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Zweites Buch.

»Wer unter euch ohne Sünde ist,
der werfe den ersten Stein auf sie.«

Johannes-Evangelium.

 

Magdalena hat in ihrem Leben sehr viel Schreckliches gesehen und über sich ergehen lassen müssen, aber jener entsetzliche Anblick, der sie als Kind in die Nacht hinaustrieb: die eigene Mutter in den Armen eines berauschten Wüstlings – seine Wiederholung ist ihr erspart geblieben.

Dennoch, wenn sie später als eine Wissende ihre Kindheit in Hamburg überdachte, tauchten einzelne Momente darin auf, die dem Blitz gleichen, der über unheimliches Moor fahrend, eine tiefe Nacht erhellt.

Martha Klein führte ganz gewiß nicht das Leben einer Heiligen, und wenn sie feine Herrenwäsche wusch, so waren die feinen Herren dabei eine große Hauptsache; aber nicht nur mit Rücksicht auf die Polizei, sondern auch aus Furcht vor dem eigenen Kinde verlegte sie ihr lichtscheues Treiben auf die Straße und vermied es sehr sorgfältig, Männerbesuch bei sich in der Wohnung zu empfangen. –

Dennoch hielt sie die paar kleinen Stuben im Hinterhause nicht nur peinlich in Ordnung, sondern sie schmückte auch ihr Heim mit allerlei Dingen, deren Anschaffung zwar keine großen Summen verschlang, die aber dennoch im Mißverhältnis zu dem Erwerb einer Feinwäscherin standen.

Und an diesem Punkte setzte zuerst der Scharfblick Magdalenas ein.

Es war immerhin denkbar, daß jene Nachtszene im elterlichen Gartenhaus auf Wahn- und Traumvorstellungen beruhte, und Dr. Heller hatte wenigstens sein Möglichstes getan, um diesen Glauben in dem Kinde zu befestigen; aber das Mißtrauen war zum mindesten in der frühreifen Mädchenseele geweckt, und so traurig es klingt, Magdalena fühlte sich gewissermaßen dazu berufen, die Aufpasserin ihrer eigenen Mutter zu spielen.

»Wo hast du das nur wieder her, Mama?« fragte sie einmal, als Martha sich einen neuen Teppich für die gute Stube geleistet hatte – du klagst doch immer darüber, daß die feine Wäsche so wenig einbringt, und daß die Herren so oft schuldig bleiben.«

Martha war verlegen, aber zum Glück fiel ihr ein Ausweg ein.

»Es ist ein Geschenk vom Paten, Lene. Alle schönen Sachen, die wir besitzen, stammen eigentlich von ihm.«

Eine Weile fand sie Glauben bei dem Kinde. Dieser vornehme Mann mit dem gütigen Lächeln war noch immer Magdalenas Idol, und sie beklagte es oft, kein Bild von ihm zu besitzen; aber wenn er so freigebig war, warum kam er denn niemals selbst, um sich nach seinem »kleinen Liebling« zu erkundigen? Es war doch keine Reise um die Welt, denn Magdalena entsann sich noch recht gut, daß die Fahrt nach Hamburg nur kurze Zeit in Anspruch genommen hatte.

Die Sache mußte doch wohl anders zusammenhängen. Dann kamen die abendlichen Ausgänge der Mutter.

Wenn Martha den Tag über im schlumpigen Hauskleide, oft in Unterrock und Nachtjacke geschuftet hatte – denn fleißig war sie trotzalledem, – so zog sie abends ein seidenes Kleid an, schmückte sich mit einem mächtigen Federhut und legte besonderes Gewicht auf feine Lackstiefel mit hohen Absätzen.

Magdalena, die stets ihr eigenes Stübchen hatte, mußte dann früh ins Bette gehen, und sie wachte oft spät in der Nacht darüber auf, daß ihre Mutter wieder heimkam und nebenan mit Geld klimperte. Diesen seltsamen Lebenswandel erklärte Martha freiwillig und ungefragt mit ihrem Beruf als Wäscherin.

»Vormittags sind die Herren im Geschäft,« sagte sie, »und da kriegt man kein Geld. Aber abends trifft man sie leichter zu Hause, und dann kommt es wohl vor, daß ich noch irgendwo ein Glas Bier trinke, denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert.« – – – – – –

Das waren Blitze über dem Moor, und endlich belauschte Magdalena eine Szene zwischen ihrer Mutter und der Hauswirtin, bei der es zwar gedämpft, aber desto deutlicher herging.

»Es tut mir leid, Frau Klein, denn Sie bezahlen Ihre Miete pünktlich, aber die Polizei hat schon ein paarmal nachgefragt; ich möchte lieber mit den Herren nichts zu tun haben.«

»Was wollen Sie denn, Frau Müller? Ich bringe doch nie einen Kerl in die Wohnung!«

»Nein, das tun Sie nicht; aber die Gesetze sind nun mal so.«

Martha mußte ausziehen, und nun wußte Magdalena Bescheid. Also ihre Mutter war auch so eine, wie sie in den Straßen und Anlagen Hamburgs nach Einbruch der Dunkelheit herumstrichen – so eine, von der jedes Großstadtkind weiß, daß sie nicht nur frische Luft schöpfen und sich an Gottes schöner Natur erfreuen will.

Es war kein plötzliches, sondern ein allmähliches Erkennen, ein Übergang aus der Dämmerung in die Klarheit, und die Wirkung war auch dem entsprechend. Magdalena war kein Kind mehr im modernen Sinne, sie ging in ihr dreizehntes Lebensjahr, gewisse physische Veränderungen waren schon bei ihr eingetreten. Und in der Mädchenschule, die sie besuchte, unterhielt man sich von geschlechtlichen Dingen.

Noch nicht mit jener zynischen Frechheit, die wie eine Giftpflanze den Sumpfboden der Großstadt überwuchert; diese blonden, kräftigen germanischen Mädchen blickten mit einer gewissen Scheu hinter den Vorhang, aber sie waren dennoch schon sehr klug geworden, und ihr Urteil über die »Gefallenen« klang im allgemeinen milde. Denn sie stammten fast alle aus den Kreisen des Arbeiterstandes.

»Es ist viel Unglück dabei«, sagten die einen, und andere behaupteten:

»Die Mannsleute sind an allem schuld; es gibt zu schlechte Kerls.«

Manche schwiegen auch ganz über die große soziale Frage, und das waren solche, die einen Flecken in der eigenen Familie hatten.

Eine ältere Schwester, die »ausging« – eine Mutter, die in wilder Ehe lebte – einen Vater, der sich aushalten ließ. – –

Auch Magdalena gehörte zu den Schweigenden. Es grämte sie wohl, daß ihre Mutter auch nicht besser war, aber zu dem Schmerz gesellte sich eine halb unbewußte geschlechtliche Neugier.

Die Vornehmen sollten es ja, wenn auch in anderen Formen, nicht viel besser machen; wenn aber die ganze Menschheit unter diesem Bann stand, dann mußte doch etwas Besonderes daran sein – mehr als an Essen und Trinken und Schlafen und schönen Kleidern. –

Dann kam eine Zeit, wo alles anders zu werden schien. Magdalena wurde konfirmiert; sie war schon damals ein voll aufgeblühtes Mädchen von seltener Schönheit; sie hatte die dunkeln Augen und Haare der Mutter und auch deren Züge; aber das vornehmere Blut in ihren Adern verleugnete sich nicht – wenn Martha in ihren besten Jahren einer Päonie geglichen hatte, so war Magdalena eine Rose. –

Und Martha war alt geworden.

Am Konfirmationstage trug sie noch ein schwarzseidenes Kleid, das aber schon in allen Näthen krachte, und am Nachmittag sagte sie zu ihrer Tochter: »Lene, nun bist du aus der Schule, jetzt wollen wir das Geschäft ausdehnen und ordentlich in Schwung bringen. Ich verlange nicht von dir, daß du den ganzen Tag am Waschfaß stehst und dir die Hände wund reibst – dazu bin ich noch rüstig genug. Aber du kannst ein bißchen plätten und vor allen Dingen die feine Wäsche ausbringen; das viele Treppensteigen wird mir ohnehin zu sauer; ich habe, weiß Gott, meine Glieder gebrauchen müssen.«

Und dann setzte sie sich hin und weinte über all die Arbeit, die sie hinter sich hatte; ja Frau Martha war etwas alt geworden, und es kam noch hinzu, daß sie bei ihrem Geschäft allmählich Bekanntschaft mit den Likören gemacht hatte.

Man sagt, daß es mancher »feinen Wäscherin« ähnlich ergehen soll. –

*

Die Pädagogen haben sich den Kopf zerbrochen, was mit unserer männlichen Jugend in der Zeit von der Konfirmation bis zum Heeresdienst zu beginnen sei, und die dieses schreibt, hat einmal als Preisrichter und Mitglied einer gelehrten Akademie achtzig Abhandlungen darüber durchlesen müssen.

Sie waren alle einig, daß die erwähnte Zeit für unsere männliche Jugend sehr gefährlich ist, aber die Frage, was mit den Töchtern des Volkes zwischen Konfirmation und Heirat geschieht, wurde nicht dabei erörtert.

Sie war ja auch nicht gestellt. – – – – – – –

Magdalena wurde Austrägerin feiner Herrenwäsche. Man kann nicht sagen, daß ihre Mutter sie überanstrengte. Im Gegenteil: wenn Magdalena sich mal selbst an das Waschfaß stellen wollte, so wehrte die Alte – denn sie war plötzlich alt geworden – und sprach von »Verschimpfieren« der Hände.

Und mit dem Plätten ging es ähnlich. Denn am heißen Herd wird das Gesicht rot und kriegt Risse; Frau Martha war aber sehr um den Teint ihrer Tochter besorgt.

Wie auch um deren Kleidung.

Da war nichts fein genug, es mußte für die Lene angeschafft werden; sogar auf die Leibwäsche erstreckte sich diese Fürsorge.

»Denn« – sagte Frau Martha – »bei einem Mädel sehen die Herren durch und durch, und wenn sie was Schlumpiges ahnen, dann fällt es auf die Wäscherin zurück«. –

Später hat Magdalena in gestickter Wäsche schwelgen müssen und sie hat oft hineingeweint; damals lachte sie über diese Marotte ihrer Frau Mutter. – Sie lachte überhaupt sehr gern, und die Alte war dann außer sich vor Entzücken.

»Nein, diese schönen Zähne! Vielleicht würden sie noch weißer aussehen, wenn du ein klein bißchen Rot auf die Lippen tun wolltest.

Ich habe da noch zufällig was liegen – –«

Nein, davon mochte Magdalena nichts wissen.

»Wem meine Lippen nicht gefallen, der braucht nicht hinzusehen; Schminke schmeckt so eklig.«

Sie war damals allerdings ein bißchen bleichsüchtig und hatte infolgedessen allerlei Gelüste, zum Beispiel nach Knoblauchwurst. Aber die Alte wehrte entsetzt ab.

»Um Gotteswillen, nur das nicht! Lieber ein paar Kaffeebohnen; die fraß ich in deinen Jahren mit Wonne, und davon wird der Atem rein. Du glaubst garnicht, was die Herren für 'ne feine Nase haben – wenn so eine mit Knoblauch ihnen nahe kommt –«

»Ich brauche ihnen ja gar nicht nahezukommen«, schmollte Magdalena, und die Alte begütigte:

»Na ja, ich meine nur –«

Es war seltsam, wie sich das mit dem Ausbringen der feinen Wäsche in den paar Jahren geändert hatte! Früher war Frau Martha immer des Abends ausgegangen – freilich meistens nur mit der feinen Wäsche, die sie auf dem eigenen Leibe trug – jetzt redete sie aus einem anderen Ton.

»Abends sitzen die Herren ja immer in der Kneipe«, sagte sie; »morgens zur Kaffeezeit trifft man sie am sichersten. Es ist nur wegen des Geldes, Lene – wenn ein hübsches Mädchen sie nett ansieht, dann ist gleich das Portemonnaie draußen.«

Also ging Magdalena zur Kaffeezeit.

Die war nicht immer ganz genau zu treffen, denn die Mehrzahl der Kunden bestand naturgemäß aus Junggesellen, und wenn der Hamburger auch sehr flott arbeitet, den Tag beginnt er doch ein bißchen spät.

So geschah es nicht selten – Sonntags war es sogar die Regel –, daß der betreffende Herr noch im Bette lag, wenn das »Wäschemädel« anrückte.

Natürlich waren es lauter »feine« Herren, die ein besonderes Schlafzimmer besaßen, und Magdalena brauchte nur das Wohnzimmer zu betreten; aber die Tür stand bisweilen offen, und da gab es dann zwar noch keine Anfechtungen, aber doch kleine Neckereien.

»Bringen Sie doch das Zeug herein, Kleine; ich beiße nicht.«

»Nein, danke; ich stelle es hier auf den Tisch.«

»Aber Sie wollen Ihr Geld haben – ich kann doch nicht im Hemd aus dem Bett!«

Geld war freilich die Hauptsache, das hatte Martha ein für allemal eingeprägt, und so mußte Magdalena wohl oder übel in das Schlafzimmer.

Da ging es denn verschieden her.

Die einen – es war doch wohl die Mehrzahl – hatten es wirklich ernst mit dem Bezahlen. Sie streckten nur den Arm unter der Decke hervor, zählten die Markstücke auf das Nachttischchen und sagten höchstens: »Na, Kleine, das war doch gar nicht so gefährlich; das nächste Mal kommen Sie schon ganz von selbst!«

Notwendig war so 'ne Redensart freilich auch nicht, aber ein klein wenig mußte die Situation doch angedeutet werden; es ist wirklich kein geringer Unterschied, ob der Mann im Hemde unter der Federdecke liegt, oder ob seine Blöße mit einem leichten Anzug verhüllt wird.

Da waren andere, die gingen schon einen Schritt weiter; meistenteils ganz junge Leute, denen das Laster noch nicht auf der Stirn geschrieben stand.

Sie fingen an im Scherze zu handeln und sagten, das Geld wäre momentan so fürchterlich knapp bei ihnen –, ob sie nicht die Hälfte mit einem Kuß bezahlen könnten. –

Solchen Schlingeln sah Magdalena entweder ernsthaft oder lachend, aber stets aus gehöriger Entfernung in das Gesicht, und sie erzielte meistens den gewünschten Erfolg, nämlich eine Entschuldigung und Zahlung – mitunter kriegte sie auch nur das eine oder das andere. –

Dann war einer unter ihren Kunden, der sich immer ganz besonders korrekt und anständig benahm. Er hatte auch schon die dreißig zu fassen, und in seinem Gesicht stand allerlei geschrieben, was man so oder so auslegen konnte.

Der rief Magdalene niemals in das Schlafzimmer, sondern er war schon immer angekleidet, wenn sie kam. Nur einmal stand er in Hemdärmeln vor dem Spiegel und knüpfte an seiner Halsbinde; und als sie die Wäsche vorgezählt hatte, sagte er:

»Ich kann wahrhaftig mit dem Ding nicht zustande kommen – wollen Sie mir nicht ein bißchen helfen, Lenchen?«

Freundliches Benehmen gegen die Kunden war Marthas drittes Wort; so stellte Magdalene denn ihren Korb hin und machte sich an das Samariterwerk. Und der Herr hielt erst ganz stille.

Dann legte er plötzlich seine Hände leicht auf ihre Hüften und fragte:

»Sag' mal, Kind, wie alt bist du eigentlich? Doch wohl längst über vierzehn?«

»Fünfzehn«, entgegnete Magdalena und schob die Hände weg.

»So – na ja, du könntest ganz gut für siebzehn gelten; hast du denn noch keinen Schatz?«

Da bäumte sich der Trotz in dem Mädchen aus.

»Ich habe keinen und will auch keinen – Sie am wenigsten!«

Er lachte, daß ihm das Blut in die blassen Wangen stieg: »Nu sieh' einer das Mädel! Ich habe dich ja noch gar nicht gefragt, ob du mein Schatz werden willst!« »Aber Sie haben mich angefaßt!«

»Dumme Deern! Doch nicht so, wie man euresgleichen anfaßt!« – – – – – – – – – –

Das war die erste Beleidigung, und sie ging tief. Also weil sie um das tägliche Brot arbeiten mußte, durfte jeder Fatzke sich das Recht anmaßen, sie anzugreifen! Diesmal ging sie nicht lachend, sondern weinend fort, und als ihr die ganze Szene noch einmal vor Augen trat, da dachte sie:

»Wenn er mich wirklich hingeschmissen hätte, das wäre noch nicht so schlimm gewesen als diese Worte – o, diese erbärmlichen Worte!«

Die Mutter erfuhr dennoch nichts davon, aber einige Wochen später, da kam es. –

Unter den Kunden befand sich nämlich einer, den sie den »Herkules« nannten. Er war Kaufmann, wie die meisten, betrieb aber nebenbei allerlei Sport und gehörte auch einem Athletenklub an.

Er sollte ein roher Mensch sein, davon hatte Magdalena schon gehört, und sie ging deshalb immer mit heimlichem Bangen zu ihm, aber er kümmerte sich scheinbar nicht um sie.

Und an einem Sonntagmorgen – sie hatte sich besonders fein gemacht – ging sie wieder in die Wohnung des Herkules.

Er rumorte in seinem Schlafzimmer, dessen Tür angelehnt stand, schmiß mit Hanteln um sich und sprach zu ihr durch den Spalt.

Plötzlich kam er zum Vorschein.

Er hatte seine mächtige Gestalt in eine große rotwollene Decke gewickelt, die bis zu den nackten Füßen hinunterging, blieb in der Tür stehen und sagte mit seiner dröhnenden Stimme:

»Donnerwetter, Mädel, hast du dich herausgeputzt! Das ist ganz fein, aber willst du mal sehen, wie unsereins beschaffen ist?«

Sie starrte ihn ganz entsetzt an, und da geschah das unsagbar Rohe. –

– – – – – – – – – – – – – – – –

Also das war ein Mann!

Magdalena schrie auf und bedeckte die Augen mit den Händen; dann rannte sie die Treppe hinunter und hörte nur noch hinter sich das brutale Lachen des gemeinen Menschen.

Sie weinte nicht. Aber als sie vor ihrer Mutter stand, da begann sie laut zu schelten, und die ganze widerwärtige Geschichte sprudelte über ihre Lippen.

Nie – nie wollte sie wieder die Wäsche austragen, die Männer waren alle eklige Kerle, aber so schlimm wie der hätte es doch noch keiner gemacht!

Martha war wirklich bestürzt.

Eine Liebschaft mußte ja einmal früher oder später kommen, und wenn es ein feiner splendider Herr war, dann hatte sie im Grunde ihres Herzens nichts dagegen; aber in diesem Falle fühlte sie sich selbst in ihrem Geschlecht verletzt.

»So'n Schwein!« murmelte sie fortwährend – »so'n Saukerl! Na, dem werde ich es aber stecken!« .

Und sie ging wirklich zu dem Herkules.

Nach einer Weile kam sie ruhiger zurück.

So schlimm sei es wohl nicht gemeint gewesen. Der Herr habe sich damit entschuldigt, daß er nur einen Spaß machen wollte; die Decke sei ihm wirklich aus Versehen weggerutscht.

Und dann schlich Frau Martha in eine Ecke, wo sie mit Geld klimperte. Magdalene sollte das nicht merken, aber sie hörte es doch und dachte:

Früher hat sie sich selbst verkauft, und nun komme ich an die Reihe. Das ist wohl so der Lauf der Welt.

Aber diese Begebenheit hatte doch eine unheilvolle Wirkung für Magdalena im Gefolge. Wenn jener Mann, den sie sekundenlang unverhüllt gesehen hatte, ein greiser Lüstling gewesen wäre, dann hätte der Ekel, den das Nackte ihr tatsächlich einflößte, Bestand gehabt, und sie wäre mit einem Schrecken davongekommen.

Aber Magdalene hatte etwas wirklich Schönes gesehen, eine jener Idealgestalten, die das keuscheste Weib in den Museen bewundert, die es unter veränderten Kulturverhältnissen auch in der Natur mit reinen Sinnen betrachten würde.

Magdalena begann darüber nachzugrübeln, warum dies nicht der Fall sein durfte und als jener erste Ekel sich gelegt hatte, da kam sie zu einem merkwürdigen Ergebnis.

Im Grunde genommen hatte jener Mann ungeachtet seiner Roheit ihr viel weniger Kränkung zugefügt, als der erste mit seinen Fragen und seinem lüsternen Betasten; wenn das eine Geschlecht sich dem andern so zeigte, wie die Natur ihr Kunstwerk gedacht hatte, dann war es eine Lüge gegen die Natur, das Auge abzuwenden, anstatt in Schauen und Staunen zu versinken.

Eine Lüge, die Lüsternheit erzeugt.

In ihrer Unerfahrenheit ahnte Magdalene nicht, daß sie selbst bereits der Lüsternheit anheimgefallen war, daß ihr Grübeln nichts anderes bedeutete, als ein Verschleiern und Beschönigen der erwachten Sinnlichkeit – und so ging sie mit geschlossenen Augen ihren Weg, nur zuweilen erschauernd, wenn der Traum ihr jene Männergestalt in den Arm gelegt hatte. – –

*

Einige Zeit später – Magdalene war schon über die sechzehn hinaus – begann Frau Martha ihr Geschäft zu vergrößern; sie kriegte Damenkundschaft.

Das erstemal, als eine noch sehr gut konservierte dunkelhaarige Dame in eleganter aber unauffälliger Toilette bei ihr erschien – sie wurde Frau Zech angeredet – dieses erstemal entwickelte sich die Verhandlung ziemlich geheimnisvoll.

Magdalena wurde hinausgeschickt, aber sie horchte natürlich am Schlüsselloch und schnappte einige Brocken der Unterhaltung auf.

»Es ist ein gutes Geschäft,« sagte die Dame, »meine Mädchen gebrauchen natürlich viel Wäsche und es muß gut damit umgegangen werden. Na, Sie wissen ja wohl damit Bescheid.«

Dann lachte Martha.

»Ob ich damit Bescheid weiß! Wie viele haben Sie denn?«

»Nur vier.«

»Das ist aber wenig; die andern haben viel mehr.« »Ich bin auch nicht wie die andern; bei mir ist alles pikfein; glauben Sie denn, daß ich das auf der Straße finde?«

»Ach was; von der Straße kommen sie alle!«

»Da irren Sie sich aber sehr, meine Beste; bei meinen Verbindungen habe ich das nicht nötig – aus erster Hand, sage ich Ihnen und frisch wie die Mandelkerne.«

Darauf kam wieder Marthas Stimme:

»Na, mir kann es ja gleich sein. Aber das sage ich Ihnen gleich, Frau Zech: billig kann ich den Preis nicht stellen; wo so viel verdient wird, da wollen andere Leute ihren Schnitt auch machen – das ist noch überall Mode in der Welt gewesen.«

»Sie werden schon zufrieden sein, Frau Klein. Wie steht es denn mit dem Bringen der fertigen Wäsche? Jedermann gibt sich natürlich nicht dazu her.«

»Ins Haus?«

»Nein, nur bis an die Tür – dort wird sie abgenommen.«

Es entstand eine kleine Pause in der Verhandlung und Magdalena drückte das Ohr fester ans Schlüsselloch.

Dann sagte ihre Mutter zögernd:

»Wenn es wirklich nur bis an die Tür ist, dann könnte ja allenfalls meine Tochter Lene – –«

»Das hübsche Mädchen ist Ihre Tochter, Frau Klein?«

»Nu, natürlich! Sieht sie mir etwa nicht ähnlich?«

»O ja – vielleicht nur zu sehr! Ich glaube, die können Sie mal hüten, sie hat es in den Augen, soweit ich mich darauf verstehe.«

Magdalena hatte nicht alles verstanden; sie mußte flüchten, denn drinnen wurde ein Stuhl gerückt. Aber als die »Dame« fort war, fragte sie die Mutter, was das denn für eine neue Kundin sei, und Frau Martha machte sich an ihrer Kommode zu schaffen.

»Sie hat wohl so 'ne Art Pensionat, Kind – ich weiß selbst nicht genau damit Bescheid. Aber jedenfalls werden wir ein hübsches Stück Geld verdienen.«

Schon am folgenden Tage kam ein ganzer Berg Damenwäsche, und obwohl Magdalena selbst gut ausgestattet war, so was Feines hatte sie doch in ihrem Leben noch nicht gesehen.

Da war kein Stück, das nicht mit den teuersten Spitzen besetzt gewesen wäre, und es duftete nach einem Parfüm, das Martha mit offenen Nüstern einsog, während ihre Tochter sich davon angeekelt fühlte.

»Das ist ja alles kaum gebraucht,« sagte sie.

»Ja, Kind, es müssen verwöhnte Damen sein. Solche Leute wechseln die Wäsche jeden Tag und mitunter zweimal.«

Dann kam das erste Ausbringen. Magdalene kriegte Straße und Hausnummer bezeichnet und erhielt zugleich die Weisung, nur an der Tür zu schellen. Man würde dann die Sachen abnehmen und auf Bezahlung brauchte nicht gewartet zu werden.

»Wir haben ein Konto,« sagte Martha nicht ohne Stolz.

Die betreffende Straße lag in der Nähe des Rathauses, also in einer ziemlich belebten Gegend, aber Magdalena war – sie wußte eigentlich nicht warum – niemals darin gewesen und sie wunderte sich, daß kaum ein Mensch auf dem Trottoir zu sehen war. Die Häuser schienen sämtlich recht alt zu sein, aber das »Pensionat« der Frau Zech war doch besser gehalten als die Nachbargebäude, obwohl es ebenfalls einen düstern und verschlossenen Eindruck machte.

Es hatte außer dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk mit sechs Fenstern Front und die unteren Scheiben bestanden alle aus undurchsichtigem Glas; es mußte ein recht strenges Pensionat sein, dessen Vorsteherin den Zöglingen keinen Ausblick auf die Straße gestattete; übrigens waren die anderen Häuser ähnlich, und diese Gegend mußte sich daher ganz besonders zu erzieherischen Zwecken eignen.

Neben der Tür, über der eine rote Laterne mit der Hausnummer angebracht war, lag ein kleines viereckiges Fenster, und als Magdalena schellte, wurde eine bewegliche Scheibe zurückgeschoben, und der schlecht frisierte Kopf eines alten Weibes kam zum Vorschein.

»Entschuldigen Sie,« sagte das Mädchen bescheiden, »ich bringe hier die Wäsche für die gnädige Frau.«

Die Alte grinste wie ein Waldteufel.

»Gnädige Frau ist gut. Na, warten Sie mal, Kleine.«

Die Tür flog auf, und der Korb wurde in Empfang genommen. Magdalena blickte in einen schmalen Flur, von dem eine Treppe nach oben führte; im Hintergrunde sah sie eine Tür aus Milchglas, hinter der eine Gasflamme zu brennen schien, obwohl es um die Mittagszeit war.

Und dann kam von oben am Treppengeländer eine tiefe weibliche Stimme:

»Kathrine, olle Zottel, kommen Sie mal fix ruff, ick will mir ankleden.«

Magdalena ging nachdenklich von dannen. Das war doch ein recht sonderbares Pensionat, wo solche Reden geführt wurden, und wo man erst um zwölf Uhr aufstand. Und sie hätte fast einen Konstabler, der ihr entgegenkam, um Auskunft gebeten, aber der Mann sah das junge Mädchen so seltsam von der Seite an, daß sie sich plötzlich schämte.

Als sie aus der Straße auf den belebten Rathausplatz hinaustrat, kreuzte eine Bekannte ihren Weg, eine Verkäuferin, die in ihrer Nachbarschaft wohnte.

Das junge Mädchen blieb stehen und machte große Augen.

»Na, Lene, was haben Sie denn da in der Bumsgasse zu suchen? Das ist doch nichts für ein anständiges Mädchen!«

Magdalena war so verwirrt, daß sie im ersten Moment keine Antwort fand; als sie dann endlich den Mund öffnete, war eine Menschenwelle gekommen und hatte die beiden auseinandergerissen.

Sie ging heim. Ihre Mutter wartete schon mit dem Mittagessen und hatte es sehr eilig, die Suppe aufzutragen; sie fragte nicht und löffelte drauf los, während Magdalena keinen Bissen anrührte; endlich blickte sie auf.

»Na, schmeckt's nicht?«

»Nein.«

»Ist dir was passiert?«

»Ja,« entgegnete Magdalene, »man hat mir die Wahrheit ins Gesicht geschmissen. Soll ich dir sagen, was das für 'n Haus ist – von dieser gnädigen Frau – dieser Madam Zech oder wie sie heißt?«

»Laß doch gut sein, Lenchen[!«

»Ein Bums ist es!!«

»Gott bewahre« – sagte Martha – »wer nimmt denn so 'n Wort in den Mund! Feine Leute nennen es ein Freudenhaus, das klingt viel besser.«

»Ist viel Freude darin, Mutter?«

»Ich weiß nicht,« entgegnete die Frau zaghaft, »ich bin doch nicht drin gewesen. Aber das eine weiß ich: es sind Menschen so gut wie wir, und der Herr Pastor predigt jeden Sonntag von der Nächstenliebe.«

Als das Mädchen schwieg, wurde sie immer weichmütiger.

»Sieh' mal, Kindchen, schön ist es ja nicht. Aber die Menschen müssen doch ihre Wäsche haben, und wenn's die eine nicht tut, dann tuts die andere. Unsereins darf nicht darauf sehen, wo das Geld herkommt, es läuft überall durch viele schmutzige Hände. Aber wenn du das Zeug nicht hinbringen magst, so muß ich in den sauren Apfel beißen und ein Laufmädchen annehmen, denn mir soll keiner nachsagen, daß ich meine Tochter in den Bums schicke – nein, davor soll mich der liebe Gott behüten!«

Sie hatte schon eine Herzensstärkung genommen, und nun kamen die Schnapstränen – Magdalena kannte das, mitunter folgten auch ein paar Krampfanfälle von der gelinderen Sorte.

»Reg' dich nur nicht auf,« sagte sie. Schlimmer als mit den Mannskerlen ist es nicht, und schließlich hast du recht: diese Mädchen sind auch Menschen, und keiner kann wissen, was mal aus ihm selbst wird. Aber eines bedinge ich mir aus: am hellen Tage gehe ich nicht mehr hin; wenn man so unter der Sonne aus den Rathausplatz hinaustritt, dann werden ja die Steine rot!« – – – –

Das war ein Vorsatz, den die Scham erzeugte, aber seine Wirkung verwandelte sich in das Gegenteil; denn seitdem Magdalena ihre Geschäftswege erst nach Eintritt der Dunkelheit und mitunter spät abends ausführte, lernte sie das schleichende Laster kennen und sie sah, wie die Männerwelt zwar verstohlen, aber in großer Anzahl zu den Tempeln der Venus pilgerte. Und es waren nicht nur junge Leute, die sich einen Rausch geholt hatten, sondern neben allen Klassen der Bevölkerung waren auch die verschiedensten Altersstufen vertreten, und Magdalena erkannte bald, daß die Geschlechtsfrage viel mächtiger sei, als sie bisher geahnt hatte, ja daß sich ihr sogar alle anderen Triebe des Lebens willig oder zähneknirschend unterordneten. Allmählich ging in dem heranreifenden Mädchen eine seltsame Veränderung vor sich; jener mitleidige Stolz, der ihr das Wort von dem Menschentum der Gefallenen auf die Lippen legte, machte einer prickelnden Neugier Platz, und eines Abends beschloß sie, um jeden Preis einen Blick in das »verlorene Paradies« zu werfen.

Sie wählte absichtlich eine späte Stunde, in der ihre Mutter bereits von den Geistern des Likörs überwältigt war, raffte ein wenig fertige Wäsche zusammen und machte sich auf den Weg; das Herz klopfte ihr, aber sie überwand tapfer jede Regung von Furcht – Schlimmeres als damals mit dem »Herkules« konnte ihr doch wahrhaftig nicht passieren.

Sie kam auch unangefochten bis in die betreffende Straße, denn die Erfahrung hatte sie schon gelehrt, daß man dort auch am Abend ziemlich sicher passieren konnte; am Eingang stand immer mindestens ein Konstabler, und die Männer, welche den Häusern zustrebten, kümmerten sich niemals um das, was auf der Gasse vorging; sie waren alle gleichsam in einem Bann, wie der Vogel, den das Auge der Klapperschlange bestrickt hat.

Mit der Pförtnerin war Magdalena schon ein wenig bekannt geworden, die Alte hatte an dem hübschen frischen Mädchen ihren Narren gefressen; es war wohl ein bißchen kupplerischer Instinkt dabei, denn Mutter Trinas Vergangenheit wies natürlich bedenkliche Flecken auf; es mischte sich aber auch etwas mütterliches Wohlgefallen hinein, denn dieses alte Gerippe hatte auch mal eine blühende Tochter besessen.

Na ja, sie ging denselben Weg. –

Die Pförtnerin nahm wie gewöhnlich die Wäsche ab und murmelte etwas von der späten Stunde; da sagte Magdalena stockend:

»Mutter Trine, ich muß eins von den Fräuleins sprechen; man kann wohl mal da vorne hineingehen?«

»Eine von den Mädchen?« fragte die Alte mißtrauisch, »Kind, wie kommen Sie denn zu so 'ner Bekanntschaft?«

»Es war nur ein Zufall; ich bin – ich habe – –«

»Wie heißt sie denn? Ich kann sie herausrufen –«

»Nein, nein, ich muß selbst – –«

Da war Magdalena schon an der Loge vorübergeflitzt. Sie fühlte noch die dürre Hand der Alten an ihrem Arm, aber sie rannte vorwärts, geradeswegs auf die Tür mit dem Milchglas, hinter der es heute strahlend hell war.

Nur einen Blick – nur einen einzigen; dann wollte sie wieder umkehren. –

Die Phantasie einer Mädchenseele geht oft wunderliche Wege – Magdalena hatte etwas ganz Außerordentliches erwartet; irgend etwas, das an Haremsszenen, orientalische Bäder oder dergleichen erinnerte, wie man es auf tausend Illustrationen findet; und was sie in Wirklichkeit sah, das ernüchterte sie ein wenig.

Ein mäßig großer Salon, sehr hell beleuchtet und ziemlich elegant ausgestattet. An den Wänden liefen Diwans entlang, überall standen kleine Marmortische, im Hintergrund befand sich ein Büfett.

Außer Frau Zech, die hinter ihren Gläsern und Flaschen thronte, befanden sich nur sechs Personen im Zimmer: vier Mädchen und zwei Herren, die in zwei Gruppen verteilt waren.

Der ältere Herr saß mit drei Mädchen an einem Tisch zusammen, der mit Sektflaschen besetzt war; sie unterhielten sich ziemlich schläfrig und keineswegs sehr laut – etwas abseits in einer Ecke hatte sich ein Pärchen eingenistet, das eifrig zusammen flüsterte. Ihre Füße spielten miteinander, sonst sah man nichts Auffälliges; auch die Kleidung der Mädchen unterschied sich nur wenig von einer eleganten Gesellschaftstoilette, vielleicht ein bißchen mehr dekolletiert – nun ja.

Magdalenas Gestalt im Türrahmen brachte Leben in die Bude. Man sah es ihr natürlich sofort an, daß sie nicht hierher gehörte, aber das war ja gerade der Spaß; zwar das Pärchen in der Ecke nahm nicht viel Notiz davon, aber der mittelalterliche Herr sprang sofort auf und faßte Magdalena ums Handgelenk.

»Hurra, mein Täubchen, nun wird's lustig! Weiß der Deubel, erst glaubte ich, es wär' meine Alte, aber wenn ich so'n Weibchen hätte, dann könntet ihr mir alle gestohlen werden! Fix, Madam, noch 'ne Pulle Sekt, sehen Sie nicht, daß die Kleine Durst hat?«

Magdalene war entsetzt, das hatte sie nicht erwartet. Sie wollte sich losreißen, aber der joviale Herr hielt fest und zerrte sie in die Mitte des Salons bis unter den Kronleuchter.

Da kam Hilfe. Frau Zech rauschte majestätisch in ihrem schwarzseidenen Kleide hinter dem Büfett hervor, trat an die Gruppe heran und sagte würdevoll:

»Bitte mein Herr, lassen Sie das Mädchen los. Es ist die Tochter meiner Wäscherin, sie kommt in Geschäften und hat die richtige Tür verfehlt. Das ist alles.«

»Alte Hexe!« brummte der joviale Herr, ließ aber doch los und setzte sich wieder zu seinem Harem, während Frau Zech Magdalena mütterlich unterfaßte und mit ihr den Salon verließ. Auf dem Flur öffnete sie eine Tür und sagte freundlich:

»Kommen Sie hier herein, liebes Kind, man hat Sie erschreckt, Sie müssen sich erst ein wenig erholen. Nein, Sie brauchen sich nicht zu fürchten, dies ist mein Schlafzimmer, hier hat niemand etwas zu suchen.«

Magdalene befand sich in einem elegant ausgestatteten Gemach, das von einer Ampel matt beleuchtet wurde.

Ihr zitterten die Knie wirklich noch, sie ließ sich darum halb willenlos in einen Sammetsessel drücken und nahm auch ein Glas Wein, das man ihr bot.

Dann setzte die Frau sich neben sie.

»Nicht wahr, Sie wollten Geld haben? Die Rechnung ist wohl ein bißchen aufgelaufen?«

»Nein, Madam,« entgegnete Magdalene, indem sie unwillkürlich jene Bezeichnung wählte, mit der die Besitzerin eines Freudenhauses angeredet zu werden pflegt.

»Also nicht? Was wünschten Sie denn?«

»Ich wollte – ich wollte nur mal sehen, wie es da drinnen aussieht.«

Frau Zech lächelte ein wenig. Sie war noch immer eine hübsche stattliche Erscheinung mit kohlschwarzen Augen, die in diesem Moment listig funkelten.

»Ei, ei, liebes Kind, so neugierig! Und was erwarteten Sie denn zu sehen?«

»Ich weiß nicht,« sagte Magdalena, »aber man hört doch so allerlei!«

»Nicht wahr? Schauergeschichten! Von schwindsüchtigen Mädchen, die sich zu Tode trinken, oder von Fettklumpen, die fluchen und priemen; – von frechen Dirnen, die für einen Schnaps nackt tanzen, von unglücklichen, die aus Verzweiflung in die Alster gehen. Haben Sie von diesen Dingen etwas da drinnen bemerkt, Lenchen?«

»Nein,« sagte Magdalena, »es sah ja eigentlich ganz – anständig aus.«

»Es gibt solche,« fuhr die Frau fort und nickte mit dem Kopf, »draußen auf der Straße, in den Anlagen, auf den Tanzböden, in den Matrosenkneipen. Es gibt auch einige von der Sorte in den konzessionierten Häusern, aber nur wenige. Und bei mir kommt es überhaupt nicht vor. Ich halte auf elegante Kleider, gutes Essen und Trinken, anständige Behandlung, feine Kundschaft –«

»Und das bißchen Liebe,« sagte Magdalena, die instinktiv fühlte, daß sie sich in diesem Milieu ruhig gehen lassen konnte; es war doch mal was anderes.

»Freilich, Kindchen, das bißchen Liebe gehört dazu. Aber es ist doch ein Unterschied, ob so'n besoffener Schifferknecht mit Schweißfüßen die Liebe begehrt, oder der Sohn von einem Senator. Ich könnte Ihnen Namen nennen, Lenchen – aber wir sind hier diskret, sehr diskret. Eins ist sicher: in diesem Hause fliegen die Goldstücke und die blauen Lappen, und am Strumpf meiner Mädchen bleibt soviel hängen, daß es mit der Zeit ein Kapital gibt.«

Sie lachte und erhob sich.

»Na, Kindchen, eigentlich ist das ja kein Gespräch für junge Mädchen. Aber aus Ihren Kreisen, Lene, kommen viele auf die Gasse, ehe sie sich umsehen; da kann es nichts schaden, wenn eine weiß, wo der Hafen ist.« – – – –

Magdalena ging. Der Kopf glühte ihr, und die Gedanken wirbelten durcheinander. Natürlich, es war nicht alles so, wie diese Frau gesagt hatte, es war nicht alles so, – aber neulich hatte ein betrunkener Matrose sie auf der Straße angerempelt und unzüchtige Griffe versucht – so einer kam wohl nicht in dieses Haus hinein, wo die Söhne der Senatoren Sekt tranken! – – –

Um diese Zeit kam Magdalena in die Periode der Lesewut. Die Mutter ließ ihr sehr viel Freiheit und sorgte nur ängstlich dafür, daß der Körper in jeder Beziehung gepflegt wurde; was mit der moralischen Entwicklung des jungen Mädchens geschah, war ihr ziemlich gleichgültig und lag auch wohl außerhalb ihres Gesichtskreises.

Magdalena aber hatte einen sehr lebhaften Geist. Es genügte ihr nicht, den oft sehr faden Inhalt der Familienjournale zu verschlingen, sondern sie lieh sich auch alle möglichen Bücher zusammen und lernte auf diese Weise zuerst das Schlagwort von der sozialen Frage kennen.

Obenan natürlich die Frauenfrage, denn die trat damals in den Vordergrund des Interesses, und Magdalene fühlte sich sehr als Vertreterin des Geschlechts – sie überzeugte sich oft bei der Toilette vor dem Spiegel, daß sie wenigstens körperlich eine durchaus vollwertige Repräsentantin war.

Übrigens machte sie doch Unterschiede in ihren Studien. Von den politischen Rechten der Frau wollte sie gar nichts wissen – das dünkte sie eine langweilige Männersache, wenn man es nicht schon ganz der Regierung überlassen wollte; und auch die Erwerbsfrage flößte ihr nur geringes Interesse ein, denn da waren immer Vorbedingungen dabei: Examina, die sie doch nicht machen konnte, und Arbeitsgebiete, auf denen die Nerven zu Tode gehetzt wurden. –

Aber das Mutterrecht!

Als Magdalene zum erstenmal schwarz auf weiß in überzeugender Weise las, daß jedes Weib ein heiliges Anrecht darauf hat, Kinder zu gebären, da glühten ihre Wangen vor Begeisterung und sie fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, wo man ihr den Beinamen der »kleinen Puppenmama« gab, denn dieses Spiel war ihr immer das liebste gewesen, und sie hatte es mit einem Ernst betrieben, der über das Kindliche hinausging.

Sie machte sich nun auch bald ihr System, das keineswegs einer gewissen Logik entbehrte.

Es ist in der Weltordnung begründet, daß die Menschheit sich erhalten muß; sie kann sich aber nur fortpflanzen, wenn immer wieder Kinder geboren werden, und da das Weib hierzu allein fähig ist, so hat es die sittliche Pflicht, seine Bestimmung zu erfüllen. Es bedarf dazu des Mannes und kann von ihm die Beihilfe verlangen; das ist das Mutterrecht.

Nun hat zwar der Staat eine gewisse Grenze durch die Ehe gezogen, und im Interesse der Ordnung wie der Kinder ist diese Schranke wünschenswert; aber der Staat kann nicht die Eheschließung erzwingen, und die Männer entziehen sich immer mehr aus Bequemlichkeit und Selbstsucht ihrer freiwilligen Pflichterfüllung.

An diesem Punkt setzt die Lehre von der freien Liebe ein. In ihrer idealsten Form ist sie eine tatsächliche Ehe ohne Zwang, die erst durch den Tod gelöst wird; in ihrer gewöhnlicheren Gestalt wird sie auch den Wechsel vertragen, ihr Antlitz verzerrt sich erst, sobald das Erwerbselement hinzutritt.

Denn das Beste und Natürlichste im Menschen läßt sich niemals verkaufen. –

Magdalena fühlte sehr wohl, daß es einige große Kulturfaktoren gab, die sich diesem Gedanken der freien Liebe feindlich entgegenstellten, und deren Macht vorläufig ausreichte, um das Scherbengericht der Welt zusammenzurufen; aber zugleich erfüllte sie die Vorstellung eines rücksichtslosen Kampfes gegen diese Mächte mit einer fast fanatischen Begeisterung.

Rechte können niemals erbettelt werden, sondern sie werden stets gefordert, und der Sieg ist des Kampfes Lohn.

Magdalena grübelte sich so tief in den Gedanken vom ausschließlichen Mutterrecht hinein, daß sie sogar eine Geschichte glaubte, die ihr irgendwo unter die Augen kam – obwohl diese Begebenheit an sich recht unglaubwürdig klang.

Mit einer jungen schönen Tragödin sollte sie passiert sein. Die lebte ausschließlich ihrer Kunst und war gegen alle Männer eine Vestalin; sie besaß so wenig Empfindung für die Liebe, daß man an ihrem Geschlecht hätte zweifeln können – aber plötzlich überkam sie das Muttergefühl.

Und obwohl sie nicht lieben konnte, so wendete sie sich dennoch an einen ihr befreundeten gesunden und geistvollen Mann und bat ihn – um den Dienst.

Das Kind aber zeigte sie später mit Stolz aller Welt; sie rühmte sich, ihre Pflicht gegen die Natur und den Staat erfüllt zu haben, und die Größe dieses rücksichtslosen Stolzes war so wirkungsvoll, daß kein »Gerechter« einen Stein auf sie warf. –

Magdalena las diese Geschichte mit Tränen der Begeisterung. Ihre Lebenserfahrung reichte nicht aus, um den Fehler in der Rechnung zu erkennen; sie wußte nicht, daß erst die Liebe zu einem Mann das Muttergefühl weckt, und daß in diesem Falle eine große Seele sich auch über die Sitten hinwegsetzen kann; es war ihr unfaßlich, daß ein echtes Weib sich niemals zur Retorte für einen Homunkulus hergeben wird, und in diesem Mangel an Unterscheidungsvermögen lag jene versteckte Sinnlichkeit, die das Muttergefühl mit dem Geschlechtsgenuß verwechselt.

Magdalena war nun achtzehn Jahre geworden. Als sie am Morgen ihres Geburtstages noch im Bett lag, kam Frau Martha herein und setzte sich an das Kopfende. Sie war sehr feierlich und hatte schon ein kleines Trunkopfer gebracht, denn mit den Jahren nahmen ihre Andachten immer mehr zu.

Und von ihren Jahren fing sie an zu reden.

»Ich werde nun nächstens fünfzig,« sagte sie seufzend, »und der beste Teil vom Leben ist futsch. Was noch kommt, das geht wie auf der Rutschbahn, nur nicht so glatt. Ach Gott, die Sorgen!«

Magdalena dehnte sich behaglich in den Kissen.

»Du bist ja noch rüstig, Mutter; was wollen da fünfzig Jahre bedeuten?«

»Es waren Kriegsjahre dabei, Lene.«

Bis heute hatte sie niemals mit der Tochter von ihrer Vergangenheit gesprochen; es war ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen den beiden Frauen gewesen, daß daran nicht gerührt werden sollte; aber mit achtzehn Jahren beginnt die Vernunft, und mit fünfzig ist sie ganz kühl geworden.

Magdalena ahnte so etwas und stützte sich ein wenig im Bett auf.

»Hinter dem Berge brauchst du nicht gerade zu halten, Mutter; ich weiß ja doch, wie die Sachen liegen – ich bin nun alt genug und habe meine Schule durchgemacht.«

» Das nennst du Schule, Kind? Lieber Himmel, wenn ich an meine eigene Jugend zurückdenke, dann wird mir schwarz vor den Augen. Also darüber wollte ich mit dir reden, Lene, es ist ja nicht um meinetwillen, sondern ich habe Sorgen wegen deiner Zukunft. So wie ich sollst du es nicht haben; es war zuviel Häßliches dabei. Also wie denkst du dir das?«

»Was, Mutter?«

Die Alte war so in Verlegenheit, daß sie gar nicht wußte, was sie mit ihren Händen beginnen sollte. Schließlich zupfte sie an Magdalenens Nachthemd und fältelte den Spitzeneinsatz über der Brust.

»Was du doch für'n hübsches Mädchen bist – die feine Haut und alles andere! Na ja, schließlich kriegt das alles so'n Kerl wie mein Alter war, und der weiß es nicht mal zu würdigen.«

»Sprichst du von meinem Vater?«

Frau Martha bekam einen Hustenanfall.

»Von – deinem – Vater? Nu natürlich, von wem sonst? Der beste war er nicht, das kann ich dir versichern!«

Magdalena hatte von dem versoffenen Kutscher nur eine sehr unklare Erinnerung, und es war die Natur, die aus ihr redete, als sie entgegnete:

»So einen werde ich nie heiraten, Mutter; ich werde es wohl überhaupt nicht tun.«

Das war ja eine prächtige Einleitung; die Alte wurde ordentlich zärtlich und begann zur Abwechslung Magdalenens schönes Haar zu streicheln.

»Nicht wahr, Kindchen, eigentlich ist es auch das beste. Das heißt: ein feiner und vornehmer Mann wäre natürlich nicht zu verachten, aber den kriegt unsereins nicht, das ist ganz ausgeschlossen.«

»Freilich, den kriegt unsereins nicht,« wiederholte Magdalena und entzog sich den Händen der Alten.

Und dann zerriß sie plötzlich mit einem Ruck das Gespinst:

»Aber einen Geliebten kriegt man – das meinst du doch Mutter, was?«

Frau Martha war baff. Dieses Küken hatte sich immer so unschuldig angestellt, und nun war es schließlich klüger als die Henne und redete von Dingen, die man ja eigentlich zwischen Mutter und Tochter nicht gerne laut sagt, wenn sie auch natürlich gedacht werden.

Sie war so verdutzt die Alte, daß sie alle Umwege vergaß und mit schlichter Größe entgegnete:

»Ja, Lene, das meine ich.«

»Einen Geliebten, der uns aushält, und von dem wir schließlich ein Kind kriegen –« fuhr Magdalena fort.

Da befand sich die alte Dirne in ihrem Element. Sie schlug im Eifer auf die Bettdecke, und es war ihr, als ob da nicht das eigene Kind läge, sondern eine von den früheren Freundinnen, mit denen man tausendmal solche Dinge durchgetratscht hatte.

»Ach Lene, erst dachte ich, du wärest so klug, und nun kommt doch die Dummheit zutage. Gegen das Kinderkriegen gibt es Mittel genug, und du darfst ja nicht glauben, daß die vornehmen Liebhaber dabei weniger interessiert sind als unsereins. Denn sie müssen für den Balg blechen, daß ihnen die Schwarte knackt, und mit den Vaterfreuden ist das auch nur so 'ne miese Sache – also deswegen kannst du ganz ruhig sein, Lene; in der Hinsicht sind drei Senatorensöhne nicht so gefährlich wie ein einziger Viechkerl von Schauerarbeiter.«

»Aber wenn ich nun ein Kind haben möchte –« sagte Magdalene ganz gelassen. – –

Dieser Morgen war so reich an Überraschungen, daß Frau Martha gar nicht zur Besinnung kam. Sie hatte sich's wochenlang vorher überlegt, wie es am besten anzubringen sei, daß Kinder doch auch Pflichten gegen ihre Eltern haben, und nun kam ihr Magdalene nicht nur auf halbem Wege entgegen, sondern sie spielte sogar mit der größesten Gefahr, die einem Mädchen drohen kann, wie die Dompteuse mit einer blinzelnden Bestie.

Von den etwas unklaren Ideen über Mutterrecht und ähnliche Dinge, die in Magdalenens Hirn herumspukten, hatte Martha nicht die mindeste Ahnung, und sie betrachtete ihr eigenes Fleisch und Blut mit jener scheuen Bewunderung, die nicht daran glauben kann, daß man so was auf die Welt gebracht hat.

»Du wirst ja wohl eine ganz Große,« sagte sie. »Aber wenn du es zu einer Equipage gebracht hast, so vergiß auch nicht deine alte Mutter, die sich ihr Leben lang für dich geplagt hat – – –«

Da kamen wieder die Schnapstränen. Sie schlug die Schürze vor das Gesicht und watschelte zur Tür hinaus, und auch Magdalena schluchzte plötzlich auf, als der schlürfende Schall auf dem Flur verhallte.

Aber sie weinte nicht eigentlich aus Dankbarkeit gegen ihre Mutter. Es gibt auch solche Tränen, und wenn unser Kinderglaube von den Engeln Wahrheit wäre, dann müßte es einen besonders lichten Engel geben, der diese seltenen Tränen in der ganzen Welt sammelt, und als Perlenschnur vor Gottes Thron niederlegt. Magdalena weinte aus einem anderen Grunde. Allmählich hatte sie ja eingesehen, wie ihr Weg gehen würde. Es war etwas Unbekanntes in ihr, was sie zum Glanz und Wohlleben lockte, und für sie gab es nur eine Pforte zu diesem Paradies.

Aber daß die eigene Mutter ihr den Schlüssel dazu in die Hand legte – daß sie es an einem Tage tat, wo andere Mütter mit Segenswünschen auf den Lippen am Bett des Kindes niederknien: das war doch so erschütternd, daß Magdalena bitterlich aufschluchzte.

Von diesem Tage an trug sie in Wahrheit den Namen »Dolorosa«. – – –

*

Von Franz Heller hatte man in all diesen Jahren nur dunkle Gerüchte vernommen. Sie kamen wie Gewitterwolken über den Ozean gezogen und murrten über der deutschen Erde; aber vor der Villa, wo ein einsamer Mann immer einsamer wurde, zerstreuten sie sich in Dunst, und der Doktor selbst sagte, daß sein Sohn verschollen und tot wäre.

Auf dem Schiffe, das Franz nach Neu-York brachte, wollte man noch einen anderen Mann gesehen haben, den sie in Kiel als lästigen Ausländer abgeschoben hatten: Sanguessa sollte er heißen oder so ähnlich.

Von dem sprach keiner mehr, aber über den andern, der sich »vorbeigemordet« hatte, raunten die alten Bekannten sich lustige Geschichten zu.

Schulmeister sollte er geworden sein in einer Mädchenschule, und zwar auf Grund eines abgelegten Examens, in dem er alleine von allen Bewerbern gewußt hatte, was ein »Subjekt« bedeute.

Man hätte in ihm einen Bock zum Gärtner gemacht – kicherten die alten Bekannten in der Heimat.

Später redeten sie ernsthafter und mit Achselzucken. Ein Boardinghouse sollte er in Neu York gegründet haben. »Was für'n Ding?«

»Na ja, es fängt mit einem »B« an! – – –

Zuletzt verrann das Geraune im Sand; aber es setzte über einen anderen wieder ein.

»Wißt ihr schon, der verrückte Julius Mohrmann, der damals in Kiel wie eine Vogelscheuche herumlief?«

»Natürlich! Was ist mit dem? Hat er endlich sein Examen gemacht?«

»Ach du lieber Himmel, der und ein Examen! Der hat ja seine Leibrente. Aber er soll jetzt in Hamburg sein.«

»Als was?«

»Ja – hm – als so 'ne Art Apostel. Er bekehrt.«

»Wen? Was?«

»Fragt doch nicht so dumm; als ob es in Hamburg nichts zu bekehren gäbe! Er nimmt alles, was ihm unter die Finger kommt; der ist nicht heikel.«

»Alles – –?«

»Weiß Gott alles! Neulich soll er sogar in einem Bums geredet haben.«

»O Hä ne! Da geht selbst die Heilsarmee nicht hinein.«

»Die kleinen Mädchen sollen alle geheult haben wie die Schloßhunde.«

»Und dann hat »Madam« ihn wahrscheinlich hinausgeschmissen.« – – –

*

Das Haus, in dem Frau Zech ihr »Pensionat« hielt, war ganz gewiß ein Freudenhaus, und ihre vier Vestalinnen waren ganz gewiß Freudenmädchen. Aber mitunter verkehrt sich die Freude in das Gegenteil.

Heute, an einem trüben Herbsttage, wo die Bäume in den Anlagen Nebeltränen weinten, heute war die Trauer bei Madam Zech eingekehrt.

»Röschen« hatte einen Blutsturz bekommen und man holte sie ganz still und verschwiegen im Krankenwagen ab; es hatte nicht viel gefehlt, dann wäre ein Sarg daraus geworden; ein Sarg, den man aus der Gruft hinausträgt, anstatt wie gewöhnlich hinein.

»Madam« saß in ihrem Boudoir und weinte; aber sie war nicht allein – es ist eine herrliche Einrichtung in der Welt, daß nicht nur die Freude Genossen findet, wie es sich gehört, sondern bisweilen auch der Schmerz.

Der Mann, welcher Madams Einsamkeit teilte, mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein und machte einen sehr eleganten Eindruck. Seine Haare waren stark gelichtet, aus dem gelblichen Gesicht ragte eine kräftige Adlernase, unter ihr hing ein pechschwarzer Knebelbart über den energischen Mund. –

Philipp Sanguessa hatte sich nicht sehr verändert. Wenn man über einige Furchen hinwegsah, die auch ihm das Leben eingrub, konnte er als eine hübsche stattliche Erscheinung gelten, und so oft er den Jungfernstieg entlang ging, blieb manches Frauenauge aus einer gewissen Neugier an ihm hängen.

Die Männerwelt beurteilte ihn kritischer. Man wisse nicht so recht, wie und wo – hieß es bisweilen, aber in dieser großen internationalen Stadt waren die Ausländer mit unbekannter Vergangenheit zu häufig, um wirkliches Mißtrauen zu erregen, im übrigen aber hatte die Polizei ihre Pflicht zu tun, denn dazu war sie da.

Die wirklich tüchtige und wachsame Hamburger Polizei konnte keinen Makel an Philipp Sanguessa finden.

Er war kürzlich irgend woher gekommen, hatte musterhaft geordnete Papiere, bewohnte ein elegantes Garçonlogis und schien mehr als wohlhabend zu sein. Wenn er als Beruf »Rentier« angab, so war das eine Nummer, von der man nie genug haben kann, denn der eigentliche Arbeiter macht immer die meisten Quengeleien. – Die Polizei fand wirklich keine Veranlassung, diese exotische Pflanze auf ihre Wurzeln zu untersuchen. –

In das Boudoir von Madam Zech hätte sie freilich nicht hineinsehen dürfen. Aber die Dame trug dafür Sorge, daß man auch von einer harmlosen Straße aus in ihren Tempel gelangen konnte – das Haus war eine Art Dachsbau mit verschiedenen Röhren, und Sanguessa war durch die Notröhre eingefahren.

Er und Madam schienen auf einem sehr guten Fuße zu stehen, denn sie nannten sich Lips und Resi; Frau Zech war nämlich eine Böhmin und trug den Namen ihrer verflossenen Kaiserin.

»Ach, Lips,« sagte sie, ihre Tränen trocknend, »das Röschen war doch meine Beste – willst du einen Hennessy, Kleiner?«

»Immer ran damit, Resi! Also das war wirklich deine Beste? Mich dünkt, die Käthe und die Lore sind auch nicht aus Pappe, von Anna, dem Aas, ganz zu schweigen.«

»Du hast mich immer gut bedient,« bestätigte Frau Zech, »Käthe ist sogar ein Juwel, aber die Lore säuft sich noch zu Tode, und die Anna bleibt nicht, die hat höhere Dinge im Kopf. Mein armes Röschen gefiel den Herren immer am besten, und die muß es nun gerade mit der Gallopierenden kriegen, obwohl ich sie gepäppelt habe wie mein eigenes Kind.«

»Hast du Kinder gehabt, Weib?«

»Schwamm drüber –« sagte Frau Zech. »Wir sitzen hier doch nicht, um sentimental zu werden; das Geschäft ist immer die Hauptsache.«

»Natürlich – also eine neue. Denn von dem Vierblatt willst du wohl nicht abgehen, du mit deinem Aberglauben.«

»Ich bin nun mal darauf eingerichtet, Lips. Vier elegante Zimmer – da kann man doch keins leer stehen lassen.«

»Nein, das wäre eine Sünde gegen den heiligen Mammon. Hast du deine schönen Augen schon auf eine geworfen, Resi? Das Suchen ist hier nämlich ein bißchen gefährlich in Hamburg. Mit der Polizei darf man keinen Spaß treiben – es kostet mich ohnehin Geld genug, den vornehmen Kerl zu spielen und ihr Sand in die Augen zu streuen.«

Die Frau dachte einige Sekunden nach.

» Eine wüßte ich schon. Es ist die Tochter meiner Wäscherin –«

»Pfui, Resi!«

»Na, was willst du denn? Das Geschäft ist doch propre genug!«

»Ja – aber wenn die Mutter noch lebt, und wenn die Mutter arbeitet –«

»Darüber kannst du dich beruhigen, mein Herzchen. Die alte Klein war selbst eine »Horizontale«, und wenn es ans Kuppeln geht, dann verhandelt sie ihr eigen Fleisch und Blut. Übrigens glaube ich wirklich, daß das Mädchen beinahe so gut wie 'ne Jungfer ist.«

Sanguessa schänkte sich einen zweiten Kognak ein und schlürfte das Glas langsam leer.

»Hör' mal, Resi – alles, was recht ist. Ich habe ja eine ziemliche Routine im Geschäft, aber mit dem Jungfernkranz auf dem Kopf läuft doch wahrhaftig keine in den Bums hinein – das darfst du mir nicht weismachen, dazu bin ich nicht grün genug.«

»Ich auch nicht, mein Junge. Das Mädel muß natürlich erst herumgekriegt werden, aber das hält nicht so schwer, wie du denkst; es ist eine von den Wißbegierigen, sie war schon einmal bei mir im Salon, bloß um sich den Rummel mal anzusehen.«

Der Mädchenhändler saß eine Weile stumm da und zwirbelte nachdenklich seinen schwarzen Bart. Endlich sagte er kühl:

»Wenn es mal zur Abrechnung kommt, Resi – ich glaube, du wirst ein nettes Konto haben, Donnerwetter! Mein alter Herr war ein Schweinigel, und sein Sohn ist wohl nicht besser, aber an ein Weib reichen wir beide nicht heran. Natürlich soll ich selbst das Püppchen kneten und zurichten, wie ein gewisser Goethe gesagt hat – just wie der Roßkamm, wenn er seine Ware fälscht. Offen gestanden, überlasse ich das lieber anderen und begnüge mich damit, den armen Dingern eine Unterkunft zu verschaffen.«

»Du kannst es den Weibern antun –« schmeichelte Resi, und Sanguessa sah sie lächelnd von der Seite an:

»Dir gegenüber könnte ich schwach werden. Apropos, Resi, hast du das einsame Leben noch immer nicht satt? Wenn dein Haus auch verteufelt fein ist, einen Beschützer kann man immer brauchen, und mit fünfunddreißig – na, sagen wir mit achtunddreißig – will das Herz doch auch noch ein bißchen haben.«

»Wenn du selbst Lust hättest, Lips,« sagte sie schmachtend.

»Nein, mein Schatz, ich selbst habe keine Lust. Sollte es mal schief mit mir gehen, so schieße ich mir eine anständige Kugel vor den Kopf, aber als Zuhälter möchte ich doch nicht enden.

Ich dachte nur eben an einen Freund, den ich drüben zurückgelassen habe – er ist schon ein wenig in dem Geschäft bewandert und stammt überdies aus Deutschland: wenn du seine Photographie sehen willst, und wenn ich ihm deine schicken darf – ich glaube, er käme auf den Flügeln der Liebe herüber und setzte sich in das warme Nest. – – – –«

Einige Tage später machte Magdalena Sanguessas Bekanntschaft. Es ging auf ganz natürlichem Wege zu, denn der Brasilianer hatte bei Frau Martha einige Wäsche bestellt und die Sache sehr eilig gemacht. Da er durchblicken ließ, daß ihm die Geldfrage vollständig Nebensache sei, wurde mit Dampf gearbeitet, und eines Vormittags trug Magdalena in ihrem besten Staat die Sachen nach der eleganten Garçonwohnung. Sanguessa hatte die Zeit genau bezeichnet und war zu Hause. Es konnte vielleicht auffallen, daß er selbst öffnete, aber er sagte, sein Diener sei ausgegangen, und im übrigen lebe er ganz als Junggeselle.

Das war eine Art Einleitung zu dem Folgenden.

Als das Geschäft beendigt war und Magdalena gehen wollte, bat Sanguessa sie mit vollendeter Höflichkeit, einige Minuten Platz zu nehmen, weil er ihr etwas mitzuteilen habe, und sie erfüllte ohne weiteres seinen Wunsch, denn ihre häufigen Besuche in der Wohnung lediger Herren hatten sie allmählich selbständig gemacht und vor einer zweiten Auflage der »Herkulesszene« war sie hier jedenfalls sicher. Der Brasilianer setzte sich ihr gegenüber und sagte vollkommen ruhig:

»Mein liebes Fräulein, ich muß mit einem kleinen Bekenntnis anfangen. Die Geschäftsverbindung mit Ihrer Frau Mutter war nur ein Vorwand, um die heutige Aussprache zu ermöglichen, und ich bitte zu vergessen, daß Sie in einer Stellung zu mir gekommen sind, die Ihrer durchaus unwürdig ist.

Ich habe Sie bereits mehrfach gesehen, Sie sind ein Gegenstand meiner Teilnahme geworden, und ich hege den Wunsch, Sie näher kennen zu lernen. Diese Form ist vielleicht etwas ungewöhnlich, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß ich Ausländer bin und daß die freiere Art meiner Heimat mir zur zweiten Natur geworden ist. Also, kurz gesagt, ich bitte mit Ihnen in Verkehr treten zu dürfen. Wenn wir aneinander Gefallen finden, so kann aus dem Verkehr ein Freundschaftsverhältnis werden; sollte die Freundschaft in einem anderen Gefühl untergehen, so brauchen wir uns heute darüber den Kopf noch nicht zu zerbrechen. Und nun warte ich auf Ihre Antwort.« – –

Magdalena war selbst ein wenig erstaunt, daß dieses Ansinnen sie weder befremdete, noch mit Entrüstung erfüllte. Dieser ihr bis heute vollkommen unbekannte Mann hätte ja ebensogut fragen können, ob sie seine Mätresse werden wollte, denn auf etwas anderes kam es ja doch nicht heraus.

Aber die Art und Weise imponierte ihr. Hier wurde mit vollkommener Ruhe und in einer fast geschlechtslosen Form die große Frage behandelt, welche Magdalena schon so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte; dieser Mann betrachtete die freie Liebe unter dem verständigen Sehwinkel eines Vertragsverhältnisses, und er handelte damit in den Augen des Mädchens jedenfalls ehrenhafter als tausend andere, die erst die Sinnlichkeit wachrufen, um sie dann zu ihrem unlauteren Bundesgenossen zu machen.

Magdalena sah sich den Herrn an. Er mißfiel ihr nicht; sie konnte sich ohne ein Gefühl des Ekels gewisse Situationen vorstellen, in denen sie beide eine gemeinsame Rolle spielten; es war schließlich nichts anderes als wenn ein vermögensloser Mann in Amt und Würden nach dem ersten Ballabend um die Tochter des reichen Kaufherrn anhält.

Magdalena sagte zu. Und sie setzte einen gewissen Stolz hinein, ihre Antwort ebenso kühl und verständig zu formulieren, wie der Antrag gewesen war; dieser Mann sollte wenigstens wissen, daß er eine Partnerin hatte, die ihm in jeder Weise die Stange hielt. Sie vereinbarten die erste Zusammenkunft. Und als Sanguessa das Mädchen an die Tür geleitete, sagte er lächelnd:

»Den Korb, den ich nicht bekommen habe, werde ich Ihnen durch meinen Diener in die Wohnung senden. Auf Wiedersehen, Magdalena.« – – – – – – –

Als Magdalene heimkam, stand Frau Martha wie gewöhnlich am Waschfaß, und wie gewöhnlich war sie voll Stöhnen und Ächzen. Da sagte das Mädchen:

»Ich glaube, Mutter, du wirst nun bessere Tage bekommen. Als Kunden hast du Herrn Sanguessa freilich eingebüßt, aber dafür wird er wohl so 'ne Art Schwiegersohn, wenigstens haben wir heute ein Verhältnis miteinander abgeschlossen. Die Sache ist schwer zu umschreiben, und daher will ich es ganz kurz machen: er hat mich gebeten, seine Freundin zu werden, und ich bin nicht abgeneigt, darauf einzugehen.« –

Ihr glücklichen Mütter, wollt ihr es glauben, daß diese Mutter ihrer Tochter um den Hals fiel? Wollt ihr in moralischer Entrüstung den Staatsanwalt zitieren, und von schwerer Kuppelei sprechen?

Ich bitte euch, ein wenig nachzudenken. Es gibt welche unter eurem Geschlechte: sie haben nicht mit der seidenen Schleppe die Gossen gefegt und sie haben niemals nötig gehabt, mit zerrissenen Händen am Waschfaß zu stehen; sie sind in Zucht und Sitte aufgewachsen und würden ihr Kind lieber töten, als einem »Freunde« ausliefern – und dennoch verkuppeln sie ihr Fleisch und Blut, denn sie jagen es für einen Namen und für einen Geldsack zu einem ungeliebten Manne in das Ehebett. –

Aber es ist nicht vor den Richtern dieser Welt strafbar.

*

Magdalena »ging« mit Sanguessa. Sie kamen tagtäglich auf einige Stunden zusammen – bisweilen in den Anlagen der Stadt, aber weil das Herbstwetter schon mürrisch wurde, waren sie meistens in einem jener großen eleganten Lokale, wo die beste Gesellschaft verkehrt und jede Ungehörigkeit undenkbar ist. Diese Zusammenkünfte hatten einen ganz absonderlichen Reiz. Nicht wie ein hold verschleiertes Geheimnis, sondern als eine Tatsache, über die nur nicht geredet wurde, lag das Endziel vor Magdalena, und es hatte drei Etappen: Bekanntschaft – Freundschaft – Liebe. –

Aber die erste kamen sie sehr schnell hinaus. Es ist nichts leichter auf der Welt, als das Anknüpfen oberflächlicher Beziehungen zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts, und wenn der Horizont des Mädchens auch nicht sehr weit war, so hatte Philipp Sanguessa doch desto mehr erlebt, und er wußte seine Erfahrungen in gefälliger Form mitzuteilen.

Dabei beobachtete er eine ganz besondere Taktik in Beziehung auf gewisse Dinge, die man sonst nicht gerne mit einem jungen Mädchen beredet. Er suchte keineswegs das Gespräch darauf zu bringen; er gehörte anscheinend nicht zu den Leuten, die einen geschlechtlichen Kitzel empfinden, wenn sie die Partnerin rot oder lüstern gemacht haben, aber es lag ihm auch fern, natürliche Vorgänge zu verschleiern oder sie bei der Unterhaltung auszuschalten. Er behandelte Magdalena gewissermaßen wie einen jüngeren Kameraden, dem man Verstand, Geschmack und Urteilskraft zutraut, und er erzielte dadurch ein Vertrauen, um das mancher jahrelang vergeblich ringt. –

Seit einigen Tagen duzten sie einander und waren damit auf die Stufe der Freundschaft getreten; und da dieses Stadium unter Umständen das Schwierigste zu sein pflegt, weil es den meisten Aufwand von Geist erfordert, so erwartete Magdalena nunmehr täglich auf den letzten Paragraphen ihres Kontrakts.

Wenn sie spät abends Arm in Arm heimkehrten, kamen sie mehr als einmal in die Nähe von Sanguessas Wohnung, und es wäre eigentlich nichts natürlicher gewesen, als eine Aufforderung zum Eintritt und – zum Bleiben; und Magdalena legte sich jedesmal die Frage vor, was sie in diesem Falle tun würde.

Eine gewisse Neugier trieb sie, den letzten Schleier zu lüften, und überdies war sie bereits zu weit gegangen, um einen vernünftigen Grund zum Rücktritt zu finden; dennoch widerstrebte ihr dieser Abschluß, der doch eine große Ähnlichkeit mit der Hochzeitsreise hatte: von Station zu Station rückt die Entscheidung näher; sie läßt sich mit dem Kursbuch im Kopfe auf Stunde und Minute berechnen, und wenn sie endlich da ist, dann fehlt ihr im Grunde genommen der poetische Reiz.

Irgend etwas Besonderes mußte doch wohl kommen! An einem stürmischen Abend – genau vierzehn Tage nach dem Beginn ihrer Bekanntschaft – hatten sie sich auf ein bestimmtes, sehr bekanntes Weinrestaurant geeinigt. Sanguessa holte wie gewöhnlich das Mädchen ab, das heißt, er erwartete es unten vor der Wohnung, denn wenn Frau Martha auch mit allem einverstanden war, so wurde doch mit Rücksicht auf ihre Mutterrolle der Schein des Geheimnisses aufrechterhalten.

Magdalena nahm den Hausschlüssel an sich, und die Alte sagte nur: »Wenn das so wie bisher fortgeht, werden wir noch einen zweiten anschaffen müssen; ich will doch auch nicht immer zu Hause sitzen bleiben.«

Und Magdalena entgegnete:

»Vielleicht werde ich ihn bald nicht mehr nötig haben.«

Sanguessa war heute stiller als gewöhnlich. Er reichte Magdalena den Arm und umschloß ihre Hand mit seinen Fingern; das hatte er eigentlich noch nie getan, aber es verursachte ihr ein angenehmes Gefühl, und sie dachte bei sich:

»Heute kommt es; eigentlich hätte ich den Schlüssel zu Hause lassen können.« Laut sagte sie: »Wollen wir nicht eine Droschke nehmen? Es droht mit Regen.«

»Ich gehe lieber so mit dir«, entgegnete er einfach. Das war auch ein Ausdruck der Zärtlichkeit, den sie sich wohl gefallen lassen konnte; sie schmiegte leicht den Kopf an seine Schulter und drückte seinen Arm fester an ihren Busen; so gingen sie wie ein richtiges Liebespaar, und wie das Mädchen im stillen meinte, etwas weniger vernünftig als sonst.

Und sie kamen in eine dunkle Straße.

Plötzlich blieb Sanguessa stehen und sah nach dem Himmel.

»Ich glaube, wir bekommen gleich einen Guß; nun tut es mir doch leid, daß ich keinen Wagen genommen habe.«

»Wir müssen nur schneller gehen.«

»Nein, Lene, es ist zu weit. Aber gleich nebenan ist eine kleine allerliebste Weinstube – wenn wir da einstweilen unterschlüpfen –«

»Hier nebenan? Ich kenne mich nicht aus –«

»Tut nichts; wir müssen nur durch einen Hof. Komm', es tröpfelt schon!«

Magdalena hatte tatsächlich keine Ahnung, wo sie war. Sie hatten einen dunklen Hof durchwandert, eine Hintertür geöffnet und fanden sich plötzlich auf ziemlich geheimnisvolle Weise in einem kleinen, elegant ausgestatteten Zimmer, dessen Bestimmung aber dennoch unverkennbar war.

Eines jener verschwiegenen Lokale, in denen vielleicht gelegentlich ein wenig gejeut wird – ein anmutiges Nest, wo auch Liebespärchen sich sicher fühlen dürfen.

»Eine Perle, die ich zufällig entdeckt habe«, sagte Sanguessa lächelnd.

Das Zimmer war leer, und draußen begann einer jener Regengüsse, an denen Hamburg so reich ist; erst heftig, dann langsam und dauerhaft.

Sanguessa schloß die Vorhänge.

»Wir werden uns wohl etwas häuslich einrichten müssen, Lene – das Wetter geht sobald nicht vorüber, aber zum Glück ist man hier sehr gut aufgehoben. Wenn du nichts dagegen hast, bestelle ich uns ein Abendessen; die Schelle scheint nicht zu gehen, und ich werde mich selbst in die Küche begeben müssen.«

Er verließ auch sofort das Zimmer und kam nach einer Weile zurück; Magdalene saß noch immer in Hut und Jackett auf dem kleinen Sofa; sie hatte noch nicht einmal die Handschuh' ausgezogen.

»Wo befinden wir uns eigentlich, Philipp?«

»Ist es dir unheimlich, Kleine?«

»Ich weiß nicht – man sieht und hört keinen Menschen.«

Ganz ruhig, wie es seine Art war, begann er sie auszuschälen, bis sie in ihrem hübschen Straßenkleid vor ihm saß.

»Es ist auch ein bißchen anders, wie sonst, mein Liebling. In diesem Zimmer wird mitunter höllisch getempelt, ich war ebenfalls ein paarmal dabei. Das eigentliche Restaurant liegt nach einer anderen Straße. Nun begreifst du wohl den geheimnisvollen Eingang, man muß sich eben vor der Polizei hüten. Übrigens werden wir heute ungestört bleiben; die Jeuratten haben ihren Jourfix.«

Magdalena blickte sich neugierig um. Das war ja denn freilich etwas anderes und es war jedenfalls neu; aber ein leises Unbehagen wollte dennoch nicht weichen. –

Wenn er sie mit in seine Wohnung genommen hätte: gut, darauf war sie seit einer Woche gefaßt; einmal mußte es kommen, einerlei, ob heute oder morgen; aber diese Umgebung hatte etwas Unheimliches. – Etwas – sie konnte es nicht in Gedanken kleiden.

Aber es war doch wohl nur die Stille im Hause und das Fehlen von Menschen; denn als nun ein nett gekleidetes Mädchen hereinkam, mit weißer Schürze und dem Hamburger Häubchen, als es den Tisch deckte und dabei die Augen sittsam niederschlug, da fühlte Magdalena sich plötzlich erleichtert, und sie hätte am liebsten mit dem hübschen Kind eine kleine Unterhaltung angefangen.

Aber sie scheute sich vor Sanguessa, der so was gar nicht liebte, und die Kleine verschwand auch wieder wie ein Schatten – nicht einmal gelächelt hatte sie. –

An feines Essen hatte Magdalene sich schon in den zwei Wochen gewöhnt, aber das Getränk war ihr zum Teil neu; neben der üblichen Flasche Sekt stand eine Karaffe mit dunkelrotem Burgunder, und Sanguessa sagte, das sei seine eigentliche Leibmarke.

»Wenn hier getempelt wird«, meinte er »dann fließt das in Strömen«. Darüber wunderte sich Magdalene.

»Beim Spielen müßt ihr doch einen klaren Kopf haben; und das Zeug ist gewiß schrecklich schwer!«

»Gar nicht – versuch's nur! Übrigens sind wir nicht hier, um von dem Jeu zu reden; es gibt bessere Dinge, mein Liebling.«

Zum zweiten Male hatte er es gesagt! das Wort, dem jedes Mädchen sein Ohr öffnet; heute kam es so weit – heute kam der Tag – –

Er war auch so ganz anders wie sonst. Natürlich – bisher hatten sie unter den Augen der Leute gesessen, und jetzt lehnte er neben ihr auf dem kleinen Sofa, bald das bärtige Gesicht an ihrem Halse, daß es sie kitzelte bis zum Lachen, bald die Lippen in ihrem Nacken. »Du – du – sei nicht so frech!«

Sie war schon halb berauscht, als ihr Mund es stammelte, und dann – sie wußte nicht, wie es kam –, aber plötzlich sprachen sie von dem, was ihre Seele seit ein paar Jahren bewegte.

Von dem Mutterrecht. – – – – – – – – –

Zum erstenmal sprach sie davon mit einem Manne, und es dünkte sie gar nicht seltsam, denn diesem Manne wollte sie sich hingeben.

»Wir wollen nach Haus«, sagte sie und meinte sein Haus damit, wenn es auch nicht deutlich herauskam; denn ihr Rausch nahm immer mehr zu, sie konnte wohl überhaupt nicht mehr deutlich sprechen.

Aber hören konnte sie noch; und gerade in dem Moment, als er den obersten Knopf ihres Kleides geöffnet hatte, fuhr sie in die Höh' und starrte um sich:

»Du, was war das?! Es lachte in unserer Nähe – es lief über die Treppen!«

»Da vorne die Gäste,« entgegnete er – »hierher kommt keiner.«

Von dem Folgenden hat Magdalena nichts mehr gewußt. Es ist ihr nur gewesen, als ob man ihr allmählich das ganze Kleid öffnete, und als ob sie gestammelt hätte:

»Nicht hier – nicht hier – wir wollen nach Hause!«

Es ist ihr gewesen, als ob sie getragen wurde. –

Dann hat sie geschlafen – tief und traumlos.

*

Als Magdalena die Augen öffnete, war es heller Tag, das heißt: hell war es eigentlich nicht, denn der Regen rauschte vor den Fenstern nieder, aber ihr Blick fiel auf eine Uhr an der Wand, und die ging und die zeigte auf zwölf.

Sie lag allein in einem breiten Bett, dessen Linnen sehr fein und mit Spitzen besetzt waren; auch das Nachthemd, welches sie trug, war sehr elegant, aber es gehörte ihr nicht. –

Sie hatte keine Kopfschmerzen, aber ein Gefühl großer Schlaffheit ruhte in ihrem ganzen Körper – jenes Empfinden, das ganz junge Frauen bisweilen haben, und von dem sie niemals reden; höchstens zu ihrem Manne. –

Ganz langsam sammelte Magdalena ihre Gedanken. Sie war gestern abend mit Sanguessa in einer Weinstube gewesen, der rote Burgunder hatte sie übermannt – dann war sie getragen worden –, vermutlich in einen Wagen. –

Und nun befand sie sich also in Sanguessas Wohnung; sie war seine Geliebte und blieb fortan bei ihm.

Alles programmäßig. – – – – – – – – – –

In dieser felsenfesten Überzeugung begann sie das Zimmer zu betrachten, und es fiel ihr zunächst auf, daß kein zweites Bett darin stand.

Gleich darauf mußte sie unwillkürlich lächeln: Philipp Sanguessa war doch Junggesell, und wenn er sich jetzt eine Freundin angeschafft hatte, so konnten die notwendigen Veränderungen nicht von heute auf morgen getroffen werden.

Turteltauben bauen auch erst ihr Nest. – – – – –

Eigentlich hatte sie sich die Einrichtung ihres reichen Freundes etwas vornehmer gedacht. Sie kannte bis jetzt nur ein Zimmer, und das war sehr elegant; dieses hier konnte man im Grunde genommen nicht so bezeichnen.

Das Bett war es ja zweifellos, aber die übrigen Möbel hatten einen Hauch von Alter, der doch nicht an die reichen Bürgerfamilien Hamburgs erinnerte – es war etwas Undefinierbares daran.

An den Wänden hingen einige Bilder – Kupferstiche, die ja vielleicht einen Wert haben konnten, aber Magdalena hatte immer nur von Ölgemälden in breiten Goldrahmen gehört – sie wußte es nicht anders.

Und die Art der Bilder war seltsam. Es lag weniger daran, daß Magdalena die Künstler nicht kannte, als an der ziemlich aufdringlichen Absicht der Auswahl: Da war die berühmte Leda mit dem Schwan von Michelangelo, da waren zwei Darstellungen von Loth mit seinen Töchtern: die idealere des Niederländers van der Werff, und jene andere von Giordano, wo die Lüsternheit des trunkenen Greises zum häßlichen Ausdruck kommt; endlich hing noch gerade über dem Bett das mehr berüchtigte als berühmte Bild von der Erzeugung des Dampfes, das Magdalena noch völlig unbekannt war, während sie die übrigen wenigstens schon in schlechter Reproduktion auf Postkarten gesehen hatte. –

Sie versank in Nachdenken und war schon im Begriff aufzustehen, als die Tür geöffnet wurde und ein ihr unbekanntes Mädchen hereinkam.

Für die späte Stunde war diese Vertreterin des weiblichen Geschlechts in einer etwas seltsamen Toilette; sie trug nämlich nichts weiter als Hemd und Unterrock, und das erstere stand obendrein weit offen, so daß ihre mächtigen Brüste zwischen dem Spitzenbesatz zum Vorschein kam.

Ihre Gestalt erinnerte an eine kraftvolle Germania, und auch die etwas groben, aber keineswegs unschönen Züge hätten in einen deutschen Urwald hineingepaßt; das üppige lichtblonde Haar war unfrisiert und nur im Nacken zu einem lässigen Knoten verschlungen. Sie rauchte eine Zigarette. –

»Morgen, Kleine,« sagte sie mit tiefer Stimme – hast du glücklich ausgepennt? Sonst will ich man gleich wieder gehn, denn schlafen ist das Beste, was einer in diesem Hause tun kann.«

Magdalene starrte die Erscheinung an. Das konnte doch unmöglich eine Bedienstete Sanguessas sein, ganz abgesehen davon, daß der Brasilianer überhaupt keine weibliche Dienerschaft hatte – und dennoch war es kaum anders denkbar – – – – – – – –

»Wer sind Sie? Und was wollen Sie?!«

»Ich bin die Käthe, mein Schatz, wenn du es erlaubst. Und vor allen Dingen will ich dir sagen, daß von »Siezen« überhaupt keine Rede ist; dazu sind wir hier nicht fein genug, und zusammenhalten muß man doch auch.«

»Aber um Gotteswillen, wo bin ich denn eigentlich?!«

Die blonde Walküre stutzte und trat langsam näher. Zuerst lag in ihren Zügen ein Ausdruck des Unglaubens; dann wurden sie allmählich ernsthaft und zuletzt beinahe finster.

»Da ist ja wohl wieder mal eine große Schweinerei vorgekommen« – sagte sie endlich. »Wir haben natürlich gestern abend gemerkt, daß der Kerl eine neue gebracht hatte, aber man kümmert sich nicht mehr darum, denn bei Madam Zech wechseln sie alle paar Monate. Und du hast wirklich keine Ahnung, Kleine –«

Magdalene schrie auf.

»Bei Madam Zech, sagen Sie – in dem Hause?!«

Käthe setzte sich auf die Bettkante und streichelte das Haar des Mädchens.

»Ja, ja, es ist schon richtig, du bist nun mal in einem Bums, mein Schatz, daran läßt sich nichts mehr ändern. Ich kann mir ungefähr denken, wie es zugegangen ist – er hat dich besoffen gemacht, denn im Anfang verträgt keine was, und das andere kommt dann von selbst. Aber ich begreife nur nicht, warum du mit ihm hierher gegangen bist – ausgerechnet hierher.«

»Ich glaubte, es wäre eine gewöhnliche Weinstube«, sagte Magdalena tonlos.

»So – na ja, das sieht der Kanaille ähnlich. Ihm und Madam, denn die beiden stecken immer mit den Köpfen zusammen.«

»Kennst du ihn denn?« fragte Magdalena, die unwillkürlich das »Sie« fallen ließ, denn sie hatte das Gefühl, als ob dieses große kraftvolle Mädchen ihr einziger Schutz sei. Käthe nickte mit dem Kopf. »Ich kenne ihn. Er nennt sich Sanguessa, und die Sektlore, die am meisten von uns gelernt hat, die Lore sagt, der Name hinge mit dem Blute zusammen. Er ist auch ein Bluthund, so schlimm, wie er jemals auf Menschen gehetzt wurde, und er beißt sich in unser Fleisch. Er spürt uns auf, er verschleppt uns, er verkauft uns –, wenn der nicht mal auf dem Mist endet, dann zeige ich der Gerechtigkeit meinen nackten Hintern.«

Bei aller Roheit lag in den Worten des Mädchens dennoch eine so erschütternde Anklage, daß Magdalena ihren Kopf hob, und an den Busen der neuen Freundin legte.

»Was soll ich tun, Käthe?«

»Hast du jemand auf der Welt, der sich um dich kümmert?«

»Meine Mutter –«

Es kam so zaghaft heraus, daß Käthe zusammenfröstelte und sich das Hemd fester um die Schulter zog.

»Deine Mutter – so. Weiß die denn, daß du mit – ihm gingst?«

»Ja; sie war damit einverstanden. Sie ist wohl auch mal »so eine« gewesen.«

»Natürlich. Und deinen Vater hast du nie gekannt – was?«

Magdalene schwieg. Zum ersten Male überschauerte sie heute eine Ahnung von der Wahrheit, aber Käthe ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken, für sie waren das lauter Selbstverständlichkeiten, über die zu reden sich kaum der Mühe lohnt.

»Dann ist ja alles klar,« sagte sie. »Wir haben freilich eine Polizei, und wenn du dich an die wendest, dann holt sie dich heraus. Aber dann stellt sie dich unter Sitte, denn wer einmal hier gewesen ist, der hat seine Hundemarke. Wenn ich dir einen Rat geben soll, so bleib' hier, wir haben es wirklich nicht schlecht, und die bei Madam Zech werden von vielen beneidet.

Um drei Uhr gehen wir zum Essen, bis dahin kannst du dir die Sache überlegen –, ich will jetzt ein bißchen Toilette machen und hole dich nachher ab.« – – –

*

Als Magdalena wieder allein war, blieb sie noch eine Weile im Bett liegen. Tränen hatte sie nicht, obwohl ihr das eine Erleichterung gewesen wäre; aber diese Tröster der Menschheit sind erst später zu ihr gekommen – zu spät.

Es war in ihrem Kopf ein dumpfes trotziges Grübeln. Mit Sanguessa und seiner Schändlichkeit wurde sie am ersten fertig. Geliebt hatte sie diesen Menschen ja nie, sondern sie wollte nur einen Vertrag mit ihm eingehen, in dem ihr Leib die Ware und das Wohlleben der Preis war; wenn bei einem solchen Geschäft betrogen wird, dann hat man seine eigene Dummheit anzuklagen. Ihre Mutter hatte Magdalena bis zu einem gewissen Grade, d. h., bis zu der Grenze des Naturgefühls geliebt, aber die Alte war selbst schuld daran, daß sich in dieses Empfinden eine Portion Verachtung hineinmischte; und jetzt wandelte sich die Verachtung nahezu in Haß um. Wenn die eine nicht gewesen wäre, dann hätte das andere nicht eintreten können; wer sein Kind auf den Markt bringt, der muß die Käufer nehmen, wie sie kommen – reine Hände sind niemals dabei. –

Aber der Makel dieses Hauses!

Wenn gestern jemand zu ihr gekommen wäre und hätte gesagt: »Gehe hinein und schließe die Tür hinter dir zu«, sie würde ihm in das Gesicht gelacht haben. Nun war sie darin und nun kam das schreckliche Wort dieses großen blonden gutmütigen Mädchens: »Sie werden dich unter die Sitte stellen; wer einmal hier gewesen ist, der hat seine Hundemarke.«

Also laut aus dem Fenster um Hilfe schreien, das machte die Sache nur schlimmer; wer glaubte denn an die Geschichte von der überlisteten Unschuld – sie war ja auch zum größten Teil erlogen. –

Heimlich fortlaufen!

Magdalena sprang plötzlich aus dem Bett und suchte nach ihren Kleidern; aber die waren verschwunden, an deren Stelle lag nur ein sehr elegantes Negligé auf dem Stuhl und als sie das übergeworfen hatte, da kam sie sich so »eingekleidet« vor, wie ein Sträfling, dem man lächelnd bedeutet, er solle nur ja nicht ausreißen, er käme doch nicht weiter als bis zur nächsten Straßenecke.

Da setzte Magdalena sich hin und legte die Hände in den Schoß. Eine müde, dumpfe Resignation sank auf sie nieder wie ein Aschenregen, und darunter glimmte ein Funke.

Das war ihr Erbteil: die geschlechtliche Neugier. Wenn das Schicksal sie denn schon dazu bestimmt hatte, eine Dirne zu werden – und sie las es geschrieben, wohin ihr Auge auch sah –, warum denn nicht gleich richtig und ohne Maske?

Da kam der Trotz. – – – – – – – – – – –

Als Käte wieder eintrat – sie trug ein ähnliches Negligé wie Magdalena – da sah sie schon wie die Sachen standen, und ihr Glaube an die »überlistete Unschuld« kam ein bißchen ins Wanken.

»Na, Kleine,« sagte sie viel weniger tragisch als vorhin, »hast du dir die Chose überlegt?«

»Man kann es doch mal probieren«, sagte Magdalena. »Du, das habe ich mir halb und halb gedacht; und nun heraus mit der Wahrheit: du hast auch schon mal ein Kind gehabt – was?«

Magdalene zuckte zusammen; der Gedanke war ihr noch nicht gekommen, trotz aller Phantasien vom Mutterrecht.

»Nein,« entgegnete sie zögernd – »aber wer weiß –« Käthe lachte.

»Na, hier kriegst du keins, darauf kannst du dich verlassen, so dumm sind wir denn doch nicht; aber gehabt haben wir schon alle eins, mit Ausnahme – – –«

Sie stockte und setzte sich auf einen Stuhl.

»Es ist noch Zeit bis zum Essen; ich muß dir nur ein bißchen Bescheid sagen, damit du dich auskennst. Also vor allen Dingen: wie ist dein Name? Vorname natürlich, denn das Andere geht keinem was an.«

»Magdalena.«

»O ha! Daraus wird »Lenchen« gemacht, das klingt sehr hübsch. Einige Namen gibt es, die Madam nicht liebt – weißt du, so fromme; und solche werden dann einfach umgetauft. Aber »Lenchen« ist süß. Übrigens sind wir nur unser vier.«

»Das weiß ich,« sagte Magdalene etwas lebhafter; »meine Mutter hat für euch gewaschen.«

»Ach so, die! Du bist also für das Röschen gekommen, die in diesem Zimmer gewohnt hat. Nette Deern – schade um siel«

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie war – sie ist – – ach was, Schwamm drüber! Na, Nummer zwei, das bin ich, die Käthe; auch »der Dragoner« genannt.«

Sie schlug sich lachend auf die mächtigen Schenkel und streckte den Busen vor.

»Ja, Lene, ich hab' was aufzuweisen. Vielleicht ein bißchen zu viel für das feine Haus von Madam Zech, aber die Kerle lieben das – wenigstens die tüchtigen. Also die dritte im Bunde, das ist die Sektlore.«

»Sektlore?«

»Gewiß, Beinamen haben wir alle; ich bin neugierig, was du für einen kriegst. Übrigens ist der von der Lore ganz natürlich, denn sie trinkt nur Sekt, und schrecklich viel. Ihr Mann –« Magdalena fuhr entsetzt auf. Was? Sie hat einen Mann?!

»Kind, was bist du noch dumm,« sagte Käthe lachend; »das ist ja nur ein Witz. So nennen wir die Herren, die immer wieder zu derselben kommen, und immer auf »langen Besuch.« Du verstehst doch?«

»Ja,« sagte Magdalene beklommen.

»Gut. Also Lores »Mann« – das Heft mußt du übrigens kennen lernen – der behauptet immer, sie wollte sich partout totsaufen. Vielleicht ist auch was daran; dabei ist sie aber sehr gescheit und hat schrecklich viel gelernt. Ich sage dir, was die alles weiß!«

Käthe versank in Nachdenken und sah vor sich hin; endlich sagte Magdalena:

»Wir beide und die Lore, das sind erst drei; ich meine doch, daß du von vier gesprochen hast.«

»Soviel sind wir auch«, entgegnete Käthe zerstreut und horchte nach der Tür – »Nummer vier, das ist die Anna und du wirst sie schon kennen lernen. Aber ich glaube es ist Zeit, daß wir zum Essen hinuntergehen, mich dünkt, von der Nikolaikirche schlägt es drei Uhr.«

»Nein, nein, es hat noch nicht geschlagen, wie nennt ihr denn die vierte mit Beinamen, oder hat sie keinen, weil du nicht davon sprichst?« »

»Doch Lene, wir nennen sie »die keusche Anna«. Das ist natürlich eine Dummheit und es paßt ganz und gar nicht, aber wenn du sie erst gesehen hast, dann wirst du uns vielleicht recht geben. Übrigens ist sie die einzige, die kein Kind gehabt hat und vielleicht außer dir die einzige überhaupt – denn ein Kind ist immer der Anfang.«

Nun horchten sie nicht mehr auf die Uhr, sondern sie grübelten eine jede über die große Frage des weiblichen Geschlechts. Endlich sagte Magdalene:

»Ich muß noch mehr wissen. Zum Beispiel, hat jede ihr eigenes Zimmer?«

»Ja Kind, das ist durchaus notwendig. Denke doch nur, daß eine von uns Besuch hat – und überhaupt: man will doch mal alleine sein. Also die Einteilung des Hauses ist so: Unten hat Madam ihre Wohnräume, und daneben liegt der Salon, wo wir uns jeden Abend versammeln; dann ist noch ein kleines Separatkabinett vorhanden, was du schon kennst –, es wird aber selten benutzt, denn das mit gestern abend war doch wohl eine Ausnahme.

Hier oben hausen wir. Es sind vier schöne große Zimmer und alle sehr nett eingerichtet. Unsere liegen nebeneinander nach hinten hinaus; Lore und Anna haben die Vorderräume. Außerdem befindet sich noch am Ende des Korridors die Badestube mit zwei Wannen, denn wir baden natürlich täglich mindestens einmal. Wenn es dir recht ist, Lene, so wollen wir sie immer zusammen benutzen – es ist nur deshalb, daß die Anna nicht dazwischenkommt, denn von der will keine recht was wissen. Und nun hat es wirklich drei geschlagen, jetzt wollen wir zum Essen gehen, denn ich habe einen Mordshunger.« – – – – –

Unten im »Salon«, den Magdalena schon kannte, war ein Tisch für vier Personen gedeckt. Auf der Treppe erzählte Käthe noch rasch, daß »Madam« nicht mitäße, und sie setzte hinzu:

»Die läßt uns überhaupt machen, was wir wollen; wenn nur tüchtig Geld eingeht, dann ist sie mit allem zufrieden; es ist hier wirklich in vielen Dingen besser als anderswo.«

An dem Eßtisch saßen bereits zwei Mädchen und Käthe, die überhaupt eine Autorität zu sein schien, übernahm die Vorstellung.

»Morgen, Kinder, hier bringe ich euch die Nachfolgerin von unserem armen Röschen.

Sie heißt Magdalena und wird Lenchen genannt. Schrumm!«

Dann zu Magdalena:

»Du hast deinen Platz zwischen Lore und mir. Mahlzeit, Kinder!« – –

Die »Sektlore« war ein schlankes und bis auf die Büste fast hageres Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte ein feines hübsches Gesicht, und weil ihre Haare stark ins Rötliche gingen, so war auch die Haut dementsprechend zart und wies einige Sommersprossen auf.

In den grauen Augen lag Leid. –

Sehr verschieden von ihr war die »keusche Anna«. Dieses auch nicht mehr ganz junge Mädchen hätte in der Tat als Bürgerstochter aus guten Kreisen gelten können, denn weder in ihrem Blick noch in ihren Bewegungen lag auch nur das geringste Merkmal des schimpflichen Gewerbes, dem sie doch ebensogut wie die andern oblag.

Nicht einmal die Kleidung erinnerte daran.

Sie trug nicht das leichte Morgennegligé, welches hier sonst üblich war, sondern ein schwarzseidenes, hochgeschlossenes Kleid, das allerdings die weichen Linien ihres schön gebauten Körpers trefflich zur Geltung brachte. Eine schlichte weiße Krause umgab den schlanken Hals, und auf diesem saß ein blasses Köpfchen mit schwarzen Augen und ebenso tiefdunklen, glattgescheitelten Haaren.

Man konnte sich kaum vorstellen, daß jemals eine Männerhand diesen Madonnenleib berührt hatte.

Das Mittagessen verlief ziemlich schweigsam. Entweder waren die Mädchen müde – Anna hatte Ringe unter den Augen –, oder die neue Gefährtin gab Stoff zu Beobachtungen.

Nur die unverwüstliche Käthe schwatzte allerhand durcheinander und sie war auch die einzige, die ein großes Glas Porter in durstigen Zügen austrank – die übrigen schienen ihre Kräfte für den Abend aufzusparen. –

Magdalena genoß fast nichts. Sie hatte zwar ihren Entschluß gefaßt; die Vergangenheit lag wie in einem tiefen Abgrund, und mit der Gegenwart wollte sie unter allen Umständen fertig werden – aber ungeachtet dessen fürchtete sie sich entsetzlich vor dem ersten Abend, der doch in wenigen Stunden eintreten mußte, und dem noch viele andere folgen sollten.

Nur ein einziger Gedanke hielt sie aufrecht.

»Es ist nicht schlimmer als gestern,« dachte sie – »es ist vielleicht nicht einmal so schlimm. Solltest du es aber dennoch nicht durchsetzen können, dann bleibt dir noch immer die Flucht übrig – mögen sie dann mit dir machen, was sie wollen, wir leben doch nicht in einem Lande, wo der Menschenhandel vom Gesetze geschützt wird.«

Nach dem Essen ging sie wieder mit Käthe hinauf. Sie sah sich das Zimmer der neuen Freundin an, das ganz ähnlich wie ihr eigenes eingerichtet war. Nur die bedenklichen Bilder fehlten, statt dessen stand aber auf dem Nachttisch ein Gipsabguß des Farnesischen Herkules.

»Die Schweinereien habe ich hinausgeschmissen,« sagte Käthe; »vielleicht sind sie jetzt bei der keuschen Anna. Aber mein Herkuleschen, das ist ein Augentrost. So'n Kerl! Lene, wenn man das doch in Natur zu sehen kriegte!«

Magdalena dachte an das Erlebnis ihrer eigenen Vergangenheit, an jenen Mann, der vielleicht den ersten Grund zur Gegenwart gelegt hatte, aber sie schwieg darüber und griff den Namen von Anna auf. »Du« was ist denn das eigentlich für eine?«

In dem mächtigen Gesicht der Walküre kam wieder der finstere Zug zum Ausdruck.

»Hat sie dich auch schon? Nimm dich vor der in acht. Nein, ich sage dir nicht, was sie ist, aber sie gehört nicht hierher. Sieh dir nur ihre Hände an – nicht mal'n Ring trägt sie an den Fingern! Übrigens sind die Mannsleute wie toll auf das Frauenzimmer; wenigstens eine gewisse Sorte.« – – – – – –

Als der Abend hereinbrach, kam Frau Zech zu Magdalena auf das Zimmer.

Sie trug einen ganzen Haufen eleganter Kleider über dem Arm und sagte ganz ruhig:

»Es wird wohl Zeit, liebes Kind, an Ihre Toilette zu denken. Was meinen Sie denn, was wir wählen wollen? Ich glaube, Rosa wird sich ganz gut machen.« Der Anblick dieser wohlwollend lächelnden Frau brachte Magdalenas Blut doch in Wallung.

»Sie haben schändlich an mir gehandelt, Madam! Wie wollen Sie das vor Gott und Menschen verantworten!«

Frau Zech hatte natürlich diesen ersten Ausbruch erwartet; sie raffte ihr Seidenkleid zusammen und setzte sich auf das kleine Sofa. »Lenchen, nehmen Sie doch nur Vernunft an! Mein Himmel, warum sind Sie denn eigentlich hier? Halte ich Sie etwa bei mir gefangen?«

»Nein, aber man hat mich hierher verschleppt.«

»Man? Ach so, ich verstehe, Ihr Schatz – er heißt jawohl Sanguessa oder so ähnlich – hat mit Ihnen in meiner Weinstube ein kleines Techtelmechtel gehabt, und weil Sie tatsächlich etwas bezecht waren, mußte ich Ihnen Nachtquartier gewähren. Wo ist denn da von »Verschleppen« die Rede?«

»Es war doch ein Komplott,« murmelte Magdalena und Frau Zech richtete sich ein wenig auf.

»Kind, mit solchen Worten muß man vorsichtig sein. Ich kenne den Herrn fast gar nicht, aber es steht doch fest, daß Sie mit ihm ein Verhältnis haben, und daß Sie freiwillig hierher gekommen sind. Sie konnten ja heute früh wieder gehn, es hat niemand versucht, Ihnen ein Hindernis in den Weg zu legen. Das Kleid war freilich total mit Wein überschüttet, und deshalb habe ich Ihnen eins von meinen eigenen gegeben, aber das ist doch wahrhaftig kein Zwang!«

Ein plötzliches Aufglimmen in Magdalenes Augen warnte das Weib, noch weiter in diesem Tone gekränkter Unschuld fortzufahren; schließlich nahm dieses dumme Ding das alles für bare Münze und flatterte wirklich durch die offene Tür des Käfigs.

Frau Zech wurde ganz Mutter. Sie zog das Mädchen neben sich aufs Sofa, streichelte ihm die Backen und sagte:

»Herzchen, die Sache hängt doch ganz anders zusammen. Ob sie nun so oder so hierher gekommen sind, der Weg lag schon unter Ihren Füßen, und Sie haben ihn mit offenen Augen betreten. Wissen Sie noch, Lenchen, als Sie damals in meinen Salon hineinliefen und mir hinterdrein gestanden, daß es die pure Neugier gewesen wäre, wie es wohl darin aussehen möchte? Die Töchter von unseren Hamburger Bürgern sind auch neugierig, aber so was würden sie nie tun, und wenn es ums Leben ginge. Das liegt im Blut und in der Erziehung und in dem, was wir Schicksal nennen, denn seiner Bestimmung kann niemand ausweichen, der laufen wir entgegen wie auf Eisenbahnschienen.«

Die Frau machte eine kleine Pause und blickte sich um.

»Ist es denn hier viel anders, Kind, als da, wo Sie sonst hingekommen wären? Sie wollten die Freundin von einem reichen Herrn werden, das heißt, er sollte Ihnen Kleider und Geld geben, und Sie wollten dafür bei ihm schlafen. Das ist doch keine Liebe, mein Schatz, da kann von Liebe gar nicht die Rede sein, sondern es ist ein Handel wie andere auch, und Sie wären als Ware von Hand zu Hand gegangen. Ganz ähnlich ist es auch bei mir. Vielleicht wechseln die Liebhaber ein bißchen schneller, aber eine Sklavenhalterin bin ich auch nicht, und wenn eine von meinen Mädchen eine Antipathie hat, dann sage ich zu dem Herrn: »Mein Herr, das Fräulein mag Sie nicht, gehen Sie lieber eine Tür weiter.«

So ist es Lenchen und nun wollen wir mal sehen, wie Ihnen das Rosaseidene steht; es ist ganz neu, und ich glaube, Sie gehen hinein wie in eine Aalhaut.« – – –

Ach ja – als Magdalena wieder allein war, als sie vor dem großen Pfeilerspiegel stand und sich im Licht der Gaskrone hin und her drehte, da kam der Leibteufel des Weibes, da kam die Eitelkeit angeschlichen und raunte ihr von der eigenen Schönheit in das Ohr.

So etwas hatte sie noch nie getragen, und wenn es auch ein bißchen stark dekolletiert war, du lieber Himmel, auf den Bürgerbällen gingen sie auch nicht viel anders, und an diesem Ort kam es doch wahrhaftig nicht auf eine Handbreit mehr oder weniger an!

Und dann schrie sie plötzlich auf.

Käthe war hereingekommen, um sie in den Salon abzuholen, und der Anblick dieser blonden Germania war so seltsam und auffallend, daß Magdalena ihren Augen kaum trauen mochte.

Käthe trug ein »Kostüm«. Ihre kräftigen Beine steckten bis über das Knie in weißseidenen Strümpfen, und an diese schloß sich eine weite Hose aus grünem Sammet. Der Teil des Körpers vom Gürtel bis unter den Busen wurde von einer gelbseidenen Schärpe bedeckt, deren Fransen an der linken Seite niederhingen, und endlich trug sie ein kurzes offenes Bolerojäckchen von demselben Stoff und derselben Farbe wie das Beinkleid.

Das Seltsamste aber kam unter diesem Jäckchen zum Vorschein, nämlich ein fleischfarbenes netzartiges Trikothemd, welches sich dem Oberkörper so fest anschloß, daß es die Brüste trug und in ihrer ganzen Form abzeichnete.

»Und so willst du dich den Herren zeigen?« fragte Magdalena ganz entsetzt.

Käthe lachte.

»Ja, Schatz, die kriegen mitunter noch mehr zu sehen. Madam hat es gern, daß wenigstens eine von uns dann und wann ein Kostüm trägt, aber sie übt keinen Zwang aus, und wenn du nicht magst, dann bist du davor sicher. Was ist denn übrigens groß daran? Du solltest mal sehn, wie es in anderen Häusern bisweilen hergeht, da würden dir die Haare zu Berge stehen. Wir sind hier sehr fein und anständig und wenn man ein bißchen was hat, dann kann man es auch ruhig zeigen; in Afrika laufen sie ganz nackt herum, und kein Mensch findet was darin.«

Der Salon war noch leer, aber er lag in einem Meer von Licht. Hinter der Marmorplatte des Büfetts thronte Madam, die heute ein Kleid aus dunkelrotem Sammet trug und die Finger mit Ringen besteckt hatte; Lore saß in einem blauseidenen Reformkleid am Flügel, der in einer Ecke stand, und spielte gar nicht übel einen Straußschen Walzer; Anna hatte sich in einen niedrigen Sessel gekauert und stickte. Sie schien etwas kurzsichtig zu sein, denn sie hob bisweilen die Arbeit dicht vor das Gesicht und zeigte dabei ihre feinen schlanken ringlosen Hände.

Übrigens trug sie das hochgeschlossene Kleid von heute mittag. –

»Nun wird die glückliche Familie dargestellt,« sagte Käthe leise zu Magdalena. »Mama mit ihren vier Töchtern – wie süß! Wir wollen uns hier in die Ecke setzen, vor zehn Uhr kommt doch kein Mensch. Sieh dir mal die Anna an, wie das Aas schauspielert; das Kleid ist ein bißchen aufgestreift, daß man den unschuldigen weißen Unterrock betrachten kann, und mit den Händen fingert sie herum, mit diesen schlechten Händen, von denen die alten Sünder so viel Leben machen! O du schwarze Schlange, wenn ich dich mal hier über den Schenkel legen könnte, und dann mit einer tüchtigen Rute auf den Hintern! Aber ich glaube, das machte ihr noch Spaß.«

Anna war aufgestanden und näherte sich der Gruppe. Für Magdalena hatte sie scheinbar keinen Blick, aber über Käthes Gestalt glitten ihre glitzernden Augen mit einem seltsamen Blick.

»Heute hast du dich hübsch gemacht, Liebchen,« sagte sie zärtlich; »da vorne: die reinen Zuckerhüte – das wird Furore machen.«

Ihre schlanken Finger machten eine tastende Bewegung, und Käthe schlug sie derb daraus:

»Weg mit der la main! Das ist nur was für die Mannskerle!«

»Bitte, nochmal schlagen, süße Käthe!«

»Nein, sagte Käthe, »den Gefallen tue ich dir nicht. Lene, Madam hat gerufen –«

Magdalena ging an das Büfett und sah noch, wie die beiden halb scherzhaft miteinander rangen; Anna wollte sich Käthe auf den Schoß setzen, und diese stieß sie zurück – es war ein sonderbarer schwüler Anblick.

Übrigens hatte Madam nicht gerufen. Magdalene zog sich wieder zurück und trat an den Flügel; Lore hatte aufgehört zu spielen und saß da, die Hände im Schoß.

»Du« – sagte Magdalene schüchtern – und dann nach einer Pause: » Darf ich du sagen, Lore?«

»Natürlich, Kind, warum denn nicht?«

»Du siehst so vornehm aus.«

»Ach Gott, vornehm!« sagte das Mädchen bitter – »so was ist hier nicht am Platz. Was wolltest du denn Lenchen?«

»Ich möchte wissen, was es mit der Anna auf sich hat.«

»Ist sie dir zu nahe getreten, Lene?«

»Nein, mir nicht, aber die Käthe warnt mich vor ihr, und Anna scheint die Käthe doch sehr gerne zu haben.«

Die Sektlore lächelte unendlich müde.

»Ach, Kind, du bist noch so sehr unerfahren. Was hilft es denn, wenn ich dir sage, daß es Mädchen gibt – sie können wohl nichts für ihre Veranlagung, es ist eine Art Krankheit – mein Himmel, wir sind ja alle krank!«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht und verharrte einige Sekunden in dieser Stellung; dann hob sie den Kopf:

»Still, da kommen Gäste! Jetzt gibt es Sekt – Sekt!«

*

Zwei waren es, ein Alter und ein Junger, und sie kamen anscheinend von einem reichlichen Herrendiner. Überhaupt hat Magdalena später die Beobachtung gemacht, daß die meisten Besucher dieses Hauses mehr oder weniger angetrunken waren, hingegen nur selten vollständig berauscht und noch seltener vollkommen nüchtern.

Mit den letzteren hatte es fast immer eine besondere Bewandtnis.

Und sie zog den Schluß daraus, daß der Alkohol, solange er den Menschen noch nicht vollkommen überwältigt hat, die stärkste Triebfeder zum wahllosen Geschlechtsgenusse bildet – eine Binsenwahrheit, die dennoch lange nicht genug von unsern Aposteln erkannt und verwertet wird.

Diese beiden Männer waren nur angeheitert.

Den älteren hatte die »keusche Anna« sofort erspäht, aber sie fiel keineswegs nach Dirnenart über ihn her, sondern sie setzte sich ganz gelassen auf ihren Platz zurück und nahm die Stickerei wieder zur Hand; zwei Minuten später kauerte er neben ihr und begann eine leise, aber eifrige Unterhaltung.

Madam lächelte.

Der jüngere war ein hübscher frischer Kerl von höchstens zwanzig Jahren. Er stammte anscheinend aus guter Familie und war wohl zum erstenmal in seinem Leben an diesem Platz, denn er stand etwas verlegen unter dem Kronleuchter und schielte nach der Tür, als Käthe mit einem neckischen »Na, Kleiner« an ihm vorüberstreifte.

Plötzlich fielen seine Augen auf Magdalena. In demselben Moment hörte diese vom Büfett her ihren Namen rufen und Frau Zech sagte mit leiser, aber scharf akzentuierter Stimme:

»Lene, der Herr wünscht Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Wenn das junge Mädchen noch irgendeine Illusion gehegt hatte – und selbst in ein Freudenhaus verirren sich bisweilen diese Flattergeister –, so ist sie seit jenem Augenblick gründlich davon geheilt worden, denn sie erkannte, daß es hier keinen freien Willen gab, und daß der Unterschied zwischen ihr und einem Sklaven nur durch die Verschiedenheit der Zweckbestimmung gebildet wurde.

Sie wendete sich um und trat dem fremden Mann entgegen.

Einige Sekunden lang standen die beiden schönen Menschenkinder Auge in Auge, dann sagte der Jüngling fast schüchtern:

»Wollen wir eine Flasche Sekt zusammen trinken? Ich habe zwar keinen großen Durst, aber es ist wohl Brauch in diesem Hause.«

Dann, als sie nebeneinander in einer Ecke saßen, schien die Erkenntnis über ihn zu kommen, daß er sich durch ein linkisches und verlegenes Wesen nur lächerlich machen konnte, und er versuchte die Haltung eines Roués anzunehmen; aber das glückte ihm schlecht, und er sagte plötzlich:

»Du darfst mich nicht auslachen, ich bin hier zum allererstenmal und muß mich erst an diese Umgebung gewöhnen.«

»Was hast du überhaupt bei uns zu suchen?« fragte Magdalena herb, und er entgegnete wie ein gescholtener Knabe:

»Der Alte da drüben ist schuld daran; er schleppte mich halb mit Gewalt hierher.«

»Mich hat man auch verschleppt,« sagte das Mädchen.

Er betrachtete sie mit einer gewissen Neugier und stellte halb verstohlen Vergleiche an zwischen ihr und den andern, die gerade neu eintretende Gäste begrüßten – und er fand, daß sie eigentlich nicht hierher gehörte, denn es lag noch eine Frische auf ihrer ganzen Erscheinung, als ob sie niemals Schminke, Tabaksrauch, Trunkenheit und erkaufte Küsse kennen gelernt hätte.

»Du bist wohl noch nicht lange hier?« fragte er.

»Seit heute.«

»Na, na, Kleine, man nicht renommieren; das sagt ihr wohl alle, was?«

»Nein, es ist aber doch wahr, und wenn du nicht daran glauben magst, so kannst du ja eine Tür weiter gehn.«

Das war seltsam: es wurde ihr nicht im mindesten schwer, diesen vollkommen fremden Menschen mit »du« anzureden. Sie wußte natürlich bereits, daß es im Freudenhaus so Sitte ist, weil doch wenigstens ein kümmerlicher Schein von Liebe und Zärtlichkeit aufrechterhalten werden soll –, aber vor diesem Mißbrauch eines der schönsten Worte hatte sie bisher ein Gefühl des Ekels empfunden.

Und nun floß es ihr ganz leicht von den Lippen, aber das kam wohl daher, weil der junge Mann noch ebenso unerfahren war wie sie selbst, und eine gewisse gemeinsame Not sie miteinander verband.

Er hieß Paul, und Magdalena nannte auf seine Frage auch ihren eigenen Vornamen; den verstümmelte er aber nicht in das süßliche »Lenchen«, sondern er neigte sich an die Schulter des Mädchens und fragte leise:

»Magdalena, kannst du mir ein wenig gut sein?«

»Ich will es versuchen,« entgegnete sie ebenso. –

Ein Weilchen später drückten sie sich aus dem Salon. Vorher aber trat der junge Mann an das Büfett, um mit Madam zu verhandeln, Magdalena aber stellte sich inzwischen vor den Flügel, und obwohl sie niemals in ihrem Leben eine Note gelernt hatte, so trommelte sie doch mit beiden Händen auf den Tasten, denn sie wollte nicht hören, daß hinter ihr ein leiser Goldklang aufzitterte – wird es doch sogar im ehrbaren bürgerlichen Leben mit einer gewissen Diskretion umgeben, wenn vor der Hochzeit der Schwiegersohn mit dem Schwiegervater über die Mitgift verhandelt. – –

Es war ein schweres Verhängnis, daß Magdalena den Weg der Schande mit einem Manne betrat, der ihr Wohlgefallen wachrief. Wenn einer jener Wüstlinge, die selbst den Ekel der Dirne erregen, sie begehrt hätte, wenn das ganze Grauen käuflicher Liebe in seiner nackten Gestalt sich ihr gleich am Anfang enthüllt hätte, so wäre sie vielleicht nicht das geworden, was sie tatsächlich geworden ist; aber es geht im Leben fast immer so, daß die Sünde ihr Flitterkleid nur allmählich abstreift, und wenn sie sich erst zum Skelett umgewandelt hat, dann ist sie auch schon der Tod.

*

Als Martha nach einer ruhig durchschlafenen Nacht des Morgens aufstand und das Bett ihrer Tochter leer fand, schmunzelte sie.

Es war also richtig so gekommen, wie es doch einmal kommen mußte; Magdalena hatte einen reichen Liebhaber, und nun konnte das ersehnte Wohlleben endlich angehn, denn es war doch ganz selbstverständlich, daß ein dankbares Kind sich im Überfluß der eigenen Mutter entsann, und wenn sie das nicht tat, dann würden eben Daumenschrauben angesetzt; es gibt doch noch Gott sei dank in der Welt eine Moral, die sich nötigenfalls erzwingen läßt!

Allzufrüh durfte Magdalena natürlich nicht erwartet werden. Sie war offenbar gleich bei ihrem »Freunde« geblieben, und man weiß ja, wie es am ersten Morgen zwischen einem zärtlichen Pärchen hergeht; aber so um die Mittagszeit, da kam sie vielleicht, um ihre Sachen abzuholen und ganz in das neue Heim überzusiedeln.

Oder besser, um sich eins auszusuchen. Denn allzu auffällig durfte die Sache doch nicht gemacht werden; Magdalena mußte eine besondere Wohnung haben, in der sie die Besuche ihres Liebhabers empfing – die Hamburger Polizei war so scheußlich sittenstreng, sie schnüffelte schließlich noch ein von der Mutter begünstigtes Konkubinat heraus, und dann hatte die Geschichte ein ekliges Loch. –

Dieser Vormittag verging Frau Martha sehr angenehm; ihre Arbeit ließ sie ruhig liegen; sie hatte sich genug im Leben mit schmutziger Wäsche befaßt – nun kam ein reinlicheres Dasein. Aber zum Kaffee nahm sie eine bessere Sorte, und die Likörflasche mußte auch herhalten; künftig sollte es dreigesternter Kognak werden – hol' mich der Teufel!

Um die Mittagszeit wurde Frau Martha etwas unruhig. Es war dem Mädchen doch hoffentlich nichts passiert – in diesem Hamburg mußte man sich immer auf allerhand Chosen gefaßt machen, da verschwanden die Leute mitunter am hellichten Tage!

Noch ein paar Stunden weiter, da rappelte die Alte sich auf und ging geradeswegs nach Sanguessas Wohnung Sie genierte sich zwar ein wenig, denn es ist doch schließlich etwas peinlich, wenn die Mutter bei einem ledigen Herrn anfragt, ob die Tochter noch immer im Bett liegt, und sie freute sich ordentlich, als die Tür verschlossen war und niemand auf die Schelle reagierte.

Die beiden hatten also einen Ausflug gemacht, trotzdem das Wetter wenig dazu einlud, aber Verliebten hängt der Himmel immer voll Geigen, und die Wolken werden nicht beachtet.

Übrigens verging diese zweite Nacht weniger ruhig als die erste. Martha schlief zwar, weil sie auf den Boden der Flasche gekommen war, aber wenn draußen auf der Straße ein Geräusch anhob, dann fuhr sie in die Höh' und lauschte:

»Jetzt bringen sie das Mädchen – aus dem Flet, aus dem Schlamm!«

Ja, es gibt doch Ahnungen. – –

Am nächsten Morgen war Martha halb entschlossen, auf die Polizei zu gehen, aber es blieb auch wirklich nur etwas Halbes. Denn nun überlegte sie sich zum erstenmal, daß ein Name, der erst in den Akten steht, immer mehr Anhängsel kriegt, und die Anhängsel haben Angelhaken, und schließlich reißt man sich damit ins Fleisch. –

Vielleicht aber wäre doch noch etwas daraus geworden, wenn nicht Frau Zech auf der Bildfläche erschienen wäre.

Die würdige Dame sah sehr feierlich aus, und Martha fiel aufs Herz, daß sie die Wäsche vernachlässigt hatte; sie stammelte einige Entschuldigungen, aber das Weib machte eine großartige Handbewegung:

»Ich komme nicht deshalb, meine Liebe, sondern wegen einer Angelegenheit, die uns beide näher angeht als ein paar schmutzige Hemden. Sie vermissen Ihre Tochter, nicht wahr?«

»Allerdings – wo ist die Lene?«

»Bei mir.«

Martha war gewiß niemals ein Tugendengel gewesen, aber sie öffnete den Mund und vergaß, ihn wieder zu schließen; endlich würgte sie heraus:

»Bei Ihnen – im Bums?!«

»Es ist ein häßliches Wort,« entgegnete Frau Zech mit stiller Größe, »aber ich denke, wir beide reden am besten miteinander ohne große Komplimente. Also ich wiederhole Ihnen, Frau Klein, daß Ihre Lene bei mir Unterkunft gefunden hat, und wenn die Tochter einer alten Straßendirne diesen Weg geht, um nicht in die Spuren der Mutter treten zu müssen, so ist das nach meiner Ansicht ein begreiflicher und natürlicher Entschluß. Denn ich brauche Sie wohl kaum daran zu erinnern –«

Jetzt fand Martha die ersten zusammenhängenden Worte:

»Sie brauchen mich an gar nichts zu erinnern, das verbitte ich mir einfach! Was ich selbst in meinen jungen Jahren getan habe, das geht niemand was an, aber wenn es auch noch so schlimm gewesen ist, an das, was Sie tagtäglich tun, reicht es noch lange nicht heran! Heute wenigstens bin ich eine ehrliche Waschfrau, aber was Sie sind, das Wort nimmt kein anständiges Frauenzimmer in den Mund, und von Ihnen lasse ich mir keine Moralpredigten halten, das wollte ich Ihnen nur ein für allemal geraten haben, Sie – Mensch!«

»Für gewöhnlich werde ich »Madam« genannt,« entgegnete Frau Zech noch immer gelassen. »Ich erhebe durchaus keinen Anspruch auf Reputation, das bringt mein Geschäft nicht mit sich, denn Sie haben ganz recht, es ist durchaus kein schönes Geschäft. Aber Sie haben mich mißverstanden, meine Liebe, ich wollte Ihnen keinen Vorwurf aus Ihrer Vergangenheit machen, das wäre allerdings in meinem Munde eine Geschmacklosigkeit. Ich wollte mir nur erlauben, darauf hinzuweisen, daß unsere Wege auch heute noch nicht weit auseinandergehen, denn wenn ich junge Mädchen verkuppele, so tun Sie genau dasselbe, nur mit dem kleinen Unterschied, daß Sie mit Ihrer eigenen Tochter den Anfang machen und zwar einen recht törichten und mißglückten Anfang, Frau Klein.«

Da waren sie denn wieder bei Magdalena angelangt, die über diese Auseinandersetzung fast vergessen wäre, und Martha machte ein sehr verdutztes Gesicht.

»Wie meinen Sie das, wenn ich fragen darf?«

»Genau, wie es gesagt ist. Sie werden doch nicht leugnen wollen, daß Sie alles nur mögliche getan oder vielmehr unterlassen haben, um Ihre Tochter mit einem reichen Liebhaber zusammenzubringen, und in Ihrem blinden Eifer sind Sie dabei auf einen Menschen verfallen, der schon seit einiger Zeit in Hamburg eine recht bedenkliche Rolle spielt. Ich selbst kenne diesen Sanguessa nicht näher und stehe mit ihm in keiner Verbindung, aber es ist wohl sicher, daß er zu den gefährlichsten Mädchenhändlern gehört, und Ihre Lene hat er auch in das Ausland verschleppen wollen. Das geht natürlich nicht ohne ein bißchen Verführung ab, und zu diesem Zweck hat er sich eine Weinstube ausgesucht, die allerdings in meinem Hause liegt, aber mit meinem eigentlichen Geschäft nichts zu tun hat. Als das Mädchen sinnlos betrunken war und in eine Droschke verpackt werden sollte, habe ich mich ihrer angenommen und ihr für die Nacht Obdach gewährt; und nun zieht sie es vor, bei mir zu bleiben, denn wenn man schon verkuppelt werden soll, dann ist es noch zehnmal besser in Hamburg als in New-York oder Buenos Aires, oder wie diese Fieberlöcher alle heißen mögen.«

Also sprach Frau Zech und strich ihr Schwarzseidenes glatt. Sie glaubte natürlich nicht im entferntesten, daß Martha dieses Gewebe von Wahrheit und Dichtung für bare Münze nehmen werde, es kam ihr vielmehr nur darauf an, den Paragraphen von der schweren Kuppelei in das richtige Licht zu rücken, und wenn ihr das gelang, so hatte sie das Spiel gewonnen.

Daher setzte sie, als Martha verwirrt schwieg, noch einen Trumpf auf und sagte wehleidig:

»Ich sehe ja ein, meine Liebe, daß Sie in einer recht schwierigen Lage sind. Gestern hat dieser Sanguessa das Feld geräumt und ist spurlos verschwunden; aber jedermann weiß, daß er ein paar Wochen lang unter Ihren Augen mit Lenchen gegangen ist. Wenn Sie nun auf die Polizei laufen und Lärm schlagen, dann wird man sich vorläufig an Ihre werte Person halten und Sie selbst hinter Schloß und Riegel setzen; Ihrer Tochter aber nützt es nicht das mindeste, denn die ist nun einmal bei mir und will nicht zu der Mutter zurückkehren. Es ist also wirklich das Beste, wenn Sie ganz stille sind und der Sache ihren Lauf lassen; nach dem, was geschehen ist, würde die Lene doch unter die Sitte kommen, sie hat sowieso eine Neigung für das Geschäft geerbt«

Als Frau Zech gegangen war, fiel Martha zunächst in einen Weinkrampf, denn sie hatte auch Muttergefühle, die nur sehr tief unter dem Schutt des Lebens begraben waren.

Dann begann sie ein greuliches Fluchen und zerschlug mehrere Gegenstände, unter denen sich indessen nicht die Likörflasche befand. Denn diese wurde ihr letzter Trost.

Sie legte sich jetzt ernsthaft aufs Trinken und im zweiten oder dritten Rausch schrieb sie an ihre Tochter einen großartigen Brief, in dem die Worte »Undank«, »schlechtes Mensch« und »Lossagen« ziemlich häufig vorkamen.

Damit war die morsche Brücke zwischen Mutter und Kind endgültig zusammengebrochen. – – – –

*

Wir alle haben jene dunkeln, entlegenen und verfemten Häuser gesehen, in denen die Schande wohnt.

Eine anständige Frau geht nur ungern daran vorüber und wenn sie es dennoch nicht vermeiden kann, so rafft sie ihr sauberes Kleid zusammen, denn die Mauern dieser Häuser werden zwar ebensogut von der Sonne beschienen und vom Regen gewaschen, wie das überall der Fall ist, aber drinnen klebt der Unrat.

Wir Männer sind in unseren jüngeren, in unseren ledigen Jahren wohl alle einmal hineingegangen, und wenn uns nicht eine Sinnlichkeit dazu trieb, die durch den Alkohol vergiftet war, so wollten wir doch wenigstens unsere Neugier befriedigen.

Wir fanden Lichterglanz und Lachen und halbnackte Leiber, aber unsere Augen sahen nicht die Schatten unter den Kerzen, und unsere Ohren hörten nicht das Schluchzen hinter dem Lachen, und an das zuckende Herz unter den enthüllten Brüsten hat keiner von uns gedacht.

Dennoch sind diese Gegensätze alle vorhanden, und es ist gut, sie nebeneinanderzusteilen, denn dann werden wir gerechter.

Und wir werden milder.

Wenige vielleicht sogar barmherzig. – – – –

Als Magdalena einige Wochen in dem Hause der Frau Zech zugebracht hatte, lebte sie sich allmählich ein.

Und sie erkannte sehr bald, daß, rein äußerlich betrachtet dieses Dasein viel einförmiger verlief, als die Torheit der Leute im allgemeinen annimmt; es wurde ihr klar, daß der Name eines »Freudenhauses« kaum auf die Stimmung der Besucher paßt, für die Insassen aber einen grimmigen Hohn bedeutet.

Denn diese Priesterinnen der Liebe waren wie die Drohnen. Sie wurden von Frau Zech ebenso sorgfältig vor jeder Arbeit behütet wie eine zärtliche Mutter ihre Töchter an geregelte Tätigkeit gewöhnt, und der Tag zerfiel für sie im Grunde genommen nur in zwei Teile: der erste wurde einer sorgfältigen und raffinierten Pflege des Körpers gewidmet und der zweite gehörte seiner ebenso systematischen Vernichtung.

»Es ist wie mit dem Gewebe der Penelope,« sagte die Sektlore wohl gelegentlich; aber dieses homerische Bild wurde von den anderen Mädchen nicht verstanden, denn Lore war die einzige, die eine höhere Bildung genossen hatte. –

Der Vormittag war natürlich dem Schlafe gewidmet. Es geschah nur selten, daß die eine oder andere vor zwölf Uhr mittags aufstand, denn der Salon wurde regelmäßig bis gegen Morgen offen gehalten, während er den Tag über unter dem Dämmerlicht einer einsamen und müden Gasflamme dalag; Sonne kam überhaupt nicht hinein, weil dieses Nest der Liebe von hohen und schwarzen Hofmauern ringsum verbaut war.

»Wie das Allerheiligste im Tempel,« sagte die Sektlore.

Nach dem Kaffee, der gewöhnlich von der alten Katharine an das Bett gebracht wurde, gingen die Mädchen paarweise oder einzeln in das Bad.

Frau Zech hatte dafür Sorge getragen, daß die geräumige Badestube mit allem Luxus der Neuzeit ausgestattet war, und sie pflegte zu sagen, daß in dieser Beziehung keine Prinzessin es besser haben sollte. Die erfahrene Frau wußte sehr wohl, daß nur die allerpeinlichste Sauberkeit eine Garantie gegen häßliche Krankheiten geben konnte, aber sie führte auch einen unerbittlichen Krieg gegen Wanzen und Flöhe, die sich allzugern in den älteren Häusern der Hansestadt einnisteten und fast regelmäßige Insassen der Bordelle zu sein pflegen.

An das Bad schloß sich gewöhnlich das Mittagessen, bei dem Frau Zech niemals persönlich zugegen war. Die Mädchen wurden bedient wie in einem vornehmen Hause; es gab stets mehrere Gänge und auf besonderen Wunsch gab es als Getränk auch Porter und Ale. Man machte indessen nur selten davon Gebrauch, denn im Laufe der Nacht wurde ohnehin so viel gezecht, daß die Kräfte dazu notwendigerweise aufgespart werden mußten.

Dagegen spielte die Zigarette auch im Laufe des Tages eine große Rolle. Frau Zech führte die verschiedensten Marken und nahm dafür natürlich enorme Preise, aber das machte nichts weiter aus, denn die Gäste kauften davon immer ganze Schachteln, die dann unter den Mädchen verteilt wurden.

Käthe – der »Dragoner« – rauchte sogar gelegentlich eine tüchtige Zigarre mit Leibbinde, wenn auch niemals im Salon, denn Frau Zech fand das »unästhetisch« und sagte, die Gäste würden dadurch abgeschreckt.

Nach dem Mittagessen begann die große Toilettenfrage. Bis dahin gingen die Mädchen meistens mit ungemachten Haaren, in seidenen Schlafröcken und oft ohne vollständige Leibwäsche, aber vor dem Ankleiden wurde regelmäßig ein Kriegsrat abgehalten, in dem Madam persönlich den Vorsitz führte.

Die Frau besaß Geschmack, und weil ihr Haus anerkannt das feinste in Hamburg war, so mußte sie auch bedeutende Summen für Kleidung aufwenden; es kam aber natürlich alles reichlich wieder ein durch die enormen Preise, die von den reichen Besuchern ohne Murren gezahlt wurden.

Frau Zech war keine Freundin von wirklich gemeinen Schaustellungen und sie hielt darüber kleine Vorträge.

»Die Herren sollen natürlich wissen, daß sie sich nicht in einem Mädchenpensionat befinden. Ein bißchen mehr, als auf den Bällen üblich ist, muß immer gezeigt werden, aber auch nur gerade so viel, daß der Appetit nach mehr gereizt wird. Es gibt in dieser Straße und anderswo Häuser, wo die Frauenzimmer halb nackt herumlaufen, aber das darf in meinem Salon niemals vorkommen. Auf den Zimmern unter vier Augen können Sie machen, was Ihnen beliebt, meine Damen, aber wo viele beisammen sind, muß man auch auf den verfeinerten Geschmack Rücksicht nehmen.«

Käthes Kostüm mit dem Maschenpanzer entsprach nicht ganz dieser Auffassung, aber Madam wußte auch gelegentlich ein Auge zuzudrücken.

»Es steht Ihnen wirklich gut,« sagte sie, »und das bleibt immer die Hauptsache. Unsere Anna würde damit freilich keinen Effekt erzielen, aber die ist in ihrer Weise ebenso apart, wie Sie Käthe, bei der steckt das Weibliche schon in der Halskrause und in einem Zipfel vom Unterrock – ich bin mitunter selbst ganz baff.«

Lore und Lene waren die eigentlichen Trägerinnen des Gesellschaftskleides. An diesen bastelte Madam oft eigenhändig herum, machte hier den Ausschnitt des Kleides etwas tiefer und steckte dort eine Rose zwischen die beginnende Wölbung der Brüste – und wenn sie so ihr Werk vollendet hatte, sagte sie wohl bewundernd:

»Kinder, bei eurem Anblick wünsche ich mitunter ein Mannskerl zu sein!«

Dazu lachte die »keusche Anna« in sich hinein. –

War die Toilette endlich vollendet, so kamen einige ruhige Stunden. Die vier Mädchen versammelten sich im Salon, und man drehte ein paar Gaskronen mehr an; aber die Gäste kamen selten vor neun oder zehn Uhr abends, und die Wartezeit wurde dann mit Schwatzen ausgefüllt.

Wovon sie redeten? – – – –

Es ist eine uralte Erfahrung, daß der Besucher eines öffentlichen Hauses, wenn er mit den Mädchen beim Glase zusammensitzt, eine Art Verlegenheit empfindet.

Man will und muß sich doch unterhalten, und das Gebiet des Gespräches ist sehr eng; die paar üblichen Zoten sind bald erschöpft, und über die Wände des Salons hinaus gehen die Worte nur sehr selten. Hat doch fast jeder das Bestreben, an diesem Orte sogar seinen Namen und seine gesellschaftliche Stellung zu verbergen, und wenn er auch den wirklichen oder den angenommenen Vornamen des Mädchens sehr bald erfährt, so wird er selbst dafür regelmäßig mit den üblichen Bezeichnungen: »Kleiner«, »Schatz« oder »Herzchen« angeredet. Bei den älteren Herren gesellt sich noch »Onkelchen« oder »Dicker« hinzu.

Da gilt es denn als ein beliebter Lückenbüßer, daß der Mann von dem Mädchen wissen will, wie es eigentlich hierher gekommen ist.

Aber die Wahrheit erfährt er nie.

Vielleicht wird ihm mit einer allgemeinen Redensart von »Kind bekommen haben« oder dergleichen geantwortet, und das ist freilich fast immer die Wahrheit –, aber ihren Lebensgang erzählen diese Mädchen nur in den seltensten Fällen, und wenn es dennoch geschieht, so mischen sie einen Ozean von Dichtung in das winzige Tröpflein Wahrheit, denn dann wollen sie erschüttern und als tragische Personen erscheinen und sie ahnen nicht, daß die Alltäglichkeit des Lebens die größte Tragik in sich birgt.

Ganz anders verhalten sie sich im Verkehr untereinander.

Das bißchen Romantik zergeht wie die Schminke, wenn man einen Mundvoll Tabaksrauch darauf bläst, und wenn auch eine welke und fahle Haut darunter zum Vorschein kommt, so genießen sie wenigstens die Genugtuung, in ihren Konfessionen auf das große feindselige Element hinzuweisen, welches ihnen allen gemeinsam die Lebensblüte vergiftet hat:

Auf den Mann und seinen Krieg mit dem Weibe. –

Käthe mit ihrem offenherzigen Wesen war die erste, die in einer jener Dämmerstunden ihre Lebensgeschichte zum besten gab.

»Ich bin Hamburger Kind,« sagte sie, »und niemals in meinem Leben über Vierlanden hinausgekommen. Mein Vater war Schauermann, und ihr könnt glauben, daß er ein Kerl gewesen ist, der seine zwei Zentner wie nichts aufhuckte, denn bei der Arbeit kann man keinen Jammerlappen brauchen.

Natürlich soff er wie ein Musikante, aber das kam wohl erst, als meine Mutter hintereinander sechs Kinder kriegte, denn da ging ihm das Wasser über den Kopf, und ich habe noch keinen gesehen, der es nicht ebenso gemacht hätte. Weil ich die älteste war, so habe ich noch die Gesundheit mit auf den Weg bekommen; meine jüngsten Geschwister waren schminkrige Dinger, und die Mädchen liegen auch schon unter der Erde; meine Brüder sind in See.

Nach der Konfirmation mußte ich natürlich in Stellung und ich habe es eigentlich recht gut gehabt, denn was unsere Hamburger Herrschaften sind, über die darf man sich nicht beklagen; nur den Tanzboden und die Verhältnisse sehen sie nicht gerne, und ich glaube fast, es ist was daran.

Na ja, ich hielt mich denn auch ganz ordentlich, aber dann kam das verdammte Cholerajahr, und da gingen meine beiden Alten futsch.«

Die Sektlore hatte bis jetzt gleich den andern stumm zugehört; jetzt hob sie wie lauschend den Kopf.

»Alle beide, Käthe?«

»Alle beide, an ein und demselben Tage.«

»Du Glückliche.«

Wie ein Gespenst ging es durch den Salon; selbst Madam, die am Büfett Geld zählte und halb hingehört hatte, ließ eine Doppelkrone fallen; Käthe aber machte ein trotziges Gesicht.

»Ich weiß doch nicht, Lore – mir kam es damals hart an. Und es ist wohl auch der Anfang von meinem Unglück gewesen, denn die Mutter hielt ihre Hand immer noch über mir. Aber das Trauerjahr hindurch bin ich noch brav gewesen –, dann machte ich es wie die andern und schaffte mir einen Schatz an.«

Abermals war es die Sektlore, die eine Frage stellte:

»War er deinesgleichen, Käthe?«

»Natürlich,« entgegnete das Mädchen und wartete ein paar Sekunden, ob wieder so ne wunderliche Bemerkung kommen werde, wie vorhin. Aber Lore schwieg, und Käthe fuhr fort:

»Mit den Feinen mich abzugeben, habe ich erst hier gelernt. Aber dumm bin ich doch gewesen, denn mein Schatz war ein Seemann, und als er mir glücklich ein Kind angedreht hatte, ging er übers Wasser. Sie sagen, er wäre verschollen, ich weiß es nicht. Aber das Bankert hatte ich auf der Pelle, das weiß ich.

Nun war es die keusche Anna, die sich in das Gespräch mischte:

»Hast du ihn beiseite gebracht, Käthe? Du kannst es gerne sagen, wir verraten nichts.«

Eine Sekunde lang hatte es den Anschein, als ob dieses Hünenweib sich auf die Fragende stürzen und sie zu Boden schlagen wollte. Aber Madam hob warnend den Zeigefinger, und sie bezwang sich:

»Nein, so was überlasse ich dir. Es war mein Kind, und es war eine kleine süße Deern. Ich wollte es ehrlich durchbringen, aber ihr feinen Rackers wißt wohl nicht, was das für ein armes Mädchen bedeutet. Natürlich, sie setzten es mir ins Gesindebuch hinein und dachten wohl gar, das wäre was extra Gutes. Aber ihr hättet nur das Gesicht von den Herrschaften sehn sollen, wo ich Dienst nehmen wollte! Da war eine große fette Madam und Vorstand von sechs Vereinen, die sah mich von oben bis unten an und sagte: »In einer christlichen Familie können wir so was nicht brauchen; gehen Sie lieber ein Haus weiter« Da war eine gnietschige Madam, die schielte mich nur so an und meinte: »Das Kind haben Sie wohl von Ihrem früheren Dienstherrn; ich will keinen Unfrieden in meiner Ehe haben.« Da war eine nette Madam, die einen erwachsenen Sohn hatte – – – ach was, ich mag die alten Geschichten nicht wieder aufwärmen, aber das Ende vom Liede war, ich wurde Fabrikstrunze und mußte meine Kleine zu einer Pflegefrau geben.«

Käthe schwieg ein paar Sekunden und würgte etwas hinunter.

»Die Pflegefrau hat denn einen kleinen Engel daraus gemacht und das Kind wog doch sieben Pfund bei seiner Geburt. Ja, nun macht ihr Augen, und die Lore wird wohl wieder sagen, daß ich viel Glück gehabt habe –«.

»Vergib mir,« sagte die Sektlore undeutlich.

»Da ist nichts zu vergeben, mein Schatz. Wenn ich jetzt daran denke, daß meine kleine Deern noch leben täte, da würde mir das Herz ja wohl brechen, denn bald hernach kam ich in die Hände von einem –«

Sie sah nach dem Büfett und dämpfte ihre Stimme: »Nein, der ist es nicht gewesen, mit dem die zu tun hat –, aber wohl einer von seinen Kumpanen, denn ich glaube, die wachsen aus der Erde wie die Giftpilze. Schön wäre ich, sagte er zu mir – in Samt und Seide könnte ich gehn, sagte er zu mir. Nun, darin hat er ja nicht gelogen, denn die Mannskerls nennen mich auch schön und für Samt und Seide sorgt Madam. Aber in einem hat er gelogen, der Hund: »Ich würde ein glückliches Leben führen,« sagte er – – Kinder, heute abend wollen wir Sekt sausen, daß die Schwarte knackt!« – – – –

Nicht Käthe, aber die Lore trank an diesem Abend noch mehr als gewöhnlich. Im allgemeinen sah Madam ja recht gern, daß ihre Mädchen tüchtig animierten, denn die Flasche Henkel Trocken kostete zwanzig Mark, und es wurde auch mitunter doppelt angekreidet.

Aber heute abend wurde es ihr doch unheimlich mit der Lore, sie winkte das Mädchen ans Büfett und sagte leise:

»Kind, markieren Sie lieber mit dem Trinken; das hält ja lebt Mensch aus.«

Aber die Lore warf ihren blassen Kopf mit den rotflammenden Haaren in den Nacken:

»Was meinen Sie, Madam – soll ich denn auch markieren, wenn einer von den Kerls mich hinaufschleppt?«

*

Am folgenden Tage war die Lore wirklich krank. Sie ließ zu Madam hinuntersagen, daß jede Kuhmagd ihren Ruhetag hätte, und Madam schickte als Antwort ein paar Flaschen Selterswasser hinauf, denn sie war eine humane Frau. –

Um die Dämmerzeit entschloß Magdalene sich zu einem Krankenbesuch. Sie war noch niemals in Lores Zimmer gewesen und erwartete natürlich, daß es darin genau ebenso aussehen werde wie in den übrigen – aber sie fand sich nicht unangenehm enttäuscht.

Die Möbel trugen allerdings ebenfalls den Firnis einer Talmieleganz, aber die wenigen Kupferstiche an der hellen und freundlichen Tapete gehörten nicht jenem Genre an, das nur in die Bildergallerien gehört, und sonst überall einen schwülen und aufdringlichen Eindruck hinterläßt. Es waren ausschließlich Landschaften, darunter ein vorzüglicher Claude Lorrain, dessen heitere Schönheit dem ungeübten Auge Magdalenes natürlich entging.

Lore lag auf einem Divan, der in die Nähe des Fensters gerückt war und Magdalene fragte, warum sie nicht das bequemere Bett vorziehe.

»Das Lotterbett?« entgegnete Lore. »Hast du schon jemand gesehen, der am Sonntag seine Arbeitskleider anzieht? Das müssen ganz arme Leute sein – oder Viecher.«

Sie hatte in einem Buch gelesen, das noch in ihrem Schoße lag und Magdalene, die sich einen Stuhl herangerückt hatte, griff halb mechanisch danach; es sah nicht aus, wie einer der schmierigen Leihbibliotheksromane, die in diesem Hause sonst üblich waren, aber sie legte es sofort mit verlegenem Lächeln wieder aus der Hand.

»Du, das ist ja eine fremde Sprache! Das verstehe ich nicht.«

Lore nickte.

»Es ist ein englisches Gedicht: › Paradise lost‹ heißt sein Name.«

»Was bedeutet das auf deutsch?«

»Das verlorene Paradies.«

Sie schwiegen beide und Magdalene ließ ihre Augen im Zimmer umherwandern, denn sie wagte nicht, ihrer Gefährtin in das Gesicht zu sehn.

»Da stehen ja noch mehr Bücher, Lore; liest du die alle?«

»Ja, Kind; bisweilen.«

»Und sind die alle so – ernst?«

»Einige sind auch lustig, Lene; aber da liegt Staub drauf.«

»Lachen die Herren nicht, wenn sie das sehn?«

»Sie haben ihre Augen anderswo,« entgegnete Lore, und streckte sich auf das Ruhebett zurück. »Wie nett von dir, Lene, mich zu besuchen – Du bist ja noch nicht in Toilette?«

»Nein, heute kommt es auf eine Stunde später nicht an; mit dem Schwatzen hat es doch keine Art, wenn du fehlst.«

»Wirklich Kind? Warum denn?«

»Ich mag nicht als Blitzableiter zwischen Käthe und der andern sitzen,« sagte Magdalene, »was ist das eigentlich mit der Anna? Du deutetest schon neulich so was an –«

»Heute nicht, Kind; mir tut der Kopf weh –«

»Das ist kein Wunder«, eiferte Magdalene. »Warum tust du das nur, Lore? Du bringst dich schließlich unter die Erde!«

»Ja, Lene.«

»Das klingt gerade, als ob es deine Absicht wäre!«

»Es klingt nicht nur so, Lene.«

Abermals trat eine Pause in der Unterhaltung ein, aber sie wurde von der Straße her ausgefüllt. Die Fenster gingen nach vorne hinaus und plötzlich orgelte es da unten los:

»Freuet euch des Lebens –«

»Dieser Bänkelsänger macht mich wahnsinnig!« stöhnte Lore und preßte den Kopf in die Hände. »Alle paar Tage dasselbe alte abgedroschene Lied, und er weiß doch, daß wir hier oben sind! Warum leiert er nicht einen modernen Gassenhauer, es gibt ja doch so viele von der Sorte!«

»Soll ich ihm was hinunterwerfen, damit er weitergeht?«

»Nein, Kind, wir dürfen uns nicht am offenen Fenster zeigen; kennst du nicht die Polizeivorschrift?«

Magdalene seufzte.

»Mein Himmel, selbst das dürfen wir nicht? Du, es ist eigentlich schrecklich!«

»Warum?« fragte Lore und richtete sich auf. »Mich dünkt, das ist eine Wohltat, wenn wir uns verkriechen dürfen.«

Da war die Stunde gekommen, wo auch diese beiden Unglücklichen ihr Herz gegeneinander öffneten. Magdalene glitt an dem Divan nieder und legte ihre Hände in Lores entweihten Schoß.

»Lore,« sagte sie, »wie ich hierher geraten bin, das weißt du ja. Wie Käthe hierher kam, hat sie uns gestern erzählt; aber wie war das bei Dir möglich? Du bist doch so klug!«

Das blasse Mädchen schüttelte den Kopf.

»Es wäre besser, Lene – aber einerlei, einem Menschen muß man es doch mal erzählen, denn wenn ich im Krankenhaus liege: der Pfaff kriegt es gewiß nicht zu hören.«

»Weißt du, was es heißt, Kind, aus einem tugendhaften Hause zu stammen?«

Magdalene senkte den Kopf.

»Es ist hart, Lore, wenn man mit ›Nein‹ antworten muß.«

»Meinst du wirklich? Du und die Käthe: ihr seid besser daran. Käthes Vater war ein Säufer, deine Mutter ging auf die Gasse; um dererwillen braucht ihr euch keinen Kummer zu machen, der nach Sekt schreit. Ich – – nein weiß Gott, tugendhaft bin ich nie gewesen, aber meine Eltern waren es desto mehr und das ist denn so mit der Natur, wenn sie sich in zwei Menschen ausgegeben hat, dann spuckt sie vor Ekel dem Kinde in das Gesicht.

Mein Vater war Küster an einer Kirche – es ist weit von hier – und meine Mutter war die Tochter von einem Leichenbestatter; frömmere Leute gibt es nicht auf der Welt; das ist gewissermaßen ihr Handwerk – die Leichenbittermiene. Lene, was ist in unserem Hause gebetet worden! Morgens, mittags, abends, vor dem Essen und nach dem Essen – Lene, was ist in unserem Hause gelästert worden, denn mein Vater dankte Gott sogar für gesegnete Verdauung und meine Mutter sagte, die Kuh hätte mit Gottes Hilfe ein Kalb bekommen! In diesem Milieu – ja so –, also in diesem Dunstkreis bin ich aufgewachsen, und es ist ein wahres Wunder, daß der Teufel mich nicht schon mit vierzehn Jahren hatte, denn er war Hausfreund bei uns, er wurde an jede Wand gemalt. Und nun paß auf, wie das weiterging.

Ich war ein heller Kopf und es sollte was besonderes aus mir werden; die Frauenfrage war aber damals noch nicht erfunden und mein Vater schickte mich daher auf ein Lehrerinnenseminar; ich kann mir das Zeugnis geben, Lene, daß ich ehrlich geschuftet habe, aber es ist doch wohl nicht gut, wenn ein junges Weib hinter das Bücherpult genagelt wird – zu einer Zeit, wo die Säfte gähren.«

Lore machte eine kleine Pause und sah in das dunkle Zimmer; man hatte draußen auf der Straße die Gaslaternen angezündet und eine davon gab ihr Licht her, so daß die roten Haare des Mädchens aufglänzten.

Magdalene berührte sie leise mit der Hand.

»Ja, Kind,« sagte Lore, »wie oft hat er das auch getan, und jedesmal, wenn ich daran denke, läuft es mir noch heute über den Rücken. Das war nämlich in meiner allerersten Stelle und die Leute beneideten mich darum, weil die Familie als sehr vornehm galt und es ganz gewiß auch gewesen ist. Aber nicht wahr, kleine Lene, die Liebe kehrt sich ganz und gar nicht daran, wenn der Sohn des Hauses und die Gouvernante einander gerne haben; die Liebe schafft alle möglichen Gelegenheiten, und zuletzt ist es denn so weit. Man sorgte dafür, daß ich in eine Entbindungsanstalt kam, und das Kind wurde natürlich tot geboren, denn ich hatte mich wie wahnsinnig geschnürt – es ging mir schlimmer wie der Käthe, die ihren Leib wenigstens den Leuten zeigen konnte. Eine Entschädigung bekam ich auch, und als sie mich aus der Anstalt entließen, da meinte die Oberschwester, es wäre immer noch ein Glück, daß ich noch mein Vaterhaus hätte, denn viele in meiner Lage gingen ganz einfach vor die Hunde. Wieviel Uhr haben wir, Lene?«

»Sechs vorbei – warum?«

»Dann mußt du an deine Toilette denken.«

»Nein, nein, ich will erst zu Ende hören! Dein Vater –«

»Mein Vater wies mir die Tür. Er sollte damals eine Organistenstelle haben und die Gemeinde war sehr fromm. Jetzt ist er tot.«

»Und deine Mutter, Lore?«

»Wie du mich quälst, Kind! Meine Mutter lebt noch, und darum bin ich ja eigentlich hier. Denn für ihr bischen Pension kam sie in die allerletzte Klasse der Anstalt –«

»Lore, um Gotteswillen!«

»Ja,« sagte das Mädchen und erhob sich von dem Ruhebett, »das ist nun einmal so. Die Direktion von der Irrenanstalt ahnt vielleicht, woher das Geld kommt, daß meine Mutter in der zweiten Klasse sein kann, aber sie selbst ahnt es nicht, sie weiß nichts mehr von mir, sie hat nur zwei Gedanken: gutes Essen und Gottes Sohn, Jesus Christus.«

Die Unglückliche horchte in das Haus hinein.

»Wie ist es still um diese Stunde – aber heute Abend wird es wieder sehr lustig hergehn. Was meinst du, Lene, ich werde doch wohl hinuntergehen, Madam ist immer so betrübt, wenn sie ihr glückverheißendes Vierblatt nicht beisammen hat.«

Magdalene schrie beinahe auf.

»Nein, Lore, du sollst nicht! Ich will – –«

»Was willst du Kleine? Es gibt Leute, die können für zwei arbeiten; das können wir nicht. Heute ist der Erste im Monat, heute kommt »mein Mann«. Er wird traurig sein, wenn er seinen »süßen Rotkopf« nicht findet, und ich kann mit ihm über allerlei Dinge sprechen, wovon die anderen nichts wissen. Gib mir das Weißseidene aus dem Schrank, mit der Goldstickerei – er sagt, ich sähe darin aus wie eine Vestalin. Weißt du, was das ist?«

»Nein, Lore.«

»Im alten Rom hüteten sie das heilige Feuer; zu Neros Zeit wurden sie Huren; ich glaube, wir leben in Neros Zeit.« – – –

*

Einige Besucher von Frau Zechs Salon waren ständig; sie kamen zu ganz bestimmten Zeiten und beschäftigten sich nur mit einem bestimmten Mädchen; alle andern waren ihnen gleichgültig, so daß man fast von einer Art Liebesverhältnis sprechen konnte.

Sie übernachteten meistenteils in dem Hause und wurden daher die »Ehemänner« oder einfach »die Männer« genannt.

Lores »Mann« war ein ganz besonderes Exemplar; ein Original, wie sie immer seltener werden. Er lebte in Hamburg als Privatgelehrter und war keineswegs in glänzenden Vermögensverhältnissen; aber regelmäßig einmal im Monat, gewöhnlich am Beginn desselben, erschien er bei Madam Zech, trank eine Flasche Rotspon, plauderte ein wenig mit den Mädchen und zog sich dann mit Lore auf deren Zimmer zurück.

Er genoß eine Ausnahmestellung; die Mädchen redeten ihn mit »Herr Doktor« und »Sie« an und er selbst duzte sich nur mit Lore; er war in seiner Unterhaltung niemals unanständig und wenn er dennoch über geschlechtliche Dinge sprach, so geschah das mit der natürlichen Offenheit eines Mannes, der über alle Vorurteile des Lebens erhaben ist.

Er war auffallend häßlich, und Anna fragte ihn einmal in ihrer spöttischen Art, ob er vielleicht deshalb nicht geheiratet hätte.

»Nein, schöne Sphinx,« entgegnete er, »die häßlichsten Männer bekommen immer am leichtesten eine Frau, denn sie müssen aus der Not eine Tugend machen und treu sein. Aber leider vergelten die Frauen nicht Gleiches mit Gleichem. Außerdem habe ich keine Lust, Kinder in die Welt zu setzen, denn wenn diese unglücklichen Geschöpfe meinen Charakter erben, so wird man sie in das Narrenhaus sperren. Im zwanzigsten Jahrhundert haben alle Originale diese angenehme Aussicht, ich selbst werde nur damit verschont, weil ich noch aus dem vorigen stamme.«

»Aber eine Geliebte,« sagte Käthe, und der Doktor zog den Kopf zwischen die hohen Schultern.

»Von der kann man die Treue nicht einmal gesetzlich verlangen. Wenn ich mich unter Ihnen, meine Damen, befinde, so habe ich das sichere Gefühl, niemals und unter keinen Umständen betrogen zu werden, denn zum Betrug gehört die Vorspiegelung einer falschen Tatsache. Spiegelt meine Lore etwa vor, daß ihre Liebe mir allein gehört? Aber wenn wir von Madam absehen, so schenkt sie mir ihre Liebe, und, meine teuren Jungfrauen, Sie ahnen gar nicht, wie sehr ein Gelehrter dessen bedarf – er braucht sie viel notwendiger als ein Lastträger, der abends totmüde in das Bett sinkt.«

Anna raffte ihr schwarzes Kleid und schlug die feinen Füße übereinander:

»Liebe zwischen Mann und Weib ist überhaupt Blech.«

»Es gab eine Insel Lesbos« – entgegnete der Doktor orakelhaft.

»Komm Lore, wir wollen diese perverse Welt vergessen und in deinem Heiligtum den göttlichen Dekamerone lesen. Möchte doch die Pest zurückkehren, wie zu den Zeiten des Boccaccio, daß wir wieder Menschen werden!«

»Sie lesen wirklich allerhand fremdes Zeug,« sagte Käthe, als das Paar gegangen war; »bis in die tiefe Nacht lesen sie und dann schlafen sie zusammen bis in den hellen Morgen.«

»Und sie lieben einander«, setzte Magdalene hinzu.

»Ja, dafür ist er ihr Mann.« Aber darin liegt eine große Torheit, denn ich glaube wirklich, daß die Lore sich bisweilen was in den Kopf setzt. Grade, wie gewisse andere Leute.«

Es war richtig, auch Magdalene träumte sich dann und wann unerfüllbare Dinge. Jener junge Mann, der als erster in diesem Hause ihre Liebe genossen hatte, kam eben so regelmäßig wie der Doktor, nur häufiger und ohne Philosophie auf den Lippen. Aus dem schüchternen Jüngling war fast ein glühender Anbeter geworden und er quälte Magdalene oft mit törichten Vorwürfen, daß sie nicht ihm allein gehöre.

»Mach mich doch frei!« sagte sie.

»Ja, aber wie, Lene?«

Dann sahen sie sich an, und die Zukunft lag schwarz vor ihnen. Und dennoch stand in dieser Nacht für Magdalene ein blasser Stern.

»Er könnte mich wenigstens herausnehmen und zu seiner Geliebten machen,« sagte sie zu Käthe – ich wollte ihm so treu sein, wie eine verheiratete Frau.«

Und Käthe schüttelte den Kopf:

»O, du Närrchen, nicht einmal Ehefrauen sind treu. Aber wenn auch: wir sind Schnecken mit einem Haus auf dem Rücken – und dies ist unser Haus.«

*

Aber es kam doch vor, daß sie in der Dämmerstunde von einer Zukunft sprachen. Nicht wie das Kind von der Weihnachtsstube redet, wenn der Lichterglanz schon durch die Ritzen fällt, sondern wie die Seeleute murmelten sie, die mitten in Sturmesnacht und von Klippen umstarrt nach dem Leuchtfeuer auslugen.

Lore war am schnellsten mit ihrer Zukunft fertig.

»Tot«, sagte sie.

Aber Käthe in ihrer Kraftfülle reckte die mächtigen Glieder.

»Das ist man Schnack, Lore – das Sterben kommt früh genug. Wenn der Tod uns auspusten könnte wie eine Lampe – na, meinetwegen; schön ist dieses Leben ja nicht. Aber ich werde mich dagegen sträuben, mein Vater soll sogar die Cholera beinahe untergekriegt haben.«

Dann blickte sie sich im Salon um und dämpfte die Stimme:

»Eine Treppe tiefer gehe ich nicht, das ist sicher. Man muß es Madam lassen, sie hält uns gut und die Mannsleute sind ja auch soweit ganz manierlich – wenigstens was die Reinlichkeit angeht. Denkt euch, am Ende der Straße ist ein Bums, da kommen Kerls hin, die das ganze Jahr ihre Füße nicht waschen. Gitte, gitte! Also mit hier ist Schluß.«

»Wann?« fragte Anna und biß mit den spitzen Mausezähnen ihren Stickfaden ab.

»Später als bei dir, mein Schatz. Ein paar Jahre behält Madam mich sicher – sie sagt, ich wäre so herrlich gemein; ich glaube, das hat ein dänischer König von seinem Bettmädchen behauptet, also es ist doch was Feines dabei. Na, später muß man sich ja umsehen. Soviel Strumpfgeld wie die Anna habe ich wohl nicht zusammengehamstert, aber für einen Fischhandel wird es wohl noch langen, oder meinetwegen für einen Grünkram.«

»Aber das sind ja lauter alte Weiber!« wendete Magdalene ein, und Käthe streichelte ihrem Liebling den Kopf.

»Kücken, davon verstehst du nichts. Wir werden alle mit einmal alt; abends hat man noch zehn Porter getrunken und am nächsten Morgen ist man ein Fettklumpen. Das heißt, die Gesunden.«

Sie sah Lore von der Seite an:

»Ja wohl, Schatz, die es vertragen können. Du, mit deinem ewigen Sekt solltest dich nur in acht nehmen! Neulich war ein junger Doktor hier – ein nettes Kerlchen! –, der meinte, es gäbe extra Sektherzen, und die wären ganz schlimm.«

»Wir haben ja gar kein Herz,« sagte Lore bitter.

Anna fädelte sich einen neuen Faden ein:

»Also die Käthe hinter dem Fischkorb und mit 'n Stummel im Munde! Wenn ich das noch erlebe« –

»Dann spuck' ich vor dir aus,« sagte Käthe giftig. »Denn du wirst in deinem seidenen Kleide zu mir kommen und Fische für deine Mädchen einkaufen; dahin steht ja doch dein Sinn – du willst werden wie Madam!«

Sie hatte es leise gesprochen, um von Frau Zech nicht gehört zu werden; aber der Zorn blitzte aus ihren blauen Augen und sie war in diesem Moment wirklich schön.

Das schien auch Anna zu empfinden.

Wie ein schmiegsames Panthertier glitt sie von ihrem Stuhl, kauerte neben Käthe nieder und legte den schwarzen Kopf in den Schoß des Mädchens.

»Spucken ist garstig,« sagte sie – »und du darfst nichts Häßliches tun. Aber wenn du mich schlagen willst, mit deinen Händen in das Gesicht schlagen – ich halte still, schlag' zu. Ach Käthe, du weißt ja gar nicht wie hübsch du bist, wenn dich so die Wut überkommt, und die Mannsleute wissen es noch viel weniger!«

Das war wieder jene seltsame Szene, die Magdalene schon einmal beobachtet hatte – damals, als sie zum ersten Mal in diesen Kreis trat; und es schien auch dieselbe Veranlassung vorzuliegen. Denn Käthe trug auch heute wieder jenes seltsame Kostüm, das ihrer Erscheinung einen halb männlichen, halb weiblichen Charakter verlieh – mit ihren mächtigen, durch den Netzpanzer schimmernden Brüsten machte sie den Eindruck einer Sphinx und in diesem Augenblick schien sie wirklich das zu ihren Füßen hingekauerte Mädchen zerfleischen zu wollen.

Aber dann schob sie es leise von sich.

»Du bist mitunter nicht ganz« – sagte sie. »Nu sieh mal unsere Kleine an, was die für'n Gesicht macht! Lene, ich glaube, du hast noch gar keine Luftschlösser gebaut und du bist doch die Jüngste von uns allen – du bist eigentlich viel zu jung für Madam, es könnte ihrem Gewissen schaden, daß sie dich geangelt hat.«

Magdalene hob langsam den Kopf.

»Luftschlösser baue ich nie, Käthe, es nützt ja doch nichts, sich damit zu befassen. Aber wenn ich an meine Zukunft denke, und an das, was möglich sein kann: ich möchte ein Kind haben, und ich glaube, ich werde auch mal eins bekommen – so oder so.«

Da lachten sie alle. Selbst Lore, über deren Lippen nur selten ein Lächeln schlich, stieß einen wilden Ton aus, der wenigstens wie Lachen klang und dann sagte Käthe:

»Nu brat mir einer 'nen Storch! Also das, wovor wir die meiste Angst haben, dem wir aus dem Wege gehen wie der Pest, ausgerechnet das wünschest du dir, Lene? Na, wenn du ein Paar Jahre älter bist, dann wirst du einsehen, wie gut es ist, daß unsereins nicht so leicht Kinder kriegt – dann wirst du Gott danken, daß wir unfruchtbar sind und bleiben bis in die aschgraue Ewigkeit. Ja, das wirst du tun. Du liebes dummes kleines Mädchen!«

Unfruchtbar!

Ach ja, auch Magdalene machte alle jene Praktiken mit, die von den Freudenmädchen ausgeübt werden, damit das Eine, das Schreckliche nicht eintritt und sie dachte auch gar nicht daran, daß sie jemals in diesem Hause gebären könnte; aber das Wort von der Unfruchtbarkeit fiel doch wie ein Donnerschlag in ihr Ohr, und sie wäre fast in Tränen ausgebrochen.

»Wie ist denn das, Käthe,« fragte sie leise – »sind wir denn nicht Menschen wie die andern?«

Käthe schwieg.

Da sagte Lore wie aus einem tiefen Traum heraus: »Es steht im ersten Buch Mose geschrieben, daß der Acker verflucht wurde um der Sünde willen. Sollen wir es denn besser haben, als das unschuldige Land –?«

*

Bisweilen kam die Furcht über sie. Mit Ausnahme von Lore, die sich eine kleine Bibliothek von Klassikern zusammengekauft hatte, lasen die Mädchen fast nur schlechte Romane, die aus einer Leihbibliothek beschafft wurden, und der bluttriefende, von Aberglauben durchwebte Inhalt dieser Schundliteratur regte ihre abgestumpften Nerven auf.

Dann drängten sie sich zusammen wie eine furchtsame Schafherde, und wagten es kaum, in der Dunkelheit über den Korridor zu gehen, denn das Haus hatte viele unheimliche Winkel, und wenn der Sturm über die Hansestadt hinfuhr, dann fing er sich in den Höfen. Aber es war doch weniger die leblose Natur, vor der sie sich entsetzten, als etwas anderes, dem die gelehrte Lore einmal Ausdruck gab.

»Bei irgendeinem alten Dichter steht es geschrieben,« sagte sie: »es gibt viel Schreckliches auf der Welt, aber das Schrecklichste ist der Mensch.«

Im allgemeinen waren die Gäste, die in diesem Hause verkehrten, ja keineswegs besonders schrecklich; Madam Zech hielt durch ihre kolossalen Preise die Hefe des Volkes fern, und der Geist des Alkohols zeigte sich meistens in den grotesken Formen der Sinnlichkeit –, aber bisweilen kam doch eine leise Warnung von außen und ließ erkennen, daß die Freudenhäuser zugleich die Zufluchtsstätte des Verbrechens sind.

Wenn auch seltener als anderswo, erschien abends die Geheimpolizei im Salon, um sich unter den Gästen umzusehen. Kräftige Männer in Zivil, die nicht den geringsten Versuch machten, ihren Trauring zu verbergen, während es sonst immer viel Spaß machte, wenn Ehewilderer den Handschuh nicht von der rechten Hand herunterbrachten –, denn die Westentasche half nichts, die Mädchen kriegten ja doch die Ringe am Finger heraus.

Natürlich wurden die Geheimpolizisten in keiner Weise angeulkt. Sie setzten sich ruhig an das Büfett, tranken zum Schein eine Flasche Selterwasser und konferierten leise mit Madam; aber Frau Zech war allemal hinterher sehr aufgeregt und redete viel große Worte von ihrem »anständigen Hause«.

Dennoch wurde einmal einer gefangen.

Bisweilen erschienen nämlich vollständig unbekannte, sehr elegant gekleidete Herren, die geradezu mit dem Gelde aaßten, den Mädchen Hundertmarkscheine in den Busen stopften und die Zigarette mit Fünfmarkscheinen anzündeten –, und wenn Frau Zech auch nicht zum Vorstand einer Sparkasse taugte, darüber ging sie doch ein heimliches Grausen an.

Defraudanten!

So einen holte die Geheimpolizei mal aus dem Nest heraus – ganz still und unauffällig, denn die Herren nehmen auch Rücksicht auf dieses Geschäft, aber der Salon leerte sich doch sehr schnell, und es war eine unbehagliche Stimmung.

Aber dann einige Tage später, in den Mittagsstunden, wo die Mädchen im Negligé auf den Korridoren herumzuhuschen pflegten, platzte Käthe wie eine Bombe in die Gesellschaft hinein:

»Denkt euch, Kinder, letzte Nacht, da ist Einer die Kehle abgeschnitten worden! In unserer Straße, dicht nebenan!«

Tiefes, starres Schweigen. – – – – – – – –

»Einem – Mädchen?« fragte Magdalena endlich.

»Nu natürlich! Wer hat denn sonst fremde Kerls bei sich?«

»Haben sie ihn?«

»Nein; nur das Messer und einen Schlips.«

»Das kann bei uns nicht vorkommen,« sagte Anna endlich, und Käthe fuhr herum:

»Meinst du wirklich, mein Küken? Solche, wie sie bei dir aus und ein gehn, das sind gerade die Rechten! Man sagt, es wäre ein Lustmord gewesen.«

Käthe nahm das Wort zum ersten Male in den Mund. Ihre gesunde Natur – wenn man in diesem Hause davon reden durfte – sträubte sich gegen alle Nachtseiten der Menschenseele, und wie sie so da stand, mit wogendem Busen, die blonden Haare bis zu den gewaltigen Hüften niederhängend, da sagte Lore leise:

»Käthe, was hätte aus dir werden können! Eine Mutter der Menschheit – – – –«.

Aber sie waren nicht in der Stimmung, dunkle Reden anzuhören; sie drängten sich hinunter in die Wohnung von Madam und brachten ihre Hiobspost vor.

»Ich habe es schon gehört,« sagte Frau Zech bekümmert: »so was kommt immer mal vor.«

»Aber wir sind ganz schutzlos!« jammerte Anna die im Grunde ihres Herzens feige war, und die Frau suchte das Mädchen zu beruhigen.

»Ich habe schon längst daran gedacht – ich werde mir einen Hund anschaffen; eine Dogge.«

Da kam bei Käthe die Roheit zum Durchbruch.

»Was Dogge! Einen Kerl sollten Sie sich anschaffen – das wäre für Sie und uns besser!«

»Pfui!« sagte Madam mit sanftem Vorwurf, aber Käthe war im Zug und ließ sich nicht aufhalten.

»Da ist gar nichts zu pfuien, Madam, das ist bitterer Ernst. In einen richtigen Bums gehört ein Rausschmeißer, und wenn es ein feiner Bums ist, so kann er ja zwei goldene Uhrketten tragen! Kupplerinnen und Zuhälter gehören zusammen, wie der Pott und der Deckel, und wenn Sie mich nun selbst rausschmeißen wollen, so stehe ich hier!« Daran dachte Frau Zech aus verschiedenen Gründen nicht. Sie hatte mitunter große Herrschermomente, und dies war einer:

»Ich will Ihnen was sagen, meine Damen. Mit dem, was unsere Käthe einen »Kerl« nennt, gebe ich mich grundsätzlich nicht ab; mein Haus ist und bleibt das erste in Hamburg, und das sollten Sie alle anerkennen. Aber ich sehe ein, daß meine Stellung gewisse Pflichten mit sich bringt, und Sie werden bald sehen, daß ich diese Pflichten in anständiger Weise erfülle. Und nun bitte ich, an Ihre Morgentoilette zu denken, Sie sehen wirklich etwas derangiert aus.«

Damit zogen die Mädchen wieder ab. Sie waren zuerst etwas verdutzt, aber oben in ihrem Reich kam eine Erleuchtung über sie, und Käthe, noch immer in der Fahrt, platzte zuerst damit heraus:

»Ich hab's, Kinder; das Aas will heiraten!«

»Dumm genug ist sie dazu,« sagte Anna.

»Pfui, wie gemein,« sagte Lore.

Und Magdalena fragte ganz erstaunt:

»Ja, ist denn das erlaubt? Gibt der Staat das zu?«

Da drehte Käthe sich um und sie war wieder groß und schön in diesem Augenblick:

»Kind, es soll wohl was Heiliges um die Ehe sein, das ist gewiß. Aber ich sage dir: ich kenne viele Ehen, da ist ein Schweinestall noch besser, und der Staat muß doch seinen Segen dazu geben.«

*

Es klingt fast lächerlich, wenn man sagt, daß die Männer eine sehr große Rolle in der Phantasie und der Unterhaltung dieser Mädchen spielten, denn sie waren doch schließlich zum Vergnügen der Männer da, und ihre ganze Existenz dreht sich um den Angelpunkt des Geschlechts.

Aber Anna meinte bisweilen, es müßte doch wunderschön sein, wenn »diese Tiere«, wie sie sich ausdrückte, gar nicht vorhanden wären, und sie wollte von der gelehrten Lore wissen, ob die Weiberherrschaft denn niemals und nirgend auf der Erde gegolten habe.

Der Bescheid fiel ziemlich kümmerlich aus.

Von den Amazonen und noch einem andern sagenhaften Frauenstaat wußte sie wohl einiges zu berichten, aber die Unterjochung der Frau unter den Mann war ihr viel geläufiger, und besonders eingehend schilderte sie das orientalische Haremsleben, denn da fanden sich die meisten Vergleichspunkte mit dem eigenen Dasein – wenigstens in Beziehung auf Müßiggang und Langeweile.

Magdalena hingegen hatte einiges über die Mormonen gelesen, und sie meinte, an dem großen Salzsee müsse es doch sehr nett sein, denn da könnten die Frauen im allgemeinen sechsmal die Woche ruhig schlafen, und das bißchen Eifersucht wollte sie dafür gerne auf sich nehmen.

»Das ist ja alles Kaff« – sagte Käthe, der Dragoner. »Wir können die Mannsleute weder missen, noch sind sie uns – die Anna vielleicht ausgenommen – besonders unangenehm; das Schlimme ist nur, daß wir keinen zu sehen kriegen, und da liegt der Hase im Pfeffer.«

Man hielt das für einen der faulen Witze, die Käthe bisweilen machte, und Anna zitierte das Sprichwort von dem Wald, den man vor Bäumen nicht sieht; aber Käthe ruckte ihre mächtigen Glieder und blickte sich im Kreise um:

»Sind das denn Männer, die zu uns kommen, Ihr Kinder? Von deinem, Lore, will ich gar nicht reden, denn der macht wenigstens keinen Anspruch darauf, und deiner, meine kleine Lene, ist noch der reine Junge, aber das übrige Gesindel möchte ich am liebsten mit dem Besen hinauskehren. Gerippe und Schmeerbäuche, Kahlköpfe und Hungerbärte, X-Beine und O-Beine, Nerventrottel und Lungenpfeifer. Was wirklich noch Saft und Kraft hat in dieser Jammerzeit das hält sich zu gut für unsereins, und die Lastträger können Madams Preise nicht erschwingen. O, wenn ich doch wenigstens einen zu sehn kriegte, der so aussieht, wie der Gipsonkel auf meinem Nachttisch –, aber die Lore sagt, das wäre auch nur ein alter Gott, und davor kann ich mir nichts kaufen.«

Aus ihren derben Worten redete die nackte Natur, und die anderen fühlten wohl, daß es keine Unzucht sei, aber sie lachten dennoch, denn sie waren zu tief in der Unzucht. –

Um diese Zeit sprach man in Hamburg viel von einem Athleten, der sich für Geld sehen ließ. Auch die Zeitungen beschäftigten sich mit dem Manne, und sie schrieben, daß er nicht einer von den gewöhnlichen Fleischkolossen sei, die ein Zentnergewicht mit dem Stiernacken auffangen, sondern eine wirklich schöne Erscheinung, die sogar das Interesse der Maler und Anatomen in Anspruch nähme.

Besonders wurde sein Muskelspiel gerühmt, und ein Enthusiast behauptete, daß die Venus von Milo sich vor dieser Gliederpracht verkriechen müßte. –

Eines Tages sagte Käthe:

»Wißt ihr was, Kinder? Den müssen wir haben!«

Ungeachtet Lore bei weitem die klügste war, verstand sie es doch falsch und entgegnete:

»Solche Leute leben von ihrer Kraft; sie sind keusch und müssen es notgedrungen sein; es wäre unrecht, ihnen eine Falle zu stellen.«

Da wurde Käthe ordentlich bös:

»Bist du auch schon eine geworden, die an nichts anderes denken mag? Ich sage dir, ich habe einen Hunger nach Männerschönheit, daß ich es nicht mehr aushalten kann! Von Fallestellen ist gar keine Rede, wir wollen von unserem Strumpfgeld zusammenlegen, und er soll uns eine Vorstellung geben, ganz wie im Zirkus. Hier auf meinem Zimmer eine richtige Vorstellung, und der Deubel soll mich frikasieren, wenn ich ihn auch nur mit einem Finger antippe.«

Der Vorschlag war so neu und originell, daß die anderen verdutzt schwiegen; nur Anna murmelte etwas von Josef und Potiphar, und Käthe fuhr nach ihr herum: »Du kannst ja wegbleiben – du! In Paris tanzen die Weiber nackt auf der Bühne; das wäre etwas für dich!«

Madam wurde natürlich gefragt, denn es war, wie Käthe sich ausdrückte, »eine Extratour,« und Frau Zech lachte, denn sie sah nur den Humor von der Sache.

»Also bezahlen wollen Sie ihn auch noch, meine Damen? Na, meinetwegen, die Welt steht heute auf dem Kopf, stehen Sie ruhig mit.«

Lore mußte an den Athleten schreiben, denn sie war die Fixeste mit der Feder und der Brief wurde ihr recht sauer. Denn sie konnte das Haus, aus dem der Brief kam, doch nicht verschweigen, und es dünkte sie unmöglich, daß der Empfänger ihn richtig verstehen werde. Solche Leute sind ja daran gewöhnt, Rosabilletts von modernen Messalinas zu erhalten, und viele sagen den Freudenmädchen nach, daß sie wie die Werwölfe seien.

Die Antwort aber klang ganz verständig:

 

»Mein Fräulein« – schrieb der Mann – »Geschäft ist Geschäft. Wenn ich mich vor so vielen zeige, so kann ich es auch vor Ihnen und Ihren Freundinnen. Ich werde also kommen.«

 

Keine zynische Redensart, nicht der billigste Witz –, und Käthe machte ein ganz feierliches Gesicht:

»Der versteht uns,« sagte sie, »ach, ich glaube, der kennt auch den Hunger, der uns quält. Und wenn er es verlangt – –«

Das wurde nicht ausgesprochen, aber Lore ahnte es, und sie entgegnete traurig:

»Ach, Käthe, ich fürchte, er wird es nicht verlangen.«

Der bestimmte Nachmittag kam, denn es mußte ein freier Nachmittag sein – »wegen dem Nachtdienst«, wie Käthe sich ausdrückte.

Dieses seltsame Mädchen war in einer förmlichen Aufregung; sie richtete mit Draperien ihr Zimmer zu einer Art Tempel her und schaffte sogar mit Magdalenes Hilfe ihr Bett hinaus.

»Er soll keine andern Gedanken bekommen,« sagte sie. –

In die Mitte des Zimmers wurde ein Fußschemel hingestellt und davor vier Stühle; Anna wollte sich totlachen.

Aber sie kam doch zu der »Vorstellung« – dunkel gekleidet wie immer und mit ihrer frömmsten Miene.

Der Künstler stellte sich so pünktlich ein, wie das eine geschäftsmäßige Verpflichtung mit sich bringt, und er zeigte auch nicht die mindeste Befangenheit in diesem etwas seltsamen Milieu. Er war wirklich ein auffallend schöner Mann von ungefähr dreißig Jahren und nicht ganz so bärtig, wie wir es an dem Farnesischen Herkules bewundern; aber der dichte lichtblonde Flaum, der die ganze untere Hälfte des Gesichts bedeckte, verlieh ihm gerade einen jugendlichen Ausdruck, der dennoch seiner Kraftfülle keinen Abbruch tat.

Er entkleidete sich langsam vor den Mädchen. Sein Beruf brachte es mit sich, daß er vor dem Publikum nur mit einem Hüftenschurz, sonst aber vollkommen nackt auftrat, und genau ebenso stellte er sich in Käthes Zimmer auf den Fußschemel, um dann nach und nach die prachtvollen Muskeln seines Körpers spielen zu lassen.

Es war ein vollendet idealer Anblick, und die vier Zuschauerinnen verhielten sich mäuschenstill; Lore, die recht hübsch zeichnen konnte, machte den Versuch zu einer kleinen Skizze, aber sie ließ den Stift bald wieder sinken und vertiefte sich ebenso wie die andern in das Anschauen dieses Meisterwerks der Schöpfung.

Plötzlich schien der Athlet sich zu entsinnen, wo er eigentlich war. Er machte in seinen Produktionen eine kleine Pause, deutete nachlässig auf den Hüftenschurz und fragte vollkommen gelassen:

»Wünschen Sie, meine Damen, daß ich den ablege? Es kommt ganz allein auf Sie an.«

Tiefe Stille.

Magdalena spürte, daß ihr die Röte in das Gesicht stieg, und sie tastete nach Lores Hand, die sich eiskalt anfühlte; Anna wollte etwas sagen, da schrie Käthe ein einziges Wort heraus:

»Nein!«

Der Mann nickte nur und begann, sich langsam wieder anzukleiden; er war keine Sekunde lang aus seiner Rolle gefallen und ahnte nicht einmal, daß sich hier soeben ein psychologischer Vorgang abgespielt hatte, der für den Charakter des Weibes bezeichnender ist, als ein ganzes Lehrbuch der Ästhetik aussprechen kann.

Dann kam der geschäftliche Teil. Käthe hatte es übernommen, ihn zu regeln, und die andern verließen das Zimmer, weil die Vorstellung ja doch beendet war; Lore trat an ein Korridorfenster und blickte in den dunkeln Hof.

Nach Verlauf einiger Minuten hörte sie, wie der Künstler sich ebenfalls entfernte; er summte leise eine Opernmelodie und schien offenbar von dem pekuniären Erfolg der Vorstellung sehr befriedigt zu sein; Lore aber kehrte leise nach Käthes Stube zurück, horchte einen Moment an der Tür und öffnete dann geräuschlos. Da saß das große schöne Mädchen mitten im Zimmer und hatte den Kopf in die Hände gelegt, die Haare waren aufgelöst und fielen wie ein Mantel über die mächtige Gestalt. Lore glaubte dieses Bild schon irgendwo gesehen zu haben, aber sie konnte es doch nicht unterbringen und sie sagte nur mitleidig: »Nimm es dir doch nicht so zu Herzen, Käthe. Ich dachte ja wohl, daß du davon anfangen würdest, denn wir haben alle unsere Eitelkeit, aber solche Leute verstehen das nicht, und sie denken gleich etwas anderes dabei.«

»Ja,« entgegnete Käthe, »wenn man es danach anfängt. Aber ich habe ihm ganz ehrbar für den schönen Anblick gedankt, und dann habe ich hinzugesetzt, wenn er nun auch mal sehen möchte, wie ein gesundes Weib beschaffen sei, dann wollte ich es ihm gerne zeigen. Heißt das, sich einem Manne antragen und an den Hals schmeißen?«

»Was hat er denn erwidert, Käthe?«

»Er sagte, wenn mal eine Jungfrau käme und ihm dasselbe Anerbieten machte, dann würde er es annehmen. Aber was jeder sehen könnte, das hätte für ihn keinen Reiz.«

Da blickte Lore schmerzlich vor sich hin.

»Käthe,« sagte sie, »es ist und bleibt nun einmal wahr. Wir können uns täglich baden und sauberer sein wie ein Fürstenkind – aber wir bleiben doch unrein; immer und ewig, bis wir im Sarg liegen.«

*

Es verging tatsächlich kein Tag, an dem sie nicht mindestens einmal ihren mißhandelten Leib in das reine Wasser tauchten. Das war für sie nicht nur ein Gesetz der Gesundheit, sondern sie taten es auch aus einem ästhetischen Bedürfnis, ebenso wie die Bett- und Leibwäsche täglich gewechselt wurde.

Das Baden geschah vielfach zu zweit, denn in dem großen schönen Badezimmer waren zwei mächtige Marmorwannen, und außerdem ist es eine bekannte Sache, daß Mädchen, die miteinander befreundet und vertraut sind, weit weniger Scheu vor der gegenseitigen körperlichen Betrachtung hegen, als dies unter Männern der Fall zu sein pflegt.

Um Magdalena rissen sie sich förmlich, aber es wurde niemals ein unkeusches Wort dabei gewechselt; es war, als ob diese Priesterinnen der Venus es als eine Sühne empfanden, wenn sie geschlechtliche Beziehungen einmal geschlechtslos behandeln konnten, und darin lag auch die tragische Lösung jener Szene mit dem Athleten, über die Käthe tagelang nicht hinauskommen konnte.

Anna badete stets allein. Es war nicht ihr Wunsch und Wille, sie beklagte sich im Gegenteil über die Zurücksetzung, die sie von den andern erfuhr, und quälte besonders Magdalena, doch einmal eine Ausnahme zu machen; aber diese hatte immer eine Ausrede, ohne selbst genau zu wissen, warum sie sich dagegen sträubte. Eines Morgens lag sie wie gewöhnlich noch um zehn Uhr im Bett. Sie hatte vollkommen ausgeschlafen, denn der gestrige Abend war ausnahmsweise still vorübergegangen, und Madam hatte gesagt, wenn das immer so wäre, dann könnte sie nur die Bude zumachen.

Da öffnete sich plötzlich geräuschlos die Tür, und Anna kam herein. Sie war in bloßen Füßen und nur mit dem Nachthemd bekleidet, aber das fiel nicht weiter auf, denn die Mädchen machten sich nicht selten solche Morgenbesuche, um irgendein Erlebnis des verflossenen Abends miteinander durchzuschwatzen.

»Guten Morgen, Schatz,« sagte Anna, »hast du schon ausgeschlafen?«

»Ja; du auch?«

»Schlecht; ich hatte wieder meine Träume.«

»Wovon träumst du denn?«

»Na, von den Kerls ganz gewiß nicht,« entgegnete das blasse Mädchen. »Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du nicht was zum Lesen hast.«

»Auf dem Tisch liegen ein paar Bücher; sieh selbst nach.« –

Ein paar Sekunden lang blätterte Anna in den Schmökern, dann machte sie eine Gebärde des Unwillens.

»Immer das alte Gewäsch! Liebe – Liebe – Liebe! Kannst du das eigentlich aushalten?«

»Ich wollte, ich hätte nur auf dem Papier damit zu tun,« entgegnete Magdalena traurig, und die Augen der andern glitzerten sie plötzlich an.

»Nicht wahr, du? Gräßlich! Immer diese zudringlichen Kerls! Immer diese Gemeinheiten! Da gibt es doch noch andere Dinge –«

Sie setzte sich auf den Bettrand und begann ihre schwarzen Haare aufzulösen:

»Sieh mal, ist das nicht eine Pracht? Beinahe soviel wie bei der Käthe, nur eine andere Farbe. Ich glaube, wir beide haben fast dieselbe.«

»Doch nicht ganz, Anna; ich bin braun.«

»Wie das klingt – als ob du ein Indianermädchen wärst; und dabei hast du eine Haut wie Schnee!«

Sie streifte ein wenig Magdalenes Nachthemd zurück und betrachtete eine kleine Narbe an der Schulter.

»Was ist das, du? Da hat dich gewiß jemand hingebissen!«

»Nein,« entgegnete Magdalena noch immer arglos –« »ich bin als Kind in eine Scherbe gefallen.«

»Ach Unsinn – Scherbe! Gebissen hat dich einer – oder eine, was?«

Nun wurde es Magdalena etwas unheimlich, und sie entzog sich den tastenden Händen:

»Wie kommst du nur auf das dumme Zeug? So ordinär bin ich doch nicht, daß ich mich mit einer beiße!«

»Man kann es auch aus Liebe tun,« sagte Anna leise. »Aus einer Liebe, die viel häufiger ist, als du denkst –«

Und dann riß sie plötzlich ihr eigenes Hemd auf:

»Süße Lene, beiß mich mal hierher mit deinen Mausezähnen –, aber so tief, daß es blutet!«

Das war die Sekunde, wo der letzte Schleier von Magdalenes Augen fiel. Zwischen ihr und dem halbrasenden Mädchen entstand ein kurzes Ringen; dann stieß sie Anna von sich:

»Geh'! Mach', daß du fortkommst, du – Schwein!«

Wortlos entfernte sich die Gescholtene. Magdalena aber verriegelte die Tür, warf sich hastig in ihr Morgenkleid und lief hinüber zu Käthe. Aber die hatte auch abgeschlossen, und man hörte nur ihr tiefes Atmen im Schlaf.

Dann zu Lore.

Die lag im Bett und las. Wieder eins von den fremden Büchern, vor denen die ungebildete Magdalena immer eine heimliche Scheu hegte; aber jetzt fiel sie neben dem Lager auf die Knie, riß das Buch weg und sagte:

»Jetzt laß das dumme Lesen und sei meine Freundin! Oder bist du auch so eine wie die Anna?«

Die erfahrene Lore sah sofort, was geschehen war; sie setzte sich aufrecht und streichelte Magdalenes Haar.

»Ist es so weit gekommen, Kind? Hat sie dich überfallen?«

»Ja,« sagte Magdalene wild, »wie ein Kerl ist sie bei mir eingedrungen – im Hemd! O du, heute schäme ich mich zum erstenmal in diesem Hause!«

»Ich habe es längst kommen sehen,« entgegnete Lore ruhig; »sie kann ihre Augen nicht im Zaum halten. An mich hat sie sich nie gewagt und die Käthe weiß sich ihrer zu erwehren, aber du bist ein junges unerfahrenes Ding. Du mußt es ihr nicht so übel nehmen, Lene, sie ist krank. Hast du nie davon gehört, daß es auch homosexuelle Weiber gibt?«

»Das ist wieder eins von deinen Fremdworten,« sagte Magdalene ärgerlich.

»Es ist gut, Kind, daß wir für häßliche Dinge fremde Worte haben. Ich könnte auch sagen: »pervers«, aber das ist auch ein Fremdwort. Also um es kurz auszudrücken, Lene: Was wir – nein, das ist nicht ganz richtig – ich meine, was ein Weib dem Manne gegenüber empfindet, das fühlt sie gegen ihr eigenes Geschlecht; ich wiederhole dir, es ist eine Krankheit, und man darf nicht zu hart damit ins Gericht gehen.«

Magdalene riß die Augen auf.

»Aber mein Himmel – was will sie denn hier, in diesem Hause?!«

»Das ist das Schreckliche,« sagte Lore düster. » Sie lernt. Du weißt ja, sie trinkt wenig, aber bisweilen übernimmt es sie doch und dann tritt ihr das Herz auf die Zunge. Sagte ich: das Herz? Nein, ein Herz hat sie nicht, aber der schlangenkluge Verstand züngelt dann empor.

Sie lernt, Lene, wie man es macht, um ein solches Haus zu leiten, und sie sammelt Geld für ihre Pläne. Ich glaube, sie ist sogar so 'ne Art stiller Sozius von Madam. Und wenn sie genug zusammengescharrt hat, dann will sie ein Haus – für Weiber errichten. Du verstehst mich doch, Lene, ein Haus für Weiber, die ebenso sind wie sie selbst. Ob wir das schon in Deutschland haben, weiß ich nicht, aber anderswo kennt man es bereits – z. ;B. in Paris. Und nun bist du ganz klug geworden, kleine Lene, aber es hilft nichts, wir müssen klug werden – schrecklich klug. Und wenn wir das geworden sind, dann können wir sterben.«

Magdalene weinte.

» Du sollst es nicht, Lore, du bist so gut.«

»Es wird bald soweit sein, Kind. Sieh, darum bin ich auch milder als andere und kann die Anna nicht so schelten, wie Käthe es tut, mit ihrer Gesundheit. Lene, es gibt so unendlich viele Kranke und die Wenigsten können was dazu. Eigentlich wohl niemand. Anna's Eltern – der Vater schrieb wüste Bücher, viel schlimmer als Sacher Masoch sie geschrieben hat; die Mutter war eine kleine Schauspielerin; beide schwer nervös. Das Kind verwaiste früh und kam in schlechte Hände – schon mit vierzehn Jahren zu einem alten russischen Grafen. Von Hand zu Hand – du ahnst nicht, Kind. Wo sie enden wird, weiß Gott allein; wahrscheinlich, wo meine Mutter endet, wenn auch aus anderen Gründen. Lene, wir glauben, alles Unglück der Erde wäre auf uns gefallen? Es ist ein Tropfen – ein Tropfen.« – – – – – – – –

*

In Hamburg fielen die Tropfen Tag für Tag, es regnete fast beständig. Und wie wir alle von den Einflüssen der Natur abhängen, so war es auch in dem Salon der Madam Zech, die Unterhaltung der vier Mädchen nahm einen ernsten und schwermütigen Charakter an, und eines Tages fiel unter ihnen der Name des Mannes, der nach den dunkeln und zweifelhaften Überlieferungen niemals von der Liebe zu einem Weibe berührt worden ist.

Sie sprachen über Jesus von Nazareth.

»Pfui,« sagt Ihr, »das ist häßlich und unpassend; solche Mädchen haben kein Recht, diesen heiligen Namen in den Mund zu nehmen; das sollten sie getrost uns überlassen!«

Aber sie taten es dennoch.

Die Veranlassung war nicht gerade überirdisch, sondern ziemlich profan; Madam brachte nämlich von einem Ausgang die Nachricht heim, daß in Hamburg ein neuer Prophet aufgetaucht sei, der viel Zulauf von den Leuten hätte, und sie setzte lachend hinzu, daß der Schlaumeier den Rummel gut verstehen müsse, denn er hätte sich einen Christusbart wachsen lassen – Klappern gehöre immer zum Handwerk.

Bei dieser Gelegenheit richtete Magdalene an Lore die Frage, wie das eigentlich mit dem tausendjährigen Reich zusammenhinge; sie hätte mal davon gehört, daß der Erlöser zu einer unbekannten Zeit wiederkommen werde, ganz eben so, wie er in Palästina gelebt habe – aber ganz genau war sie nicht davon unterrichtet.

» Der kommt nie wieder,« sagte Lore rauh – »ich sollte meinen, er hätte genug von dem einen Mal.« Käthe, die ein wenig zum Aberglauben hinneigte, urteilte nicht so absprechend in dieser Sache.

»Ganz sicher wissen kann man es doch nicht. Meine Mutter hat z. B. daran geglaubt, besonders dann, wenn sie vom Vater geschlagen wurde, und daß die Toten bisweilen aufstehn können, ist gewiß und wahrhaftig. Neulich habe ich sogar um Mitternacht meine kleine Deern gesehen, und das war kein Traum; denn wenn ich mal allein im Bett liege, dann bin ich viel zu müde um zu träumen.«

»Was sollte er denn unter den Menschen anfangen?« fragte Lore, und sah sich im Kreise um. »Es glaubt ja niemand an ihn, und er würde nur ausgelacht werden.«

Käthe widersprach.

»Ich zum Beispiel würde an ihn glauben, Lore. Denke doch nur, wie schön das wäre: man brauchte nur vor ihn hinzuknieen – ich habe die Geschichte von Maria Magdalena gelesen – und dann wäre man so rein wie eine Jungfrau. Noch einmal finge ich nicht dieses Leben an, darauf kannst du dich verlassen!«

Magdalene grübelte darüber nach, wie sonderbar es war, daß sie selbst den Namen trug, der soeben genannt wurde, und sie sagte schüchtern:

»Ob Jesus wohl auch zu uns kommen würde, wenn er wieder auferstehen könnte?«

»Nein,« entgegnete Lore, »dazu war er viel zu fromm. Hast du jemals gehört, daß einer von den Hamburger Pastoren hierher gekommen wäre? Die gehen in die schlimmsten Löcher, sogar in die Verbrecherkeller, aber zu uns kommt keiner.«

Käthe warf einen Blick nach dem Büffet.

»Madam würde sie auch schön hinausleuchten! Aber mit Jesus wäre das was ganz anderes. Der sähe sie nur an, und dann fiele sie tot um, und dann nähme er uns alle mit sich – das heißt wenn wir wollten.«

»Das heißt, wenn wir könnten,« sagte Lore. »Seht, ich habe bisweilen über diese Sache nachgedacht – es gibt auch ein Buch, das führt den Titel: »Die Nachfolge Christi.« Gelesen habe ich es nicht, denn was hilft das? Wenn Jesus wirklich ein Gott gewesen ist, dann können wir es ihm doch nicht gleichtun, denn wir sind keine Götter, sondern nur Menschen. Und das ist das Ende von der ganzen Geschichte.«

Magdalena hatte einen erleuchteten Gedanken: »Vielleicht war er aber nur ein Mensch, Lore. Was dann?«

»Ja, was denn? Dann könnte er uns erst recht nicht erlösen, Kind. Man mag die Sache wenden wie man will, es kommt doch nichts Gescheites heraus. Am besten ist es, man denkt gar nicht darüber nach.«

Käthe war die hartnäckigste. Das Grübeln lag nicht in ihrer Natur, aber wenn sie mal irgend etwas vor hatte, dann ließ sie nicht so leicht los. Und sie sagte:

»Wenigstens möchte ich zu der Zeit gelebt haben. Wir sind doch in der Schule gewesen, und man hat uns erzählt, daß Jesus zu den Leuten in die Häuser ging, daß er Freunde hatte, und daß die Weiber an ihm hingen. Die Weiber und die Kinder. War da nicht eine die Martha hieß, und die ihn bediente? Himmel, wenn ich die Martha gewesen wäre, ich hätte für ihn geschuftet wie ein Ackergaul. Wißt Ihr auch warum? Weil er kein Weib ansah wie unsere Mannskerls es tun – ganz allein deshalb. Das muß eine Wonne gewesen sein!«

Scheltet Ihr noch, daß diese Mädchen den Namen des Nazareners in den Mund nahmen? Es war wie ein Schrei, den der Wanderer ausstößt, wenn er über das Moor geht; seine Füße versinken, und er spürt die grausige Tiefe unter sich.

Aber da ist einer, der die Hand ausstreckt. – – –

Anna hatte dem Gespräch still zugehört. Sie stickte wie gewöhnlich und bewegte mechanisch die feinen perversen Hände, mit denen sie Magdalene geliebkost hatte. Ihr Gesicht war unbeweglich, aber plötzlich hob sie den schwarzen Kopf:

»Wißt Ihr auch, daß das alles Unsinn ist, was Ihr da zusammenredet? Euer Jesus hat überhaupt niemals gelebt, das ist nur ein Pfaffengespinnst, um die Leute zu kuschen. Hätte er wirklich gelebt und die Toten lebendig gemacht, dann wäre er ein König und ein berühmter Mann geworden, aber ich habe mal gelesen, daß man schon damals Bücher schrieb, und daß in keinem Buche etwas über ihn geschrieben stand. Was würden die Zeitungen heute für ein Geschrei von ihm machen!« – –

Regen fiel nieder aus schweren Wolken; stille waren sie geworden in ihren seidenen Kleidern. Anna zählte gelassen die Stiche an der Stickerei und biß den Faden ab wie die Parze. Und Madam sagte hinter dem Büffet:

»Meine Damen, das ist ja heute wie in einer Kirche. Ich kann es Ihnen freilich nicht verwehren, daß Sie auf das gräuliche Wetter horchen, aber wenn die Gäste kommen, dann bitte ich mir ein lustiges Gesicht aus. Fräulein Lene, morgen ziehen Sie zum ersten Mal ein Kostüm an; ich habe es extra für Sie anfertigen lassen.« – – –

Und am folgenden Abend erschien Magdalene zum ersten Mal in einem »Kostüm.«

Frau Zech grübelte beständig darüber nach, wie sie in dieser Beziehung neue Tricks anbringen könnte, und sie ließ es sich einen hübschen Batzen Geld kosten, denn ihre vornehmsten Kunden waren darin sehr verwöhnt, und beanspruchten einen Sinnenkitzel, der doch nicht in das Brutalgemeine ausartete.

Magdalene stellte eine Art Undine dar. Der Oberkörper war von der Brustwarze bis zur Mitte des Oberschenkels von einer silberglänzenden Schuppenhaut überzogen, die sich trikotartig anschmiegte und jede Linie des schön gebauten Körpers erkennen ließ; wo die Hülle aufhörte, begann das nackte Fleisch und nur an den Füßen trug sie Sandalen, die mit fleischfarbigen Bändern befestigt waren.

Alles in allem war das nicht viel anders, als man es in jedem Familienbade zu sehen bekommt, besonders wenn die Damen das Wasser verlassen und der nasse Stoff an der Haut festliegt – aber es fehlte eben das Motiv des Wassers, und an seine Stelle trat ein weniger ideales.

Magdalena schauerte unter dem unbarmherzigen Licht der Kronleuchter zusammen und sagte zu Lore:

»Du, das ist schrecklich; ich bin ja ganz nackt!«

»Dann brauchst du dich nicht von den Augen der Männer ausziehen zu lassen,« entgegnete Lore.

»Tun sie das wirklich, Lore?«

»Ja, alle. Ich habe es irgendwo gelesen:

»Und was die Sitte Euren Augen neidet,
Von Eurer Unzucht wird es ausgekleidet.«

Das ist ein wahres Wort. Je mehr wir anhaben, desto eifriger sind sie dabei, ihre Augen in Röntgenstrahlen umzuwandeln. Glaubst du denn wirklich, daß die Anna keinen Zweck damit verfolgt, wenn sie bis an den Hals geschlossen geht?«

»Dann könnten wir wirklich lieber nackt gehen, Lore!«

»Anderswo geschieht es auch bisweilen, Kind. Aber wir sind hier fein – wir sind die allerschlimmsten von Allen.«

Magdalene brach davon ab.

»Du bist heute noch blasser als sonst, Lore; fehlt dir etwas?«

»Nein, das kommt wohl von der Farbe meines Kleides. Ich fühle mich heute ganz besonders leicht, und ich habe auch Grund dazu.«

Aber dann wendete sie sich ab und ging in eine Ecke um sich neben Käthe zu setzen, die ihre besondere Vertraute war. Die beiden sprachen leise miteinander, und Magdalene, die nicht stören wollte, gesellte sich zu Anna, denn Madam sah es nicht gern, daß Feindseligkeiten des oberen Stocks in den Salon getragen wurden.

Übrigens war der noch leer.

»Ich bin neugierig, wer nach Lore kommt,« sagte Anna plötzlich.

»Nach Lore? Wie meinst du das?«

»Nun, wenn sie weg ist. Siehst du das denn nicht?«

»Sie will fort?«

»Man wird sie wohl nicht darnach fragen, Schatz. Lene, bist du mir noch böse von neulich?«

»Nein, die Lore hat mich aufgeklärt.«

»Ja, sie ist wohl deine Flamme. Später – du weißt ja – später will ich ihren Platz einnehmen; du brauchst dich nicht zu sträuben, ich kriege dich doch!«

Dann kam Käthe, die es nie leiden konnte, wenn die beiden beisammen saßen. Sie war ganz blaß.

»Nun weiß ich es; Lore hat einen Brief bekommen; ihre Mutter liegt im Sterben.«

»O,« sagte Anna, und öffnete die großen schwarzen Augen noch weiter, »einen Brief aus der Anstalt? Ich hätte nie gedacht, daß so gute Nachrichten hierher kommen.«

»Tier!«

Käthe hatte das Wort ausgestoßen, und dann wendete sie sich zu Magdalene.

»Ich wollte es Madam mitteilen –, man kann doch wahrhaftig nicht verlangen – aber die Lore hat es mir verboten.«

»Na, siehst du wohl?« sagte Anna ganz gelassen. Draußen ging die Schelle; es kam ein Schwarm junger Leute herein, alle mehr oder weniger angetrunken, und der eine von ihnen stürzte auf Magdalene los, hob sie auf die Arme und tanzte mit ihr unter dem Kronleuchter:

»Fischerin, du Kleine,
Zeig mir deine Beine – –«

Von diesem Moment an war alles um Magdalene wie ein Traum. Es begann ein wildes Sektgelage – so toll, wie das selbst in diesen Räumen nur selten vorkam, und allmählich wurden alle Mädchen betrunken.

Käthe, das Hünenweib, hatte einen der Gäste – ein blutjunges bartloses Kerlchen – auf den Schoß genommen, zauste ihn an den Ohren und drohte, sie wollte es »Muttern sagen«; Lore schaukelte auf den Knien eines andern, trank unzählige Gläser Sekt und verschüttete schließlich die Hälfte in den Busen; selbst die kühle Anna hatte das Kleid aufgerafft, kokettierte mit ihren Strumpfbändern und tanzte Kancan.

Plötzlich waren die drei Mädchen beisammen und umringten jubelnd einen neu eingetretenen Gast.

»Onkelchen, schenk mir 'n Leutnantstaler! Onkelchen, mir Zigaretten! Onkelchen, mir 'ne Pulle Schum!«

Es war ein hochgewachsener Herr von vielleicht sechzig Jahren. Sein hageres Gesicht trug deutliche Spuren des Alkohols, unter der stark geröteten Nase flatterte ein langer weißer Schnurrbart, die Augen waren verglast und blutunterlaufen.

Er setzte den Klemmer auf und musterte seine Umgebung.

»Donnerwetter, bin ich da in lustige Gesellschaft geraten! Ein, zwei, drei – und da hinten noch so'n besoffner kleiner Käfer! Deern, wo hast du denn deine Unterhosen gelassen, das ist ja eine verdammt moderne Tracht!«

»Lene, hierher zum neuen Onkel! Lene! Mag–da–le–ne!«

Die beiden standen einander gegenüber. Magdalene hatte sich von ihrem Nachbarn losgemacht und war mit dem Sektglas in den Kreis getreten. Plötzlich ließ sie es fallen, bog sich zusammen und bedeckte mit der einen Hand den Busen, mit der andern den Schoß.

Es war eine Bewegung, die man hier noch nicht gesehen hatte – eine Geste, so schamvoll und keusch, daß Anna aufjubelte und in die Hände klatschte. Aber das währte nur einen Moment. Käthe stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus, und als alles sich entsetzt umwandte, hielt sie Lores schlaffen Körper in den Armen.

Ihr helles seidenes Kleid war mit Blut befleckt.

»Hilfe! Sie stirbt!!«

Grenzenlose Verwirrung. – – –

Magdalene hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und war zur Tür hinausgestürzt; der fremde weißbärtige Herr kniete auf dem Fußboden und beschäftigte sich mit der ohnmächtigen Lore – er schien plötzlich vollkommen nüchtern geworden zu sein.

»Platz da! Ich bin Arzt. Bringen Sie Wasser und irgendeine Essenz! Es ist ein Blutsturz. Sie da, Madam, so scheuchen Sie doch die Mädchen weg, man kann sich ja nicht rühren.«

Er öffnete Lores Kleid und horchte an ihrer Brust.

»Sie lebt; wir müssen sie einstweilen auf ihr Bett legen. Wer von Ihnen hat die meisten Kräfte?«

»Ich,« sagte Käthe; »ich trage sie ganz allein.«

»Nein, helfen Sie nur. So ist es recht – den Kopf ein wenig nach oben – – – o, Sie hätten Diakonissin werden sollen, Kind!«

Nach einer Weile betrat der Arzt wieder den Salon.

Die Gäste hatten sich natürlich geflüchtet, aber es sah gräulich darin aus.

Umgeworfene Sektflaschen, zerbrochene Gläser, ein großer Blutfleck auf dem Teppich, über dem Ganzen eine Wolke von Zigarettenrauch, und das unbarmherzig grelle Licht der Kronleuchter.

Madam Zech saß mitten in dem Wust fassungslos auf einem Stuhl; der Arzt blieb vor ihr stehen:

»Sie werden gut tun, noch diese Nacht an ein Krankenhaus zu telephonieren. Hier ist doch kein Platz für eine Sterbende.«

»Wird sie sterben, Herr Doktor?«

»Ja.«

Das Weib rang die Hände.

»Ach Gott, Herr Doktor, es war meine Beste!«

Das schauerliche Wort schien spurlos an ihm vorüberzugehn; er blickte starr vor sich hin und fragte nach einer Pause:

»Wie war doch der Name von dem Mädchen –?«

»Lore, Herr Doktor.«

»Nein, ich meine die andere; die in – in der schamlosen Kleidung.«

Madam Zech war so gebrochen, daß sie nicht einmal gegen diese Kränkung aufmuckte. Sie duckte vielmehr noch tiefer zusammen und entgegnete:

»Ach, Sie meinen die Lene.«

»Ja, oder Magdalene. Wie ist ihr Stammname?«

»Klein.«

Der Arzt faßte sich an die Halsbinde und schluckte ein paarmal.

»Lebt ihre Mutter noch?«

»Die Waschfrau? Ja, die ist wohl noch in Hamburg.«

»Ihre Adresse?«

Frau Zech nannte auch diese, und dann setzte sie hinzu:

»Sie scheinen die Leute zu kennen, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben – –«

»Danke,« sagte der Arzt und verließ den Salon.

*

Es schlug gerade zehn Uhr, als Dr. Heller wieder auf der Gasse stand; in knapp einer halben Stunde hatte sich das alles ereignet.

Er betrachtete ein paar Sekunden lang das Haus, dessen Front bis auf ein einziges Fenster vollkommen finster war, und hinter diesem Fenster lag wohl das sterbende Freudenmädchen.

Dann ging er rasch bis auf den Rathausplatz, nahm ein Auto und ließ sich nach Marthas Wohnung fahren. Das Haus war noch offen und auch hinter Marthas Fenstern lag ein trüber Lichtschimmer.

Auf das Schellen öffnete sie selbst.

Dr. Heller konnte durch den unbeleuchteten Korridor in die Wohnstube sehen, die von Waschdunst qualmte; die Frau war in der Nachtjacke und strömte einen warmen Seifengeruch von sich; sie sah gräulich verlottert aus, aber der Gegensatz zwischen dem Hause, aus dem Heller soeben herkam und dieser Stätte der Arbeit war doch so groß, daß der Arzt milder gestimmt wurde und die harte Anrede, die er auf den Lippen hatte, verschluckte.

»Du kennst mich wohl nicht mehr, Martha,« sagte er.

Die Stimme wars, die ihr Gedächtnis auffrischte, nicht seine Erscheinung, denn wenn auch immer noch elegant gekleidet, sah er doch nicht gut aus; die Jahre hatten ihn heruntergebracht, und noch mehr der Alkohol.

Sie schlug die Hände zusammen und trat einen Schritt zurück:

»Mein Gott, Max – du?! Na, daran hätte ich auch zu allerletzt gedacht!«

»Ja,« entgegnete er, »das glaube ich gern. Eigentlich wollte ich auch nur die Lene mal wiedersehn; es liegt ja doch eine ganze Reihe von Jahren dazwischen. Schläft sie schon?«

»Die Lene –?!«

»Gewiß, unser Kind; oder hast du denn alles vergessen, was hinter uns liegt?«

Martha hatte ihm stillschweigend Platz gemacht, so daß er die Wohnstube betreten konnte; dort sank sie ganz fassungslos auf einem Stuhl zusammen und stierte den Fußboden an.

»Also der Lene wegen kommst du bei nachtschlafender Zeit? Mich dünkt, Max, das ist ein bischen spät – ich meine nicht, was die Uhr anlangt, sondern überhaupt. Sie ist nicht hier!«

Dr. Heller setzte sich der Frau gegenüber und betrachtete sie mit einem grausamen Lächeln.

»Nein, Martha, sie ist nicht hier. Weißt du auch, daß nicht viel daran fehlte, so hätte ich heute abend mit meiner eigenen Tochter Unzucht getrieben? Denn für die Lene bin ich doch nur der gute Pate, und in ihrer jetzigen Stellung kann sie nicht gut etwas abschlagen.«

Das Weib duckte sich furchtsam zusammen.

»Du bist dort gewesen, Max?«

»Ja, ich komme daher. Es ist eigentlich nichts für meine Jahre, aber die alten Sünden lassen einen nicht los, und wenn die Weiber uns nicht mehr nachlaufen, dann müssen wir zu den Huren.«

Und dann überkam ihn plötzlich eine sinnlose Wut; er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie:

»Verdammtes Kuppelmensch, was hast du mit unserm Kinde gemacht?! Wie willst du das vor deinem Gewissen verantworten?«

Das war die Sprache, in der sie sich heimisch fühlte. Solange er den Unwissenden spielte, hatte sie sich geschämt, vor seiner kalten Ironie war sie zusammengekrochen, aber dem tobenden Manne bot sie die Stirn. Höchstens konnte er ihr die Jacke vollhauen, und es wäre nicht das erstemal gewesen, daß sie Prügel kriegte, wenn auch nicht von ihm.

Martha stemmte die Fäuste in die Seite.

»So – also soll ich das Kuppelmensch sein, und du fragst nicht mal danach, wie ich all die Jahre für das Kind geschuftet habe? Glaubst du, Narr, daß ich nötig hätte, bis Mitternacht am Waschfaß zu stehen, wenn ich die Lene für mich huren ließe? Sieht es in dieser Räuberbude aus wie in einem Kuppelnest? Aber wenn du die Wahrheit wissen willst: sie ist mir davongelaufen – das ist die Wahrheit. Soll ich denn hinter ihr her rennen in die Bumsgasse und mich von der sauberen Madam hinausschmeißen lassen wie'n Bündel Hadern? Oder soll ich von der Polizei zu hören kriegen, daß die Deerns unter dem Schutze eines hohen Senats stehn, damit die öffentliche Moral nicht in die Binsen geht?

Wenn du Kuppler sehen willst, dann suche sie anderswo als bei mir, aber verbrenne dir die Finger nicht dabei, mein Junge; das Eisen ist eklig heiß, kann ich dir sagen!«

Der Doktor war ruhiger geworden; er schimpfte wenigstens nicht mehr.

»Ich will das Wort zurücknehmen, Martha – ich nehme es zurück. Aber dennoch stehe ich vor einem Rätsel, denn wenn ich an die Lene zurückdenke, wie sie noch ein Kind war – –«

Martha tippte mit dem Finger auf den Tisch.

»Denke nur zurück, Max; denke nur noch ein bißchen weiter zurück. Von wem hat sie es denn, die Lene? Etwa von mir? War ich eine Schneppe, als du in Kiel mit mir anbandeltest und mich um das bißchen Jungfernschaft brachtest? Habe ich mich dir an den Hals geschmissen, als du besoffen wie eine Strandkanone von der Sedanfeier kamst – damals, als deine Frau nach Hamburg ausgerissen war?«

»Sei still,« sagte er.

»Nein, ich will nicht still sein! Was von dir kommt, das ist gezeichnet. Meinst du, ich wüßte nicht, was die Leute von deinem sauberen Sohne reden? Einen Bums soll er in New-York haben und die Schwester ist auch im Bums! Du bist dein Lebelang fein gewesen, aber was nach dir kommt, das stinkt, und die Leute halten sich die Nase zu!«

Gerüchte über den verlorenen Sohn mochten wohl zu Hellers Ohren gedrungen sein, aber so brutal hatte es ihm noch niemand in das Gesicht gesagt. Und er sank in sich zusammen, er war plötzlich um Jahre älter geworden.

Da kriegte Martha es mit der Gutmütigkeit alter Dirnen. Schließlich war dieser Mann doch früher mal ihr Geliebter gewesen, und selbst das gemeinste Weib vergißt das nicht so leicht – es ist immer noch ein Funke unter der Asche.

»Na,« sagte sie, »geschehene Dinge sind nicht mehr zu ändern. Die Lene ist nun einmal futsch, und wenn ich dir einen guten Rat geben soll, so laß die Sachen gehen, wie sie wollen. Herausholen kannst du sie doch nicht mehr, dazu ist es zu spät.«

»Meinst du wirklich?« fragte er zaghaft.

Sie trat an das Waschfaß und hob ein Stück Wäsche aus dem Seifenschaum:

»Sieh mal, da ist ein Brandfleck. Herausgehn tut er nie wieder, und wenn ich zu arg reibe, dann gibt es ein Loch. Nimm sie mit dir, die Lene – sie wird entweder fortlaufen oder ins Wasser gehn, und das kommt schließlich auf eins hinaus. Und nun wird es Zeit zum Aufbruch, denn sonst schließen sie die Haustür, und die Deern ist mit dem Schlüssel durchgegangen.«

Eine Hand gaben sie sich nicht, denn Dr. Heller war noch immer sehr etepetete, und die Fäuste der Wäscherin waren ebenso wüst wie ihre ganze Erscheinung.

Und als der Arzt durch die einsamen Straßen ging, da entsann er sich, daß Martha eigentlich schon in ihren besten Tagen etwas Derbes und Unästhetisches gehabt hatte, und er wunderte sich heute, daß sie ihm jemals etwas wert gewesen war.

»Wir sind eben alle Tiere,« sagte er vor sich hin, und das war sein Trost auch in Beziehung auf Magdalena.

*

Als Lore zusammenbrach, hatte Magdalena sich aus dem Salon auf ihr Zimmer geflüchtet. Sie wußte selber kaum, ob der Anblick des blassen blutbefleckten Mädchens oder ob das Zusammentreffen mit Dr. Heller den Hauptgrund dieser Flucht bildete; vielleicht war es beides zusammen.

In ihrer Stube riß sie das Kostüm herunter. Einige Sekunden stand sie ganz nackt, denn die glänzende Schuppenhaut war die einzige Hülle ihres Körpers gewesen, und sie schauerte bei dem Gedanken zusammen, daß der erfahrene Blick des Arztes diese Tatsache sicherlich erkannt hatte.

Dann kleidete sie sich notdürftig an.

Da unten war natürlich alles leer, aber wenn auch nicht: heute hätte man sie an den Haaren in den Salon schleifen müssen, und sie wäre dennoch Madam an die Kehle gefahren.

Ihr Rausch war verflogen.

Hinter der verschlossenen Tür lauschend, hörte sie, wie man Lore hinauftrug, und wie der Doktor sagte:

»Ich werde sofort mit Madam Rücksprache nehmen, es muß an das Krankenhaus telephoniert werden, an diesem Ort kann das Mädchen nicht bleiben.«

Nein, an diesem Ort konnte man nicht bleiben.

Dann, nach einer Weile, klopfte Käthe an die Tür. Sie hatte das blutbefleckte Kleid ausgezogen und war in der Untertaille, und so setzte sie sich auf Magdalenes Bett.

»Du, wie entsetzlich! Diese Nacht bleibe ich hier – alleine in meiner Stube würde ich mich zu Tode fürchten.«

»Du warst doch die einzige, die ihre Besinnung behielt,« sagte Magdalena leise.

»Ich schämte mich vor dem Doktor.«

»Ich auch, Käthe.«

»Du, wieso?«

»Ich kenne ihn; er war mein Pate.«

»O,« sagte Käthe, »das ist freilich ein dummes Zusammentreffen.«

Aber ihre Gedanken waren nicht bei den Worten, sie horchte fortwährend hinaus und fuhr plötzlich zusammen.

»Jetzt holen sie die Lore. Hörst du, wie die Männer den Tragkorb hinstellen?«

»Müssen wir nicht helfen?«

»Wir? Ich glaube, die spuckten uns an, Lene!«

Käthe bohrte die Finger in die Ohren und stützte die Ellenbogen auf die Knie; so saß sie eine Weile, bis Magdalena ihren Arm berührte.

»Sind sie jetzt fort, Lene?«

»Ja.«

»Das ist nun in einem halben Jahr die zweite. Wer kommt jetzt an die Reihe?«

»Ich, Käthe.«

»Ja, es kann sein. Aber dich holt nicht der Tod – dich holt was anderes.«

»Wer sollte das sein? Meine Pate etwa?«

»Weiß nicht, Kind. Aber ich habe so 'ne Ahnung. In der letzten Zeit habe ich überhaupt oft Ahnungen. Mich sticht noch einer über den Haufen.«

»Still doch!«

»Ja, wir wollen ins Bett. Darf ich hier bleiben?«

»Gerne. Du bist ja nicht die Anna.«

»Das Mensch!« sagte Käthe. »Lores Mutter liegt im Sterben, und das nennt sie eine gute Nachricht.«

»Ich begreife aber auch nicht die Lore,« sagte Magdalene schaudernd. »Sie war ja tatsächlich betrunken!«

»Natürlich war sie das, Kind. Du hast es noch nicht gelernt, wie man sich aus Gram betrinkt; aber du wirst es lernen.«

Wie zwei Schwestern lagen sie nebeneinander im Bett. Erst wollte der Schlaf nicht kommen, aber endlich legte Magdalena ganz erschöpft ihren Kopf an Käthes Brust.

»Ach du, wie schön! Das ist mal kein Mann.«

»Nein,« sagte Käthe; »wir haben Feierabend.« –

Am folgenden Morgen schickte Madam Zech in das Krankenhaus und ließ sich nach Lores Befinden erkundigen, denn sie wußte, was sich gehört, und hatte außerdem auch ein wenig Gefühl. Die Auskunft lautete sehr ungünstig: Es sei jede Hoffnung ausgeschlossen, aber die Kranke befinde sich bei voller Besinnung und wünsche die eine oder andere ihrer Freundinnen zu sehen. Namen waren dabei nicht genannt worden, auch wußte der Bote nichts darüber zu berichten, ob ein solcher Besuch unter den obwaltenden Umständen denn auch erlaubt sei.

Frau Zech neigte zur Bejahung dieser Frage.

»Ich möchte wissen,« sagte sie, »warum meine Mädchen in einem Krankenhause nicht Besuche machen sollten. Sie verstehen sich ebenso anständig zu benehmen, wie jeder andere, und auf etwas Weiteres kommt es nicht an. Von der Liebe wird wohl keiner an dem Platze reden, denn wenn wir erst so weit sind, dann hört alles auf.«

Da beschlossen Magdalena und Käthe, sich zusammen auf den Weg zu machen. Die Toilettenfrage bot einige Schwierigkeit, denn sie besaßen wohl eine ganze Menge eleganter Gesellschaftskleider, aber es war doch unmöglich, damit unter den Pflegerinnen der Anstalt zu erscheinen, und Käthe sagte, dann könnte sie noch lieber im Hemd hingehen.

Aber es fand sich doch Rat. Es kamen plötzlich die Kleider zum Vorschein, in denen die beiden Mädchen ursprünglich das Haus der Frau Zech betreten hatten, und als sie darin unterwegs waren, stellte Käthe einen Vergleich mit dem Zuchthaus auf:

»Da werden den Sträflingen auch ihre Anzüge aufgehoben,« meinte sie – »nur bei den Lebenslänglichen fällt das weg, und bis an unser Ende wird Madam uns gewiß nicht behalten.«

Magdalena war von gestern her noch so gebrochen, daß sie von »Weglaufen« sprach.

»Das könnten wir jeden Tag,« entgegnete Käthe. »In einem Kloster sind wir nicht, und die Polizei würde sich unser annehmen. Aber unter Sitte blieben wir doch, und das Schlimmste ist, so lange wir hübsch sind, mögen wir nicht arbeiten. Ich kehre zurück, und du wirst es auch tun, Lene – das Leben ist ganz anders wie die Romane.« – – –

In dem Krankenhause wurden sie von einer jungen Diakonissin empfangen. Als die hörte, daß zwei Freundinnen von der Lore da wären – Käthe brachte das mit leiser Stimme vor –, wurde sie rot und verlegen und verschwand. Das Empfangszimmer war nur eng, und Magdalena sagte bitter:

»Hast du gesehen, sie nahm ihre Kleider zusammen, als sie an uns vorbeiging.«

Käthe nickte.

»Ja, Kind, das ist unser eigenes Geschlecht.«

Dann kam ein älterer Arzt. Der hatte ein sehr gütiges Gesicht und bat die Mädchen freundlich, ihm zu folgen; unterwegs wendete er den Kopf und sagte gedämpft:

»Lange dürfen Sie nicht bleiben; die Ärmste ist sehr matt – sie ist aufgebraucht.«

»Hat sie wieder Nachricht von ihrer Mutter?« fragte Käthe.

»Ja; wir fragten auf ihren Wunsch telegraphisch im Irrenhause an. Die Mutter ist tot.«

»Und die Lore wird auch sterben, Herr Doktor?«

»Ja.«

Wie ein junges unberührtes Mädchen lag sie in ihrem Bett. Die Krankheit hatte das Gesicht verändert und vieles ausgelöscht; für eine Sechzehnjährige konnte man sie halten. Und sie freute sich, als die beiden Freundinnen an ihrem Lager saßen – beide mit den Tränen kämpfend.

»Da ist nichts zu weinen,« sagte sie. »Meine Mutter ist tot, und sie hat bis zuletzt eine gute Pflege gehabt. Geld ist Geld, es fragt keiner, woher es kommt. Nun kann ich mit der Gewißheit sterben, daß wir uns nie – nie wiedersehen.«

Dann bat sie um ein Glas Sekt, der im Kühler neben ihr stand.

»Sonderbar, nicht wahr? Ich trank ihn immer als Gift –, nun hat man ihn mir verordnet. Die Leute sind hier sehr gut, ich kann es wirklich nicht besser verlangen.«

Von dem Hause der Madam Zech kam kein Wort weiter über ihre Lippen, auch keine Ermahnung an ihre Gefährtinnen; es schien alles ausgelöscht zu sein, und dann begann sie zu phantasieren.

Wenigstens wußten diese ungebildeten Mädchen nicht, was es zu bedeuten habe, daß sie von einer »reinen Hülle«, von einem »Gürtel und Kranz« sprach; denn sie hatten niemals das Schwanenlied Mignons gelesen und dachten, daß die Sterbende an irgendeinem Punkt ihrer Vergangenheit weile.

Sie entsannen sich der Mahnung des Arztes und schlichen fort. Aber mitten im Gewühl der Hamburger Straßen faßte Magdalena plötzlich nach Käthes Arm und sagte halb schluchzend:

»O, Käthe, hast du gehört, was sie von dem Wiedersehen sagte? Niemals – und sie wiederholte es zweimal. Ist das nicht schrecklich?«

Und Käthe entgegnete:

»Nein, Kind, es ist nicht schrecklich. Früher glaubte ich auch alles, was die Pastoren sagen, und ich fand einen Trost darin. Aber am besten ist es wohl, wenn wir nach dem Tode von nichts mehr wissen – ich wenigstens fühle mich niemals glücklicher, als wenn ich ganz tief schlafe und nicht einmal von mir selbst träume.« – – – – – – – –

*

Einige Tage nach dem Begräbnis der armen Lore – es war sehr einsam gewesen, denn nur Magdalena und Käthe hatten sich dicht verschleiert auf dem Friedhof herumgedrückt –, also einige Tage später erhielt Madam Zech einen eingeschriebenen Brief von Sanguessa aus New-York.

Der Mädchenhändler hatte den Schauplatz seiner Tätigkeit wieder einmal in die Neue Welt verlegt, aber er war mit der alten Kundin in Verbindung geblieben und brachte jetzt einen Plan aufs Tapet, der schon einmal zwischen dem würdigen Freundespaar verhandelt worden war.

 

»So, wie Du Deine Sache betreibst, hat es keinen Zweck,« schrieb Sanguessa. »Die Industrie der Gegenwart drängt auf der ganzen Linie nach großartiger Entfaltung, und das Prinzip der Assoziation bricht sich überall Bahn. In Deinem Fall bedeutet das die Verbindung mit einem tüchtigen Geschäftsmann, und da Deutschland noch immer mit dem verdammten Zuhälterparagraphen belastet ist, so empfiehlt es sich, diese Klippe durch Eingehung einer staatlich sanktionierten Ehe zu umschiffen.

Mein Freund Franz Heller, dessen Bild ich beifüge, ist nicht abgeneigt, Dir seine Hand anzutragen, und ich kann die Versicherung geben, daß er alle Eigenschaften besitzt, die eine Frau Deines Schlages zufriedenstellen müssen – er kann sogar treu sein, wenn sein eigenes Interesse es erfordert. Selbstverständlich ist er bereits in der Branche tätig gewesen, da ihm aber die Mittel fehlen, um in New-York die Konkurrenz auszuhalten, so sitzt er momentan auf dem trockenen, während Du Dir schon ein hübsches Betriebskapital zurückgelegt haben mußt.

Also alles in allem: überlege Dir die Sache, und es bedarf nur eines elektrischen Funkens, um sein Herz für Dich zu entflammen. – – –«

 

Nach dem Eintreffen dieser Epistel gingen einige Wochen in das Land. Madam Zech trug ein nachdenkliches Wesen zur Schau, ihre schwarzen Augen hatten mitunter einen feuchten Schimmer, und Käthe, die in gewissen Dingen sehr hellhörig war, sagte eines Tages zu Magdalena:

»Weißt du, Schatz, was mit Madam los ist?«

»Ich glaube, sie trauert um unsere arme Lore.«

Da lachte die Walküre.

»Du bleibst doch immer und ewig das kleine dumme Mädchen! Die und um unsereins trauern? Aber sie hat den Johannistrieb, das ist die ganze Chose.«

Magdalena wurde sehr nachdenklich.

»Glaubst du wirklich, Käthe? Sie ist ja noch nicht alt, aber früher hat sie doch dasselbe Geschäft betrieben, wie wir selbst, und ich dachte immer –?«

»Es gibt Dinge, die man nicht totkriegen kann,« entgegnete das Mädchen finster. »Aber du hast recht, wenn so eine heiratet – es ist und bleibt eine Affenschande.«

Dann platzte die Bombe. So um Weihnachten herum – es waren die langen und dunklen Abende, die schon um vier Uhr beginnen – versammelte Madam ihre drei Getreuen im Salon. Es waren immer noch drei, das Zimmer der toten Lore hatte bisher keine Nachfolgerin gefunden, und auch darin erblickte Käthe ein Zeichen bevorstehender Veränderung; sie war daher am wenigsten erstaunt, als Frau Zech mit diesem ominösen Wort einsetzte:

»Meine Damen,« sagte sie, »ich denke mich zu verändern. Ich habe mich mit einem tüchtigen und anständigen Manne verlobt, und die Eheschließung wird in den nächsten Tagen stattfinden. Sie begreifen, daß damit noch andere Folgen verbunden sind –«.

»Natürlich,« warf Anna ein – »Villa und Equipage mit Gummirädern. Wenn Hamburg nicht so 'n Nest wäre, dann hätte ich beinahe Lust, diesen Kasten zu mieten.«

Madam seufzte.

»Sie irren sich leider in meinen Vermögensverhältnissen, liebes Kind. Selbstverständlich gebe ich speziell dieses Haus auf, und wenn Sie es übernehmen wollen – ins Gehege werden wir einander wohl nicht kommen. Im übrigen –«

»Geht die Sache von jetzt in's Große,« sagte Käthe, und Madam seufzte abermals.

»Was will man machen, meine Damen – die Zeit schreitet fort. Der alte Stamm wird mir ja wohl treu bleiben –«

Ein zärtlicher Blick auf Käthe und Magdalene, dann war die Audienz beendet, aber oben in Käthes Zimmer wurde die Verhandlung fortgesetzt – zwischen allen dreien, denn auch Anna hatte sich diesmal angeschlossen und sie fand sogar das erste Wort:

»Nun ist Schluß,« sagte sie. »Ich habe keine Lust, Probiermamsell bei ihrem Kerl zu werden!«

Käthe lachte verächtlich.

»Das wird Madam sich schon verbitten, darauf kannst du Gift nehmen! Aber ich komme doch nicht darüber hinaus – einen Kerl wollte ich ihr ja gönnen, meinetwegen ein ganzes Schock; nur daß sie ihn richtig heiraten will – mit Ring und Schleier – pfui, wie gemein, das ist die größte Schweinerei, die ich noch erlebt habe!«

Sie spuckte aus und wendete sich an Magdalena:

»Und du sitzest da wie Trumpf sieben und hast kein Wort? Kannst du nicht einmal ordentlich herausfluchen? Die Lore hört es nicht mehr, die feine Lore!«

»Ich kann es nicht,« sagte Magdalena leise. »Ich muß nur immer daran denken: so eine, und sie darf heiraten! Sie findet nicht nur einen Mann, sondern sie darf ihn auch nehmen, und vielleicht gibt die Kirche sogar ihren Segen dazu – – – – – – – –«

Da schlug Käthe mit der Faust auf den Tisch:

»Wenn sich ein Pfaff dazu findet, dann soll die Hochzeit hier im Hause gefeiert werden, und ich will als Kranzjungfer die Schleppe tragen!« – – – – – –

*

Ganz so schlimm wurde es doch nicht; das würdige Paar hatte wohl triftige Gründe, die Kirche mit seinen Angelegenheiten nicht zu behelligen, und die Eheschließung fand daher in der Stille nur vor dem Standesbeamten statt.

Es war bezeichnend für das moderne europäische Sklavenleben, daß die drei Mädchen nicht einmal den Namen ihres künftigen Brotherrn erfuhren, aber sie lebten so sehr von der Welt abgeschieden, daß ihnen kein Aushang zu Gesicht kam und keine Zeitungsnotiz in die Hände. Sie wußten nur, daß Madams Ehegatte heute abend auf der Bildfläche erscheinen werde, und sie redeten davon in ihrer Weise und nach ihren Erfahrungen.

»Es wird natürlich ein Viechkerl sein,« sagte Käthe, die am besten mit den Hamburger Verhältnissen Bescheid wußte. »In den Matrosenkneipen am Freihafen kann man die Nummer zu sehen kriegen – mit aufgekrempten Hemdsärmeln und einer Bulldogge auf den Hacken; ein Rausschmeißer von der richtigen Sorte. Denn wenn Madam die Sache ins Große betreiben will, dann hat es mit der Feinheit ein Ende, das merkt euch nur, ihr beiden zimperlichen Jungfrauen!«

Dagegen hatte die Anna aber einen anderen Trumpf:

»Klein und bucklig wird er sein; einer von denen, die viel Fußtritte im Leben bekommen haben –, und nun zahlt er es heim mit Klugheit und Haß.«

Gegen Abend fuhr eine Droschke vor, und die Mädchen drängten sich an das Fenster von Lores Stube, denn das gewährte den besten Ausblick auf die Straße; aber man konnte nichts sehen, als eine ziemlich elegante Männergestalt, die weder auf den »Viechkerl«, noch auf den »Bukligen« paßte, und Magdalena setzte sich auf die Kante des leeren Bettes:

»Kinder,« sagte sie, »ich weiß nicht, wie mir ist –, aber wenn es Ahnungen gibt, so ist da unten das Unglück ausgestiegen, und wir haben doch wirklich schon genug von der Sorte im Hause.«

Als sie sich dann später im Salon versammelten, saß Madam bereits wie gewöhnlich schon hinter dem Büfett, und neben ihr stand in eifriger Unterhaltung ein kaum dreißigjähriger Mann, dessen verlebte und aufgedunsenen Züge dennoch die Spuren aristokratischer Schönheit trugen. Er musterte die Mädchen mit einem flüchtigen Blick, stutzte und schien eine Frage stellen zu wollen – dann aber unterließ er es dennoch, verschwand in den hinteren Räumen und kam an diesem Abend nicht mehr zum Vorschein.

Magdalena hatte Franz Heller nicht erkannt. Es lagen zu viele Jahre dazwischen, seitdem sie ihn zum letztenmal in jener schrecklichen Nacht gesehen, und es waren Jahre, die den Menschen verändern. Aber wenn sie ihn auch nicht erkannte, wie Liebe oder Haß es unfehlbar tun, so lagerte sich doch ein dumpfer Druck auf ihre Seele – jene Ahnung, von der sie schon eine Stunde zuvor gesprochen hatte, und die in ihrem fruchtlosen Tasten schrecklicher ist, als der niederfahrende Blitz.

Sie bewegte sich den ganzen Abend wie ein Automat, gab zerstreute, unliebenswürdige Antworten, und brachte es schließlich so weit, daß keiner von den Gästen mit ihr anbandelte. Als sie sich endlich nach Mitternacht auf ihr Zimmer zurückzog, ging ein böser Blick von Madam hinter ihr drein, und Anna sagte zu Käthe:

»Paß auf, die wird nächstens hinausgewimmelt, ich habe es wohl gemerkt, Madam's Kerl fraß sie mit den Augen.«

Am folgenden Morgen brachte die alte Katharine wie gewöhnlich den Kaffee an's Bett. Als Lore noch lebte, hatte die dem Weibe den Beinamen »Die Pförtnerin der Hölle« gegeben, aber es war ein Unrecht dabei, denn dieses scheußliche Gerippe besaß ein gutmütiges Herz, wie fast alle alten Huren, und Magdalene hatte einen Platz darin. Darauf fußte sie und schmeichelte: »Trina, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Die neueste Nummer von den Hamburger Nachrichten; ich will etwas darin nachsehen.«

»Wollen Sie sich auch verändern, Fräulein Lene?«

»Nein,« sagte Magdalene – »meine eigene Todesanzeige kann ich doch nicht lesen.«

Da wurde das Blatt besorgt, und Magdalene fiel über die standesamtlichen Anzeigen her; zuletzt hatte sie es gefunden; unter den Verehelichten:

»Franz Heller – Therese Zech.«

*

Drei Tage waren es noch bis Weihnachten, und Magdalene hat später von sich selbst gesagt, daß nichts entsetzlicher sei, als ein Geheimnis mit sich herumzutragen. Sie tun es alle in dieser Zeit der Geheimnisse, und sie lesen verstohlen einer in den Augen des andern, aber es ist wohl ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht, ob die Liebe verschleiert, oder Haß und Scham.

Sie hatten sich beide erkannt, und sie taten beide, als ob ein Meer des Vergessens zwischen ihnen läge; die Blicke des einen suchten das Gesicht des andern, aber wenn die Augen zusammentrafen, fuhren sie zurück. –

Drei Tage – dann kam der heilige Abend. –

In den Vormittagsstunden erschien Madam in dem oberen Stockwerk – Franz hatte sich dort noch nicht sehen lassen – und versammelte das Kleeblatt zu einer kleinen Anrede in Lore's verlassenem Zimmer. Es lag und stand dort noch alles wie früher, und die würdige Frau dämpfte unwillkürlich die Stimme zu einem elegischen Ton:

»Meine Damen,« sagte sie – »es hat alles seine Grenzen. An dem heutigen Tage – hm, ja – also an dem heutigen Tage wird wohl niemand kommen, gewisse Dinge gehen gegen die menschliche Natur. Ich werde also heute Abend schließen, und mit meinem Gatten das Fest auswärts verleben; es ist dafür Sorge getragen, daß Ihnen nichts abgeht. Wenn Sie wollen – –«

»Können wir uns einen Baum putzen,« sagte Käthe, und Anna setzte hinzu:

»Oder einen Pfaffen kommen lassen.«

Madam hatte darauf keine rechte Antwort. Sie murmelte nur etwas Undeutliches und beeilte ihren Rückzug; es lag so etwas in der Luft, wie eine Tracht Prügel, denn die Menschen sind mitunter sehr undankbar. – – – –

Die drei Mädchen sahen einander an; Magdalene brach zuerst das Schweigen:

»Also heute abend wird niemand kommen –«

»Doch!« sagte Käthe.

»Wer denn?«

»Christus!«

Das Wort kam tief und schwer aus einer halbabergläubischen, halbgläubigen Seele hervor, aber es wirkte so erschütternd, daß selbst Anna, die sonst über alles spottete, kein Lachen fand, und sich still hinausschlich.

Käthe folgte ihr und Magdalene blieb allein zurück. Sie setzte sich auf das Ruhebett, wo so oft Lore's schöner mißhandelter Leib gelegen hatte, und schlug mechanisch eines der Bücher auf, die noch immer keinen neuen Besitzer gefunden hatten.

Und dann rang sich plötzlich ein schreckliches Weinen aus ihrer Brust:

Es war das »Verlorene Paradies.« – – – – –

Den ganzen Tag fiel ein gleichmäßig stiller Regen auf Hamburg nieder, und die Dunkelheit brach so früh herein, daß alle Kinderherzen in Entzücken gerieten. Denn wenn auch die Sonne unser aller Liebling ist, am heiligen Abend sehnen wir uns nach den Sternen, und wir suchen sie selbst hinter einer schweren Wolkenhülle zu entdecken.

Als es vom Nikolaiturm vier Uhr schlug, kam Käthe zu Magdalene in das Zimmer geschlichen, und setzte sich nach ihrer Gewohnheit auf den Bettrand; sie war blaß und hatte einen scheuen Blick, der über die pornographischen Bilder an den Wänden hin irrte.

»Nimm das weg,« sagte sie und hob die Hand – »es ist an der Zeit; ich fürchte mich«

»Was ist geschehen, Käthe?«

» Er ist da.«

»Wer?«

Das große blonde Mädchen nannte keinen Namen, sondern kauerte sich zusammen und dämpfte die tiefe Stimme zu einem leisen Flüstern:

»Ich habe ihn gesehen, er kam durch die Straßentür wie ein Schatten und ging geradewegs in den Salon. Die Katharine wollte ihn aufhalten, aber er machte nur eine Bewegung mit der Hand, und da konnte sie nichts gegen ihn ausrichten.«

Käthe wiederholte diese Bewegung, indem sie durch die Luft strich und fuhr dann fort:

»Er sieht gerade so aus wie auf den Bildern, die ich von ihm kenne; zu Hause hatten wir eins hängen, und in meinem Konfirmationsgesangbuch war es auch. Ich habe dir ja schon gesagt, Lene, daß er heute kommen wird, aber sein Gesicht war sehr ernst – ich fürchte mich.« –

Habt Ihr Lust, über den Aberglauben dieser Dirne zu lachen – Ihr Alle, denen eine bessere Bildung zuteil wurde? Wir wissen, daß man ihn vor zweitausend Jahren begrub, und daß seine Gebeine an einem uns unbekannten Ort in Asche zerfallen sind, aber die Elendesten und Unglücklichsten glauben noch immer an seine Auferstehung, und Magdalene, die Namensschwester jener anderen, die ihn gesehen haben will, kauerte sich neben ihre Freundin hin und murmelte: »Käthe, ich fürchte mich auch. Kannst du beten?« – Nein, er kommt nicht. Auch an dem Tage, wo seine Geburt verkündet wird, kehrt er nicht zurück, er wird nie zum zweiten Male durch die Welt gehen, um das große Wort von der barmherzigen Liebe zu reden, aber die Füße seiner Apostel tasten nach seiner Spur. Arme irrende Menschen, die nur ein Schatten seiner Größe sind – Träumer, die an das tausendjährige Reich glauben und dennoch Männer, denen wir unsere Bewunderung nicht versagen dürfen.

Denn sie wollen das Gute, und sie suchen es auch im Schlamm.–

Franz Heller saß allein im Salon. Es war heute sehr langweilig und er sehnte sich nach dem Abend, wo er mit »Madam« in irgendein elegantes Restaurant gehen wollte – inzwischen hatte er sich eine der Gaskronen angezündet, und eine Flasche Rotwein aus den Vorräten des Büffet's geholt. Das Zeug war eigentlich nicht schlecht, aber es schmeckte ihm wie Tinte; daran war wohl dies verfluchte Wetter schuld. Er war just im Begriff, auch die übrigen Kronen anzudrehen, und dann wollte er den Medoc mit einer Pulle Sekt vertauschen; da öffnete sich die Tür. – »Bist du das Rest?«

Es war eine dunkle Männergestalt, im langen schwarzen Rock, bis an den Hals zugeknöpft, so daß keine Wäsche sichtbar wurde; das Tuch dieses Rockes glänzte vom Regen, und aus der breiten Krämpe des weichen Filzhutes rieselte das Wasser auf den Teppich – wer den Mann ansah, den fror.

Franz Heller hatte sich erhoben. Es war vier Uhr nachmittags, und es war Weihnachtsabend; der Gedanke, daß jetzt ein Bordellgast kommen würde, hatte etwas komisches und Franz sagte lächelnd:

»Ich glaube, Sie irren sich in der Zeit, mein Herr. Wenn Sie um Mitternacht wiederkommen wollen –« Der Fremde hatte seinen Hut abgenommen, und ein blasses, von langen dunkeln Haaren und einem schwarzen geteilten Vollbart umrahmtes Gesicht kam zum Vorschein.

»Es ist Mitternacht,« sagte er. »Ich habe mit dir zu reden, Franz Heller.«

Das war Julius Mohrmann, der »Hamburger Apostel,« wie die Leute ihn nannten und Franz erkannte den verflossenen Jugendfreund an der Stimme. Er war auch nicht zu sehr erstaunt über dieses Zusammentreffen, denn die Zeitungen beschäftigten sich mit dem seltsamen Manne, der die Hafenschänken und die Verbrecherkeller durchstreifte; nur in einem Bordell hatte man ihn bis jetzt noch nicht gesehen.

Und Franz nahm sofort seine Stellung:

»Also wirklich, alter Junge! Gib dir übrigens keine Müh', Julius, für das Bekehren bin ich noch nicht reif. Ein Heller tut das erst, wenn er auf dem Schragen liegt.«

»Es liegt einer auf dem Schragen,« entgegnete Julius ebenso wie vorhin.

Da fuhr es dem andern in die Kniekehlen; er setzt sich und trank sein Glas aus.

»Was soll das heißen?«

»Dein Vater ist tot.«

Die Gasflamme surrte, sonst war es still. Dann sagte Franz:

»Mein Vater und ich waren schon längst für einander tot. Woher hast du die Nachricht?«

»Aus der Zeitung. Er hat sich erschossen.«

Abermals dieses Singen der Flamme und dieses Schweigen. –

»Sich selbst erschossen? Das werde ich später auch mal tun.«

Nach diesem kurzen Austausch von Worten, hätten die beiden auseinandergehen können, und Franz schien das auch zu erwarten, denn er blickte nach der Tür und trommelte nervös mit den Fingern auf der Marmorplatte des Tisches.

Aber Julius Mohrmann regte sich nicht. Er war wie ein Schatten gekommen, und gleich einem Schatten stand er jetzt in diesem Halbdunkeln Zimmer, wo sonst nur das Licht flutete und die Tollheit ihr Wesen trieb.

»Ich komme dir nicht gelegen,« sagte er. »In diesem Hause der Sünde möchte man am liebsten taub und blind sein, aber ich kann dir nicht helfen, Du mußt noch mehr wissen, es war nur ein kleiner Bruchteil, den ich dir berichtet habe. Vor seinem freiwilligen Ende schrieb mir der Unglückliche einen Brief – er hat in den standesamtlichen Anzeigen von deiner Heirat gelesen, und diese letzte ungeheure Schande eines verlorenen Sohnes ist die Ursache seines Todes geworden. Ich soll es dir mitteilen, er hat es mir aufgetragen, und ich erfülle hiermit den letzten Willen eines Toten. Aber ich habe noch mehr zu erfüllen, Franz Heller. Wo ist Magdalene, Martha's Tochter?« »Du scheinst es zu wissen,« entgegnete der andere finster – »sie ist bei mir, aber ich habe sie nicht hierher gebracht.«

»Nein, es war das Werk deiner – Konkubine. Weißt du, wer der Vater des unglücklichen Mädchens ist?« Zum ersten Male während dieser schrecklichen Unterredung verlor Franz Heller seine Fassung. Es war, als ob eine Ahnung ihm die Wahrheit in's Ohr raunte, er erhob sich und tastete gleich darauf nach einer Stütze »Sei still! Ich will nichts wissen! Du kannst sie mit dir nehmen – heute, in dieser Stunde – aber laß mir den Glauben, daß sie mich nichts angeht –«

»Sie ist deine Schwester,« sagte Julius kalt und grausam. »Hast du mit ihr zu tun gehabt?«

Da schrie Heller wild aus:

»Nein, tausendmal nein, ich hasse sie, ich habe sie immer gehaßt! Aber eine Blutschande ist doch dabei, denn wenn Martha Klein das Kebsweib meines Vaters gewesen ist, den Sohn hat sie auch in ihrem Bett gehabt und die Welt ist nicht darüber untergegangen! Und nun Julius Mohrmann kannst du hingehn und die Lene zu deiner Frau machen – wir sind ja immer Freunde und Kameraden gewesen: es wäre ein Gaudium für die Welt, wenn wir es auch noch zu Schwägersleuten bringen sollten!« –

*


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