Geste, wie »Mit dir will ich schon fertig werden« und geht ebenfalls links ab).

Clara: So: Herr Wolf war auch nebenan?

Erich (unangenehm berührt): Ja – es scheint so.

Clara: Ach bitte, lassen Sie uns noch ein bißchen von Ihrem Buch plaudern.

Erich: Recht gern, mein Fräulein. Also: all das Unliebenswürdige, Gotteslästerliche, was in diesem Buche über die Damen, über das »Hehre Weib« gesagt ist, das acceptieren Sie?

Clara: Ja, das auch. Ich bin gewiß auch nur ein Weib wie alle andern, ohne Selbständigkeit, ohne Initiative. Aber eins, glaub ich, kann ich: Vernunft hinnehmen, wenn sie auch noch so bitter ist, und einen Riesengeist verehren – wenn er auch noch so kalt und unnahbar ist.

Erich (verwirrt): Sie überschätzen mich, liebes Fräulein und – unnahbar bin ich auch nicht – aber Sie müssen vor allen Dingen nicht von Vernunft reden, das vertrag' ich am wenigsten. 57

Clara: Wieso? Das versteh ich nicht.

Erich (klemmt sich in die rechte Ecke des Sofas, interessiert): Ja sehen Sie: Vernunft ist ja auch nur so ein blöder Götze, den die Menschen sich zurecht gemacht haben – wie »die Wahrheit«, »die Sittlichkeit«, »die Wissenschaft«, »die Logik« und dergleichen Unsinn mehr. Wir müssen eben zurück ins Dunkle, ins Chaos, um wieder Offenbarungen zu haben. Mein Buch ist entweder eine Offenbarung, oder es ist nichts.

Clara: Dann ist es eine Offenbarung, entschieden! Und so hat es auch auf mich gewirkt! Mir war heut nacht zu Mute wie Saul in Damaskus. Welch ein wunderbares Gefühl muß es doch sein, so etwas geschaffen zu haben!

[Erich: Im Gegenteil: ich mache mir Vorwürfe, dies Buch veröffentlicht zu haben.

Clara: Aber warum denn?

Erich: Weil es eine Riesendummheit ist, anderen Menschen dergleichen mitzuteilen, als ob sie's verstehen könnten.

Clara: Nun, vielleicht findet sich doch einmal eine fühlende Seele, die einen ganz versteht.

Erich (zuckt die Achseln).

Clara: Und dann muß es doch schon eine Wonne sein, solche Ideen überhaupt zu haben.] Oder gar so eine Entdeckung zu machen wie Hermann Kröger! Das muß ein noch gewaltigeres Glück sein, meinen Sie nicht auch?

Erich (erregt): Nein, meinen Sie? Verstehen Sie denn etwas von dieser Entdeckung?

Clara: Nein, aber –

Erich: Erst muß doch wohl eine Entdeckung vorhanden sein, nicht wahr? 58

Clara: Ja, ist denn nicht –

Erich: Ach bewahre!

Clara: Ich meinte doch –

Erich: Ach wo! – 'n Bazillus kann nie dieselben Krankheitserscheinungen hervorrufen wie das Blut eines Kranken, und dann beweisen seine Beobachtungen an Tieren überhaupt nicht das Geringste für die menschliche Pathologie.

Clara: Aber hat er sich nicht auch selbst geimpft und hat wirklich Scharlach bekommen?

Erich: Kunststück! Für 'n Arzt, der mit Scharlachkranken umgeht! Na ja, er hat sich ja 4 Wochen vorher von Scharlachkranken ferngehalten; aber Scharlach kann noch – kann noch ½ Jahr nach Beginn der Krankheit auf andere übertragen werden.

Clara: Ja, das müssen Sie ja alles besser wissen als ich. Sie sind Mediziner, nicht wahr?

Erich: Ich habe auch etwas Medizin studiert, ja.

Clara (schnell, mit großer Wärme): Aber er ist doch ein großer Mensch, dieser Hermann Kröger, finden Sie nicht?

Erich (schneidend): Nein. (Steht auf. Geht erregt ein paar Schritte. Dann mit verletzender Schärfe.) Das heißt, wenn Sie ihn groß finden wollen, dann will ich natürlich nicht stören. Aber mir müssen Sie schon erlauben, ihn für einen Dummkopf zu halten.

Clara: Aber warum bleiben Sie nicht sitzen? Erregt der Gedanke an Herrn Kröger Sie so heftig?

Erich: Aber ich bitte Sie! (sich schnell wieder zu ihr setzend, etwas näher als vorher).

Clara: Also für dumm halten Sie ihn? 59

Erich: Ja. Ich habe viele Mühe auf diesen Menschen verwandt. Er hatte den albernsten Götzen, den man haben kann: »Die Menschheit«. Er sprach immer noch vom »Interesse der Menschheit«, vom »Wohle der Gesamtheit«. Ich habe ihm klargemacht – weil ich ihn für etwas hielt – daß man weder zum eigenen Heile noch zum Heile der Menschheit überhaupt etwas thun kann, daß die Menschheit immer gleich ärmlich, erbärmlich, lächerlich, dumm, gemein und unglücklich bleibt, ob sie nun Quadern zu ägyptischen Pyramiden schleppt oder gratis in symphonischen Volkskonzerten sitzt und »mannhaft« mit dem Wahlzettel »zur Urne schreitet«. Er begriff das auch alles, er stimmte zu. Und nun tippen Sie einmal irgendwo hin, da stoßen Sie bei ihm auf »Menschheit« und »Gewissen« und »Treue« etc. etc. Er wird nie ein neuer Mensch; er ist als alter geboren. Ich nenne das idiotisch – vielleicht haben Sie ein anderes Wort dafür.

Clara (gedehnt): N–ei–n, ich muß gestehen – gestern kam er mir auch recht komisch vor – in seiner Halbheit –

Erich: Sehen Sie?

Clara (hastig): Aber Sie sagen es ihm doch nicht wieder?

Erich: Aber gnädiges Fräulein!

Clara: Und wenn ich daneben Ihre souveräne Klarheit bedenke, dann kommt er mir wirklich etwas kindlich vor und ich muß lachen. Und wenn wir Frauen erst über einen Mann lachen –

Erich: Sie haben aber gestern auch über mich gelacht.

Clara (emphatisch): Gestern! – Wissen Sie, was ich heute fühle?

Erich: Nun? 60

Clara: Furcht. Wenn ich Sie so in Ihrer einsamen Höhe sehe – dann befällt mich so recht das Gefühl meiner weiblichen Schwachheit und ich muß mich zusammennehmen, daß ich nicht zittere.

Erich: Wirklich? (Rückt ihr näher.)

Clara (schwärmend): Wissen Sie, welche Stelle in Ihrem Buche ich am wunderbarsten finde?

Erich: Nun?

Clara: Die, wo Sie von der neuen Liebe sprechen, von der »Liebe der Gehirne«. Warten Sie: wo ist es noch gleich? (Blättert eifrig in dem Buche.)

Erich: Wissen Sie, daß Sie eine wunderbar schmale Hand haben?

Clara (mit Backfisch-Verschämtheit): Ach nein – wirklich?

Erich: Lassen Sie einmal liegen die Hand – so – so! Schmale weiße Hände haben so etwas Madonnenhaftes, Katholisches; ich könnte eine Andacht verrichten vor diesen Händen. eine inbrünstige – (küßt die Hand zweimal schnell hintereinander).

Clara (lächelnd): Aber Herr Goßler! Sind Sie so sehr für das Katholische?

Erich: Ja, schon weil der katholische Glaube der alte Glaube ist. Ich bin für alten Glauben, alten Adel, alte Privilegien, alte Bücher –

Clara (mit neckischem Ernst): Und alte Weiber!

Erich (von ihrer Anmut eingenommen, lächelnd): Nein, das weniger. (Will wieder ihre Hand ergreifen.)

Clara: Hier ist es schon! (Andächtigen Tones lesend:)»Ich suche die neue Liebe, eine Liebe, die verloren hat alles Banale und Widrige und die nicht erreichbar ist den 61 Allzuvielen, die aber behalten hat alle süßen Taumelgifte der Liebe in unendlicher Verfeinerung und alle seinen Grausamkeiten der Liebe. Ich suche die Liebe der Gehirne.« – Das ist einfach köstlich!

Erich (unaufmerksam): Ja gewiß – aber – sehen Sie.– (er legt den Arm um ihre Schulter).

Clara (aufstehend, liebenswürdig): Oh – die Liebe der Gehirne –

Erich: Ja – lassen wir das – so weit sind wir ja noch nicht – (Will sie wieder erfassen.)

Clara (elegisch abwehrend): Nein, so weit sind wir noch nicht. Lassen Sie uns warten bis dahin! Ich will Sie nicht herabziehen ins Ewig-Weibliche!

Erich (plötzlich zusammengerafft, steht aufrecht und mißt sie mit kaltem Blick, ruhig): – – Meine Gnädige – – Sie foppen mich?

Clara (nach kurzem Nachdenken, ehrlich): Ja. – Aber eigentlich sollten Sie's noch nicht merken.

Erich: Und ich brauche nicht zu fragen, für wen Sie sich diese Mühe geben.

Clara (sehr ernst): Nein.

Erich: Und wenn ich nun Herrn Kröger von Ihren eifrigen Bemühungen Mitteilung machte?

Clara (ernst und einfach): Herr Goßler!

Erich (wendet, beschämt, schnell den Blick weg und zu Boden).

Clara: – Das kam nicht aus Ihrem Herzen.

Erich (mit kurzem Auflachen): Warum nicht?

Clara: Weil Sie ein Kavalier sind.

Erich (sehr heftig): Ach warum nicht gar! – Nein, verehrtestes Fräulein, ich bin genau so gut ein Schurke wie jeder andre Mensch. 62

Clara: Aber doch auch nicht mehr.

Erich (ungeduldig): Nun kurz und gut, mein Fräulein, ich pflege mich allerdings an das zu binden, was man so gentlemanliness nennt – Sie haben eine feine Nase, mein Fräulein – (leidenschaftlich:) aber verlassen Sie sich darauf, daß ich bis aufs Messer mit Ihnen ringen werde um diesen Menschen –

Clara: Aber warum denn?

Erich (außer sich): Weil ich ihn brauche – und Sie ihn nicht brauchen!

Clara: Wozu brauchen Sie ihn?

Erich (hält in seinem erregten Auf- und Abschreiten inne und sieht sie mit flammenden Augen an. Dann sich wieder abwendend): Das kümmert niemand.

Clara: Aber –

Erich: Ich erwarte von Ihnen dieselbe Diskretion, die Sie – (Es klopft) – Herein!

 

7 Scene.

Hermann. Die Vorigen.

Hermann (in lustiger Laune schnell hereinstürmend, ein Journal in der Hand): Ah da bist du ja! Hör mal, ich muß dir etwas Wundervolles – (bemerkt Clara, die ganz links vorn steht, erstaunt:) Clara? Du hier?

Clara (kühl): Wie du siehst.

Hermann (mit einem Blick auf Erich): Habt ihr euch wieder gezankt?

Clara: Im Gegenteil. Ich habe Herrn Goßler von seinem Buch vorgeschwärmt, und er hat es sehr freundlich aufgenommen. 63

Hermann: Na jaa! (Zu Erich:) Wenn sie dir gegenüber ebenso in Begeisterung geschwelgt hat wie gestern abend mir gegenüber – sie ist dir mit Haut und Haaren verfallen.

Clara: Du sagst das so spöttisch?

Hermann: Nnna – wenn ich ehrlich sein soll – dann steht dir der neue Mensch lange nicht so gut wie der alte.

Clara: Nun ja, das spricht der Philister aus dir, der Weibermann. Gott sei Dank brauch' ich ja aber meine Toiletten nicht nach deinem Geschmack zu wählen, sondern nur nach meinem, nicht?

Hermann (etwas verblüfft): Das – allerdings.

Clara (sich gegen Erich verbeugend): Leben Sie wohl, Herr Goßler –

Hermann (schnell): Ach nein, bleib noch einen Augenblick, das mußt du auch mit hören. Ich werde hier wundervoll verrissen, anonym natürlich, im »Uranus«, das müßt ihr hören!

Erich (in großer Verlegenheit): Na, das kann doch Fräulein Hendrichs nicht interessieren –

Hermann: Aber gewiß – so viel Medizin wie dieser Anonymus hier versteht jeder. (Zu Erich:) Du wirst dich krümmen vor Lachen.

Clara (mit unterdrückter Neugier): Es interessiert mich allerdings insofern, als ich eben noch mit Herrn Goßler über deine Entdeckung sprach –

Hermann: Na, der hat mich natürlich herausgestrichen; aber hier werdet ihr nun endlich die Wahrheit über meine sogenannte Entdeckung zu hören kriegen. 64 Also (setzt sich: Erich rechts, Clara links): – ich übergehe die Einleitungsformalitäten wie »Wissenschaftsdünkel«, »mechanistische Plattheit«, »Menschheitsbeglücker« &c. &c. und komme gleich zu den Gründen. Erstens: »Jeder Bazillus verlangt seinen eigenen, besonderen Nährboden«. (Erich anblickend:) He? Was sagst du?

Erich (schweigt).

Hermann: Zweitens: »Wenn Herr Dr. Kröger aber auch wirklich das betreffende Bakterium gezüchtet hätte, so kann doch ein Bazillus nie dieselben Krankheitserscheinungen hervorrufen wie das Blut eines Kranken!« (Zu Erich, der fortwährend mit von Clara weggewandten Blicken auf- und abgeht und nur zuweilen einen schnellen Blick zu ihr hinüberwirft:) Haste Worte?

Erich (zerstreut): Hm.

Hermann (im Eifer fortfahrend): Drittens: »Aber auch wenn dies möglich wäre, beweisen seine Beobachtungen an Tieren noch nicht das Geringste für die menschliche Pathologie.« – Ist dir schon mal so 'n Quadratesel vorgekommen?

Erich (übermäßig heftig): Na, ich bitte dich sehr, dich in anderen Ausdrücken zu bewegen – du weißt, ich liebe diese Kutschersprache nicht!

Hermann: Ja aber – lieber Freund – Quadratesel ist doch das Mindeste –

Clara: Ich weiß nicht: mir ist immer, als hätte ich das erst vor kurzem gehört!

Hermann: Gehört?

Erich (Auge in Auge mit Clara): Ich nehme an, gnädiges Fräulein, daß Sie es irgendwo gelesen haben.

Clara (freundlich): Ja ja, das wird es sein; ich hab' es jedenfalls irgendwo gelesen. 65

Hermann: Dabei ist die ganze Sache sehr gut geschrieben, so mit einem gewissen bösartigen Scharfsinn, weißt du, der jede kleinste Stelle findet, wo er den Gegner eventuell verwunden könnte. Dem edlen Anonymus fehlt nur die Waffe. Er weiß nichts, Virchow würde sagen: »er ist dümmer als 'n Kreisphysikus«.

Clara: Ich will dich jetzt nicht länger in deiner Fachsimpelei stören –

Hermann: Aber Kinders, das Beste kommt ja noch: Vierter und letzter Grund – setzt euch erst auf'n Stuhl, sonst fallt ihr hin –: »Endlich beweist es nichts, daß Herr Dr. Kröger sich nach vierwöchiger Fernhaltung von Scharlachkranken und nach gründlicher Desinfizierung mit einer Reinkultur seines Bazillus geimpft hat und danach erkrankt ist; denn bei der besonderen Tenacität des Scharlachgiftes« – jetzt kommt es! – »kann das Scharlach sehr wohl noch ein halbes Jahr nach Beginn einer Erkrankung übertragen werden. Hahahahahaha . . . . (Ist aufgesprungen und läuft in der Stube umher.) Ein halbes Jahr! Na, das ist doch schon nicht mehr Quadratesel, das ist doch – ach Gott, so'n Tier giebt's ja gar nicht!

Erich (der wie auf Kohlen gestanden, stürmt nach rechts ab in sein Zimmer).

 

8. Scene.

Hermann (ihm verwundert nachsehend): Was hat denn der? Der scheint heute ganz besonders nervös zu sein. Er kann die starken Ausdrücke nicht vertragen. Und du? 66 Warum lachst du denn nicht mit? – Hör mal – ich glaube, ihr habt wirklich etwas mit einander gehabt!

Clara (ihre nachdenkliche Stimmung abschüttelnd): Nicht doch. Erstens versteh ich nichts von medizinischen Sachen und zweitens interessiert mich deine Entdeckung gar nicht.

Hermann: Gestern interessierte sie dich doch sehr.

Clara: Ja. Aber seit ich das Buch jenes genialen Mannes gelesen habe –

Hermann (eifrig): Ja siehst du, ist er nicht wirklich ein genialer Mensch?

Clara (ihn mit langem Blick betrachtend, dann schnell): Ja ja, o gewiß. Es ist mir auch wirklich höchst gleichgültig, ob jährlich einige tausend Kinder mehr sterben oder nicht.

Hermann (unangenehm berührt): Hm – das sagst du? Und so kalt?

Clara: Ja, sagtest du das nicht gestern?

Hermann: Ja ja – aber aus deinem Munde klingt das ganz anders. Und dann – ich weiß nicht – nach diesem Angriff (auf das Blatt in seiner Hand deutend) seh ich meine Arbeit mit einem Male anders an – sie fängt mir wieder an zu leben –

Clara (sich vergessend, freudig): Wirklich?!

Hermann: Ja. Freut dich das?

Clara (wieder in die frühere Pose zurückkehrend): O nein. Ich wundere mich nur.

Hermann: Ja, ich fühle so eine Unruhe, so eine Ungeduld in mir, die ich mir nicht erklären kann. Als wenn mir etwas bevorstände. Sobald ich wieder in Berlin bin, werd ich wohl meine Untersuchungen fortsetzen.

Clara (forschend): Das wird wohl schon bald sein? 67

Hermann: Ja, ja, ziemlich bald.

Clara: So. – Ich muß jetzt fort. Adieu.

Hermann: Darf ich dich nicht begleiten?

Clara (kalt): Nein. Ich brauche keinen männlichen Schutz. (Ab.)

Hermann (sieht ihr eine Weile nach. Schüttelt dann den Kopf. Er wendet sich, blickt nach Erichs Thür und geht auf diese zu. Wie er nahe vor der Thür ist, tritt)

Erich (heraus, mit Überzieher und Hut).

 

9 Scene.

Erich. Hermann.

Erich: Hoffentlich hast du dich jetzt so weit gemäßigt, daß man mit dir verkehren kann.

Hermann: Ja wieso denn – findest du denn, daß dieses Geschreibsel –

Erich: Lassen wir das jetzt. – Ich muß dir sagen, daß ich entschlossen bin, morgen abzureisen.

Hermann: Morgen schon?

Erich: Ja. Und ich erwarte, daß du mitgehst.

Hermann: Aber mein Gott, was ist denn für eine Unruhe in dich gefahren, das ist ja gerade, als ob dir der Boden unter den Füßen brennte.

Erich (erregt): Ob mir der Boden unter den Füßen brennt oder nicht, das ist für deine Entschließungen jedenfalls gleichgültig. Ich habe meine schwerwiegenden Gründe.

Hermann: Und die kannst du mir nicht mitteilen?

Erich: Nein. Ich hoffte auch, daß du um meinetwillen mitgingest und nicht um meiner Gründe willen. 68

Hermann: Nun so reise doch, und ich komme in acht Tagen nach.

Erich: Hahaha! Nein, Teuerster, du gehst entweder mit mir, oder – wir sind eben getrennt für immer. Soweit kenn' ich dich. Ich hab's ja gestern abend am Theetisch beobachtet. Aus allen Ecken und Winkeln langen ja die »Geister der Familie« mit unsichtbaren Armen nach dir, und du würdest ihnen keine drei Tage mehr widerstehen. Du bist schon in dem einen Tage überraschend weit versimpelt.

Hermann: Ach, das ist ja alles Unsinn. Ich will ja selbst nach Berlin zurück, schon um meiner Arbeit willen –

Erich (aufhorchend): Arbeit?

Hermann: Ja, hier, diese »Kritik« hat etwas in mir angeregt –

Erich: Das wäre! Und nun willst du wieder »Menschheit retten«?

Hermann: Das ist mir gleichgültig – ich muß das verfolgen – das läßt mich eben nicht los –

Erich: Na, ich halte das freilich wieder für einen ergötzlichen Unsinn – aber das ist ja ein Grund mehr für dich, zu reisen.

Hermann: Ja, aber doch nicht gerade morgen! – Ich kann das meinen Eltern nicht anthun!

Erich: Erlaube, daß ich diese Draperie etwas beiseite schiebe. Dahinter erscheint dann die mannstolle Clara.

Hermann (sehr laut und heftig): Schweig, Goßler! – Nimm das Wort zurück!

Erich: Was – was?

Hermann (wie oben): Ich verlange, daß du das Wort 69 zurücknimmst! Sonst kann ich überhaupt nicht mit dir reden!

Erich (kühl): Nun gut, ich nehme das Wort zurück, damit du reden kannst.

Hermann: Wenn das Mädchen dir gestern und heute Beweise von Interesse gegeben hat, so ist es sehr unedel von dir, das auf solche Weise zu deuten. Du solltest dir eher was einbilden darauf!

Erich (lacht höhnisch).

Hermann: Wenn du eine Ahnung davon hättest, wie sie mich noch eben behandelt hat – gerade das Mädchen könnte mich veranlassen, so bald wie möglich eine andere Umgebung zu suchen.

Erich (erfreut): Na also!

Hermann: Nein, ich sagte dir ja schon, ich kann meinen Eltern das nicht anthun. (Sinkt in einen Stuhl.)

Erich (mit absichtsvoller Resignation): Hm. – – Dann wären wir also geschieden. (Setzt sich zu ihm.)

Hermann: Aber Goßler, wie kannst du –

Erich (Auge in Auge mit Hermann): Das wäre denn also das Resultat der mancherlei Nächte, in denen wir die wilden und starken Gedanken weckten. Du entsinnst dich dessen vielleicht, daß du lernen wolltest, frei zu sein, frei von allem, was herrschen kann. Daß du mit mir gehen wolltest in die große Einsamkeit der Rücksichtslosen – jetzt, da das Söhnchen den Schürzenzipfel der Mutter wieder erwischt hat, ruft es: ich hab's gar nicht so gemeint! Es ist doch besser hier!

Hermann: Aber lieber Freund –

Erich (immer langsam und mit schärfster Betonung): Du 70 entsinnst dich vielleicht der Ecke, in der wir oft gesessen und wo einer in den Augen des andern einen Ruheplatz fand. Entsinnst du dich?

Hermann (elegisch): Ja.

Erich: Du entsinnst dich, daß wir von allem sprachen, was dich in deinen alten Lebenskreis zurückziehen könnte. Entsinnst du dich?

Hermann: Gewiß.

Erich: Was zieht dich zurück? – Pflicht? – Wir fanden, »Pflicht« sei die Meinung eines Pferdes, das im Göpel läuft und sich seines beständigen Fortschritts freut. Es ist ein Begriff für Pferde. – Liebe zu den Eltern? Wir fanden, daß Frühling und Herbst noch nie im selben Lande wohnten, und daß der mildeste Mund gesprochen hat: »Laßt die Toten ihre Toten begraben.« Du erinnertest an dieses Wort! Entsinnst du dich?

Hermann (leise): Ja.

Erich: Zieht dich Forschbegierde? – Wir fanden, daß der wissensdurstige Mensch so komisch ist wie ein Nilpferd mit Libellenflügeln. – Ruhmbegierde? – Wir fanden: berühmt sein, das heißt, sich die Stirn bekränzen lassen mit der Narrheit des Pöbels und eine Krone von Stierhörnern tragen. Berühmt sein, heiße auf einem Postament sitzen und sich von jedem zweibeinigen Vieh beschmutzen lassen. – Mitleid mit den Kranken? Wir fanden: ein Theelöffelchen voll, das schnell und sicher tötet: das ist Mitleid. Entsinnst du dich?

Hermann (ganz in Erinnerung versunken, starrt vor sich hin und schweigt).

Erich: Oder willst du Geld verdienen? – Wir 71 fanden, Geld sei eine schöne Sache, sei die beste Sache; denn für Geld könne man alles haben. Dieses »alles« ist freilich ein Dreck und das Geld nicht wert: das fanden wir auch. (Ist aufgesprungen und geht in verhaltener Erregung auf und ab.) Und endlich fanden wir, daß wir nur uns hatten, nur uns! Du glaubtest an eine stille Kameradschaft der Menschen gegen Gott und Teufel und nanntest sie »Treue«. »Die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn« – diese Köchinnenphrase fandest du schön. Ich sagte: ich glaube an keine Treue, nur an deine Treue glaube ich. Entschuldige, daß ich einmal in meinem Leben an einen Menschen glaubte; es soll gewiß nicht wieder vork . . . .

Hermann (angstvoll): Schweig! – Das sollst du nie sagen! – Hinter meinem Wort steht meine That. (Die Hand reichend:) Ich gehe mit dir.

Erich: Du wirst es mir noch danken, daß ich dich aus dieser Atmosphäre befreit habe.

Hermann (nachdenklich): Das – wollen wir hoffen.

Erich (nimmt seinen Hut): Ich habe jetzt einen Weg zu machen. Hast du 'ne Cigarette? Meine sind alle geworden.

Hermann: Cigarette nicht, aber Cigarre. – Bitte! Hier, nimm die, das ist eine Import, die hat mir gestern der Kaffeebaron verehrt –

Erich: Nein, dann will ich sie dir nicht rauben –

Hermann: Aber natürlich, nimm doch –

Erich: Nein nein – (nimmt eine andere Cigarre): So! (Schneidet sorgfältig die Spitze ab und zündet die Cigarre an. Es klopft.)

Hermann: Herein!

Mutter Kröger (tritt ein, bleibt nahe der Thür stehen): Stör' ich die Herren auch? 72

Erich: Nein, durchaus nicht, gnädige Frau.

Mutter Kröger: Ich wollt' man mal nach 'm Rechten seh'n; ob die Anna auch alles ordentlich gemacht hat; auf die ist mitunter kein Verlaß.

Erich: Ja, bitte.

Mutter Kröger (ab in die Stube hinten rechts).

Erich: Also Adieu – apropos: von Wolf soll ich dich bitten, heute abend doch auch in den »Reichsadler« zu kommen; da wird so ein kleines Zusammensein von starken und verkannten Geistern stattfinden. Wolf sagt, es seien »Verehrer von ihm« – aber sonst weiß er ihnen nichts Übles nachzusagen –

Hermann: Um wieviel Uhr denn?

Erich: Na, so um neun.

Hermann: Ja. Ich werde wohl kommen.

Erich: Gut. (Will gehen.) Noch eins: Wann wird heute gegessen?

Hermann: Einen Augenblick. (Öffnet etwas die Thür rechts:) Wann essen wir heute, Mutter?

Mutter Kröger (hinter der Scene): Um fünf, wenn Vater vom Bureau kommt.

Hermann (zu Erich): Um fünf.

Erich: Danke. Auf Wiedersehen!

Hermann: Auf Wiedersehen.

 

10 Scene.

Hermann. Mutter Kröger.

Mutter Kröger (guckt vorsichtig herein): Ist er weg?

Hermann: Ja! 73

Mutter Kröger: Du hör mal, sag dem Menschen doch mal, daß er mich nicht immer »Gnädige Frau« nennen soll – was ist das für 'n verrückter Kram –

Hermann: Na tröste dich nur, das wird nicht lange mehr dauern, er reist morgen schon ab.

Mutter Kröger: Morgen reist er ab? Gott sei Dank. (Schnell:) Ja, hör mal, mein Junge, du mußt das nicht übelnehmen, du weißt wahrhaftig, daß mir sonst jeder ordentliche Mensch willkommen ist; aber der ist mir unheimlich. Also er reist ab, na, das ist ja schön; denn haben wir dich doch noch 'n bischen für uns allein.

Hermann (abgewendet): Nein, Mutter, ich reise mit ihm.

Mutter Kröger: Du willst – morgen mit reisen?

Hermann: Ja. (Pause.)

Mutter Kröger (hat sich auf die Kopflehne der Chaiselongue gestützt und gleitet jetzt auf diese nieder. Mit großer Milde): Hermann! Nu komm mal her und laß mich mal mit dir reden!

Hermann (gequält): Ja, Mutter, was soll das Reden –

Mutter Kröger (mit schmerzlicher Energie): Hermann, du wirst doch wohl noch eine Viertelstunde für deine Mutter übrig haben!

Hermann (geht schweigend nach rechts und setzt sich neben sie).

Mutter Kröger: Sieh mal, Hermann, warum kannst du nun nicht bei uns bleiben – was, Junge, kriegst du auch schon graue Haare? Du wirst ja wohl ebenso früh grau wie deine Mutter. Ich war schon mit dreißig Jahren ganz grauschimmelig. – Sieh mal, warum kannst du nu nicht ebenso gut bei uns bleiben; wir machen dir das hier so gemütlich wie nur möglich, du kannst bloß befehlen, du 74 kannst hier oben ganz dein Reich für dich alleine haben und kannst hier studieren und arbeiten, soviel du willst.

Hermann: Liebe Mutter, das weiß ich ja alles.

Mutter Kröger: Ja, und giebt es hier denn garnichts, was dich so'n bischen halten kann? Deine alten Eltern – na ja, das weiß man ja, wir alten Leute sind euch Jungen langweilig, das ist nun mal nicht anders; wenn die Kinder ihr Gutes empfangen haben, dann sind die Eltern überflüssig –

Hermann: So mußt du nicht reden, Mutter –

Mutter Kröger: Ach, lehr du mich das junge Volk kennen; wir haben's ja auch nicht besser gemacht, als wir jung waren. Aber sieh mal, du willst dich doch auch mal verheiraten –

Hermann: Das ist noch sehr die Frage –

Mutter Kröger: Na, mein Junge, da kenn' ich dich nu besser! Wenn man die Rechte kommt –!

Hermann: Ja, wenn sie aber nicht kommt!

Mutter Kröger: Na das woll'n wir doch erst mal abwarten! Was meinst du z. B. zu Therese Schumann –

Hermann (lächelnd, will aufstehen): Aber liebe Mutter –

Mutter Kröger: Na na, bleib doch man sitzen; ich hab ja noch mehr. Sieh mal, da ist doch auch Clara Hendrichs –

Hermann: Clara Hendrichs? Die denkt gar nicht an mich!

Mutter Kröger (herausplatzend): Na, das weiß ich nu besser!

Hermann: Wieso? Was weißt du?

Mutter Kröger (in großer Verlegenheit): Ich? Ach Gott 75 – ich – ich weiß garnichts – was soll ich denn wissen – ich meine bloß: Denken thut sie doch wohl mitunter an dich –

Hermann: Ja, was nützt mir das? Sie will aber nichts von mir wissen. Sie behandelt mich so schnöde wie möglich.

Mutter Kröger: So, thut sie das? – Hm. – Na ja, das hab' ich freilich auch schon bemerkt.

Hermann: Jedenfalls interessiert sie sich mehr für Goßler als für mich.

Mutter Kröger: Für den Schlapprian??

Hermann: Na, erlaube mal, Mutter, es haben schon Damen genug an Herrn Goßler Gefallen gefunden –

Mutter Kröger (sich besinnend): Jaa – das ist ja am Ende Geschmackssache – und die Deern, die Clara ist ja auch mit einemmal ganz verändert, seit deine Freunde hier sind. Sie redet auch schon ganz appeldwatsch. Da siehst du, was deine Freunde anrichten. Früher hat sie anders von dir gedacht, das weiß ich. Und ich meine entschieden, du solltest noch nicht die Hoffnung aufgeben!

Hermann: Ja sieh, Mutter, darin denk' ich nun anders. Wenn ein Mädchen mich malträtiert, dann stelle ich sofort meine Bemühungen ein. Dazu bin ich zu stolz.

Mutter Kröger: Ja, das weiß ich, du bist 'n Dickkopp. Da, wo's nicht nötig thut. Bei anderer Gelegenheit läßt du dich dann wieder um'n Finger wickeln.

Hermann (sanft): Na, das ist nun alles ganz einerlei, Mutter, alles Reden hilft nichts, ich habe Goßler mein Wort gegeben, und das muß ich halten.

Mutter Kröger: So. – Ja, lieber Hermann, dann 76 muß ich dir ja noch was sagen. Etwas, was mir sehr schwer wird – ich wollte es dir eigentlich nicht sagen – aber es muß doch wohl sein. – Sieh mal, du mußt nicht glauben, daß wir uns noch so gut stehen wie früher. Das bischen, was wir uns zurückgelegt hatten, das ist so ziemlich für dein Studium draufgegangen, und noch dazu hat dein Vater 6000 Mark durch 'ne Bürgschaft verloren. Aber das wär ja alles noch nicht so schlimm: wir würden uns wohl durchhelfen und könnten auch wohl Hans noch was Ordentliches lernen lassen; das Schlimme ist, daß sie deinen Vater pensionieren wollen.

Hermann: Pensionieren?

Mutter Kröger: Ja, sein Gedächtnis ist nicht mehr so wie früher, das hast du wohl auch schon bemerkt.

Hermann: Ja ja, er wiederholt sich oft.

Mutter Kröger: Er will es ja natürlich nicht wahr haben; aber da läßt sich nichts gegen sagen, das ist so. Daß deine kleine Schwester damals gestorben ist, das hat ihn so mitgenommen; er hatte sich ja immer so sehr 'ne kleine Deern gewünscht. (Trocknet sich die Augen.) Und sieh mal, wenn sie ihn pensionieren – er ist ja noch gar nicht alt – denn kriegt er kaum ⅔ von seinem Gehalt.

Hermann: Hm.

Mutter Kröger: Und denn – sieh mal: mit deinem Vater ist auch nicht leicht umzugehen, das kannst du dir wohl denken; er ist mitunter recht wunderlich – die Geschichte wurmt ihn ja natürlich – sag man ja nicht, daß ich mit dir davon gesprochen hab'.

Hermann: Nein nein.

Mutter Kröger: Und mit Hans – Gott, er ist ja 77 'n herzensguter Junge; aber er ist so recht in den großbrodigen Flegeljahren, weißt du; an dem hab ich auch genug zu zügeln – und die Anna – fleißig ist sie ja, darum behalt ich sie ja; aber sie vergißt auch immer die Hälfte, das heißt aus Fahrigkeit; wenn sie will, kann sie ihre Sachen sehr gut machen –

Hermann. Ja Mutter, warum erzählst du mir das alles.

Mutter Kröger: Sieh mal, Hermann, da steh ich doch nun so ganz allein dazwischen; da hab' ich gehofft, ich könnte an dir 'ne kleine Stütze haben –

Hermann (milde): Liebe Mutter – du hast noch soeben selbst gesagt, daß die Jungen sich nicht an die Alten binden können –

Mutter Kröger: Du –

Hermann (fortfahrend): – daß ihr es auch nicht gethan habt –

Mutter Kröger: Du willst also nicht?

Hermann: Ich will mir die größte Mühe geben, Geld zu verdienen, damit ich euch unterstützen kann –

Mutter Kröger: Nee nee, das laß man, denn werden wir wohl auch noch ohne dich fertig –

Hermann: Mutter, deine Worte haben es mir ja eben so deutlich gezeigt, wie die kleinlichen Sorgen und Misèren mich von allen Seiten umklammern würden – in einem einzigen Jahre wäre ich eingekapselt und mein Leben für immer entschieden. Wenn ich diesen Stimmen erst nachgebe – nachher komm ich immer schwerer los, das weiß ich. Und ich muß doch los! (Steht auf und geht umher.) Ich muß doch dabei sein bei all den großen Dingen, die sich im Leben da draußen vorbereiten. Ich habe ja noch 78 so wenig vom Lebensmeer befahren! Da ist ja noch so unendlich viel zu lernen, zu verstehen, zu begreifen; aber das kann ich nur, wenn ich frei bin, ganz frei! (Erklärend:) Sieh mal, ihr alten Leute wollt Ruhe und Behaglichkeit, und das ist euer Recht. Aber wir jungen Leute wollen ja gerade da sein, wo's am tollsten hergeht! Weißt du noch: wie wir Jungen! Am Strand! Wo die Wellen am tollsten brandeten: da mußten wir sein mit unserm Boot – oder beim Baden! Hach, war das wunderschön, wenn einen die geheimnisvolle Riesenkraft so auf ihren Armen wiegte!

Mutter Kröger: Ja, da hab ich auch Angst genug ausgestanden, daß du mal ertrinken könntest. – Und ebensolche Angst hab ich jetzt auch.

Hermann: Aber Muttchen, ich geh ja nicht aus der Welt!

Mutter Kröger: Wenn du mit dem gehst? Denn hast du uns bald ganz vergessen. Der will wohl dafür sorgen!

Hermann: Aber nein, Mutter – (setzt sich wieder zu ihr.)

Mutter Kröger: Geh man, geh man. Reisende Leute soll man nicht aufhalten.

Hermann (schmerzlich): Mutter, so mußt du nicht zu mir reden!

Mutter Kröger: Ja, dann mußt du auch nicht so gegen uns handeln! – (Bricht in Weinen aus.)

Hermann (tief bewegt): Mutter, laß das Weinen – ich kann dich nicht weinen sehen!

Mutter Kröger (langsam von ihrem Schnupftuch aufsehend, zärtlich): Nein? – – Ist das wahr, Junge? Magst du deine Mutter nicht weinen sehen? 79

Hermann: Aber Mutter – –. (Pause, während der sie ihn liebevoll betrachtet.)

Mutter Kröger: Dann geh mit Gott, mein Junge, (küßt ihn auf die Stirn) dann geh mit Gott! – Ich will dich nicht halten! Wer weiß, wozu es gut ist!

Hermann: Ja Mutter, wer weiß! Aber hier gefangen sitzen für immer, das wäre das Unglück, das weiß ich!

Mutter Kröger: Ja? – Nein, dann – um Gottes willen nicht – wenn ihr Jungens unglücklich seid – (mit einem tiefen Seufzer:) was haben wir Alten dann noch?

Hermann: Mutter – du gute alte Mutter! (Stürmisch:) Sieh, ich verspreche dir –

Mutter Kröger (furchtsam): Nichts! – Nichts versprechen! Wenn es nachher nicht gehalten wird, das ist so traurig! (Sie hat ihre linke Hand mit seiner rechten verflochten und blickt sinnend ins Weite.)

 

Der Vorhang fällt langsam.

 


 


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