Otto Ernst
Himmel voller Geigen
Otto Ernst

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Herkules Meiers Gedichte.

Mein verehrter Freund!

Sie haben's auf dem Gewissen. Lange genug hab' ich gezaudert, meine Gedichte dem Momus auszuliefern. Sie wünschten, Sie verlangten, Sie befahlen es, Sie wurden schließlich unangenehm. Nun ist es geschehen. Was daraus folgt, komme über Sie.

Sie wissen: es war nicht die so beliebte und weitverbreitete Bescheidenheit, was mich zaudern ließ. Mein Chef – Sie kennen das liebe Nichts, dieses Mittelglied zwischen Kontorbock und Federhalter – hat mir oft meine Anmaßung vorgeworfen. Er gehört zu den Beneidenswerten, die sich einen selbstverfaßten, orthographisch geglückten Küchenzettel so lange selbst vorlesen, bis sie ihn für ein Goethesches Gedicht halten, und sich über eine aus eigener Kraft erzeugte Zimmervermietungsannonce so intensiv und extensiv freuen können, daß die Schöpferfreude des Hamletdichters dagegen der reine Katzenjammer gewesen sein muß. Sie begreifen, daß der meine Dichterschaft nicht anerkennen kann; er würde sich von Dante die Divina commedia zur verbessernden Durchsicht erbeten haben. 38

Was mich zaudern ließ, war die Furcht vor dem Lob ohne Herz, dem Spott ohne Liebe, dem Neid ohne Kraft, dem Haß ohne Gesinnung. Ich hörte sie heranplätschern, die trübe, riesige Welle, die mich bespritzen sollte: . . . . Klatsch! . . . Klatsch! . . . Mich schauderte. Ohren und Zungen der Narren und Schufte stehen in elektrischer Verbindung; ja, sie greifen ineinander auf Wort und Wink wie ein »Mühlwerk«, das ein Buch – oder einen Menschen zerstampft! Und dann – wer in Stunden banger Versunkenheit sein Herz mit Hammerschlägen des Zweifels versucht, dem antwortet nicht immer der klare, metallene Klang der Kraft. War es dennoch eine Art Bescheidenheit, was mich zaudern ließ?

Wie ich einen Verleger fand. Der erste, den ich anging, wollte das Buch in Kommissionsverlag nehmen. Ich sollte die Herstellungskosten tragen und bei etwa ausbleibendem Erfolg nur eine einmalige Entschädigung von fünfhundert Mark zahlen. Dafür wollte sich der Mann mit der Hälfte des Gewinns begnügen und den Umschlag für die Anzeige pikanterer Lebemänner-Literatur freigehalten wissen. Hohes Honorar versprach er mir für den Fall, daß ich ihm ein medizinisches Buch über die Ehe schriebe. Ob ich nichts dergleichen liegen hätte? usw. Ich schrieb ihm, daß die Entschädigung nur einmal zu fordern eine unverantwortliche Großmut von seiner Seite sei; ich würde sie ihm jedesmal zahlen, wenn meine Gedichte nicht gekauft würden, und nach seinem etwaigen Tode die Versorgung seiner Witwen und Waisen übernehmen. Auch würde ich nicht eher ruhen, als bis er sich 102 Prozent vom Gewinn berechne. Was das medizinische Werk betreffe, so könne ich als Nationalökonom 39 ein solches erst in 14 Tagen zur Verfügung stellen; ich sei indessen unverzüglich daran gegangen, die Psychopathia sexualis von Krafft-Ebing für die Eisenbahn zu bearbeiten. Sobald diese Bearbeitung in einer Auflage von 10 000 Exemplaren hergestellt sei, würde ich ihm meinen Besuch machen und sie ihm einzeln zu verzehren geben.

Ein zweiter, dritter und vierter Verleger hatten, da sie anständige Leute waren, nicht den Mut, mir solche Vorschläge zu machen; aber sie hatten, da sie praktische Leute waren, noch weniger den Mut, mein Buch anzunehmen.

Mut gehört, wie Sie wissen, dazu, Gedichte zu verlegen. Denn was wird das Schicksal meines Buches sein?

Der Verleger wird an diesen und jenen Sortimenter ein Exemplar »zur Ansicht« senden. Der Sortimenter wird das Exemplar gewissenhaft ins Schaufenster stellen. Dort wird es hervorleuchten aus einer langen Reihe von Büchern über die Philosophie des Cartesius, die Trichinose, die Aussprache des Altpersischen und die Freßwerkzeuge der Blattlaus, hervorleuchten mit dem Titel: »Erloschene Sonnen. Von Herkules Meier«.

Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht werden an ihm vorüberwandeln.

Düstere Regentage werden kommen, und durch die am Ladenfenster senkrecht herabgleitenden Himmelstränen werden wehmütig lächeln die »Erloschenen Sonnen von Herkules Meier«.

Dann einmal wieder wird die Sonne mit sengender Glut scheinen; das Rot oder Grün des Buchumschlags wird sich in ein unbestimmbares, kränkliches Blaß-Rosa oder in ein cholerisches Gelb-Grün verwandeln; die Blätter werden sich 40 knisternd recken und krümmen und sich an den Ecken sehnsüchtig zurückbiegen, nachdem sie so lange vergeblich gehofft, daß eine erlösende Hand sie wende.

Nach zwei Jahren wird der Verleger, der 200 Exemplare versandte, 201 Exemplare als unverkäuflich zurückbekommen. Dann wird er ärgerlich werden; er wird die ganze Auflage von 1000 Exemplaren für 53 Mark an einen Antiquar verramschen. Der wird mit Blaustift und in dicken, groben Buchstaben auf den Umschlag schreiben: Neu!! Statt 5 Mark nur 50 Pfennige! Neu!! – und das Buch ins Antiquitätenfenster legen.

Und wieder werden »Jahre kommen und vergehen«. Meine »Erloschenen Sonnen« rühren sich, wie es Fixsternen geziemt, nicht von der Stelle; es sind Gedichte von bleibendem Wert.

Endlich geraten sie an einen Karrenantiquar, der sie nach Gewicht gekauft und für 1½ Pfennig erworben hat und der auf dem Sonntagsmarkt zwischen einer Riesendame und einem Schwein mit drei Schwänzen steht. Hier ergreift ein armer Schneidergeselle, der nach seiner Geisteskonstitution eigentlich ein Kultusminister sein sollte und der seine spärlichen Sonntagsgroschen für Lektüre anwendet, die »Erloschenen Sonnen von Herkules Meier«, blättert darin, fühlt sich durch Gott weiß was angezogen und ersteht sie für 20 Pfennige. Der brave Schneider setzt sich ans offene Fenster seiner Dachkammer; er liest; sein armseliges Wochendasein schwindet ihm unter den Füßen fort; er läßt das Buch sinken und blickt stillen Auges hinauf in den Sonntagshimmel einer höheren Hoffnung, an dem eine noch nicht erloschene Sonne 41 glänzt. So feiere ich im Herzen des Schneidergesellen meine literarische »Rettung«. Wir wollen es wenigstens hoffen.

Und dennoch fand ich einen Verleger! Spät war's, im rauchig-traulichen Dämmer der Weinstube. Mit meinem Freund, dem Buchhändler Moses Friedenthal, saß ich beim sauren Glas. Vor kurzem hat er sich mit einem kleinen Vermögen etabliert. Mit unterdrücktem Feuer flüsterte ich ihm meine jüngsten opera zu, zum Exempel den

          Hymnus an die Bäume.

O meine Bäume!
Seit meiner Kindheit ahnenden Tagen
Sprech' ich zu euch, ihr edlen Vertrauten,
Sprech' ich in stummer, geheimer Sprache,
Und ihr versteht mich
Und atmet mir Antwort.

Wenn von euren dunklen Wänden
Meine Seele widerhallt –
Wie wehende Andacht
Verschwiegener Hallen,
Wie heiliges Grauen
Verlassener Tempel
Faßt es mich an.

In reiner Frühe such' ich euch
Erquickten Auges,
Und sieh: in euren Zweigwinkeln lauschen
Tage der Kindheit;
Auf euren Wipfeln wiegen sich
Tage der Wandrung. 42

Aber am sinkenden Abend,
Wenn silberne Elfenluft durch eure Zweige blickt
Und Birkenschleier im Mondlicht hangen,
Wenn der leuchtende Himmelswandrer
Mondhingewandte Seelen bindet
Mit saugendem Licht,
Dann hangen an euren Stämmen
Schatten der Schwermut,
Und im Gewirr eurer Zweige
Leuchten und dunkeln Geheimnisse
Wie in der Brust erhabener
Gottversunkener Seelen.

Wie oft, wenn drängende Mittagsglut,
Mit tausend Pfeilen das Haupt umschwirrend,
Zur Qual mir ward,
Fand ich zu euren Füßen
Hundertjährigen Schatten,
Der die Sinne schmeichelnd befängt
Wie hundertjähriger Wein,
Dann, ein Sohn der Verheißung,
Lag ich träumend an eurem Fuß,
Ihr grünen Himmelsleitern,
Und an euren Aesten stiegen auf und nieder
Himmlische Hoffnungen.

Euch, ihr Bäume,
Acht ich des Schöpfers
Göttlichste Kinder. 43
Ihr wart vor uns Lebenden,
Und eure Kronen bewahren
Vergangenes in rätselvoller Sprache –
Ihr werdet nach uns sein,
Und euer Innres
Hegt Keime der Zukunft
In ernstem Schweigen.
Und unbekümmert
Um Vergangenes und Künftiges,
Spendet ihr, Wissende,
Frucht und Schatten,
Duft und Schönheit.

In schweigender Hoheit
Wachst ihr empor
Ueber der Menge Geschrei und Gewühl,
Und überhebt euch nicht,
Neigt euch milde
Zu den Menschen
Und blickt fromm
Zu nächtlichen Sternen.

Menschen, die ihr mich liebt,
Pflanzt Bäume mir auf das Grab,
Daß ihre Wurzeln meinen Leib umfangen
Wie sorgende Arme
Und ihre Häupter, sich neigend, mir singen
Von Lenzen, die ich ersehnt
Und nicht mehr geseh'n.

44 Schluchzend umarmte mich Moses: »Du kannst keinen Verleger finden? Gut, so will ich es sein!« rief er mit einem Heroismus, der mich lebhaft erschreckte und für den Augenblick völlig ernüchterte. Ich wehrte mit beiden Händen seine Opferwilligkeit ab. »Ich will dich nicht verderben!« rief ich. Umsonst; er ließ nicht nach. Da – Sie wissen, daß der Wein ein unverbesserlicher Sanguiniker ist – mit einem zur unsichtbaren Decke emporgeseufzten »Wer weiß?« legte ich meine Hand in die seine.

Am andern Morgen eilte ich zu meinem Freunde. Mich reute meine Einwilligung um seinetwillen, und ich erbat mein Wort zurück. Ich machte mein geliebtes Buch so schlecht, als wäre ich der Dichter eines anderen Buches. Was entgegnete er? Er werde mir seine Freundschaft aufsagen, wenn ich ihm nicht bald das Manuskript einhändigen würde. Was denken Sie von einem Lyriker, zu dessen Erstlingswerk sich ein Verleger drängt? Und was denken Sie erst von einem solchen Verleger?

Es kamen die Korrekturbogen. Stellen Sie sich einen Rothschild, einen Jay Gould oder Vanderbilt vor, der seinen Reichtum in Pfennigen, nein: in Kaurimuscheln nachzählen soll! Freilich bin ich viel zu bescheiden, mich für einen poetischen Millionär zu halten; aber so reich fühlt' ich mich mindestens, als ich meine Verse gedruckt sah. Ich zählte und kontrollierte meinen Reichtum Buchstaben für Buchstaben.

Ohne Zweifel bestraft Asmodi alle Versifexe im Jenseits mit Einzelhaft und unausgesetzter Korrektur ihrer eigenen Verse. Bei dieser Aufgabe fiel es mir eiskalt und schwer aufs Herz: Deine »Erloschenen Sonnen« sind ja das ledernste, 45 langweiligste, geisttötendste, unausstehlichste Zeug von der Welt! Und das willst du in die Welt hinausschicken.

Da flüsterte Jean Paul mir zu: Der Furchtsame erschrickt vor der Gefahr, der Feige in ihr, der Mutige nach ihr. Sofort war ich entschlossen, nach ihr zu erschrecken.

»Drei Tag' und Nächte saß ich so verzagend wie einer, den der Wahnsinn hat gebunden, in grimmigem Zorn an eignen Versen nagend«, und nur ein flüchtiges Lächeln der Erquickung glitt über meine Züge, als ich auf Seite 79 die Entdeckung machte, daß der Setzer es für richtiger gehalten hatte, einen meiner lyrischen Helden statt in die Wüste in die Würste zu verbannen.

Ein Pseudonym zu wählen schlugen Sie mir vor. Sie haben ja recht, der Name Meier ist die Negation aller Poesie. Und nun gar Herkules Meier! Schon bei der Taufe ironisiert den Dichter die Welt. Stellen Sie sich vor, wieviel länger Goethe zum Berühmtwerden gebraucht hätte, wenn er Meier geheißen hätte. Allein, ich habe mich darauf kapriziert – ein treffliches Wort! Kommt es nicht von caper, der Bock? – nun gerade bei meinem Namen zu bleiben. Wenn meine Poesie nicht den Namen Meier übertönen kann, soll sie der Teufel holen.

Einen großen Namen solle ich meinem Buche voransetzen, meinten Sie. Ich könne das unbeschadet meiner Ehre tun, und es könne immerhin nützen. Ich bin stolz darauf, nie ein Schützling gewesen zu sein. Wenn mich der Kaiser von China zu seinem Schützling machte, so würde er zweifellos verlangen, daß ich die Welt aus schiefgeschlitzten Augen betrachtete, und das ist mir, ehrlich gestanden, rein unmöglich. Und was würde er gar erst sagen, wenn meine 46 astronomischen Raumvorstellungen mir es nicht gestatteten, sein Reich für das der Mitte zu halten! Kurzum: und wenn der Sohn des Himmels mich zu seinem Premiermandarin machte und ich sollte nach seiner Pfeife tanzen, indem ich zu seinem Tanze pfiffe – so würde ich lieber vor seinem allerhöchsten Protektorat bis in die äußerste Finsternis mich flüchten und meinen liederreichen Mund im Heulen und Zähneklappen üben.

Und doch leuchtet meinen Liedern ein Wort voran, das ein Name über alle Namen ist. Auf einem schönen weißen Blatt ist mit wenigen Lettern die Liebe genannt. Und die Liebe heißt Maria.

Es ist mir zu immer größerer Gewißheit geworden, daß sie gar nicht anders heißen kann; denn diesen Namen führt die Tochter meiner Wirtin. Wenn sie in mein Zimmer tritt, die Reinliche, Schlanke, das Tassenbrettchen in der Hand, dann jubelt's mir wie Kinderstimmen durch die Brust, legt es sich mir mild wie Mutterhände aufs Haupt. Denn weich und tief ist der Glanz ihrer Augen; Lieblichkeit umfließt ihre Wangen wie Morgenröte, ihr Haar duftet wie Maiengrün. – – – – – –

In glüh'nden Worten,
In Liedern meist
Hab' ich gejubelt,
Wie schön du seist.

Du sahst im Spiegel
Dein Angesicht
Und glaubtest lächelnd
Dem Schwärmer nicht. 47

Wie sollte der Spiegel,
Das kalte Glas,
Dir sagen, was ich dir
Vom Antlitz las!

Ein Schlag des Herzens
In deiner Brust,
Ein leichter Seufzer,
Dir unbewußt,

Ein Hauch der Liebe
Von deinem Mund
Tut deine Schöne
Bezaubernd kund.

Wie Sonnenschimmer,
Wie Windeshauch,
So naht der Zauber,
So flieht er auch.

Und kaum geschwunden,
Erfüllt er ganz
Dein Antlitz wieder
Mit neuem Glanz.

Doch nur dem Auge,
Das sorgsam wacht
Ob deinem Leben
Bei Tag und Nacht, 48

Das selbst die Flammen
Der Sehnsucht zeigt,
Wenn's tief sich über
Dein Antlitz neigt –

Nur ihm begegnet
Rein und ganz
All deine Schönheit
In flüchtigem Glanz.

*

Sonntags nachmittags sitze ich junger Kerl in einem großen Sorgenstuhl; neben mir auf einem Schemelchen, gegen meine Knie gelehnt, sitzt Maria. Es sind unsere einzigen Feierstunden in der Woche. Wir atmen ein Gedicht mit schweigend gefühlten Rhythmen, mit stummen Worten und Reimen, die aber doch fort und fort klingen, bis die Dämmerung langsam aus dem Winkel emporwächst. Ja, sie klingen noch durchs Dunkel mit heimlich umfangendem Zauber.

Vor meinem Fenster dehnt sich ein langer, langer Pferdestall aus, lang wie die Langeweile, eine öde Steinfläche, nur selten unterbrochen von winzigen Fenstern, die gerade so viel Licht einlassen, wie es treue Freunde und Lasttiere der Menschheit brauchen, und aus denen die Sperlinge unaufhörlich einen Strohhalm nach dem andern hervorziehen. Ueber das Dach des Stalles aber ragen die Spitzen dreier Bäume. Am Abend streben sie still und andächtig in die Luft empor; die Sonne stirbt in ihren Zweigen, und der 49 Wolkenschleier, der sie umflatterte, zerfließt in leuchtendes, heiliges Blut. Am Tage aber nicken sie mit einem vertrauten, sonnigen Lächeln her. Dann spielt um ihre Zweige ein Etwas, das der Phantasie zuruft: Komm herüber und schaue!

Ein unermeßlicher Reichtum sind uns die drei Wipfel! Denn Maria und ich meinen nicht anders, als daß sie der sichtbare Anfang eines herrlichen, unendlichen Parkes sind. Da schluchzen und jauchzen in Bäumen und Büschen zahllose Nachtigallen. Da sind gründunkle Laubverstecke, so schattenmild, so duftend freundlich, daß man ein ganzes Liebesleben in ihnen verträumen und wähnen möchte, die Seele wäre nur hier daheim. Von fernen Springbrunnen hört man den Wasserstrahl klingend ins Becken fallen. In der Nähe mag's nur ein einfaches Klingen sein, durch die dichten Laubwände aber weht's herüber wie Gesang von Seligen:

Wenn die linden Abendlüfte
Ueber unsre Fluren wehen,
Wollen wir durch süße Düfte
In den stillen Garten gehen.

In langen Zwischenräumen tut der Park einen Atemzug. Dann hebt im Grunde, unten am See, ein Säuseln an; ein Klingen wird's in den schlanken Tannen, ein Brausen in den hundertästigen Eichen, und vom zarten Laub der silbernen Birke tropft es, in letzten Tönen verhallend, auf den Rasen nieder.

Eines Tages springt klirrend das riesige Parktor auf. Ein lachender, lärmender, prangender, schwärmender 50 Hochzeitszug in prunkendem Kleide von Gold und Seide, vom Taumel festlicher Lust getragen, hält seinen Einzug zu Roß und Wagen. Jubelnde Fanfaren schmettern in die Blätternacht der Bäume hinauf. Die breiten Wege glänzen von goldenem Kies, als wären sie mit greifbarem Sonnenschein bestreut. Auf blanken Rossen dem Zug vorauf reitet das Brautpaar, reiten Maria und ich. Da dunkelt aus schimmernden Apfelblüten ein ehrwürdiges Portal; der Blick fliegt aufwärts; grau und düster türmen sich Mauern und Zinnen auf – und doch muß es traut und wohnlich hinter diesen Wänden sein. Ein gigantischer Wächter, mit einer Keule bewehrt, empfängt uns in der kühlschattigen Steinlaube – »Kenilworth!« fällt es träumerisch von meinen Lippen. –

»Kenilworth?« erwidert fragend Maria, die auf dem Schemel zu meinen Füßen sitzt.

Seltsam! Sie versteht mich gleich; denn sie träumt immer dasselbe wie ich, und wenn meine Lippen auf den ihrigen ruhen, fühl ich, daß ihr Kuß eine Antwort ist. Sagen Sie mir: muß sie nicht mein Weib werden?

»Kenilworth? Wirst du mich auch verlassen, wie jener Graf sein Weib, wenn Glanz und Gnade dir winken?«

»Glanz und Gnade winken mir nicht, und ich werde dich nie verlassen.« –

Nach wilder, hetzender Gedankenfahrt
Kehr' abends ich zurück in deine Arme,
Die Augen müd vom heißen Tageslicht,
Die Seele voll von ungestilltem Harme. 51

Und wieder fuhr ich früh am Morgen aus;
Die Hoffnung wehte stark und frisch vom Lande –
Und wieder bring ich kaum mich selbst zurück,
Und wieder liegt mein Boot zerschellt am Strande.

Mir logen um die Wette Meer und Wind;
Mir log ein Stern – ein leuchtender Gedanke! –
Um mich zu retten aus der Zweifel Wut,
Umkrallt ich meinen Trotz – die letzte Planke.

Und nur bei dir kein Zweifel! Denn gewiß:
Du wünschtest mich zurück mit heißem Sehnen;
Und lieg' ich einmal still und bleich am Strand,
Gewiß: du netzest mich mit reichen Tränen.

Nur hier ein Port, ein Hort, ein Ankergrund,
Ein Licht, das ruft! Durch Schlamm und Schaumgestiebe!
Bei Menschenkindern suche Bessres nicht
Als eines starken Weibes ganze Liebe.

*

Die »Erloschenen Sonnen« liegen also fertig vor mir. Sollte wohl eine Hochzeit auf »Kenilworth« dabei herausspringen?

Ihr

H. M.

*

Bester Freund!

Wie mein Buch in der Gesellschaft aufgenommen wurde, soll ich Ihnen ausführlich schreiben? Warum nicht? Sie wissen, daß ich entsetzlich zarte Nerven habe, die auch Wirkungen aus der Ferne mit großer Deutlichkeit und Geschwindigkeit ans Zentrum befördern.

Als ich kurz nach dem öffentlichen Erscheinen meines Buches eines Morgens wie immer das Amtszimmer betrat, hatte sich plötzlich die Luft zwischen mir und meinen Kollegen in einen festen Körper verwandelt. Sie konnten nicht herüber zu mir, ich nicht hinüber zu ihnen. Nicht, daß sie mir nicht die Hand gegeben hätten wie immer! Aber natürlich! Aber ich bemerkte deutlich in ihrem Gesicht einen beständigen Wechsel, ein gewisses Anlaufnehmen und ein albern lächelndes Sichzurückziehen, als wäre mir ein uneheliches Kind geboren und sie sollten mir anstandshalber gratulieren, während sie es anstandshalber doch nicht dürften. Ich fühlte, daß ich in die Kaste der Seiltänzer, Bauchredner und Feuerfresser eingetreten sei. Denn ein Dichter – zum Totlachen! – sozusagen ein Kollege von Schiller konnt' ich doch nicht sein wollen, ich, der ich mit Kollege Schulz, Schmidt, Müller usw. meine Feder in dasselbe Tintenfaß getaucht, meine Hände in demselben Becken gewaschen hatte! Ihr verstohlenes Grinsen sprach die Erwartung aus, was für einen Ulk es geben werde, wenn sie beim Bier meine Verse lesen und weitergeben würden; denn ganz unfehlbar war es ein ebensolcher blühender Unsinn, wie er im Briefkasten ihres Familienblattes so belustigend wiedergegeben und verulkt zu werden pflegte. 53

Am Nachmittage endlich war einer so liebenswürdig, von dem Erscheinen meines Buches Kenntnis erhalten zu haben. Er war nämlich der Frechste von allen.

»Na, Sie haben ja wohl ›Gedichte‹ erscheinen lassen, Herr Kollege?«

»Richtig. Das habe ich.«

»Hähä, gratuliere herzlich!« und die andern folgten nach.

»Was kosten denn die Dinger? Möchte sie mir doch auch 'mal ansehen.«

Sie wissen, daß ich nur selten grob werde. Ich nannte den Preis.

»Teufel, das ist aber teuer! Na, wir kriegen wohl jeder ein Buch geschenkt?«

»Nein. Denn Sie würden sich noch viel mehr darüber lustig machen, als wenn Sie's bezahlt hätten.«

»Oh – ah – Herr Kollege, hähähä, wie können Sie so etwas sagen, hähä!«

Und in einem allseitigen (auch meinerseitigen) ungeheuer gemütlichen Gelächter fand die Unterhaltung ihr Ende.

Zu Hause fiel mir dann das Folgende ein:

                        Der Gekrönte.

Von eines kunstgeweihten Tempels Stufen
Stieg er herab: der Sieger im Gesang.
Im abendlichen Dunkel dicht gedrängt,
In langen Reihen harrte sein die Menge.
Wohin er lächelnd schritt, da brandete,
Brausend im Anprall, die Begeisterung;
Der Fackeln Glut umflog die hohe Stirn
Ganz wie das düstre Flackerlicht des Ruhms. 54

Und mit ihm ging die Woge ihres Zurufs
Und trug ihn wie auf holdbewegter Flut.
Erstiegen war der Gipfel – und vergessen
War das verschwiegene Elend langer Jahre,
Sein nie belohntes Ringen um den Preis,
Der Massen Stumpfsinn, Niedertracht und Hohn.
Des Volkes Gunst erhob ihn über alle
Und trug ihn nun gewiß zum sichren Hafen.

Und wie er dankend, lächelnd schritt dahin,
Hört' er Gelächter neben sich – Gelächter . . .
Hört' er dergleichen nicht in frühern Tagen?
Und einen Mann erblickt' er bald, bedrängt
Von einer Schar von Spöttern. Und sie riefen:
»He, Freundchen, schau: so sieht ein Dichter aus!
Betracht ihn recht! Allein, wie ist mir denn?
Du bist ja auch ein »Dichter«! Wenigstens
Glaubst du es selbst! Ja willst du denn dem Sieger
Nicht deinen Gruß entbieten? Nicht die Hand
Ihm reichen als – Kollege? Hahahaaa!«
Und lauter scholl das Lachen.
                                                  Der Geschmähte
Sah fern ins Dunkel, bleich bis in die Lippen;
Die Seele war noch jung genug zum Schmerz.

Der Sieger kannte nicht den so Verhöhnten,
Nicht seines Liedes Kraft. Allein er kannte
Vortrefflich Stimm' und Antlitz jener Edlen.
Das waren ganz dieselben breiten Fratzen,
Die in den Morgen seines jungen Glaubens
Hineingegrinst, dieselben Stimmen waren's, 55
Die ihm das reine, adlerfrohe Herz
Mit Geifer überströmt. Der Pöbel war es,
Der ungeheure, der nicht Götter hat,
Nein Götzen nur, Idole, selbstgemachte,
Und der nach vornen nicht kann beten, ohne
Mit Eselshufen hinten auszuschlagen.
Der Seele Gleichgewicht verlangt es so.
Und sah er überall nicht gleiche Züge?
Auch hier – und hier? Und solch Gesindel pries ihn
Und hob ihn jauchzend himmelhoch empor –

Da griff in des Gekrönten Herz das Heimweh
Nach seines Kummers reinen, stolzen Tagen,
Heimweh nach tiefer Nächte heiligen Schatten,
Nach ihrer Stimmen, ihrer Sterne Gruß;
Heimweh nach seines Glaubens Morgenröten,
Nach hohen Festen seiner Einsamkeit,
Nach jener Jünglingsträne, die nicht fließt,
Weil sie des Auges Glut zu rasch verzehrt,
Heimweh nach bittrem Jubel, trotziger Lust,
Nach reicher Not und königlicher Schmach.
Und Heimweh zog sein Herz zu seinen Brüdern,
Die er verlassen, die in Staub und Hunger,
Verhöhnt, verfolgt, in dunkler Tiefe keuchten,
Indessen er auf freier Höhe stand . . .

Ausstreckt' er weit die Hand, daß der Verhöhnte
Sie jäh ergriff mit dankbewegter Hast. – –

Wem hohe Kraft die Schöpferseele füllt
– Trägt auch der Menge Gunst ihn bis ans Ende –
An seiner Frühe Leiden hängt sein Herz;
Bei den Verschmähten ist sein Heimatland.

*

56 Die nächste Folgerung, die mein Chef aus dem Erscheinen der »Erloschenen Sonnen« zog, war die, daß ein Beamter, der Zeit zum Dichten habe, darüber ohne Frage seine Berufsgeschäfte vernachlässigen müsse. Ich wurde vor ihn geklingelt. Zum ersten Male hatte er verschiedenes an meinen Arbeiten auszusetzen. Jede Anklage findet bekanntlich einen Anhalt. Ich hatte mir wirklich ein kleines Versehen zuschulden kommen lassen. Einen anderen vermeintlichen Verstoß erkannte ich nicht an, weil die betreffende Angelegenheit überhaupt nicht in mein Gebiet gehöre, und einen groben Schnitzer, den der Herr Direktor selbst begangen hatte, war ich so rücksichtsvoll, ihn selbst finden zu lassen, wenn ich auch nicht so viel Subordination besaß, den Vorwurf auf mir sitzen zu lassen. Meine Schonung stimmte den etwas erschrockenen Herrn Vorgesetzten plötzlich sehr freundlich.

»Na, Sie machen auch Gedichte? Gratuliere!«

»Danke bestens, Herr Direktor.«

»Möchte sie auch 'mal sehen. Wollen Sie mir sie 'mal leihen?«

Ich lieh sie ihm, nachdem ich hineingeschrieben hatte: »Wiederverleiher erhalten Rabatt«.

Einige Wochen später große Gesellschaft beim Dr. Flint. Sie ahnen nicht, mit welchen Empfindungen ein junger Poet einen Salon betritt, in dem die Anmut in so und so vielen hübschen Seidenröcken und -bändern vorüberhuscht, -trippelt, -rauscht und -flattert. Weich umschlingt ihn ein wohlig-heimisches Gefühl; in den duftenden Luftkreis der Mütter, Gattinnen, Schwestern und Töchter drängt es ihn hin; soll ja doch hier, im Herzen des Weibes, der Altar errichtet sein, der der heimatlosen Muse die letzte Zuflucht gewährt. 57

Als ich beim Dr. Flint eintrat, suchte mein Blick die beiden Leonoren, die mir den lockenversengenden Kranz auf den Scheitel drücken würden. Eine Art Leonore von Este, eine gereifte Senatorentochter, erwidert meinen untertänigen Gruß mit einem gnädigen Lächeln.

»Ihre Gedichte, Herr Poet, habe ich mit Interesse gelesen; aber eines ist mir aufgefallen: es sind fast lauter so kurze Zeilen (sie zeigte die Länge mit den Fingern), finden Sie das nicht auch?«

»Ich sehe darin einen Vorzug, gnädiges Fräulein. Dem feinempfindenden Leser ist so Gelegenheit gegeben, sich jeden Vers aus eigenen Mitteln zu verlängern. Wir Lyriker müssen immer mit der selbstschöpferischen Seele des Lesers rechnen!«

Leonore versteht mich offenbar nicht ganz; aber sie ist gerade schlau genug, um meine Erwiderung nicht für vollendet liebenswürdig zu halten und mich mit unschlüssiger Kühle zu entlassen.

Die drückt mir keinen Kranz auf den Scheitel; aber Ariost und Virgil kriegen ihn auch nicht, hihihi, den kriegt Johanna Ambrosius.

Entsinnen Sie sich meiner »Sturmphantasie«?

Ich habe darin den bescheidenen Versuch gemacht, den Dhawalagiri auf den Kandjindjinga zu türmen und mit dem Mond nach der Sonne zu werfen. Alle Schrecken des Zweifels und der Reue, die mir in schwarzen Nächten mit kaltfeuchten Krötengliedern über die Brust krochen, allen Zorn, der nach der Stimme des Donners und des Sturmwindes verlangt, hab' ich diesen Versen anvertraut. Sie waren zufrieden, und das will was heißen. Die 58 »Erloschenen Sonnen« liegen bei Flints auf dem Tisch. Frau Dr. Sanftleben liest, die zarte Wange auf drei Finger gestützt, die Sturmphantasie. Sie ist damit fertig. Langsam läßt sie das Buch sinken, sieht mich, der ich vor ihr stehe, mit Augen an, in denen entzückteste Verständnislosigkeit leuchtet, und flötet:

»Süß!«

Erst nach Minuten kam es mir zum Bewußtsein, daß ich das »süße« Frauchen mit blödsinnigem Lächeln angestarrt haben müsse. Dann aber sank es mir wohltuend vom Herzen; eine heitere Ruhe kam über mich: einen bedeutenderen Schwachsinn hatte ich von keiner Kritik zu befürchten.

Und doch konnte ich dem sanftlebigen Weibchen nicht böse sein. Ihr Kompliment war ehrlich gemeint und wirklich empfunden. Meine Sturmphantasie hatte ihr eben wie ein Brausepulver geschmeckt. Was kann sie dafür?

Schuld ist das verteufelte Ding, das man weibliche Erziehung nennt und das uns die weiblichen Menschen zu Kaninchen heranbildet.

Immerhin ist das weibliche Gemüt noch die Stätte, wo der Dichter wenigstens eine stückweise Anerkennung findet. Der weibliche Geschmack hat doch einige wenige Register: Dolcian, flûte d'amour usw. – Vox humana freilich ist von der Stimme der Unnatur fast ganz erstickt.

Und wahrlich ganz erstickt ist sie bei den Männern, seltene Vögel ausgenommen. Denn vom Bier schwellen die Stimmbänder der Seele an, und die innere Stimme wird heiser.

»Gnädiger Herr, seht Ihr diese Meteore und feurigen Dünste?« Es ist das Gesicht des Gymnasiallehrers 59 Bauchitsch, einer heiseren Bierkorpulenz von einigen vierzig Jahren.

»Unter Ihren Gedichten hab' ich einige recht nette Sachen gefunden, ja wirklich, sehr nett; aber hören Sie mal, Freundchen, Sie sind ja ein ganz unverbesserlicher Pessimiste!«

Sie glauben vielleicht, ich hätte mich über diese unsinnige Etikettierung meiner Weltanschauung entrüstet, oder doch wenigstens verwundert? Ach nein, das muß man kennen. Das Wort »Pessimismus« ist der neuste Bildungsbazillus. Wer nicht mit einem beständigen Grinsen durch die Welt läuft, wer irgendeine grunderbärmliche Sache mit ernsten Augen betrachtet, heißt ein Pessimist. Gehen Sie zu Ihrem Schuster und beklagen Sie sich über einen völlig verbauten Stiefel, der Ihnen Höllenqualen verursacht, so wird der Schuster Ihnen mit überlegenem Lächeln antworten: »Sie betrachten eben den Stiefel von der pessimistischen Seite, mein Herr!«

Wahrlich, ich sage euch: es gibt Pessimisten, die die Welt rosiger sehen als ich, der Optimist!

»Sehen Sie,« fährt mein lieber Bauchitsch fort, »was können Sie junger Mensch denn schon Schweres erfahren haben? Was soll ich denn sagen? Ich habe nun schon drei Frauen begraben –«

»Und die vierte genommen,« werfe ich ein.

»Jawoll,« – er stutzt einen Augenblick – »na, dergleichen ist Ihnen doch noch nicht passiert. Also warum so furchtbar bitter?«

»Das Bittere, verehrter Gönner, ist Galle. Ohne Galle kein Fett. Damit nun so glückliche Menschen wie Sie das viele, schöne Fett sammeln können, müssen wir Dichter Galle 60 schwitzen. Arbeitsteilung, Herr Professor, Arbeitsteilung! Begreifen Sie die feine Physiologie des Weltorganismus?«

Schon ist unsere Unterhaltung zu Ende. Ich höre noch, wie er zu einer Dame bemerkt:

»Auf diese Weise macht er sich nicht beliebt.«

Recht hat er.

Ja, edler Freund, mich beliebt machen – wenn ich das könnte! Mein Nachbar Rollwagen macht sehr mäßige Verse, das ist pupillarisch festgestellt; aber er hört nicht nur all solchen Leuten stundenlang zu, er erkundigt sich auch noch, ob die kleine Susi jetzt endlich die Mutterbrust annehme und ob die Niere der alten guten Großtante noch immer wandere. Vor allen Dingen aber besucht er mit seiner Frau alle Journalisten, Schriftsteller und Reporter und alle berühmten Dichter so lange, bis sie sich eines Tages am Fenster zeigen und nicht mehr vorgeben können, daß sie nicht daheim wären. Er ist sozusagen Zelebritätenlaus, pediculus celebrum. Und sehen Sie – das kann ich nicht! Darum nennen mich die Leute schroff und anmaßend, obwohl ich gegen sie viel bescheidener und rücksichtsvoller bin als sie gegen mich. Denn ist es nicht Rücksicht und Zartheit, wenn man sich von Menschen fernhält, mit denen man nur lügenhafterweise verkehren könnte? –

»Na, ist die erste Auflage schon vergriffen?« fragt mich ein junger, reicher Fabrikant mit naiver Unbefangenheit und ohne allen Hohn.

Der Schlingel hat natürlich nicht ein einziges Stück gekauft.

»Das muß Ihnen doch 'n ganz netten Groschen einbringen, was?« 61

»O ja!«

»Was kriegen Sie nun für so 'n Buch?«

»Für die erste Auflage 10 000 Mark und für jede weitere 15 000.«

»Schwerebrett noch 'mal! Das hätt' ich nicht gedacht!«

»O ja! Ich hoffe doch, bei dem Buch so meine 100 bis 150 000 Mark herauszuschlagen.«

»Ist die Möglichkeit! – Macht Ihnen das nun viel Mühe?«

»Nöö!«

»Djä, wie das mitunter geht, nich? Z. B. Sudermann mit seiner ›Ehre‹, nich?«

»Ja, und das ist 'n Drama! So 'n Gedicht macht sich ja noch viel schneller.«

»Dscha. – Dscha, ich hab 'n Jungen, der Satan will in der Schule partout nich weiter. Sitzt schon das dritte Jahr in der Tertia. Aber Theaterstücke lesen, das mag er. Na, wer weiß! Schließlich ist es noch gar nicht 'mal so dumm, sich auf die Dichterei zu werfen!«

»I, wie sollt' es wohl! Wenn mit solchem jungen Mann nicht recht was anzufangen ist – immer 'rin in die Literatur – hahahaha . . .«

»Hahahahahahaha . . .!«

Der junge Fabrikherr ist eine glückliche Natur. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung verzehrt er, ohne sie näher anzusehen; er lacht aus vollem Herzen; ich lache mit vollem Herzen.

Professor Büblein, Vorsteher eines Töchterpensionats, hat vornehmerweise überhaupt nichts von meinem Buche läuten hören. Dieses grause Schicksal teile ich mit sämtlichen 62 literarischen Größen der letzten sechs Jahrzehnte. Bübleins Literaturgeschichte endet mit dem 22. März 1832, mittags. Er hat vom lieben Gott die ganz bestimmte Versicherung erhalten, daß in einer erheblichen Anzahl von Aeonen kein Dichter erstehen würde, der würdig sei, von Büblein gelesen zu werden. Opitz, Haller, Bodmer, Gleim – alle Achtung! Wer wird sie nicht lesen? Sind sie doch von sachverständigen Literarhistorikern kunstgerecht balsamiert! Aber Heine, Lenau, Hebel, Keller, Storm? Dichterlinge, die sich durch eine verachtungswürdige Literateneitelkeit verleiten ließen, Verse zu schmieden. Was man allenfalls von ihnen lesen darf, ohne sich wegzuwerfen, findet sich im Lesebuch des Pensionats.

Kennen Sie meine Ludmilla Pips? Der Typus ist Ihnen ohne Zweifel schon begegnet. Sie entstammt dem Pensionat des Professor Büblein. Mit dem zwölften Jahre hat sie begriffen, daß das Ewig-Weibliche darin bestehe, ewig verschämt zu sein und sich bei jeder Anrede zu zieren und zu haben wie ein elektrisierter Affe. Dem Lehrer eine vernehmliche Antwort zu geben, galt ihr für eine unerhörte Schamlosigkeit, und da sie sich in einer Pension befand, behielt ihr zartbesaitetes Gemüt seinen Willen. Geld- und Geburtsprotzen haben das Recht, sich passiv zu »bilden«. Sie hat einen unüberwindlichen Widerwillen, sagen wir: eine Idiosynkrasie gegen alles Natürliche und Gesunde. Schildern Sie ihr als Schriftsteller einen Pferdeknecht und wehe Ihnen, wenn besagter Caballero nicht mit Chapeau claque und Monocle hantiert und sich nicht mindestens in drei fremden Sprachen fließend unterhalten kann! Sie ist aber so gemütsroh, daß sie über den Maurergesellen, der am 63 Abend ermüdet und mit den Spuren der Arbeit am Zeuge nach Hause kehrt, hämisch spottend die Nase rümpft und sich von einem bettelnden Krüppel angewidert abwendet. Sie wissen, teurer Gefährte, daß ich eine Katze eine Katze nenne und besonders an einer Stelle meines Buches mich unzweideutig derb (wie es der Stoff verlangt) ausdrücke. Würde nun Ludmilla mit mir von meinem Buche reden, so würde sie unausgesetzt an diese Stelle denken; sie würde glauben, daß ich ebenso unausgesetzt an dieselbe Stelle dächte, und sich während der ganzen Unterhaltung ununterbrochen sittlich verletzt fühlen. Weil ich ihr das nicht zumuten kann, nehm' ich ihr's gar nicht übel, daß sie schweigt.

Noch eine andere schweigt und – wie beredt vermag der Mensch zu schweigen! Denken Sie noch zuweilen an das »Nachtpfauenauge«, jenes dunkel-sanfte, sammetweiche Mädchen, das Ihnen so eigenartig, so fremd-überwältigend den Beethoven vorspielte? Können Sie sich noch das Gesicht vorstellen mit seinem hoheitsvollen Ernst, dem alles Lächerlich-Kleinliche unbegreiflich schien? Ein Lächeln von diesem Antlitz ergriff uns wie eine seltene Festfreude, und doch war das Mädchen nicht eigentlich karg mit diesem Lächeln. Bis zur Anbetung liebe ich jene Gesichter, die, wenn heiterer Schimmer sie überfliegt, immer wieder die erstaunte Frage in uns erwecken: »Wie, diese Züge vermögen zu lächeln?« – und bis zum Ekel zuwider sind mir jene seichten Fratzen, auf denen alle Tage Sonntag ist und die uns entgegengrinsen wie eine rotbemalte Zuckerbrezel.

»Es muß Ihnen nachgerade zuwider sein, Ihr Buch nur nennen zu hören,« spricht sie, als wir in einer dämmerigen Fensternische allein stehen; »ich bin dankbar genug, zu schweigen und Sie nicht länger zu martern.« 64

Und wir sprachen von anderem. Aber mit feinem Geschick lenkte sie sogleich das Gespräch in den Ideenkreis meines Buches hinein, und deutlich bemerkte ich auf Schritt und Tritt, mit wie zarten und doch bestimmten Strichen und Farben meine Bilder sich in ihrer Seele abgedrückt hatten. Jedes Wort atmete die Frühlingsfrische der Empfänglichkeit und den tief-sättigenden, befriedigenden Sommerhauch des reifen Verständnisses. Was den Landmann ergreift, wenn der goldene Same in grünen Spitzen aus dem Boden schießt, was den Dichter durchdringt, wenn in fremden Lauten das eigne Schauen keimend emporstrebt: es ist dasselbe hohe, glühende Gefühl! Stürmischer Dank schoß mir zum Herzen, als ich mich stumm und selig lächelnd von ihr verabschiedete.

Nachdem ich den Dr. Flint und seine Gesellschaft dreihundertmal zum Teufel gewünscht hatte, erteilte ich allen nach dieser Zwiesprach meinen hohenpriesterlichen Segen.

Ich schritt in die Nacht hinaus und wanderte, wanderte mit seligen Begleitern in den leuchtenden Morgen hinein. Finden Sie nicht auch, daß dieser scheidende Sommer herrlicher war als einer je zuvor? Ich hab's nicht lassen können: ich hab ihm ein Gedicht nachgesandt, das für ihn ganz besonders bestimmt ist.

Sommer, eh du nun entwandelst
Ueber sonnenrote Höh'n,
Soll dir meine Seele sagen,
Wie du mir vor allen schön!

Wähne nicht, daß meinem Herzen
Sommer so wie Sommer sei;
Seltsam wie der Wolken Wandel
Zieh'n die Zeiten ihm vorbei. 65

Und wie du hervorgetreten
Aus der Zukunft ernstem Tor,
Atmete aus dumpfen Qualen,
Atmete dies Herz empor . . .

Dankbar will ich dies nun singen:
Wie die Wiese lag im Glanz,
Und du gingst am Rand im Schatten,
Und dein Geh'n war Klang und Tanz –

Wie auf Wolken du gefahren,
Deren Weg dein Hauch gebeut,
Wie du in den hohen Himmel
Weiße Rosen hingestreut –

Wie du aus des Nußbaums Wipfel
Durchs Gezweige sahst herab –
Wie du rote Blüte gossest
Ueber ein versunknes Grab –

Wie im Wald am schwarzen Stamme
Stumm du standest, schwertbereit,
Wie ein sonnenblanker Ritter
Aus verklungener Heldenzeit –

Wie du alle Glocken schwangest
Im beglühten Turm des Doms –
Wie du rötlich hingewandelt
Auf der Wellenflur des Stroms.

Oder wie du braun von Wangen
Westlich schrittest durch das Feld
Und mit einer Amsel Tönen
Leis erweckt die Sternenwelt . . . 66

Hoher, ehe du entwandelst
In den Saal »Vergangenheit«,
Nimm mit dir wie Hauch der Felder
Diesen Hauch der Dankbarkeit!

Wo gestorb'ne Sommer wandeln
Hinter nachtumraunten Höh'n,
Wo nur Schatten dich umschweigen,
Soll er singend mit dir geh'n.

*

Und auch mein »Quisisana« sollen Sie kennen lernen!

Ziehen Sie Ihre Schuhe aus von Ihren Füßen; denn Sie sollen heiligen Boden betreten.

In das Sanktum will ich Sie geleiten, das mich in seltenen Abendstunden aufnimmt, um mich nach durchwachter Nacht erst in leuchtender Morgenfrühe wieder zu entlassen. Eine Tafel wird später zu meinem Gedächtnis über dem Eingang dieses Hauses angebracht werden. Diese Tafel gibt es schon jetzt, trägt schon jetzt meinen Namen. Der Wirt des Heiligtums hat sie nebst einem Stück Kreide bei seinem Flaschenregal aufgehängt.

Herr Dachsel, der Wirt, besitzt ein wunderbares Refektorium. Liebliche Kühle weht von den Wänden; auf blühendes Gartenland fällt der hinausschweifende Blick; durchs Fenster schwankt der Flieder; durch die Tür schwanken andere. Wer wollte sie verkennen, die Poesie der kraftduftenden Beefsteaks, des meerschaum-bräunlich wogenden Gerstentranks und der zärtlich schmeichelnden Havanna, die Poesie 67 der trinkend verträumten, verlachten und verplauderten Jugend- und Morgenstunden?

Selten – Sie haben es gehört – selten genießt Herr Dachsel die Ehre meines Besuches; ich hab' auch durchaus kein Talent, am Wirtshaustisch so pluralisch zu vertieren, daß ich mich wie fünfhundert Säue fühle; ich fühle mich im Gegenteil in solchen Stunden wie ein einziger, kraft- und freudeblühender Mensch, der am morgenden Tage, wenn es sein muß, als ein Einzelner, auf sich selbst Gestellter wieder ins Leben hinausschreiten kann. Aber eine schafslederne Seele das, die, einmal in den Zauberkreis eines edlen Konviviums gezogen, sich von dem stupiden Tiktak des Pendels tyrannisieren läßt! Die Zeit ist ein stumpfsinniges Weib, das die Sekunden wie Erbsen in eine Danaidenschüssel zählt. Wer wollte ihr dabei helfen?

Rücken Sie heran an unsern Tisch; Sie sollen drei brave Männer und drei Herzen kennen lernen, in denen meine Lyrik wiederklingt.

Klaus Heide, ein Mathematiker, der scheinbar nur Wurzeln auszieht, in Wirklichkeit und im stillen aber frucht- und schattenreiche Bäume pflanzt. »Etwas trocken,« werden Sie sagen, und nach drei Jahren werden Sie sich dieses Urteils schämen.

Fritz Goers, ein Riese, der mich zwischen zwei Fingern zerdrücken könnte; »ein joviales, sorgenloses Weltkind,« werden Sie sagen, und er erläutert Ihnen die leid- und sorgenschwerste Dichtung mit so sicherem Seelenscharfblick, mit so feinfühliger Wärme, daß Sie ihm erstaunt und gerührt die Hand drücken, wenn Sie der Dichter sind. 68

Hans Stockelsdorf, ein latenter Poet, ein Kerl, der Herz und Augen so weit geöffnet hält, daß kein Himmelsstrahl verloren geht; sie müssen alle hinein; er unterschlägt aber nichts: alles empfangene Sonnenlicht strömt aus Aug' und Herzen wieder hinaus.

Sitzen Sie nieder; Sie werden sich wohl fühlen. Aber – das sage ich Ihnen, damit Sie nicht erschrecken – ein Hauen und Stechen beginnt alsbald, daß unsere Vorfahren in Walhall ihre Freude daran haben! Da gibt's kein zimperliches Verschonen, kein rücksichtsvolles Umschmeicheln und Beheucheln. Bitteres Bier und bittere Wahrheit. Dazwischen sonnenhelles Begegnen, scherzender Zuspruch und jubelnder Zutrunk.

Meine Gedichte sind heute Gesprächsstoff. Einigen geht's verdammt schlecht. Ueber die meisten gerät Stockelsdorf vor Begeisterung so außer sich, daß er aufstehen und den Stuhl sechs Schritt zurückstoßen muß, um zu reden.

Herr Dachsel steht währenddessen in sprachloser Verzückung im dunkeln Winkel und hört strahlenden Blickes zu. Wir haben ihm dazu Erlaubnis gegeben, nachdem er uns einmal in vertraulicher Ehrfurcht gestanden, es gebe für ihn kein größeres Vergnügen, als unseren Reden zuzuhören. Er kennt kein staunenswürdigeres Naturwunder, als einen Menschen, der länger als 20 Sekunden reden kann. Ein geflügeltes Kamel mit Walroßzähnen würde ihm nicht halb so wunderbar erscheinen. Außerdem besitzt er den rührenden Bildungstrieb jener Leute, die bei nicht ganz vollkommener Beherrschung der 26 Schriftzeichen in öffentliche philosophische Vorlesungen gehen, »weil man da doch immer etwas lernen kann«. Wenn wir ihm während des Abends besonders 69 imponiert haben, besonders wenn Fritz Goers, der Schalk, ihm das Vexierstück des Zeno von Achilles und der einen Vorsprung habenden Schildkröte als »leichte Rechenaufgabe« gestellt und Dachsel nach einer maßlosen Verschwendung von Papier, Graphit und Scharfsinn den Aufschluß erhält, daß »er sie ja gar nicht einholen kann« und unbeschreiblich glücklich über diese Erleuchtung ist, besonders dann opfert er zum Schluß ein paar Alte vom Rüdesheimer Berge.

Es ist in Deutschland ein chemisches Gesetz, daß sich unter dem Einfluß von Bier und Tabakrauch aus einem ganz unscheinbaren Disput in 59 Sekunden ein Prinzipienstreit entwickelt hat. Meine »Erloschenen Sonnen« haben die Ehre, mehrere ästhetische Systeme in Bewegung zu setzen. Das Gefecht entwickelt sich auf der ganzen Linie.

Da wir unser vier sind, könnte die Gefahr der Stimmengleichheit naheliegen. Dagegen ist gesorgt: die ausschlaggebende Stimme fällt dem Biere zu. Nämlich so: Sie erinnern sich, daß Hamlet und Laertes in der Hitze des Gefechts die Rapiere tauschen. Ganz dasselbe können Sie an jedem Biertisch beobachten: vielleicht unter vielen anderen ein Grund, weshalb der Deutsche lieber ins Wirtshaus als zum »Hamlet« geht. In der Hitze der »angeregten Stimmung« nämlich dauert es nur einige halbe Stunden, und jeder der Streitenden hat sich durch eine tollkühne Paradoxa und überschwengliche Zugeständnisse so weit um den Mittelpunkt des Gesprächs herumgeredet, daß er mit flammender Begeisterung, mit durchdringender Klarheit und vernichtender Schärfe – die Ansichten seines Gegners vertritt.

In solchen Stunden schwebt ein wohltätiger, mild lächelnder Engel über den Häuptern der Versammlung, der die 70 Augen der Streitenden gnädig mit Verblendung betaut und keinen das Schreckliche ahnen läßt. Und da die Rapiere nicht vergiftet sind, ist der Rest nicht Schweigen, sondern Weiterreden.

Die Uhr schlägt Zwölf. Da – was ist das? – Klaus Heide erhebt sich.

Mit furchtbarem Blick heftet er seine Augen auf mich. Sein dunkler, glänzender Bart sprüht Funken; wütend zerbeißt er seine Zigarre; seine Züge sprechen mein Todesurteil. Er toastet.

Wie der starre, unerbittliche, vernichtende Richterspruch eines Großinquisitors kommt es in heftigen Stößen von seinen Lippen. In kurzen, schroffen Sätzen, die er mir wie eine finstere Herausforderung entgegenschleudert, versichert er mich seiner unbegrenzten Hochachtung und Verehrung. Er erhebt mich zu einer Höhe, vor der mir schwindelt, und begleitet die Aeußerung mit einer niederschmetternden Handbewegung. Mit zusammengebissenen Zähnen und ingrimmiger Artikulation, bei der mir das Mark in den Knochen gefriert, feiert er die »feurige Kraft« meines Gesanges. Und – habe ich anfangs über seine seltsame Art im stillen gelächelt – so durchrinnt es mich bald wie feierlich-ernster, stählend erquickender Hauch. Eine aus der Tiefe quellende Innigkeit durchströmt diese schlichten Freundesworte. Und bald fließen die Worte des Redenden dahin in beredtem Schwung. Mir ist, als läg' ich auf hoher Bergesmatte, und ein starker, grasduftender Strom durchzöge reinigend meinen Leib. Oder mir träumt, während ich noch immer reden höre, von einer Winterlandschaft, durch die ich starken Schrittes dahinwanderte, und aus den flimmernden Tannenspitzen und der 71 blitzenden Eisfläche des Sees atmete mir die Frische des kommenden Lenzes entgegen . . .

Klaus Heide ist zu Ende; er hat mir viel zu viel Gutes getan; es ist seine Art, in seinem Herzen Reichtümer – für andere zu sammeln; die Gläser klingen, und unsere Hände umschließen sich wie Eisenklammern.

Seit Jahren treffen wir uns von Zeit zu Zeit. Unsere Freundschaft wuchs langsam wie Eichenholz.

Ein Weib, einen Freund und einen festen Mut – wer sich das ersingen kann, sollte dessen Wort in der Welt so ganz verhallen wie der Vogelschrei in der Wüste? – –

Mein guter Moses Friedenthal hat als kluger Geschäftsmann mein Buch an einzelne meiner Freunde und Bekannten zur Ansicht geschickt. Ich war zugegen, als eine Dame ihr Exemplar zurückgab mit dem Bemerken, sie habe keine Verwendung dafür, da sie bereits mehrere »Gedichtbücher« besitze.

»Oh, mein Fräulein, die sind ja jedenfalls veraltet,« rief Moses mit großem Ernste. »Sehen Sie, unser Geschäft bezieht immer nur die neuesten Muster, und wir verkaufen sie zu Engrospreisen. Sie können die anderen Gedichte ruhig erst aufgebrauchen und diese hinlegen. Wir garantieren, daß sie sich halten. Ueberhaupt ist es ja ganz nett, nicht wahr, wenn man mehrere »Gedichtbücher« hat? Dann kann man 'mal wechseln.«

Aber die Dame war nicht zu erweichen und ging.

Ich konnte nicht begreifen, warum Moses sich über sie entrüstete.

»Mensch, Moses!« rief ich, »wenn du drei Regenschirme hast, kaufst du dir dann einen vierten?« 72

Er sah mich starr an. »Nee – du?«

»Nee, ich auch nicht.«

»Kerl, du hast recht,« rief er dann. »Was wollen wir eigentlich? Wir tun dem lieben Kinde unrecht. ›Regenschirm‹: in dem Worte liegt es.«

»Darin liegt es.« –

Ein männlicher Freund aber schrieb meinem Verleger das Folgende:

»Geehrter Herr!

Ueber so etwas wie Gedichtchenlesen bin ich glücklicherweise hinaus. Derartigen Jugendblödsinn gibt man auf, wenn der Ernst des Lebens an einen herantritt. Ich kann also von dem geschickten Büchelchen durchaus keinen Gebrauch machen. Wenn ich wüßte, daß Herr Herkules Meier sich in bedrängter Lage befände, würde ich wohl zwei Mark dafür opfern; da ersteres aber, so viel ich weiß, nicht der Fall ist, sehe ich für eine solche Ausgabe keinen Grund.

Ergebenst

Joseph Berger.«

»Den Kerl,« rief ich, »lädst du mir sofort zu einem Sektfrühstück ein, und wenn ich meine Uhr darum versetzen müßte! Ich stehe allerdings nicht dafür ein, daß ich ihm nicht die Stöpsel ins Gesicht werfe.«

Und Sie, mein Freund, was sagen Sie dazu? Noch ein paar hundert solcher mitleidige Seelen, und die Hochzeit auf Kenilworth kommt zustande. »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück« grüßt Sie

Ihr

H. M. 73

*

Lieber unermüdlicher Freund und Frager!

Ja, Sie sollen eine Wiedergabe der über mein Buch erschollenen kritischen Stimmen und damit Ihren Willen haben. Erlauben Sie mir, daß ich dabei zusammenziehend verfahre.

Ich spreche zuerst von der größten Gruppe, d. i. von denjenigen kritischen Stimmen, die sich noch nicht haben hören lassen.

Sie fragen, was diese für mich bedeuten können?

So wissen Sie noch nicht, daß diese Stimmen die gewichtigsten sind? Durch Verschweigen drückt man auch den bedeutendsten Menschen so lange und so tief in das Meer des Mißmuts hinab, daß er ersäuft, und dann läßt man ihn als berühmte Leiche an den Strand der Unsterblichkeit schwimmen. Eine lange Reihe der namhaftesten Zeitungen hat bereits in ausführlichster Weise über mein Buch geschwiegen. Doch sind sie nicht ohne weiteres zu verdammen.

Sie, mein Freund, wissen, daß die Privatdichterei mit wahrhaft frechen Ansprüchen die Oeffentlichkeit belästigt. Das außerordentliche Zusammentreffen, daß die Sterne scheinen, die Wellen flüstern und der Weinreisende Ludewig sich im Dunkel der Laube und im Arm seiner Geliebten ausnehmend wohlfühlt, läßt es dem besagten Ludewig als ein nationales Bedürfnis erscheinen, daß die deutsche Literatur durch zwanzig wirklich hochdeutsche und grammatisch richtige Verse bereichert werde. Am andern Abend sitzt Ludewig wieder in der Laube; diesmal flüstern nicht die Wellen, sondern die Blätter; Ludewig dichtet wieder und dankt in einem dritten Gereimsel der »holden Muse« für das bekannte Stirnküssen. Nach einiger Zeit fallen Blätter, Wolken jagen und Vögel ziehen. Mit seherischem Blick 74 erkennt Ludewig, daß es Herbst wird, und teilt uns diesen »Gedanken« mit einer wehmütigen Dummdreistigkeit mit, als erwarteten wir nach dem Septemberäquinoktium einen tropischen Sommer. Mit dem Herbst nimmt Ludewigs Geliebte eine Stelle als Kammerzofe in einer entfernten Stadt an. Sofort richtet er 25 Vier- und Achtzeilern, die ihn seine Verwandtschaft mit Heine und Goethe empfinden lassen, an das Lesepublikum die brennende Frage, »ob er sie wohl wiedersehen werde« usw. usw.

Ich denke bei dieser Aufzählung nicht an jene »Gedichtsammlungen«, die schon auf den ersten Blättern die unverkennbare Blödsinnigkeit des Ganzen verraten. Ich denke an jene gefährlichen Wassersuppen, auf denen hier und da ein Fettäuglein von Talent schwimmt. Ein gewissenhafter Kritiker kann gerechterweise nicht anders als jene Talentpünktchen erwähnen. Das ist aber unserem Ludewig genug. Ein solcher Lobbazillus, ins Millionenfache vermehrt und ausgebrütet von der zärtlich-warmen Eitelkeit, richtet in seinem Geiste ungeheure Verheerungen und neue Gedichte an, und tausend ermunterte Genossen schließen sich ihm an.

Die weitaus größte Zahl der »Weltblätter«, die »auf keinem Familientisch fehlen sollten« oder die in der Politik »von maßgebender Bedeutung« sind, werden auch meines Buches wohl nie gedenken. Halt – daß ich nicht zuviel sage! Nie? Es könnte doch sein. Wenn ich später einmal Romane schreiben werde, wenn meine Bücher 20 Auflagen erleben werden, wenn sämtliche Anschlagsäulen im Deutschen Reich in Riesenlettern den Titel meines neuesten Werkes verkünden und schreiende Verkäufer es den Reisenden in den Wagen hineinreichen werden, wenn ich – passen Sie auf: 75 jetzt nenne ich das unum necessarium, den passe-partout, die Springwurzel, die Wünschelrute, die Zauberformel, das Schibboleth, das »Sesam, tu' dich auf!« – wenn ich einen Namen haben werde, dann, ja dann werden jene »vornehm geleiteten« Weltblätter in allseitiger gründlicher Würdigung meiner Verdienste sich auch entsinnen, daß ich ein »tief empfindender« Lyriker sei. Der aberwitzige, bornierte, schädelverholzende, herzverledernde Namenkultus, der nirgend so erschreckend wütet wie in Deutschland, ist dem Publikum von seinen ästhetischen Küchenlakaien und Suppenrührern eingeflößt, wie ihm jede epidemisch auftretende ästhetische Unart eingeflößt wird. Die erste volkserziehliche Tat jedes Familienblattes sollte darin bestehen, daß es an seinem Kopfende das Publikum dringend ersuchte, die Namen der Mitarbeiter zunächst völlig unbeachtet zu lassen und ganz unabhängig von diesen Namen zu urteilen; es sollte das geschehen nicht nur aus zarter Rücksicht gegen die Verfasser, sondern gerade zum Frommen des Blattes und des Publikums; denn der eingewurzelte Namenglaube ist von einer wahrhaft teuflischen Verdummungskraft; selbst starke Geister erliegen ihm zuzeiten. Es wäre eine vortreffliche Einrichtung, wenn die Namen der Verfasser später als ihre Beiträge veröffentlicht würden. In der ersten Zeit würde das freilich große Ueberraschungen geben. »Das ist von dem göttlichen Gorki! Dahinter steckt der unvergleichliche Oskar Wilde (die Göttlichen und Unvergleichlichen sind immer Ausländer)! Das ist doch der ganze Maeterlinck, wie er leibt und lebt!« und – siehe da! – der unerhört namenlose Peter Habersack zieht den Hut und spricht bescheiden: »Entschuldigen Sie, daß es bloß von mir ist.« – 76 Ein halbes Jahr lang vor Beginn eines neuen Jahrgangs wird ein einzelner Name durch die Nebelhörner der Tagespresse gebrüllt; riesengroße Lettern sollen durch diesen Namen und durch Sensation im wörtlichsten Sinn den Abonnentenfang bewirken. Was dieser Name nachher bringt – wie käm' es darauf an! Das entschiedene Bestreben, jeden Schund abzuwehren, das veranlaßt die Leiter der »auf keinem Familientisch fehlen sollenden« Weltblätter nicht, vor dem anklopfenden Anfängertalent den Türschlüssel umzudrehen. Ich hab's an guten Freunden erlebt, daß Einsendungen, die ein ehrlich lesender Mensch nur mit einem »Donnerwetter, allen Respekt!« aus der Hand legen konnte, überhaupt unbeantwortet blieben, habe dann kurze Zeit nachher das betreffende Blatt in die Hand genommen, einen »namhaften« Beitrag gelesen und mich an den Kopf gefaßt und gefragt: Ist das ernst gemeint oder will der Redakteur seinen Mitarbeiter öffentlich lächerlich machen? Wenn das »Lied von der Glocke« nicht allzu bekannt wäre, dürften Sie schon den Spaß wagen, es irgendeinem großen Schriftleiter als ein Erzeugnis des Peter Habersack einzureichen; Sie würden eine höhnische Abweisung erfahren schon wegen der für einen Namenlosen ganz empörend anspruchsvollen Länge des Gedichts. Einige Zeitungen dieser Gattung haben durch Abdruck des Titels ein für allemal über den Empfang meines Buches quittiert. Dieselben Nummern, die diese Quittung brachten, enthielten ausführliche Besprechungen von dressierten Gänsen, Mitteilungen über das auffallend schwere Schwein eines Landmannes in Bargteheide, Anweisungen zur Tapezierung von Zimmern mit Zigarrenbändern usw. usw. 77

Und nun zu den Stimmen, die sich hören ließen. Damit Sie ein scharf umrissenes, klares, porträtähnliches Bild von meiner dichterischen Persönlichkeit erhalten, zähle ich Ihnen nachstehend die von der Kritik hervorgehobenen Bestandteile meines dichterischen Wesens auf. Ich bin ein echter, ganzer Dichter vom Scheitel bis zur Sohle, ein großes Talent, wenn ich es auch bei einiger Reimfertigkeit nicht über einen Dichterling hinausgebracht habe. Mein Buch, originell in jedem Zuge, büßt dadurch an Wert ein, daß man es aus einem Haufen Dutzendware aufs Geratewohl herausgreifen darf, ohne meinem Range zu nahe zu treten. Die Form meiner Gedichte, vollendet, salopp, hinreißend, trivial, klar und verworren wie sie ist, würde u. a. durch die außerordentliche Reinheit und Kraft der Reime erfreuen, wenn diese Reime nicht meistens unrein und matt wären. Das beste in meinem Buche ist die reine Lyrik, wohingegen man den epischen Versuchen und den scharfgeschliffenen, witzigen Epigrammen, dem schwächsten Teil der Sammlung, entschieden vor allem andern den Vorzug geben muß. Meine Gewohnheit, jedem flüchtigen, oberflächlichen Eindruck zu folgen, kommt besonders in der feinen und eindringenden Seelenmalerei meiner Gedichte zum Vorschein. Besonders zu rühmen ist, daß mir nichts Menschliches fremd geblieben, was sich besonders in der krankhaften Sucht zeigt, alles zu besingen, was menschlich fesselt und ergreift. Der Fehler meines Buches, daß es ein verwirrendes, zusammenhangloses Vielerlei von Gedichten bietet, hat zur Folge, daß sich das Ganze wie ein zusammenhängender, spannender Lebens- und Seelenroman liest. Da Sie, mein teurer Freund und erbitterter Gegner in mancher durchgrübelten und 78 durchstrittenen Nachtstunde, meine Weltanschauung aus dem Grunde kennen, ist es eigentlich überflüssig, Ihnen mitzuteilen, daß mein radikaler, maßvoller Atheismus auf ausgesprochen nihilistisch-theistischer Basis ruht. Das ganze Tempo meines Empfindens ist stürmisch-gedämpft, beschaulich-wild, leidenschaftlich-matt. Von meinen 113 Gedichten sind 97 die stärksten, 98 die schwächsten.

So, nun wissen Sie Bescheid. Was belieben Sie? Widersprüche? Wo? Ei nun ja, Widersprüche sind darin; der Mensch ist einmal ein widerspruchsvolles Ding. Sie wissen doch, daß St. Hilaire und Goethe einmal den Gedanken hatten, sich im Geiste einen Typus zu konstruieren, der die charakteristischen Merkmale aller Tierformen in begrifflicher Vereinigung zeige? Stellen Sie sich meine Wenigkeit als poetisches Normal- und Universaltier vor, und Ihnen ist geholfen.

Natürlich ward ich auch ein paarmal wegen meiner Gesinnung vermöbelt. Sie wissen, daß ich gelegentlich, das heißt, wo es mir ein innerer Zwang gebietet, in den Kampf für meine Ueberzeugung eintrete, daß aus manchem meiner Lieder Schlachtruf klingt. Wenn man das tut, ist man »Tendenzdichter«. Wenn man etwas sagt, was Piepenbrink nicht paßt, ist man Tendenzdichter. Noch peinlicher freilich, als die Fraktionssimpelei eines Gegners ist mir die eines »Freundes«. Wie unendlich trostlos und beschämend es für einen Dichter ist, das Lob solcher »Freunde« sich an einem Punkte festsaugen zu sehen, an dem er mit ihnen in dieselbe Kerbe (aber um Gottes willen keinen Millimeter daneben!) schlägt, zu sehen, wie sie in stiermäßiger Verranntheit über alles andere achtlos dahintrampeln, zu erkennen, daß die 79 linksläufigen Böcke ebensowohl Schafe sind wie die rechtsläufigen Hammel, lassen Sie mich davon schweigen! Von diesen freiwilligen Claqueurs habe ich auch in der obigen Aufzählung geschwiegen; solche Freunde verleugnet man.

Uebrigens, Sie Sprachpsychologe, auch für Sie hat die Kritik meines Buches ein lehrreiches Erträgnis abgeworfen! Wenn Sie in Ihrem nächsten Buche einmal wieder über jene ausgeschlissenen Wörter sprechen, deren ursprünglichen Inhalt man vergißt und die man beim Gebrauch mit sehr verschiedenartigem oder – gar keinem Begriffsmaterial anfüllt, dann, mein Bester, benutzen Sie folgendes Beispiel. Ein Gedicht, in dem ich die freie unerschrockene Meinung, die sich auch vor Thron und Altar nicht verkriecht, mit begeisterten Worten feiere, erregt das besondere Mißfallen eines Kunstrichters. Mit galligem Hohn macht er sich darüber her, daß ich das »Recht zum Widerspruch« heilig spreche. Dieser giftige Feind des Widerspruchsrechts ist – bereiten Sie Ihr Zwerchfell vor! – ein Protestant. –

Ja, die Anklänge, die bösen Anklänge, wenn sie bei unseren jungen Dichtern nicht gar zu häufig wären! »Oft zeigen sich Anklänge an Heine« Bei wem, fragen Sie? Bei mir. Sie meinen, meine ganze poetische Natur stehe derjenigen Heines antipodisch gegenüber? Was sagt das! Ich habe den betreffenden Rezensenten sehr bescheiden und höflich um Belege für seine Behauptung gebeten. Und da hat sich gezeigt, daß der Mann recht hat. »Von Linden überschattet, liegt sein Grab . . .« heißt es bei mir. Merken Sie etwas? Nein? Kennen Sie aber Ihren Heine schlecht! »Auf ihrem Grab da steht eine Linde« – das ist doch sehr 80 einfach! Allerdings handelt es sich in einem Fall um einen toten Freund, im anderen um den Müllerburschen und seinen Schatz; aber was will das sagen! »Weit dehnte sich die glanzdurchwirkte Flut« – Sie merken schon wieder nichts? »Das Meer erglänzte weit hinaus« – da haben Sie's. Bei Heine folgt die wunderbare, stumme Tränenzwiesprach zwischen den Liebenden, bei mir eine Rhapsodie an das Meer. Aber Wasser ist Wasser. Ich habe den fraglichen Kritiker noch auf eine auffallende Uebereinstimmung zwischen Rückert und Heine aufmerksam gemacht. Bei diesem finden wir die Stelle:

»Nach Frankreich zogen zwei Grenadier'«;

bei jenem heißt es:

»Es ging ein Mann im Syrerland,
Führt' ein Kamel am Halfterband.«

In beiden Fällen handelt es sich um zwei Lebewesen, die eng miteinander befreundet sind.

Trotz alledem: Die Zahl der ehrlichen, pflichttreuen, fleißigen und verständnisvollen Kritiker ist im deutschen Lande noch merkwürdig groß, solang' es sich um Bücher handelt. Wenn sich das Bild eines Dichters ein wenig verschieden in ihren Köpfen malt – wen kann es wundern? Jede Menschenseele ist ein Diamant. »Grün« sagt der eine, »rot« der andere, »blau« der dritte; keiner hat recht und keiner unrecht. Hauptsache ist, daß die Seele rein bleibe, daß sie Licht spende, daß sie selber wisse, was sie ist. Weh dem, der es nicht weiß. Nie wird er das feste, scharf abgewogene, vornehme Selbstbewußtsein, das notwendigste Erfordernis 81 auf der Lebensreise, sein eigen nennen, nie wird er wissen, ob ihm das geworden, was seinem Leben den Grund verleiht:

                            Der Ruf.

Schon trat aus ferner, tannendunkler Pforte
Der Schlaf hervor.
Schon raunte mir die ersten, leisen Worte
Der Traum ins Ohr.
Da klang von nahen Zweigen
Ein tiefer Freudenschall,
Und klang getrost und stark durch Nacht und Schweigen.
In meinen Traum sang eine Nachtigall.

Ich ritt durch flimmerdunkle Waldesräume
Im Traum, im Traum.
Nur fern, o fern, durch mitternächt'ge Bäume
Ein lichter Saum.
Doch horch: von jenen Röten
Ein süß geheimer Hall,
Ein weiches, tiefes, morgenstilles Flöten!
In meinen Traum sang eine Nachtigall.

Nun weiß ich auch, daß mir dieselbe Stimme
Von je erklang
Und mir das Herz in Kampf und Leidensgrimme
Voll Hoffnung sang.
Ein Land des Lichtes träumen
Wir armen Seelen all!
Ich aber höre Klang aus jenen Räumen:
In meinen Traum singt eine Nachtigall.

*

82 Dieser Brief war nahezu beendigt und lag zur baldigen Absendung an Sie bereit, als ein Unerwartetes eintrat. Ich habe meine Entlassung genommen und liege als lyrischer Dichter mit imaginärem Gehalt auf der Landstraße. Glückwünsche sind unnötig.

Sie haben Gelegenheit gehabt, meinen ehemaligen (wie erlöst das klingt!) Vorgesetzten kennen zu lernen. Ich sehe noch das Gesicht, mit dem Sie mich anblickten, als wir uns von ihm verabschiedet hatten. Sprachloses Staunen über so viel Schädelleere, über so viel zufriedene Geistesarmut.

Jene dummschlaue Gewissenhaftigkeit, die durch nebensächliche Ueberpünktlichkeiten über die grenzenloseste Lotterei im Großen hinwegzutäuschen weiß, und ein einflußreicher Schwiegervater haben ihn auf seinen jetzigen Posten erhoben, ihn, der dem armseligsten seiner Schreiber keine Achtung abzunötigen vermag. Man würde sehr in die Irre gehen, wenn man annähme, daß ein solcher Emporkömmling, seelenfroh über den geglückten Fang, sich mit seiner Beute in den Winkel setzte und in kluger Zurückhaltung sein stattliches Einkommen verzehrte. Nepoten vergessen immer die Unerläßlichkeit des guten Onkels. Es ist auch seelisch ganz selbstverständlich, daß sie dasjenige, was sie durch stillschweigende Ueberlegenheit nicht zu erreichen vermögen, durch plump-prahlerische Ueberordnung anstreben. Mit gescheiten Vorgesetzten läßt sich immer leben; die beschränkten sind die hinterlistigen, anmaßenden Schinder.

Ich würdige mich nicht herab. Mit aller höflichen und stillschweigenden Bereitwilligkeit habe ich mich, wo es irgend anging, meinem Vorgesetzten untergeordnet, wie Staats- und Weltordnung es verlangen. Wo er Unsinniges 83 verlangte, bin ich zu seinem eigenen Heile eigene Wege gegangen, und er hat wohlweislich, wenn auch mit verbissenem Aerger, dazu geschwiegen. Ich habe ihn nicht, wie verschiedene meiner Kollegen, um Rat befragt, um darauf nach eigenem Ermessen zu handeln und den empfangenen Rat als erbaulichen Blödsinn vor versammeltem Büropersonal zum besten zu geben. Ein durch und durch verlogener und miserabler Mensch, der ihn von allen Seiten umwedelte, war sein Günstling. Gesellschaftlich mied ich ihn, wo ich es irgend vermochte.

Natürlich fühlte er klar genug, daß ich ihn geringschätzte. Ebenso bestimmt empfand ich seine steigende Wut gegen mich und sein Bestreben, einen Bruch mit mir herbeizuführen. Von hinten herum hatte man mir zu verstehen gegeben, daß er über mein Buch ganz und gar aus dem Häuschen sei. Daß ich bei Empfängnis und Abfassung meiner Dichtungen nicht auf ihn, auf seine Zustimmung, auf meine amtliche Stellung Rücksicht genommen, daß ich so naseweis-unabhängig Dinge beurteilt und bekämpft hatte, die er seit seiner Beförderung mit Orthodoxie und Knechtssinn vertrat, daß ich in unzweideutiger Weise Lumpe seines und ähnlichen Kalibers unbarmherzig gezaust hatte, das war ihm als eine grenzenlose, himmelschreiende Frechheit erschienen. Mit ergötzlicher Aufgeblasenheit hatte er gegen Dritte bemerkt, daß er zu gelegener Zeit mit mir über meine »Leistungen« ein »sehr ernstes Wort« reden werde.

Vor kurzem nahm er einen mehrtägigen Urlaub, und ich war zu seiner Vertretung bestellt worden. Nach seiner Rückkehr beschied er mich vorgestern zu sich. 84

»Warum haben Sie die Arbeit, die ich Ihrer Abteilung überwies, nicht anfertigen lassen und statt dessen eine andere vorgenommen?« herrschte er mich an.

»Weil die Regierung diese Arbeit dringend verlangt und ich bestimmt weiß, daß die andere noch Zeit hat,« erwiderte ich ruhig.

»So!« Er schnappte zwei Sekunden lang Luft. »Und ich sage Ihnen, Sie haben zu tun, was ich Ihnen befehle, und Ihre Eigenmächtigkeiten hübsch zu unterlassen. Was ich anordne, werde ich verantworten; die Folgen treffen ja nicht Sie.«

»Ich bange nicht so sehr um meine Sicherheit. Aber es widerstrebt meinem ganzen Wesen, bewußt etwas durchaus Verkehrtes anzustellen. Ich bitte Sie, über mich Beschwerde führen zu wollen.«

»Ich verbitte mir diesen hochfahrenden Ton. Was bilden Sie sich ein! Es scheint, Ihr bißchen Versemacherei ist Ihnen zu Kopfe gestiegen. Noch einmal: merken Sie sich das! Sie haben mir zu gehorchen!«

In diesem Augenblick fiel es mir wie Fesseln von Händen und Füßen. Ich war frei.

»Sie wissen,« entgegnete ich ruhig (meine aufgestützten Finger wollten sich freilich zitternd in den Tisch bohren), »Sie wissen, daß ich Ihnen stets Gehorsam geleistet habe, außer wenn ich es für menschlich richtiger hielt, Ihre zahllosen Pflichtverletzungen und Torheiten durch meinen Ungehorsam unschädlich zu machen. Wenn ich – verstehen Sie mich richtig! – wenn ich mich einem Menschen von Ihrer außerordentlichen Unfähigkeit unterordne, so müßten Sie das, wenn Sie wenigstens eine noble Gesinnung 85 besäßen, als eine große Liebenswürdigkeit von meiner Seite betrachten. Ich kann Ihnen stillschweigend gehorchen – Sie müssen aber nicht dieses Wort aussprechen, sonst reizt mich etwas, in ein ungeheures Gelächter auszubrechen. Sie brauchen nicht nach der Tür zu zeigen, ich gehe für immer.

Noch eines bleibt mir zu sagen übrig. Sie haben sich erlaubt, über mein Buch zu urteilen, und zwar auf Grund jener weitverbreiteten verteufelten Einbildung, daß ein Vorgesetzter auch an dem privaten Menschen seines Untergebenen ein Recht habe, daß er ein Urteil habe über alles, was seine »Leute« daheim beschäftigt. Ich verbiete Ihnen das mir gegenüber in aller Form. Sie wissen meine Verse so wenig zu würdigen wie ein Lama den gotischen Baustil. Gott befohlen!«

Es mag Sie wundern, daß der Mann das alles über sich ergehen ließ. Er wußte wohl, daß ich noch sehr glimpflich mit ihm verfuhr. Er hatte einen solchen Entschluß von mir nicht erwartet.

Glauben Sie nicht, daß ich in ahnungslosem Leichtsinn gehandelt. Ich habe gekostet, was es heißt, ein neues »Brot« suchen. So viele Bewerbungen, so viele Ablehnungen. Jeder Tag ein einziger, langer, nutzloser Gang. Endlich ladet jede Türschwelle zum Niederfallen ein. Man setzt sich und denkt: Vielleicht findet sich in jenem Hause ein Platz, oder in dem, oder in dem? und die Häuserreihen beginnen im Kopf einen lustigen Ringeltanz, und der Staub setzt sich in Nase, Augen, Mund und Ohren, und die Sonne brennt auf den Kopf, und das ewige Rollen und Brausen des Welttrubels rinnt durch die Ohren, und alle vereinigen sich und sagen: Du zäher Kerl, werde doch verrückt! . . . 86

Betrat'st du je ein Haus
Mit hoffendem Verlangen
Und bist von dannen drauf
Gesenkten Blicks gegangen,
Um eine Hoffnung ärmer?

Wie anders schien die Welt
Auf deinem ersten Gange,
Als da du kehrst zurück
Mit sorgenbleicher Wange,
Um eine Hoffnung ärmer!

Wie bohren sich ins Hirn
Die heißen Sonnenstrahlen!
Wie bebt das kranke Herz
In wilden Fieberqualen,
Um eine Hoffnung ärmer!

Zerreißend dringt ins Ohr
Der Straßen Lärmgewühle –
Ach, daß du könntest ruhn,
Das Haupt auf weichem Pfühle –
Um eine Hoffnung ärmer!

Ach, daß das schwere Herz
Der Tränen sich entlüde!
Geduld! Noch kurzen Weg! –
Wie wandelst du so müde,
Um eine Hoffnung ärmer!

Da endlich winkt das Heim . . .
Wohin sollst du dich wenden?
Aus allen Winkeln raunt's
Und von den düstern Wänden:
»Um eine Hoffnung ärmer!«

*

87 Als ich nach Hause kam, erfüllte mein Zimmer ein üppig-reiner Duft. Auf dem Tische stand eine Blumengabe. Die stolzesten und weichsten Rosen füllten einen Korb bis zum Rand, ja, quollen in blühender Verschwendung über den Rand hinaus. Ich zog ein Kärtchen daraus hervor:

»Dem Dichter Herkules Meier.«

Von wem? Keine Spur. –

Eine geraume Zeit mochte ich mit dem Kopfe auf dem Tisch gelegen haben, als fernher leise wehendes Klingen mir in die Sinne drang. Nicht nur ins Ohr – mein ganzes Wesen sättigte sich an dem melodischen Zauber. Nicht von der Erde, aus überirdischen Höhen hörte ich Schuberts »Lob der Tränen«. Kein Instrument – keine Menschenstimme – meine Erinnerung sang mir das Lied. Aus dem Innern kam's und klang doch aus der Ferne. Süß, wie ich es vor Jahren, vor Jahren gehört. Ein wundersames Lied. Eine zarte Hand gleitet dir über Stirn und Augen, über Schläfe und Wangen, immer wieder, immer wieder, immer gleich in sanft erquickender Berührung. Kein geschwätziger Trost, keine heftige Tränenflut in Tönen, nur ein schweigendes Gewähren: Weine, weine; es kommt die Ruhe. – –

Als ich das Gesicht erhob, war es von Tränen überströmt. Weinen ist ein schneller gründlicher Stoffwechsel der Seele. Kein abgestorbenes Atom bleibt in uns zurück. Ein schneereines, frischduftiges Gewand umfließt uns. So etwa muß sich der Gläubige das Kleid denken, mit dem er nach seiner Auferweckung den Himmelssaal betritt.

Ich rief die Wirtin herbei.

»Wer hat die Blumen gebracht?«

»Der Gärtnerbursche.« 88

»Von wem?«

»Er wußte es nicht.«

Blumen! Kein trostreicheres Geschenk als Blumen. Kein harter, aufdringlicher Laut. Dieses köstliche Schweigen! Und doch vergegenwärtigt der beständig strömende Duft die atmende Nähe des Grüßenden. Was wir dem Leidenden sagen möchten, wenn wir in zarter Schonung verstummen, Blumen sagen es. Sie sind ein Gruß des Herzens an das Herz.

Maria hatte sie nicht gesandt. Das sah ich beim ersten Blick in ihre Augen, als ich abends in ihr Zimmer trat. Ja, am Abend war ich bei ihr . . .

Manchmal aus aller Wirrnis und Plage
Hebst du den Blick
Schweigend zu forschen, wie ich sie trage:
Sorgen und Mühen – unser Geschick.

Manchmal am dunklen, schleichenden Tage
Sucht dich mein Blick,
Sucht dich mit stummer, mit bebender Frage:
Wie noch erträgt sie's, unser Geschick?

Dann an milderen, lichteren Tagen
Mag es geschehn,
Daß unsre Augen sich finden im Fragen
Und ihr zitterndes Leuchten verstehn,

Daß sie sich bannen – und stiller dann leuchten,
Stille. – Und fern,
Fern aus den Nächten, die ewig uns däuchten,
Wächst ein milder, ein ewiger Stern!

*

89 Gestern war Moses Friedenthal, dem ich das Ereignis hatte mitteilen lassen, bei mir.

»Ich habe mir dergleichen schon gedacht,« meinte er. »Der Bürosessel dreht sich wohl; aber er fliegt nicht. Hier sind dreihundert Mark, der bisherige Ueberschuß an deinem Buch.«

»Dreihun – – Ist ja nicht möglich! Du sagtest freilich, das Buch verkaufe sich sehr glatt; aber nach Abzug der Kosten und deines Anteils . . .«

»Wann habe ich gesagt, daß ich einen Anteil haben wolle?«

»Moses,« rief ich jubelnd und schlug ihm meine Arme mit großer Kraft um den Hals, »du bist der beste Kerl, der auf zwei Beinen umherläuft . . . . aber, wenn du mir noch einmal ein solches Anerbieten machst, werfe ich dich mit deinen dreihundert Mark die Treppen hinunter.«

»Kann mir einerlei sein. Wenn du erst die Hälfte haben willst, leg' ich das andere zurück. Wenn du wieder was zu verlegen hast, geh' an meiner Tür nicht vorbei. Dann will ich schon für mein Geschäft sorgen.« –

Maria habe ich freigegeben. Sie freilich will diese Freiheit so wenig wie ich.

Die erste Not ist abgewehrt. Ein herzhafter Sprung ins weite Lebensmeer hinein – wo ich lande, schreibe ich wieder an Sie.

Tausendmal Dank, teuerster Freund, für Ihre Teilnahme an meinem Schicksal.

Ihr

H. M.

*

Dreimal gepriesener und gebenedeiter
Freund und Retter!

Ständiger Mitarbeiter am »Grüneberger Journal« soll ich werden? Glänzendes Honorar? Und das alles verdanke ich Ihnen? Alle Not hat ein Ende? Das Unternehmen soll gesund, der Verleger von wahrer Vornehmheit sein. Lassen Sie mich zu Atem kommen. Kenilworth, der romantische Schloßtraum Walter Scotts, die parkumdunkelte Einsamkeit, das Bild, unter dem ich mir phantastisch spielend so gern das künftige Glück vorzauberte – Kenilworth tritt mit ragenden Zinnen wieder aus dem Nebel hervor, der es scheinbar für immer verschlungen hatte. Lassen Sie mich – es ist Silvesterabend – lassen Sie mich unsere beiden Punschgläser füllen, lassen Sie mich einen Augenblick ins Glas blicken und noch einmal alles überdenken, und dann – drei donnernde Hochs der Welt, in der solche Menschen leben wie Sie!

In Tränen der Dankbarkeit

Herkules und –

sie soll selbst unterschreiben:

Maria.

              Neujahrsgruß.

Ans Tor des Türmers hab ich heut
Gepocht mit lautem Rufen:
»Komm, führe mich vor Mitternacht
Zum Turm hinaus die Stufen!
Denn ein Gelüsten treibt mich heut',
Mit mächtig hallendem Geläut
Die Welt zu meinen Füßen
Zu grüßen.« 91

Und an des Alten Seite stumm
Bin ich emporgestiegen.
Tief lag die Erde schneeverhüllt,
Geruhig und verschwiegen.
Die weite Stadt – ein Lichtermeer!
Das blinkte hold von unten her
Wie goldnes Sterngewimmel
Vom Himmel.

Und oben hab ich tiefen Zugs
Den Hauch der Nacht getrunken;
Berauscht von tausend Bildern, ist
Mein Geist in sich versunken –:
Jed' Licht dort unten schien ihm da
Ein Auge, das ins Ferne sah,
An Tagen, die vergangen,
Zu hangen.

Und jeder Blick erspähte bald
Aus grauem Nebeldampfe
Ein eignes und besondres Bild
Vom ewigen Erdenkampfe.
Wie manche leise Träne rann –
Wie manches feste Herz begann
In still erneuten Fluten
Zu bluten! . . .

Hob sich aus fernem Dunkel nicht
Hier – dort – ein Totenhügel?
Flog nicht ein freundlich Antlitz her
Auf traumbewegtem Flügel? 92
O ja, in stiller Neujahrsnacht
Der Toten wird zuerst gedacht,
Der Lieben, die im Hafen
Nun schlafen.

Doch mehr als Tod ist Lebensnot –
Horch, horch – in mancher Kammer
Gellt jäh durch die Erinnerung
Ein lauter, wilder Jammer!
Ein nie verglommnes Weh entfacht
So manchem diese stille Nacht,
Dem alles, was er träumte,
Zerschäumte.

Und ewig Kampf und ewig Streit
Mit Leiden und Gefahren,
Mit Elend, Krankheit, Lug und Trug
Seit tausend, tausend Jahren!
Und war's ein Jahr des Glücks vielleicht,
So hat's uns doch das Haar gebleicht,
So ist es doch verronnen –
Zerronnen –

Wir kämpfen mit der Nagerin,
Der Zeit, der nimmermüden –
Still! War mir's doch, als ob zur Lust
Von fern Gesänge lüden –
Fürwahr: ein leises Kling und Klang . . .
Zum Mund mit Jubel und Gesang
Den Trank voll Glut und Leben
Sie heben . . . 93

Ja! Eine Freudensonne glüht
Inmitten wilden Krieges:
In allen edlen Herzen ist's
Die Zuversicht des Sieges!
Doch wo das Schwert, das ihn erwirbt,
Das jeden Höllengeist verdirbt?
Wo glänzt die blanke Wehre,
Die hehre?

Nun Mitternacht! – Da ließ ich weit
Die Glocke donnernd schwingen,
Und meine Seele schrie hinein
Mit Beben und mit Klingen:
Sie soll uns Schwert des Lichtes sein,
Die reine Siegerin allein
In Nacht und Sturmgetriebe:
Die Liebe.

*


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