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Als Kurt Grotteck aus der fahrenden Trambahn sprang, wäre er fast unter ein Auto geraten. Der Bruchteil einer Sekunde stand zwischen diesem Augenblick und dem nächsten, wo er sich auf das Trittbrett des Wagens schwang und lachend in zwei erschreckte Mädchenaugen blickte.

»O Gott!« rief Inge Brodersen. Dann stimmte sie in sein glückliches Lachen ein. Rot schoß in ihre Wangen. Ihre Hände flogen ihm entgegen. »Es ist also nichts geschehen?«

Der Wagen hielt mit einem Ruck. Kurt Grotteck drückte einen wildledernen Handschuh und sagte: »Leider darf mein Besuch diesmal nur kurz sein. Die Pflicht ruft. Nein, sie schreit durchs Mikrophon. Auf Wiedersehen!«

Im Torbogen des Rundfunkbaus blieb er stehen und sah dem grünlackierten Wagen nach, der eben um die Ecke bog. Inge sah sich um und winkte herüber. Wie schön war sie doch, mein Gott, wie schön …

Jetzt erst fiel ihm ein, daß sie allein im Wagen saß, nicht wie sonst im Schatten ihres Vaters, des massigen, finstern Brodersen. Saß er nicht immer wie der Hüter einer Gefangenen neben ihr? Das Bild hatte ihn jedesmal an irgendeine Illustration zu einer romantischen Ballade erinnert, etwa der Gorilla oder der Waldkönig und das geraubte Mädchen oder so.

Er stand noch immer, als der Wagen längst entschwunden war. Doch er lachte nicht mehr. Die kleine Zornader über der Schläfe glühte auf. Inge Brodersen war allein gewesen – sie hatte um ihn gezittert – sie hatte ihm die Hand entgegengestreckt, und er war abgesprungen –. War das zu begreifen? Ah, es mußte eine Wonne ohnegleichen sein, sich vor einem gut geschliffenen Spiegel selber zu ohrfeigen!

Seine Laune wurde nicht besser, als ihm eine fettige Stimme zurief: »Schon da, Baron?« und als er an der großen, von zwei Majolikaputten flankierten Uhr ersehen mußte, daß er um eine halbe Stunde zu früh gekommen war.

Nie war er Inge so nahe gewesen, in all diesen Monaten nicht, und er hatte nichts damit anfangen können. Und es war so einfach gewesen, den vom Nervenschock Erschlagenen zu spielen, sich von ihr trösten zu lassen und ihre Hand noch eine Weile zu fühlen –

Ein untersetzter Herr mit einem käserunden Gesicht lachte ihn an. »Der erste in der Schlacht – so ist's recht. Der Vortrag drinnen steigt noch. Du solltest ihn übrigens anhören, du Agrarier: Die Bedeutung des Regenwurms für den Humus. Wissen ist Macht.«

»Guten Tag, Fährmann! Hast du mich erwartet?«

»Selbstverständlich. Ich wollte dir das Lampenfieber ausreden. Du spielst ja heute zum erstenmal.«

»Lampenfieber? Unsinn. Ich sehe doch mein Publikum nicht.«

Fährmann meckerte: »Hast du es denn bei deinem letzten Konzert gesehen?« Seine kleinen Aeuglein zwinkerten vergnügt aus den Fettpölsterchen.

»Nein«, sagte Grotteck versonnen. »Dann wäre ich nicht hier.«

»Sondern Hofpianist beim Prinzen von Astrachan, ich weiß. Aber mache dir nichts draus. Quatsch mit Rosinen. Ein Genie bist du doch. Zum mindesten glaube ich an dich, und die Damen tun es ja auch, du Glücklicher. Trinken wir nachher ein Glas Wein zusammen? Vielleicht im Alcazar? Ich lade dich ein.«

»Ich glaube nicht.« Er kannte die Einladungen Fährmanns. Sie waren teuer und füllten die Nacht bis zum Morgengrauen mit Alkohol.

»Du beziehst ja bald schwere Gelder. Hoffentlich vergißt du im Glück nicht den Freund deiner Armut.«

Grotteck verabschiedete sich lachend und ging ins Künstlerzimmer. Drinnen saß Ida Jester, die Sängerin, die er heute begleiten sollte. Sie schlug die Augen mit etwas zuviel Schwermut auf. »Ist das ein Leben!« hauchte sie.

»Wieso? Ich finde es herrlich. Ich möchte jeden Morgen, den Gott wachsen läßt, eine Tarantella tanzen oder so was Aehnliches. Ich mag nämlich nur die alten Tänze, in denen Feuer mittanzt, nicht die mit dem Knie, lieber Hans.«

»Spielen Sie wenigstens Schach?« fragte sie weinerlich. Es klang, als sei es der einzige Ausweg aus einem Gestrüpp von Not und Kümmernis.

»Gewiß, wir haben ja noch Zeit.« Er hing Hut und Mantel an und zitierte lachend: »Wir spielen immer. Wer es weiß, ist klug.«

»Schnitzler. Paracelsus. Ich bin nämlich nicht so ungebildet, wie Sie glauben. Hier, kommen Sie. Ich habe schon aufgestellt.«

Während Grotteck die Partie mit dem Königsbauer eröffnete, erzählte er die Geschichte von dem literaturkundigen Mann, der nur zwei Dichter miteinander verwechselte: Tolstoi und Nestroy.

Ida Jester lächelte mühsam, sog an einer Anginatablette und entrüstete sich über das Programm des Rundfunks. »Schumann und Schubert und Schubert und Schumann – kann es denn nicht mal was Neues geben?«

»Warum? Jeder freut sich doch, wenn er sagen kann: die Melodie kenne ich. Uebrigens steht Ihr Springer falsch.« Ida Jester mogelte gern.

Der Ansager raste in das Künstlerzimmer herein. Seine langen, schwarzen Haare klebten schweißfeucht an den Schläfen.

»Gott sei Dank!« rief er aufatmend. »Sie sind wenigstens da. Aber Haberfeld fehlt wieder mal. Und der Vortrag ist in einer Viertelstunde aus.«

»Er wird schon kommen. Gardez!«

»Er wird nicht kommen«, sagte der Ansager erbittert. »Diese Herren von der Geige glauben immer, sie seien Tenöre und hätten es nicht nötig. Größenwahn einfach!«

»Dann ersetze ich ihn. Ihr Turm ist bedroht.«

Ida Jester schrie leise auf. Der Ansager lief mit verzweifeltem Lachen hinaus.

In das schläfrige Gesicht der Sängerin kam eine kleine Anspannung. »Sie spielen wie ein Gott. Sie sind der einzige, der mir gewachsen ist.«

»Ich bin der einzige, der auf Ihre Schliche paßt.« Er zündete sich eine Zigarette an und bemerkte betrübt, daß es die vorletzte war. Er würde sich heute keine mehr leisten können.

»Sie dürfen mich nicht beleidigen. Sonst werfe ich das Spiel um. Und rauchen dürfen Sie auch nicht. Meine Stimme! Dafür sage ich jetzt aber Schach.«

Resigniert löschte er die Zigarette. »Wie ist der Läufer hierhergekommen?« fragte er streng.

Noch ehe sie erbittert antworten konnte, raste der Ansager herein. »Immer noch nicht da? Man wird diesen Herren noch ein Flugzeug zur Verfügung stellen müssen, wenn man auf ihr Erscheinen rechnen will.«

»Ist der Regenwurm denn schon erledigt?«

»Der Regenwurm?« klang es beleidigt zurück. »Wollen Sie Witze machen? Was für ein Regenwurm?«

»Der Vortrag.«

»Er ist doch literarisch. Die Lyriker der Romantik, zum Kuckuck. Sie sollten mehr das Programm studieren, Herr Grotteck. Aber Sie haben das wohl auch nicht nötig.«

»Getroffen, Verehrtester. Fährmann hat mich reingelegt. Schach.«

Der Ansager warf einen hoffnungsvollen Blick auf die beiden Spieler, dann auf die Uhr und raste hinaus.

Ida Jester war in die Enge getrieben und kippte ihren schwarzen König um. »Ich bin heute schlecht aufgelegt. Vor dem Auftreten zittern meine Nerven immer so. Uebrigens ist es ungalant, solche Schwäche auszunutzen.«

»Stimmt. Aber es führt zum Ziel.« In ihr empörtes Gesicht lachend, packte er die Figuren ein. Dann verließ er sie, ging den Gang entlang bis zum Aufnahmeraum, über dessen Tür das Transparent »Ruhe!« leuchtete, und öffnete die Tür.

Drinnen stand ein älterer Herr mit weißen, altmodischen Bartkoteletten, der einen betippten Bogen in der Hand hielt und eben las: »Ueber Clemens Brentano werde ich das nächste Mal sprechen.«

Der Ansager drängte den Herrn von dem Platz am Mikrophon fort und bestätigte noch einmal, daß Herr Professor Soundso seinen Vortrag beendet habe. »Auf Wiederhören in zwei Minuten.« Dann stellte er den Apparat ab.

»Haberfeld ist noch nicht da«, stellte Grotteck fest. »Soll ich nicht doch einspringen?«

Der Ansager rang verzweifelt die Hände.

»Es könnte ja ein kleines Klaviersolo als Ersatz steigen, wie? Ein Notturno von Chopin oder so was. Noten sind doch da?«

Drei Minuten später spielte Kurt Grotteck, bestaunt vom Ansager, der die Hände faltete, als ob er ein Dankgebet spräche, und sogar von Ida Jester, die die Blätter wendete.

Während aus den Tasten die temperamentvolle Schwermut Chopins quoll, sah Grotteck die Szene von vorhin vor sich: Inge Brodersen, wie sie errötend die Hände nach ihm streckte. Aber diesmal saß der Vater daneben. Sein starker, wuchtiger Kopf, der in der Strenge und der Armut seiner Nuancen an altägyptische Porträtbüsten erinnerte, war nach vorn gerichtet, als ob er, Kurt Grotteck, gar nicht neben ihm existierte. Wer war dieser junge Mensch neben einem Brodersen, dessen Reichtum die ganze Stadt in Verwirrung brachte? Ein verkrachter Pianist, der von Gott weiß was lebte –

Erbitterung stieg in dem Spielenden auf. Er ertappte sich dabei, daß er ein paar Takte übersehen – bei einem Stückchen, das er sonst im Schlaf gespielt hätte –, und er war dicht daran, mitten im Spiel aufzustehen und davonzulaufen. Aber der unglückliche Ansager sah ihn so vertrauensvoll an, daß er es nicht fertigbekam.

Wie ein fremder Wandervogel schwebte Inge Brodersen über der alten deutschen Stadt – über ihm – über allen. Wo kam sie her? Wen liebte sie? Konnte sie überhaupt lieben? Ihr verschlossenes Gesicht hatte genug Rätsel aufgegeben. Hatte sie nicht heute, in dem kurzen Augenblick, ihre Seele geöffnet? Ach, vielleicht erinnerte sie sich schon gar nicht mehr daran.

Und nun strömte die schimmernde Melancholie des Slawen breit und schwer wie ein Fluß der Ebene.

Fast hätte Ida Jester geklatscht, als er fertig war, und der Ansager verspätete sich um eine ganze Minute, ehe er die Fortsetzung des Konzerts ankündete.

Dreiviertelstunde später verließ Kurt Grotteck das Rundfunkgebäude. Die Büros waren längst geschlossen, und durch ein Versehen war die Honorarauszahlung für die gelegentlich auftretenden Künstler unterblieben. Das war eine schlimme Geschichte.

Er zählte seine wenigen Scheine zusammen – in dem gleichen Torbogen, wo er vorhin dem Wagen Brodersens nachgeblickt hatte. Diesem Wagen, der ihn um ein Haar gepackt hatte, um ihn dann in die Arme des geliebten Mädchens zu schleudern.

Ein Motorrad knatterte heran, hielt mit einem Knall und blieb vor ihm stehen. »Guten Abend, Baron. Sie auch hier?«

»Guten Abend, Haberfeld. Sie wurden übrigens erwartet.«

»Ein Versehen der Programmleitung, verlassen Sie sich darauf. Mit uns Künstlern wird Schindluder getrieben. Was aber machen Sie hier? Sie haben es doch nicht nötig, Pedale für Geld zu treten?«

Grotteck lächelte. »Ich tue es auch nur aus sportlichen Gründen.« Damit verließ er den verdutzten Geiger.

Der Platz war dunkel. Durch die Bäume schimmerte weiches Laternenlicht. Ein leichter Sprühregen fiel wie ein nasser Schleier herab. Herber Erdgeruch stieg aus den Rasenflächen der Anlagen.

Er schnupperte in der Luft. So roch es in seiner Heimat Grotthausen um diese Zeit Er hätte, viel gegeben, wenn er jetzt dorthin hätte gehen können – und dann mit Mutter Arm in Arm über die Feldwege zum Wald, hinter dem die Weichsel ihre Bahn zog. Und vor dem Schlafengehen eine alte, feierliche Sonate und ein Glas guten Weins und ein lachendes »Gute-Nacht«-Sagen und bunte, leichte Träume! Wie lange war denn das her, daß er, gebläht von Hoffnungen, auf die Musikhochschule« gereist war, erst nach Berlin, dann hierher? »Ein Grotteck muß auch mal was andres werden als Stoppelhopser«, hatte die Mutter gesagt. Aber ein paar Tränen waren doch geflossen.

Arme, kleine Mama! Nun saß er hier, festgefahren, mit einer erheblichen Lebenspanne auf der Fahrt, die mit 100 begonnen hatte. Und es stand mit ihm fast so schlecht wie um Grotthausen.

Den Mantelkragen hochgeklappt, durchwanderte er ziellos die Gassen. Wo sollte er auch hin? Das einzige Ziel für ihn in dieser Stadt wäre das große gelbe Haus auf der Höhe gewesen, wo auf schwarzer, ovaler Marmorplatte der Name »Brodersen« stand.

Auf einer Plakatsäule starrte ihn das Wort »Alcazar« an. Hatte nicht heute einer davon gesprochen? Er schlug den Weg zu dem etwas bedenklichen Lokal ein, wo die herben und die klebrig-süßen spanischen Weine bei lärmender Musik getrunken wurden.

Er bog um eine Kirche, an einem Brunnen vorüber, in den alten Mauergang ein, der durch die Reste der einstigen Stadtmauer und die Rückwände der Häuser gebildet wurde. Der Gang war überdacht, eine dunkle Höhle, die der beiden Laternenflämmchen spottete. Hier hielt sich kein Mensch gern auf: das Schweigen und die Düsternis betonten die öde Verlassenheit zu beklemmend.

Grotteck phantasierte: Hier wurden einst die Verurteilten zum Henker geführt, in eine mit allen Schikanen der Zeit versehene, wohlassortierte Folterkammer. Klang nicht noch das Schreien der Gemarterten, erlöst durch einen Zauber? Hier war ein vortrefflicher Ort für geheime Morde, die ewig den Täter unentdeckt ließen. Der Ermordete würde nicht einmal auf der Linse des brechenden Auges das Bild des Täters aufnehmen können. Grotteck ging langsam, das Gruseln der einsamen Höhle wollüstig genießend.

Als in diesem Augenblick in einiger Entfernung ein Schuß knallte und Schreie aufbrachen, war er noch so im Bann seiner Phantasie, daß er, behaglich lächelnd, weiterging. Aber nun näherten sich die flüchtigen Schritte eines Menschen, dem andre folgten.

Unwillkürlich drückte er sich in eine der vielen Nischen der Mauer Eine Männergestalt näherte sich ihm. Die Beine berührten kaum den Boden. Er hörte deutlich das Keuchen einer um Atem ringenden Brust. Ein Mann im bloßen Kopf folgte im Abstand weniger Meter, immer dasselbe Wort kreischend, das er nicht verstand.

Der Verfolgte war nun an der Nische, er hielt einen Augenblick in seinem rasenden Lauf inne und drückte Grotteck ein Paket in die Hand. Dann rannte er weiter, den Lichtern zu, die in der Ferne einige Straßenpassanten überflackerten. Aber nun war der Verfolger, ein schlanker, mittelgroßer Mann, dicht an ihm.

Grotteck sah einen Wirbel von Körpern, die auf dem Boden rollten. Er hörte ein hervorgestoßenes: »Was wollen Sie? Suchen Sie doch nach!« Und ehe er hinzulaufen und die beiden trennen wollte, waren sie auf und davon, weggeweht wie Nebel im Wind.

Als Grotteck das Paket, das in mehrere kleine auseinanderfiel, betrachtete, sah er durch die Lücken angerissenen Papiers Banknoten, deutsche und fremde.

*

Kurt Grotteck ging langsam, schwankenden Schritts, wie ein Betrunkener, weiter. Mechanisch stopfte er die Bündel in die weiten Taschen des Mantels. Sie bauschten sich auf. Er wagte nicht umzukehren. Aber es schien ihm auch unmöglich, aus dem Dunkel des Ganges in die Lichtkreise der Straße drüben zu treten, dort, wo Menschen gingen, die aufgespannten Schirme zwischen sich und dem stärker niederprasselnden Regen.

Plötzlich stieß in die Stille schmetternder Lärm. Eine gellende Musik warf Fetzen von Melodien in den Gang. Ein Klavier war zu unterscheiden, eine verkratzte Violine, irgendein Schlaginstrument und dazwischen der überakzentuierte Gesang weiblicher Stimmen.

Grotteck atmete auf. Hier irgendwo war der hintere Eingang zum »Alcazar«. Vielleicht fand er Fährmann drinnen, und er konnte sich mit ihm besprechen. Er stieg vier schlüpfrige Stufen empor und betrat die Wirtschaft.

Anfangs hinderten ihn dicke Rauchschwaden, etwas zu erkennen. Dann wurden kleine, runde Marmortische deutlich, umdrängt von trinkenden, rauchenden, schwatzenden Menschen. Und drüben, vor einem großen, halberblindeten Spiegel, saß die Kapelle in lächerlich bunter Kostümierung. Fährmann schien nicht da zu sein.

Langsam klärte sich das Bild. Er unterschied die einzelnen Typen des recht gemischten Publikums. Leute in guten Anzügen, daneben Handwerker mit offenen Hemdkragen, mit schwieligen, breitgearbeiteten Händen. Aeltere Frauen, die mit stillem Behagen einen honiggelben Wein schlürften, der ölige Spuren an den Glaswänden hinterließ. Junge Kavaliere mit ihren Mädchen, die mit schüchtern-frechem Blick um sich sahen. Dazwischen die Kellner, auf runden Tabletten ganze Gläserbatterien balancierend. Es roch nach Tabak, Alkohol, Schweiß und Zwiebeln.

Sein Nachbar zur Linken war ein gutmütiger Spießer, der selig verträumt nach den spielenden Damen schaute und die Melodie vernehmlich mitbrummte. Der Nachbar zur Rechten war ein sorgsam gekleideter Herr in den Dreißigern, glattrasiert und höflich. Er nahm Grottecks hingehaltenen Hut ab und brachte ihn an einem überfüllten Kleiderständer unter.

»Den Mantel auch, Herr Nachbar?«

Grotteck erschrak, und er brachte nur ein kurzes »Danke« hervor.

Der andere schien nicht abgeschreckt. »Bißchen voll heute. Ja, das Alcazar ist eine Goldgrube. Aber wenn man sich einrichtet, geht es schon.«

Grotteck mißfiel der ein wenig stechende Blick. Kavaliere erklärten ihren Damen die gewagten Pointen dieses Herrn. Leichtes Unbehagen überrieselte ihn, und er verdeckte es durch seine hochmütigste Miene.

Die Musik schrillte noch einmal auf und schwieg plötzlich. Donnernder Beifall brandete auf. Die jungen des Liedes. Die Alten schmunzelten breit. Aus einer rauhen Kehle kam ein bewunderndes »Sakramentnochmal!«

Die Klavierspielerin, ein schlankes, brünettes Mädchen, erhob sich und verließ mit einem Teller das Podium.

»Nun folgt die Berappungsarie«, sagte der Nachbar. »Raus mit den Groschen, sonst wirst du verdroschen.« Er fingerte in der Westentasche.

Grotteck beobachtete das Mädchen, das an jeden Tisch trat, um in dem Teller die freiwilligen Gaben zu sammeln. Jedem Klirren der Geldstücke folgte ihr kühles Lächeln und ein kleines, beinahe hochmütiges Kopfnicken. Sie war hier neu, und Grotteck stellte fest, daß sie die Hübscheste war. Ihre Haltung inmitten dieser angeregten und nicht auf gute Manieren bedachten Gesellschaft war sicher und eigentlich tadellos. Mit gewandter Selbstverständlichkeit verstand sie, sich einigen Vertraulichkeiten und Handgreiflichkeiten zu entziehen. Sie versteht, Abstand zu halten – dachte er –, eine große Kunst und eine wichtige für jede Lebenslage, auch für das Alcazar.

Nun stand sie an seinem Tisch und reichte den Teller hin, auf dem mehrere Zehn- und Fünfpfennigstücke eine Mark umrahmten, die zur Aufmunterung hineingetan war.

Als er in ihre müden braunen Augen sah, empfand er es demütigend, daß gerade dies Mädchen hier die angetrunkenen Männer anbetteln mußte. In einer Anwandlung ritterlichen Gefühls legte er, ohne aufzusehen, einen Fünfmarkschein auf die Münzen.

Das Mädchen erschrak sichtlich. »Haben Sie es nicht kleiner? Ich kann nicht rausgeben.«

»Das sollen Sie auch nicht«, sagte Grotteck vergnügt. »Nehmen Sie an, daß ich die Kunst zu ehren verstehe oder daß Sie gerade mein Lieblingsstück gespielt haben.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf, zögerte mit einem hilflosen Blick zu seinem Nachbar herüber und ging dann endlich, ohne in der Verwirrung zu danken. Er merkte, daß sie beim Weitergehen verwundert nach ihm zurückblickte.

»Sie geben zuviel«, sagte der Nachbar. »Sie verderben die Preise.«

Grotteck schwieg und leerte sein Glas.

»Aber natürlich – wenn Sie es dazu haben! Wer lang hat, läßt lang hängen.«

Zu jeder anderen Zeit wäre Grotteck jetzt aufgestanden, um achselzuckend den Tisch zu verlassen. Aber er fühlte sich jetzt nicht sicher genug dazu. Vielleicht irritierte ihn auch nur der lauernde Blick des aufdringlichen Menschen. Seine Hand tastete unsicher auf den aufgebauschten Manteltaschen. Das Geld! – empfand er mit Unbehagen. Es war eine Narrheit ohnegleichen gewesen, unmittelbar nach der wilden Szene draußen, gerade hier mit Geld zu protzen.

»Ich habe gerade Geburtstag«, sagte er stockend über der gedankenlosen Ausrede. Er stand unter dem Zwang, die auffallende Ausgabe irgendwie zu erklären.

»Aha, darum und deswegen! Darf ich mir erlauben, zu gratulieren?«

»Sehr liebenswürdig.«

»So bin ich am ganzen Körper, haha. Wollen Sie nicht übrigens doch Ihren Mantel ablegen? Es ist hier reichlich warm.«

Grotteck, dem der Schweiß niederzurinnen begann, brachte nur mit Anstrengung die Behauptung heraus, daß er erkältet sei. Was wollte dieser Mensch von ihm?

Er blickte nach der Tür, aber er wagte nicht aufzustehen, und ließ sich ein neues Glas vorsetzen. Nein, jetzt konnte er nicht auf die Straße treten, wo man vielleicht schon auf ihn lauerte. Hier in dem krausen Menschengewühl war eine gewisse Sicherheit. Und er empfand beschämt, daß er nicht sagen konnte, wovor er Sicherheit suchte.

Er leerte das neue Glas in einem Zug zur Hälfte. Die Kehle war ausgedörrt, die Zunge war ein trockener Lappen.

»Ein schöner Zug von Ihnen«, witzelte der Nachbar.

Die Klavierspielerin hatte ihren Rundgang beendet, und das Sammelgeld wurde oben verteilt. Grotteck sah deutlich den grünlichen Schein von Hand zu Hand gehen, und er bemerkte die Blicke der Kapelle für kurze Zeit auf sich gerichtet. Ich habe so ziemlich das Dümmste getan, was in meiner Situation möglich war, dachte er erbittert.

Eine schmalzige, sentimentale Melodie kroch schleimig durch den Raum. Das Publikum unterbrach die Unterhaltung und lauschte gespannt. Grotteck stellte mit Genugtuung fest, daß der Geiger jeden Strich verpatzte, und daß die Klavierspielerin richtig spielte, nur daß sie reichlich dick auftrug.

Auf dem Podium stand plötzlich vorne eine üppige, stark geschminkte Dame und sang. Ihre bemalten Augendeckel klappten im Rhythmus des seriösen Liedes auf und zu.

»Schön ist die Ju–u–gend, sie kehrt nicht mehr …«

Ja – dachte Grotteck –, du kannst freilich klagen und heulen. Aber ich bin jung. Ich bin jung, und das ist schön, wie es irgendwo heißt. Und ich habe die Taschen voll Geld –

Als er soweit war, fuhr er zusammen. Hatte er dies nicht alles laut gesagt? Hatte er zuviel getrunken? Er blickte zu seinem Nachbar hinüber. Aber der saß begeistert wie alle andern und nickte eben beifällig der Sängerin zu.

Er bestellte das dritte Glas und fühlte ärgerlich, daß seine Stimme zitterte. Neue Gäste waren gekommen, die in dem Gang zwischen den Tischen stehenblieben und auf die Quevodo zuschoß wie die Spinne auf ihr Opfer. »Es ist noch Platz, reichlich Platz. Nur einen Augenblick, bitte schön!«

Grotteck prüfte die Gesichter der Neuangekommenen. Keiner glich den beiden Männern von vorhin. Sie betrachteten mißmutig die Fülle der Gäste, lauschten aufmerksam der Sängerin und stimmten, noch stehend, in den allgemeinen Beifall ein. Es schien eine Familie zu sein, die einem Gast vom Lande diese Sehenswürdigkeit der Stadt repräsentierte. Mit einem verächtlichen Lächeln, das seiner eigenen Sorge galt, trank er den schweren dunkeln Wein.

»Na, haben Sie nun nachgedacht, Herr Nachbar?«

»Ueber Ihren Beruf? Nein. Ich dachte darüber nach, wie diese alte Nebelkrähe von Sängerin es wagen darf, hier in der Oeffentlichkeit zu krächzen.«

»Pst! Sie ist sehr beliebt. Sie war einmal ein Stern vom Varieté.«

»Schön ist die Ju–u–gend …« summte Grotteck.

Der andere verstand nicht »Meinen Beruf kriegen Sie also nicht heraus? Das ist eine gute Empfehlung für mich, haha.«

Grotteck wollte sagen, daß ihm nichts gleichgültiger sei. Da neigte sich der Fremde ihm zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin nämlich – unter uns gesagt – Detektiv.«

*

Grotteck fühlte einen kalten Guß, der vom Wirbel über den Rücken lief. Das Glas, das er eben hinstellte, klirrte vernehmlich auf der, Marmorplatte des Tisches.

»Was sagen Sie nun?«

In Grottecks Hirn begann es fiebernd zu arbeiten. Es wirbelte darin wie in einem zu rasch ablaufenden Räderwerk. Und am Ende blieb der tröstende Gedanke: es kann dir ja noch nichts geschehen. Du erzählst ihm die Geschichte, gibst das Geld gegen eine vernünftige Quittung, und du bist es los. Eine große Erleichterung überkam ihn bei dem Gedanken.

Ehe er zum Sprechen, zur entlastenden Beichte ansetzen konnte, fuhr der andere fort: »Es freut mich, daß Sie mich nicht durchschauten. Sie verstehen, das ist die Vorbedingung für meinen Beruf.«

Warum war dieser Mensch eigentlich so vertraulich? Hatte der spanische Wein auch auf ihn gewirkt? Wollte er renommieren? Oder – wollte er warnen? Noch konnte er ihm nichts tun. Dies Geld, das ein Vermögen bedeuten mußte, war ohne sein Zutun in seine Hände geraten. Aber würde man es ihm glauben, wenn man es jetzt in seinen Manteltaschen entdeckte?

Plötzlich lag eine Karte vor ihm. »Stecken Sie sie nur ein.«

Grotteck brauchte eine lange Zeit, ehe er die auf- und niedertanzenden Zeilen zur Ruhe gebracht und begriffen hatte.

 

Christoph Kiewening,
Leiter der Detektei »Okulus«

Reinhardtstraße 119.
Fernruf 7635.

 

»Ein privates Unternehmen?« fragte er ganz ruhig. Es hatte ihn merkwürdigerweise beruhigt, daß es ein privates Unternehmen war.

»Ja, mein Herr«, fiel Kiewening eifrig ein. »Also doppelt geschäftstüchtig. Sie verstehen: nur die privaten haben den nötigen Schwung und Schneid. Ich bitte Sie: sind wir nicht auf Empfehlungen angewiesen? Auf das Wohlwollen unserer Kundschaft? Und wodurch erringen wir es? Durch ungewöhnliche Leistungen, durch nichts anderes. Die staatlichen Beamten … pah!«

Grotteck hörte die Selbstempfehlung, die wie vom Blatt gelesen herauskam, verständnislos an. »Sie erleben wohl allerlei?« fragte er endlich, die Karte in den Händen drehend.

»Bände, mein Herr, Bände. Aber im allgemeinen spricht man nicht gern darüber. Stecken Sie die Karte nur ruhig ein. Es ist nicht nötig, daß hier jemand weiß, wer ich bin. Vielleicht können Sie meine Adresse auch selber mal brauchen. Man kann nie wissen. Es gibt Leute, über deren Vergangenheit man gern Bescheid wüßte, oder deren dunkle Neigungen wertvoll zu wissen sind, hehe. Vielleicht sind Sie auch mal an einem Einbruch beteiligt – ich meine natürlich indirekt, als Betroffener …«

»Als Betroffener?« fragte Grotteck, dessen Hirn zu kreisen begann. Wußte dieser Kiewening schon alles? Spielte er mit ihm wie die Katze mit der Maus?

Kiewening lachte hell auf. »Ein kleines Versprechen, mein Herr. Betroffen – ich meine, daß so ein, Einbruch Sie betroffen hat. Sie brauchen mich gar nicht so finster anzusehen.«

Grotteck zuckte die Achseln. »Wenn bei mir jemand einbricht, suche ich mit nach Geld.«

»Ausgezeichnet. Also auf gute Kameradschaft jedenfalls. Prost!«

Grotteck steckte die Karte ein. »Ich kann es mir nicht vorstellen, daß ich je davon Gebrauch machen könnte.«

»Sagen Sie das nicht. Es passieren die tollsten Dinge. Neulich zum Beispiel: Eine alte, alleinstehende Dame hier, ziemlich wohlhabend und sehr menschenscheu, nimmt sich ein Dienstmädchen. Sie müssen wissen, wie verdammt ängstlich sie war. Sie verschloß beim Schlafengehen die Tür mit Kunstschloß, Riegeln und Querstangen, sie stellte sogar einen Eimer Wasser und ein paar Besen davor, um den Lärm des Einbrechers nicht zu überhören.«

»Sie hätte sich einen Hund halten sollen.«

»Ging nicht, Verehrtester. Sie hatte doch sieben Katzen. Sieben fette Katzenviecher, die überall umherlagen. Die Wohnung roch danach. Aber für sie war es wohl das schönste Parfüm.«

»Pfui Teufel!« Je länger Kiewening erzählte, desto mehr fühlte Grotteck sich von seinem inneren Druck befreit. Er konnte schon wieder lachen.

»Was wollen Sie: die Geschmäcker sind verschieden. Das neue Dienstmädchen hatte keine Papiere. Es war eine junge, kräftige, bescheidene Person. Bei Tageslicht ging sie nicht gern aus, um den lüsternen Augen der Männer zu entgehen.« Er meckerte. »Ja, so besorgt war dies Mädchen um seinen Ruf.«

»Und dann?« fragte Grotteck, wider Willen gespannt.

»Und dann? Sie verschob die Besorgung ihrer Papiere von Tag zu Tag. Aber das gab nicht den Ausschlag. Eines Tages sah die Alte, daß ihre Frieda die fetteste der Katzen mit dem Fuß ein bißchen unsanft berührte. Da war es vorbei mit ihrem Glauben an die Menschlichkeit, und sie telephonierte mich an.«

»Was sollten Sie tun?«

»Beobachten. Ich pappte mir ein schwarzes Bärtchen an, denn jene Magd war blond. Und ich kam als Vertreter einer Staubsaugerfirma, weil ich so eine halbe Stunde in der Wohnung zubringen konnte. Während der Apparat wie ein wahnsinnig gewordenes Krokodil heulte, warf ich der Maid verliebte Blicke zu. Sie ging aber nicht darauf ein, hehe. Und dann besah ich heimlich ihr Zimmer und fand einen Rasierapparat mit allen Schikanen.«

»Von einem Freund?«

»Das war auch mein erster Gedanke. Aber mein zweiter war: es ist gar kein Mädchen. Ihr Gang war ein bißchen sehr derb, und ihr Kopfhaar schien mir gerade so echt wie mein Bart. »Gnädige Frau,« sagte ich, »Ihr Mädchen ist ein verkleideter Mann!« Die Alte starrte mich einen Augenblick an, wurde käsebleich und, bums, fiel sie um.«

»Das haben Sie sehr diskret gemacht, Herr Kiewening.«

»Man tut, was man kann. Das Beste kommt aber: das Mädchen war ein schwerer Junge, der an etlichen Rauben beteiligt war. Das war ein großer Tag für den Okulus.«

»Und die alte Dame?«

»Sie lag ein paar Wochen im Krankenhaus. Nervenknacks, wissen Sie. Aber die Hauptsache war ja, daß mein Institut das Rennen machte.«

»Natürlich, das war die Hauptsache. Prost!« Diesen Schwätzer hatte er überschätzen können? Alle Wolken waren weggeblasen. Die Welt und das Leben war eine patente Erfindung. Es war lächerlich, unruhig zu sein, bloß, weil man Geld in der Tasche trug, das einem vom Himmel gefallen war.

»War hier in der Nähe nicht vorhin eine Schlägerei?« fragte er plötzlich, fast ohne sich der Frage bewußt zu werden.

»Hier? Nicht daß ich wüßte.«

»Und draußen im Mauergang?« Grotteck prüfte ihn aufmerksam. »Es soll sogar ein Schuß gefallen sein.«

»Kommt hier öfter vor. Geht mich aber nichts an. Es wird wohl auch nur eins der vielen Märchen sein, mit denen man unsereinen belästigt. Oder haben Sie es mit angesehen?«

Grotteck konnte nur mit einem Kopfschütteln antworten. Er hatte sich wohl doch zu weit vorgewagt.

»Na, sehen Sie wohl.«

Die Musik begann mit dem Versuch eines Jazzbands. Man konnte hier alles. Nächstens werden sie hier Bruckner spielen, dachte Grotteck, indem wieder die alte Lustigkeit Oberhand gewann. War es nicht affenfidel, diesen Detektiv zu sehen, der ein paar Schritte von einem der kapitalsten Verbrechen saß und nicht daran glauben wollte? Er hätte gern gewußt, aus welcher Quelle die Geschichte von dem verkleideten Räuber stammte.

Eine ältere Frau, die einen Stoß von Missionsblättern auf dem Arm trug, zwängte sich durch die Gäste. Der Wirt, der solche Belästigung seiner Gäste nicht gern sah, mußte sie übersehen haben.

Kiewening setzte bei ihrem Anblick eine Amtsmiene auf. Er schnauzte sie an, als habe er sie bei einem Verbrechen ertappt. »Haben Sie eine Legitimation?«

Die Frau nickte. »Wollen Sie sie sehen?«

»Allerdings. Her mit der Flebbe!«

Sie kramte in ihrer Tasche, holte ein Kuvert hervor und entnahm ihm ein bestempeltes Papier, das der Detektiv mißtrauisch prüfte. Am Ende war er der einzige am Tisch, der ihr nichts abkaufte.

Grotteck lächelte. Wieviel kriminalistischer Scharfsinn war da wieder einmal am falschen Platz verschwendet worden!

Als der Geiger oben auf dem Podium eben zu einem Solo ansetzen wollte, sprang Grotteck auf und ging schnellen Schritts zu ihm, um das Unglück zu verhüten. Er nahm dem verdutzten Jüngling das Instrument aus der Hand, machte eine lächerlich tiefe Verbeugung vor den Zuhörern und sagte im Ton eines Jahrmarktausschreiers: »Aufgepaßt! Es folgt eine Einlage! Die berühmte Romanze des weltbekannten Svendsen, des Hofkomponisten Seiner Majestät des Königs von Finnland und Laaland!«

Als er geendet hatte, brach Beifallssturm los. »Dakapo!« schrien die Jünglinge, und ihre Damen warfen verstohlene Blicke auf den neuen Geiger. Die Blicke verrieten, daß er allerhand Chancen hatte.

Grotteck reichte die Geige zurück, tröstete ihren Besitzer mit einer Mark und ging lachend zu seinem Tisch zurück.

Kiewening trank einen Hochachtungsschluck. »Ich wußte gar nicht, daß Sie ausübender Künstler sind?«

»Bin ich. Aber augenblicklich stellungslos.«

»Na, Sie können es ja aushalten.«

»Immerhin bin ich erst am Anfang der ersten Million«, warf Grotteck übermütig hin. Und die Hände glitten, ohne daß er es wollte, an den Manteltaschen entlang.

Wieder sammelte die Klavierspielerin ein – das Publikum konnte den Kunstgenuß schon bezahlen –, aber diesmal ging sie an Grottecks Tisch vorüber. »Hoho«, machte er. »Was ist denn das?«.

»Sie haben ja schon für hundert Abende bezahlt«, erklärte Kiewening. »Sie Geburtstagskind.«

Aber die Antwort genügte nicht. Er mußte wissen, warum sie ihn geschnitten hatte. Es war ehrlich erworbenes Geld, was er ihr gegeben hatte, zum Kuckuck. Sie sollte ihm Rechenschaft ablegen, diese hochmütige Dame. Eigensinnig verbiß er sich in diesen Gedanken.

Leider bezahlte Kiewening in diesem Augenblick und verabschiedete sich mit freundlichem Lächeln. Grotteck sah ihn durch den Hauptausgang hinauswanken – er hatte dem Spanischen doch wohl mehr zugesprochen, als für seinen diskreten Beruf gut war.

Nun war es unnötig, den kompromittierenden Mantel abzulegen. Es machte sozusagen keinen Spaß mehr.

Endlich war auch das Konzert zu Ende. Die Lichter wurden abgeschwächt und Quevedo mahnte händereibend zum Aufbruch.

»Auf Wiedersehen, Herr Baron. War mir eine Ehre. Und gespielt haben Sie – – allerhand Hochachtung!« Seine schweißige Pratze drückte Grottecks Rechte.

Nun stand er auf der erhellten Straße, mitten unter laut redenden, animierten Menschen. Die kühle Regenluft umstrich seine Stirn, und er fühlte nun doch die Wirkung des Weins.

Er war unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Klar war nur, daß er den Mauergang vermeiden mußte, der voller Gefahren war. Hatten sich nicht vielleicht der Verfolgte und der Verfolger schon geeinigt, um ihn zu stellen? Er fühlte sieh jäh ernüchtert, als hätte man ihm einen Kübel kalten Wassers über den erhitzten Kopf gegossen.

Eine zierliche Gestalt strich an ihm vorbei, ging wieder zurück und blieb endlich vor ihm stehen. Er erkannte die Klavierspielerin.

»Kann ich Ihnen mit etwas dienen?« fragte er höflich, wie er eine Dame der Gesellschaft gefragt hätte.

Sie schien verlegen. »Ja,« sagte sie dann zögernd, »tun Sie so etwas nicht wieder. Ich meine das mit dem Spiel vorhin. Der Geiger ist ein armer Kerl und, wenn man sieht, daß er nichts taugt, wird er womöglich entlassen.«

»Ich werde es verhindern«, sagte er schnell.

»Danke. Ich wußte es.« Warum blieb sie eigentlich noch stehen? Worauf wartete sie noch? Plötzlich begriff er, daß sie auf ihn wartete.

Nach einem langen Blick in ihr hübsches, müdes Gesicht fragte er vorsichtig: »Darf ich Sie begleiten?«

Sie antwortete nicht gleich. Ihre Blicke schweiften die Straße empor, zum Warenhaus. Grotteck folgte ihrem Blick und glaubte zu seinem Erstaunen Kiewening dort stehen zu sehen.

Da antwortete sie schnell: »Ja, Sie dürfen.«

*

Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her. Natürlich war der Detektiv oben nicht zu sehen. Er hatte ja auch schon vor einer halben Stunde das Alcazar verlassen und lag schon in den Federn, von neuen Erfolgen des Okulus träumend. Es war nur eine Täuschung seiner erregten Nerven gewesen.

»Sie dürfen nicht schlecht von mir denken«, begann sie plötzlich. »Aber ich bin so allein.« Es klang demütig und schutzsuchend.

»Ich denke auch nicht schlecht von Ihnen. Ich bin viel zu eingebildet, um jemand gering zu achten, der meine Gesellschaft will. Ist das nicht klar, Fräulein?«

»Ich heiße Martha. Martha Rebmann. Nein, Sie brauchen sich mir nicht vorzustellen«, setzte sie eifrig hinzu, als er den Hut zog.

»Sie glauben natürlich, ich würde einen falschen Namen sagen, wie? Sie scheinen trübe Erfahrungen gemacht zu haben.«

»Ich habe gar keine Erfahrungen, und das ist es ja eben.«

»Also: Kurt Grotteck.«

»Baron?«

»Nein. Das bin ich nur von Quevedos Gnaden. Es ist ein Spitzname, den ich meiner, wie Sie zugeben müssen, tadellosen Haltung verdanke. Ich habe nicht einmal den einfachen Adel.«

Plötzlich fühlte er sich verfolgt und umstellt. Es war kein rechter Grund dafür anzugeben. Aber sein Instinkt war ja Grund genug – und dann diese jungen Leute, die hinter ihm lärmten und hartnäckig in seiner Kielspur zogen. Als er mit seiner Dame die Straße überquerte und sie im gleichen Tempo folgten, dachte er: das Spiel beginnt schon.

Aber gleichzeitig erwachte die Lust am Kampf, die Freude an der Spannung, am Zug um Zug –

Er ließ ein Auto halten, das fast die Bordschwelle streifte, fragte nach Marthas Adresse und rief sie laut dem Schofför zu: »Steinstraße 104«. Einen Augenblick später ruckte der Wagen an.

»Denken Sie, ich bin noch niemals Auto gefahren«, sagte sie.

»Ja, einmal muß man ja wohl anfangen.« Er blickte scharf durch das kleine Fenster der Rückwand. Ein Motorrad knatterte kurze Zeit hinter dem Wagen, bog dann links ab und verschwand in einer dunkeln Gasse. Sonst war kein Wagen auf der Straße.

Sie hatten also kein Auto aufgetrieben, und zu Fuß war keine Verfolgung zu fürchten. Oder waren es am Ende nur harmlose Leutchen gewesen, die ihn und seine Begleiterin ein bißchen anrempeln wollten? Die Stunde wäre ja recht verführerisch gewesen.

»Wir müssen aber schon am Steinplatz halten«, begann seine Begleiterin, die er fast vergessen hatte. »Ich kann doch nicht im Auto vorfahren. Was denken Dekeppers sonst von mir?«

»Dekeppers? Wer ist das?« Er war immer noch mit der Beobachtung der Straße beschäftigt und es war ihm sehr gleichgültig, wer Dekeppers waren, aber er mußte doch auch ein wenig zur Unterhaltung beitragen.

»Meine Wirtsleute. Er war Bankbeamter, ist abgebaut und macht Schreibarbeiten irgendwo, im Arbeitsamt, glaube ich. Wonach sehen Sie eigentlich immerfort aus?«

»Es ist so eine Gewohnheit von mir. Ich genieße auf diese Weise die Fahrt vor- und rückwärts.«

Es kamen neue Gassen, ein öffentlicher Platz, eine Bahnunterführung. Martha Rebmann blickte verwundert auf ihren nervösen und schweigsamen Kavalier. Plötzlich stachen bunte Lichter in das Dunkel: »Café Ost.«

Ohne seine Dame zu fragen, ließ Grotteck den Wagen halten. Er sprang heraus und stellte befriedigt fest, daß weder Wagen noch Menschen in der Nähe waren.

Martha Rebmann folgte ihm zögernd in das Café. »Es ist schon spät«, sagte sie mit einem Blick auf die Armbanduhr. Aber es schien ihm nicht der einzige Grund zu sein. Vielleicht kannte sie hier Gäste, denen sie sich nicht gern an der Seite eines neuen Kavaliers zeigte. Das ging ihn nichts an. Du bist nur dazu da, meine Spur zu verwischen, teure Martha, und nur solange bleiben wir hier.

»Wir müssen doch erproben, ob wir uns auch außerhalb Alcazars vertragen«, meinte er lächelnd, und er spielte eine Weile den Liebenswürdigen. Mit Erfolg, wie er merkte.

Das Café war schwach gefüllt. In den Nischen drückten sich zerknitterte Paare aneinander. Die Langeweile verzweifelten Vergnügens brannte allen ihren Stempel auf. Man mußte mit den Wölfen heulen.

Grotteck ahmte Quevedo nach, seine treuherzige Halunkenmiene, die Beweglichkeit des quabbligen Körpers, das Falsett der Stimme.

Sie lachte Tränen. »Sie hätten Schauspieler werden sollen.«

»Ja, ich habe hundert Talente. Aber keins scheint auszureichen, um meinen Zeitgenossen zu genügen.«

»Wenn Sie nur das Talent zum Geld haben …«

»Hab' ich«, sagte er übermütig, und er ahmte ein Weilchen den Geiger aus dem Alcazar nach und dann den alten Komiker dort. »Aus welchem Mülleimer der Menschheit ist er wohl gezogen?«

Sie sah verletzt drein, und er wurde ernst: »Fühlen Sie sich wohl dort? Sie sind doch so ganz anders.«

»Ich bin erst kurze Zeit dort«, sagte sie, abgewandten Kopfes, wie beschämt.

Er tröstete sofort: »Es ist ja sehr interessant dort. Eine bunte Gesellschaft. Ich glaube, man könnte dort allerlei erleben. Nein, ich begreife, daß Sie sich dort eine Weile wohl fühlen. Quevedo ist ja kein Menschenfresser, und schlimmstenfalls wäre ich ja auch da.«

»Sie kommen selten.«

»Wissen Sie das auch schon? Aber ich könnte mir Leute denken, die mir verübeln, daß ich dorthin komme.«

»Ihre Familie?«

»Nein. Die ist weit von hier, und dann bin ich ja auch so ziemlich erwachsen.«

Sie gab sich einen Ruck. »Offen gestanden, ich wunderte mich heute auch, Sie dort zu sehen.«

»Ich war auf der Flucht …«, begann Grotteck, die Wollust des gefährlichen Spiels auskostend.

»Auf der Flucht? Wovor?«

»Vor mir selber«, vollendete er lachend. »Wie sagte doch der Weise? ›Ich habe noch keinen Menschen glücklich gesehen, es sei denn, er wäre trunken gewesen‹.«

»Das ist eine böse Weisheit.«

»Ja, Wahrheiten werden selten kandiert überreicht. Uebrigens hat er die Kunst und die Arbeit der Hände vergessen. Ich glaube, man kann hier das Glück finden, das keinen Nachgeschmack hat. Na, wir sind schön ins Philosophieren hineingeraten. Heda!«

Ein hochaufgeschossener Junge in einem roten Affenkostüm brachte den Korb mit Blumen heran. Es waren arme, gequälte, verstaubte Nelken. Grotteck mußte lange suchen, ehe er ein paar halbwegs frische fand und sie seiner Dame überreichen konnte. »Ich darf doch?« fragte er mit seinem ritterlichsten Lächeln.

Sie errötete tief, wie erschrocken. »Sie behandeln mich wie eine Dame, und Sie wissen doch gar nicht, wer ich bin.«

Der Kellner kam, von Grotteck herbeigewinkt. Er warf einen flüchtigen Blick auf die beiden, und es schien Grotteck, als sei dieser Blick mit Hohn durchsetzt. Vielleicht kannte er sie von früheren Besuchen mit anderen Kavalieren. Aergerlich warf er das Geld hin.

Er mußte hier fort. Was hatte er neben diesem unbekannten Mädchen zu suchen, mit dem ihn eine flüchtige Laune zusammengeworfen oder der Wunsch, die nächste Stunde nicht allein zu bleiben? Wer war sie denn? Er wußte nur, daß sie eine Klavierspielerin in einem Tingeltangel war, mäßig hübsch, die der ersten Einladung gefolgt war. Sie würde auch Kiewenings Einladung gefolgt sein, wenn er sich die Mühe gemacht hätte. Wie kam er eigentlich auf Kiewening?

Ihre angespannte Miene, mit der sie ihn beobachtet hatte, wurde weich. Ein zärtlicher Zug kam in ihr blasses Gesicht und machte es bildhübsch. »Sie sind ein guter Mensch.«

»Es ist leicht, gut zu sein, wenn es einem so gut geht wie mir jetzt – ich meine natürlich, in Ihrer Gegenwart.«

Sie warteten eine Weile draußen auf einen Wagen. Aber die waren selten in dieser ziemlich abgelegenen Gegend.

»Wollen wir nicht gehen?« fragte sie schüchtern. »Es ist nicht mehr weit bis zur Steinstraße.«

Er antwortete nur mit einem ungeduldigen Kopfschütteln. Sie mußte allein nach Hause; er hatte ihre Adresse ja deutlich genug gesagt, und es war nicht ausgeschlossen, daß die Verfolger dort warteten.

Endlich kam ein Auto. Er half ihr hinein und sagte, mit einem verwunderten Blick auf die Uhr: »Zum Teufel, das habe ich ja ganz vergessen. Ich muß noch ein überaus wichtiges Telegramm aufgeben. Nach Jokohama.«

»Jokohama?« wiederholte sie unsicher. »Das liegt in Japan?«

»Getroffen. Es ist eine geschäftliche Angelegenheit, müssen Sie wissen, die keinen Aufschub erduldet. Ja, da ist es mir leider unmöglich, Sie zu begleiten. Auf Wiedersehen also!«

Ehe sie noch antworten konnte, warf er die Tür zu, gab dem Schofför einen Geldschein und bog um die Ecke. So sah er nicht, daß Martha Rebmann das Taschentuch an die Augen drückte und den Kopf mit trauriger Gebärde in die Wagenkissen lehnte.

Im Schein einer Bogenlampe leuchtete für einen Augenblick ein blonder Kopf auf, der ihn irgendwie an Inge Brodersen erinnerte. Von da an lief er durch die Straßen, als müßte er den Abstand zwischen sich und diesem Mädchen im Auto verringern.

Die Gegend war ihm unbekannt. Er durchkreuzte hastig fremde Straßen und war froh, als eine verspätete Trambahn heranklingelte.

Ich hätte Martha nicht noch ins Auto setzen sollen, dachte er, während er die verschlafenen Passagiere musterte. Ich darf nicht wie ein Grandseigneur auftreten, so gut es mir auch stehen mag. Wahrscheinlich habe ich alles verkehrt gemacht –

Wieder glitten seine Hände über die gefüllten Manteltaschen. Daß es ihr gar nicht aufgefallen war, daß er auch in dem Nachtcafé den Mantel anbehalten hatte!

Eine junge Frau, die einen Koffer und ein mit Bindfaden umschnürtes Paket hütete, fragte ängstlich, wann man am Bahnhof wäre.

»Sie müssen bis zum Olgaplatz fahren, nächste Haltestelle, und dann sind es noch zwölf Minuten.«

Als sie ausstieg, hob Grotteck, einer plötzlichen Eingebung folgend, den schweren Koffer auf und ging mit ihr hinaus. »Wir haben denselben Weg, und Sie können sich mir schon anvertrauen.«

Zitternd vor Dankbarkeit, lief sie neben dem schnell Ausschreitenden einher. »Ich komme kaum mit.«

»Keine Angst. Ich reiße nicht aus. Koffer klaue ich nicht ich gebe mich nur mit großen Sachen ab.«

Hatte er sich nicht wieder verplappert? Aber die kleine Frau lief glücklich und schnaufend neben ihm her.

Am Bahnhof verflog seine gute Laune vollends. Hier würde man ihn zuerst suchen. Wie hatte er nur zum Bahnhof gehen können! Hier standen die Verfolger schon längst, sicher postiert. Jeder Dienstmann dort sah, zum Exempel, verdächtig aus. Er hätte ihm gern an dem buschigen Schnauzbart gezerrt, ob der nicht aufgepappt war.

»Haben Sie wenigstens eine Fahrkarte?« fuhr er die Frau ungeduldig an.

»Natürlich. Aber du lieber Gott, wo steckt sie nur?«

Sie fingerte in ihrem Handtäschchen herum. Ein Taschentuch flog heraus, ein viel gestopfter Zwirnhandschuh, ein Kämmchen – endlich zog sie das graue Billett triumphierend hervor.

»Vierter Klasse? Na, schön. Wie lange fahren Sie denn?«

»Nur dreizehn Stunden. Mein Mann und meine Kinder erwarten mich auf dem Bahnhof. Ach Gott, ich glaube, sie werden die ganze Nacht nicht schlafen, die guten, kleinen Mäuse.«

Grotteck trug den Koffer getreulich bis zur Bahnschranke, und er nahm das Geldstück, das sie ihm verlegen reichte, nach kurzem Zögern an. Wenn seine Verfolger das ansahen, haha, würden sie keinen Blick mehr auf ihn verschwenden. »Handgeld!« sagte er lachend, über die Münze leicht hinspuckend. »Ja, es sind schlechte Zeiten.«

Als er durch das große Portal auf den taghellen Bahnhofplatz trat, hatte er schon die Frau vergessen, die »nur« dreizehn Stunden durch die Nacht fuhr.

Schnellen Schritts durcheilte er die Straßen seiner Wohnung zu. Die zunehmende Dunkelheit machte ihn wieder unsicher. Warum war er eigentlich nicht einfach in einem andern Auto nach Hause gefahren, womöglich mit mehrmaligem Wechsel?

Als er die Haustür verschlossen hatte und das Licht im Treppenflur angezündet hatte, wurde er wieder ruhiger. Langsam ging er die knarrenden Stufen empor bis zum dritten Stock, wo seine Visitenkarte mit mehreren andern unter einem Messingschild schimmerte, das die Aufschrift »Pension Zedlitz« trug.

Aus dem Zimmer zur Rechten drang Räuspern und Krächzen. Da versuchte die brustkranke Lehrerin zu schlafen.

Das Licht in seinem Zimmer flammte auf und spiegelte sich in der polierten Fläche des Flügels, der ein Drittel des Raums einnahm. Er schloß die Tür ab, versperrte sie und untersuchte Schrank und Vorhang auf nächtigen, unwillkommenen Besuch. Er sah sogar unter das Bett und dachte ärgerlich: Ich geniere mich nicht mal dabei …

Endlich wagte er es, die Taschen zu leeren. Bündel auf Bündel flog auf den Tisch. Waren es so viele gewesen?

Mit bebenden Händen versuchte er zu zählen. Aber er gab es bald auf. Die fremden Namen, die Zahlen verwirrten ihn. Es waren Banknoten aus allen möglichen und unmöglichen Ländern. Französische, tschechische, polnische, schweizerische, deutsche, englische, belgische und andre, die er nicht entziffern konnte. Er war ein wirres, ungeordnetes Durcheinander, wie von eiliger Hand im Dunkeln zusammengescharrt.

Schwer atmend, überwältigt, stand Grotteck mitten im Zimmer. Es war eine sinnlose, betäubende Summe.

*

Er erwachte, im Anzug quer über dem Bett liegend.

Die Sonne stach ihm ins Gesicht. Er empfand einen bohrenden Schmerz in den Schläfen, und hinter der Stirn hämmerte es.

Verwirrt überblickte er das bescheidene Zimmer, die verstaubten Notenstöße und die Bücher in dem kleinen Regal, die erbärmliche Tapete in ihren Stockflecken. Was hatte er doch geträumt? Dunkle Männer hatten ihm Geld aufgedrängt – viel Geld – ein Vermögen – und er hatte deswegen Furcht ausgestanden –. Ein Traum, lächerlich und unsinnig.

Schlaftrunken richtete er sich auf. Dabei glitt seine Hand über Kopfkissen und Oberbett, in denen es von Papieren raschelte.

Und plötzlich schlug es elektrisch durch sein Hirn: ihn hatte kein Wunschtraum genarrt. Die Psychoanalyse würde durch diese Nacht um kein Beweismaterial reicher werden.

Es war waches Erlebnis gewesen. Das Geld war ihm in die Hände gedrückt worden, und dort lag es versteckt. Versteckt?

Jedes Kind würde es auf den ersten Blick finden.

Nun klopfte es. Leise, aber deutlich genug. Wem gehörte dieser Knöchel, der ihn aus dem Schlaf ins wache Leben geschreckt hatte?

Zitternd saß er auf dem Bettrand. Dann kam ihm der Einfall, zu schnarchen und so den Menschen draußen zu täuschen. Aber er bekam keinen Ton aus der Kehle, die trocken wie Filz war.

Vorsichtig hob er die Wasserkaraffe an den Mund und trank in tiefen, durstigen Zügen. Nie hätte er gedacht, daß Wasser so gut schmecken könnte. Leider klirrte die Karaffe vernehmlich auf dem neusilbernen Tablett auf.

Und wie auf ein erwartetes Signal stellte sich nun wieder das Klopfen ein.

Die Spannung wurde unerträglich, und es war ja nun auch keine Möglichkeit mehr, noch Schlaf vorzutäuschen. »Wer ist da?«

War das seine Stimme? Klang sie so heiser und krächzend?

Eine weibliche Stimme antwortete: »Ich bin es, Herr Grotteck. Das Frühstück wird kalt, und ich muß auf den Markt.«

Er erhob sich aufatmend und ging zur Tür. Als er öffnen wollte, überfiel ihn ein neuer Verdacht wie ein hämischer Feind.

»Sind Sie allein … allein, Frau Zedlitz?«

Ein unterdrücktes Lachen flatterte herüber. »Aber gewiß doch. Ich stelle Ihnen das Frühstück vor die Tür, und ein Brief ist auch gekommen.«

Schritte entfernten sich. Mit großer Kraftanstrengung bekam er es endlich fertig, den Schlüssel herumzudrehen und zu öffnen. Draußen stand nur ein Stuhl und darauf das »japanische« Frühstücksgeschirr.

Ein Blick auf die Uhr lehrte ihn, daß es zehn war.

Er entsann sich dunkel, daß er hatte wachbleiben wollen und daß er sich nur für einen Blick auf das Bett gesetzt hatte. Also war er doch umgesunken und in diesen bleiernen Schlaf verfallen, in seinen Kinderschlaf, wo man ihn in eine Kanone laden und abschießen konnte, ohne daß es ihn geweckt hätte? Und er hatte alle Morgengeräusche des erwachenden Hauses überhört und auch das Gurgeln und Gehüstel der armen Lehrerin, die in ihre Zwangsarbeit ging.

Ueber dem Waschtisch hing ein Paradehandtuch, auf dem matrosenblaue Buchstaben mahnten: »Ein' gut Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.«

Er lachte auf, aber er verstummte rasch. Ein gut' Gewissen? Schon glitten seine Blicke zum Bett hinüber, wo sich die Banknotenbündel deutlich genug unter dem Leinen abhoben. Ein gut' Gewissen?

Natürlich hatte er es. Er würde ja alles zurückgeben. Wer dachte denn daran, es zu behalten? Aber erst mußte man doch wissen, wem der Schatz gehörte, oder vielmehr, wer der rechtliche Besitzer war. Der es ihm so eilig in die Hände drückte und unter so dramatischen Umständen verschwand, war es sicherlich nicht. Und der andre? Warum hatte er dann nicht die Polizei oder das Publikum zu Hilfe gerufen, das doch in erreichbarer Nähe war?

Die Morgenblätter würden Aufklärung bringen. Der immerhin nicht alltägliche Vorfall in dem Mauergang mußte in der Notiz eines zeilenhungrigen Reporters schon einen Niederschlag gefunden haben. Vielleicht hatte Fährmann darüber berichtet. Oder der Besitzer hatte durch das Telephon die Nachtredaktionen unterrichtet und das Inserat aufgegeben, das mit »Hohe Belohnung« begann.

Während er den lauen Kaffee schlürfte und die Brötchen strich, sah er immerfort nach den Bündeln drüben. Sie lockten und warnten zugleich. Er fand nicht die Energie, sich zu überzeugen, ob der Schatz sich nicht – wie im Märchen – verflüchtigt und verwandelt hatte.

Der Brief war von Inge Brodersen. Nur knappe Zeilen in einer steilen, klaren, beherrschten Schrift: »Wir sind in Sorge um Sie. Es ist doch wirklich nichts geschehen? Lassen Sie sich bei uns sehen. Oder haben Sie uns vergessen? Am Freitag finden Sie uns immer zu Hause.«

Darunter ihr Name, den er küßte, wieder und wieder. Nein, ich habe dich nicht vergessen. Wie könnte ich das wohl?

Kurt Grotteck empfand plötzlich den Sonnenschein, der das Zimmer durchflutete, und das Scheckern einer Amsel draußen im Vorgarten: der Frühling war im Land!

Er sprang auf, rannte ans Fenster, riß es auf und sog die quellkühle Luft in tiefen Zügen ein. Dann lief er ebenso schnell zurück, um die Tür aufzumachen. »Guten Morgen, Frau Zedlitz!«

Sie stand, zum Ausgehen bereit, im Flur und sah ihren fröhlichen Mieter verdutzt an.

»Frau Zedlitz, ich wollte Ihnen bloß sagen, daß ich Sie am liebsten auf der Stelle abküssen möchte.«

»Ach, du liebes Herrgöttle von Biberach, mich alte Urschel? Da finden Sie schon Jüngere.« Sie quiekte vor Lachen.

Er wollte ihr eine faustdicke Artigkeit sagen, als es klingelte. An der Milchglasscheibe der Korridortür zeichnete sich deutlich eine Männergestalt ab.

Als Frau Zedlitz auf die Klinke drückte, wollte er dazwischenfahren. Aber seine Füße waren wie angenagelt. Waren sie schon da?

In der offenen Tür stand Fährmann, schmunzelnd und selbstzufrieden wie immer. »Guten Abend – Verzeihung, edle Frauwe: guten Morgen! Ah! da ist auch schon unser Baron.« Er schritt in seinem eigentümlichen Wiegegang, der immer an Schiffsfahrten erinnerte, auf Grotteck zu. »Schon angezogen? Oder solltest du noch nicht ausgezogen sein?«

»Wo kommst du denn eigentlich her?« fragte Grotteck unfreundlich. Er blieb, den Eingang versperrend in der Zimmertür stehen.

»Ich habe die Pension nicht gefunden und im Garten genächtigt Ein Schupo hat mich aus einem wirklich allerliebsten Traum geweckt und mich kraft meiner Ausweiskarte laufen lassen. Es müßte verboten sein, alle Häuser gleichzubauen. Wie soll man da das richtige im Dunkeln finden?«

Es geschah sechsmal in der Woche, daß Fährmann nachts nicht nach Hause fand.

Die Wirtin ging lachend. Die Flurtür fiel hinter ihr zu. Grotteck stand noch immer an dem alten Platz.

»Na, willst du mich nicht reinlassen?«

Grotteck trat langsam zurück. »Sieh mal an!« meinte Fährmann nach kurzer Prüfung. »Du hast mir nicht viel vorzuwerfen. Gewaschen bist du auch noch nicht. Die Schüssel ist leer und die Kanne noch gefüllt.«

»Du bist wohl unter die Detektive gegangen, wie?« fragte Grotteck mürrisch, und er ärgerte sich im gleichen Augenblick über diese Wendung.

Fährmann nahm gemütlich am Tisch Platz, füllte den Kaffee in die Tasse des Freundes und stippte das letzte Brötchen ein. »Hast du vielleicht noch ein paar Sardinen da? Es ist das gesündeste Morgengericht, wie mir ein Medizinmann verraten hat, der eine Leuchte der Wissenschaft war.«

Grotteck sah ein, daß er sich in das Unvermeidliche fügen mußte. Er nahm seinen Mantel, der noch vom vorigen Abend über einem Stuhl hing, und warf ihn auf das Bett, scheu zu dem unbequemen Besucher schauend. »Gern. Was gibt's Neues in der Stadt? Du hast doch schon das Morgenblatt da?«

»Hier, mein Sohn. Aber von deinem Auftreten im Rundfunk steht noch nichts drinnen, so unwahrscheinlich es klingt.«

Grotteck riß ihm die Zeitung aus der Hand. »Und sonst nichts?«

»Polen stänkert, und Frankreich krakeelt. In Tirol müssen die Hunde neuerdings italienisch bellen. Die Räteleute haben die glänzende Idee, mittels einer Anleihe den Kapitalismus zu töten. Das wäre so ziemlich das Wichtigste.«

»Und hier? Ist hier denn nichts passiert? Du bist doch sonst die lebendige Zeitung.«

»Danke. Aber man ist Reporter, oder man ist es nicht – und ich bin es.« Dieser bequeme, schwammige Bursche war der fixeste Berichterstatter der Stadt. »Neues? Lieber Gott, was passiert hier schon Neues? Ein Planetarium ist angekauft, da der Himmel vor Rauchwolken doch nicht mehr zu sehen ist. Die Sparkassengläubiger hielten eine Versammlung ab, ohne andern Erfolg, daß die Hundesteuer erhöht wird. Resultat: Protestversammlung sämtlicher Köter und Mißtrauensvotum am Eckstein des Finanzministeriums. Ja, und Baron Grotteck auf einem Bummel mit der kleinen Klavieristin vom Alcazar.«

»Das weißt du also doch schon?«

»Nimm dich in acht, o Jüngling! Das ist eine gefährliche Schönheit.«

»Mir wird sie nicht gefährlich«, unterbrach ihn Grotteck mürrisch, in der Zeitung blätternd. »Ist nichts Interessanteres passiert? Bankeinbruch? Raub? Verfolgung? Schüsse in der Nacht?«

»Du hättest Reporter in Indianapolis werden sollen. Du hast deinen Beruf verfehlt. Aber Phantasie allein macht es nicht. Die Nase muß man haben. Die Nase. Ich habe sie.«

Ja, dachte Grotteck höhnisch –, aber diesmal hat die Nase versagt!

Fährmann erhob sich kauend. »Ich werde mal in der Küche nachsehen, ob Mutter Zedlitz nicht etwas Kaffee reserviert hat.«

Grotteck riet eifrig zu. »Auf dem Herd ist sicher noch was. Du kannst ihn ja dort gleich aufwärmen.«

Er atmete tief auf, als Fährmann draußen war. Das Geld mußte versteckt werden. Aber wo? Als einziger Platz blieb die Kommode. Vielleicht unter der Wäsche in der untersten Schublade.

Eilig öffnete er sie. Ja, hier war eine Möglichkeit. Vorläufig wenigstens. Das Rasseln von Kochtöpfen in der Küche zeigte an, daß der Besucher beschäftigt war.

Er verschloß die Stubentür, riß die Banknotenbündel aus dem Bett und stopfte sie in eine Ecke der Schublade – Wäsche darauf, so war es gut.

Als er die Lade zurückgeschoben hatte, blieb er einen Augenblick in der hockenden Stellung. Warum tat er das? Warum besprach er sich nicht mit Fährmann? Hatte das Geld schon Macht über ihn und seine Bedenken gewonnen? Bestimmte es schon seinen Willen?

Unsinn, er hatte sich völlig in der Gewalt. Aber Fährmann wäre der letzte gewesen, mit dem man über solche Dinge sprach: in der nächsten Kneipe hätte er alles weitererzählt.

Das Rütteln an der verschlossenen Tür schnitt die Gedankenreihe ab. Während er öffnete, empfand er erleichtert: ich will wenigstens einige Stunden auskosten, wie einem reichen Mann zumute ist – nur einige Stunden.

In der Zeitung stand nichts. Auch die Anzeigen brachten keine Lösung. Ein Tag stand vor ihm, wo er im Besitz des Reichtums war. Er rechnete nach, daß in der späten Stunde keine Benachrichtigung der Presse möglich gewesen war. Man mußte auch die Verwirrung und Aufregung und Unsicherheit eines Angestellten bedenken. Der Mauergang begann bei der Städtischen Sparkasse. Sollte das Geld von da stammen? Nun, die Abendblätter würden Aufklärung bringen.

»Sag mal: Lernst du eigentlich den Anzeigenteil auswendig?«

Grotteck ging achselzuckend zum Waschtisch und wusch sich flüchtig. Ich werde es in einer Badeanstalt nachholen, dachte er, wenn dieser lästige Mensch fort ist.

Sorgsam wischte Fährmann indessen die Sardinenbüchse mit einem Brotrest aus.

»Du ißt wie ein Schwein«, sagte Grotteck überzeugt

Der andere lachte gemütlich. »Ich bin kein Baron, brauche mich also auch nicht gut zu benehmen. Außerdem hat das Oel das meiste Geld gekostet. Hast du übrigens Mammon?« setzte er unvermittelt hinzu.

Grotteck betrachtete sein bleiches Gesicht mit den umrahmten Augen in dem halbblinden Spiegel. »Keinen Pfennig«, beteuerte er.

»Nimm Vorschuß,« riet Fährmann, »dein Spiel gestern hat mächtig gefallen. Ich verstehe ja nicht viel davon, aber ich schließe mich der Majorität an. Weißt du übrigens, was die Ida morgen vorhat?«

Während Fährmann Rundfunkanekdoten erzählte, bemerkte Grotteck erschreckt, daß aus der untersten Kommodenschublade ein Stück Zeitungspapier hervorlugte. Es war nur ein kleines Stück, das auf dem schmutzigen Anstrich des Möbels kaum auffiel. Aber ihm schien es das Auffälligste im ganzen Zimmer zu sein. Das Papier konnte nur zu den versteckten Notenbündeln gehören.

»Erzählte ich dir schon, daß ich gestern im Abendprogramm angesagt habe? Man ließ mich einen Augenblick ohne Aufsicht, da geschah das Unglück: »Verehrte Unsichtbare,« sagte ich, »teure Zweimarkgemeinde, geliebte Schwestern und Brüder in Bredow –« Da schmiß man mich raus.«

Grotteck hatte sich vorsichtig auf ein Knie niedergelassen. Er öffnete die Lade so leise wie möglich und stopfte das Papier zurück. Aber es war widerspenstig, wellte sich und richtete sich auf. Wütend steckte er es in die Tasche, die Lade zuknallend.

Fährmann betrachtete belustigt das seltsame Gebaren seines Freundes »Hast du da einen Strumpf mit Geld verstaut?«

»Du scheinst mich nur des Geldes wegen besucht zu haben«, entgegnete Grotteck schroff.

»Stimmt Gerade dir hatte ich die Ehre zugedacht, dem fähigsten Journalisten der Stadt unter die Arme zu greifen.«

»Denke: ich bin gar nicht ein bißchen stolz auf diese Ehre.« Ein zorniger Blick flog zu Fährmann hinüber. Hundert lustige Stunden verdankte er ihm; aber heute wünschte er ihn zu allen Teufeln.

Der andre schien seine Gedanken zu erraten. »Du möchtest mich wohl gern rausgraulen, he?« fragte er grinsend.

»Bewahre. Ich möchte dich etwas fragen. Was tätest du, wenn du plötzlich reich würdest?«

»Si j'etais roi? Hochgehen würde ich, natürlich. Ueber allem Menschlichen, allzu Menschlichen schweben. Geld macht nämlich leicht.«

»Das glaube ich nicht«, meinte Grotteck grüblerisch. »Zieht Geld nicht hinab? Ist es nicht Ballast?«

»Nun, die Philosophie des Geldes hat ja schon ein andrer geschrieben. Was mir viel mehr Kopfzerbrechen verursacht, ist die Frage: Welche Möglichkeiten hätte ich wohl, plötzlich reich zu werden?«

»Es könnte ein Zufall sein, den du jetzt nicht voraussehen kannst.«

»Ja. Entscheidend für den Menschen ist nicht das, was in seinem Zentrum liegt, sondern die Dinge an der Peripherie.«

»Das stammt nicht von dir, Fährmann.«

»Aber es ist trotzdem richtig. Notabene könnte es einem ja gehen wie dem Berliner Schofför, der in seinem Wagen 50 000 Mark fand. Ich werde jetzt eifriger Autos benutzen.«

»Soviel ich weiß, wurde er verhaftet?«

»Weil er sich eselhaft benahm. Er hätte übrigens auch mit dem Finderlohn zufrieden sein können.«

»Da müßte man aber wissen, wem das Geld gehört.«

Fährmann lachte dröhnend. »Das pflegt der Verlierer ja gewöhnlich anzugeben.«

»Das ist der springende Punkt«, warf Grotteck ein.

Nein, er wurde den Besuch nicht los. Er saß wie angegossen da, und es machte ihm womöglich noch Spaß, die Ungeduld Grottecks auf eine gediegene Probe zu stellen. Ich muß das Bett noch einmal untersuchen – empfand er erschrocken –, ich habe das Geld viel zu eilig herausgenommen. Vielleicht hat sich ein Geldschein aus den losen Bündeln gelockert und ist drinnen geblieben und wird zum Verräter.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, unterbrach er den schwatzenden Gast. »Ich lade dich zu einem solennen Katerfrühstück ein. Aber nur unter der Bedingung, daß du dich wäschst. Ich muß auch noch eine Karte schreiben.«

»Das hättest du auch gleich sagen können«, meinte Fährmann vorwurfsvoll, aber endlich ging er, vergnügt den neuesten Schlager vor sich hin pfeifend.

Grotteck wartete ab, bis er die Tür drüben zuschlagen hörte. Dann durchstöberte er das Bett, alles betastend und durchforschend. Es war nichts zurückgeblieben.

Neugierig nahm er das Papier vor, das er vorhin zu sich gesteckt hatte. Es war bedruckt, aus einer russischen Zeitung sauber viereckig ausgeschnitten. Der Räuber mußte es in der Eile mitsamt den Geldscheinen mitgenommen haben. Denn einen Wert hatte es wohl kaum. Hatte es einen Zusammenhang mit dem Geld?

Er verstand kein Russisch, obwohl Grotthausen nicht weit von der einstigen russischen Grenze lag. Offenbar war das Papier aus einem Zeitungsartikel mitten herausgeschnitten, da keine Ueberschrift da war, ein kurzer Absatz, dessen Inhalt irgendwen interessiert hatte. Ein Wort war sauber mit Rotstift unterstrichen: »Slowo« entzifferte er. Aber damit war nicht viel anzufangen.

Unruhig betrachtete er den Fund. Als er die Rückseite, die offenbar Reklamenotizen enthielt, prüfte, entdeckte er halbverwischte Spuren von einem Stempelabdruck. Er hielt das Blatt gegen den Spiegel und las. »Broder –.« Hier hatte die Schere Rand und damit die Fortsetzung des Wortes abgeschnitten.

Sollte der Zettel auf einem frisch gestempelten »Brodersen« gelegen haben? Oder war es nur ein Zufall? Gedankenvoll verwahrte er das Papier in der Brieftasche.

*

Brodersen wohnte in einer der Höhenstraßen der Stadt, da, wo sich noch vergessene Wein- und Obstgärten gegen die andringenden Steinmassen wehrten. Das große gelbe Haus saß auf einer Bergnase, weit vorgeschoben, die Stadt unten beherrschend. Brodersen erklärte jedem Besucher, daß er es nur wegen der romantischen Aussicht gekauft habe.

Uebrigens war er viel in der Welt umhergeschweift und hatte wohl Schöneres, Farbigeres, Romantischeres gesehen als diesen süddeutschen Winkel. Dieser geborene Däne hatte sein Geld in allen Zonen erworben. In Java, in Rußland, auf den Molukken, in der Türkei, in Australien, wer weiß noch, wo – er hatte längst keine Nationalität mehr und sprach in allen Sprachen, nur nicht in seiner Muttersprache. Jedenfalls war er an keine Stelle der Erde gebunden.

In der klatscheifrigen Stadt liefen allerlei abenteuerliche Gerüchte über den Ursprung seines Reichtums um. Keiner wagte zu bestreiten, daß Brodersens brutale Fäuste blutige Revolutionen emporgerüttelt hatten, daß er aus bedenklichen Häusern in Schanghai Profite zog, daß ihm aus Blut, Schmach und Niedertracht Gold und immer wieder Gold geflossen war. Aber keiner hätte gewagt, in seiner Gegenwart auch nur die leiseste Andeutung zu machen.

Wenn nicht der düstere Mann, den sie heimlich den Gorilla nannten, in seiner immer sprungbereiten Kraft daran gehindert hätte, dann wäre es Inge gewesen, die schöne, kühle Inge, mit ihrem altmodisch vollen Haarknoten und den tiefen Augen, die auch den Verwegensten entwaffneten. Inge Brodersen war der Magnet, der die männliche Jugend zu dem gelben Haus in der Rückertstraße hinaufzog und sie bändigte.

Als Kurt Grotteck an diesem Freitag den Vorgarten durchschritt, scholl ihm schon Stimmengewirr entgegen. In der Halle kam Blinsky auf ihn zu, Brodersens Privatsekretär.

»Sie kommen spät, Herr Baron.«

Grotteck berührte vorsichtig die schlaffe, immer etwas feuchte Hand des Russen. »Den Baron müssen Sie sich schon abgewöhnen! Dazu habe ich es bis jetzt nicht gebracht, na, und nun sind die Aussichten ja herzlich schlecht.«

Blinsky lächelte sein kühles, dürftiges Lächeln. »In Deutschland hat ja jeder Mensch einen Titel. Es ist, als ob der Name nicht angefaßt werden dürfte.«

»Immerhin ist es vielseitiger als in Ihrer Heimat.«

Blinsky nickte. »Da genügt das Wort ›Genosse‹.«

»Na, jedenfalls erlaube ich die Abnützung meines Namens – Genosse Blinsky!«

Ein böses Lächeln zuckte über die Züge des Russen. Er sagte mit einer übertriebenen Gebärde der Devotion: »Sie haben ja solche Titel auch nicht nötig. Sie sind ein musikalisches Genie. Das adelt in allen Ländern.«

Grotteck empfand jedes Wort wie eine Beleidigung, doch er schob es auf seine Nerven, die nicht ganz intakt und etwas zu empfindlich waren.

Er war froh, als er abgelegt hatte und in das große Zimmer treten konnte, wo Brodersen breit und schwer in einem altdeutschen Lehnstuhl wuchtete, umgeben von einer Schar Herren, die seinen Worten ergeben lauschten.

Inge stand im Hintergrund des Raums auf. »Vater, Herr Grotteck ist da.«

Brodersen hielt im Sprechen inne, beugte sich leicht vor und sagte, ohne sich zu erheben: »Seien Sie gegrüßt, junger Freund. Sie haben es übrigens nicht nötig, sich rar zu machen. Sie sind in meinem Hause immer willkommen.« Nur das leichte Lispeln beim Sprechen erinnerte etwas an seine dänische Herkunft.

Nun stand Inge vor ihm. »Was Sie mir neulich für einen Schreck eingejagt haben! Es war, als ob der Wind Sie auf meinen Wagen geweht hätte.«

»Ich hatte eben Glück.« Er folgte ihr bis zum Platz des Hausherrn, der ihm seine harte, schwere Hand entgegenhielt, diese Hand, die noch immer an die Bauern und Arbeiter unter seinen Vorfahren mahnte.

Dann nahm er in einem der entfernteren freien Sessel Platz, das bunte Durcheinander der Gesellschaft musternd. Alle, die hier versammelt waren, trugen eine erkünstelte Behaglichkeit zur Schau. Es war, als ob sie jedesmal wie Schüler vor dem Lehrer zusammenfuhren, wenn sie unaufmerksam gewesen waren und die grauen Augengläser Brodersens sich jäh auf sie richteten.

Nur wenige Gäste waren ihm bekannt: der junge Trikotfabrikant dort, der kleine Bankier, der politische Führer und der Redakteur einer Handelszeitung. Und drüben der Funktechniker, der überall seine populären Vorlesungen hielt.

In einem unbequemen steifen gotischen Stuhl saß etwas abgesondert ein junger Mann. Sein strohblonder Haarwuschel ließ das ohnehin kleine Gesicht fast ganz verschwinden. Eigentlich sah man nur die Eulenbrille.

Grotteck winkte ihm zu. Aber Surrmann sah ihn nicht. Seine kurzsichtigen Augen hingen an Inge. Jetzt entstand sicher ein Sonett.

Wovon Surrmann lebte, wußte kein Mensch. Er trat bescheiden auf, aber selbst zu dieser Zurückhaltung konnten die Einnahmen aus seinen Lyrikbänden nicht ausreichen. Ob Brodersen sein Mäzen war? Dann sollte er sich hüten, seine Begeisterung für Inge so unverhohlen zu zeigen. Der Gorilla kannte in diesem Punkt sicherlich keinen Spaß, und er konnte das kleine zarte Männchen mit einem Daumendruck zermalmen.

Es belustigte ihn, daß Inge die Blicke ihres bescheidenen Bewunderers gar nicht beachtete. Sie teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen ihrem Vater und dem Diener, den sie mit Winken zu den Gästen dirigierte. Der ernste Ausdruck ihres Gesichts war nur durch eine leicht aufgetragene Liebenswürdigkeit gemildert.

Eine schlanke Gestalt huschte zum Platz des Hausherrn, empfing ein paar Worte in einer fremden Sprache und huschte wieder davon. Es war Si, die malaiische Dienerin mit den großen Hundeaugen in dem gelben ovalen Gesicht. Ihr blauer Sarong brachte eine hübsche Note in die sehr europäische Gesellschaft.

Ein hohes geschliffenes Glas wurde vor Grotteck gestellt. Brodersens Weine waren berühmt, und sie wurden von seinen Gästen nicht geschont. Er selber trank Tee aus durchsichtiger chinesischer Schale.

»Ob ich Djavid-Bej kenne, den sie jetzt in Smyrna gehängt haben? Ich kann wohl sagen, daß ich ihm so nahegekommen bin wie kein westlicher Europäer. Lieber Allah, wie gut verstand er zu essen! Er legte nie die abgeknabberten Knochen auf die Platte zurück, wie es die anderen Würdenträger dort machen. Er verzichtete sogar darauf, mit Brotschnitten zu essen, und benutzte Messer und Gabel wie ein deutscher Assessor. Und wenn er sich den Mund ausspülte, gurgelte er nur ein ganz klein bißchen –«

Brodersen leerte seine Tasse, und wieder huschte Si herbei, als hätte sie im Hintergrund die ganze Zeit auf diesen Augenblick gewartet, und goß ihm ein. Gleich darauf entglitt sie wieder wie ein Schatten.

Während Brodersen von Gemüsen mit Knoblauchsoße schwärmte, von Hühnern, die mit Haselnüssen, Zimt und Nelken gefüllt waren, von Puddings mit Rosenwasser und Tamarindentunke, schweiften Grottecks Blicke in dem großen Raum umher. Alles atmete Reichtum, der unter der Kontrolle geschulten Geschmacks stand. Das Deckenlicht, von buckligen Messingblakern aufgefangen, bestrahlte große Gemälde in breiten Rahmen, einen kleinen Ostade von goldbraunem Ton und einen französischen Impressionisten. Zwischen zwei massigen, breit geschnörkelten Danziger Schränken ein alter Gobelin: eine Falkenjagd in duftiger Dämpfung der Farbe. Kleine japanische Holzschnitte über mannshohen chinesischen Drachenvasen, neben grellbunten Totems aus der Südsee und einigen malaiischen Krisen. Auffällig stach eine minderwertige Lithographie von den Kostbarkeiten ab, die einen uniformierten Reiter auf gespreiztem Pferd darstellte. Er konnte entziffern, daß es der letzte König von Hannover sein sollte. Also kein Familienstück, das die Pietät hier hingehängt hatte – was hatte aber Brodersen an diesem blinden Exkönig so gefallen, daß er ihm hier einen Platz eingeräumt hatte?

Wenn er sich vorbeugte, konnte er Inge sehen, deren Züge von Melancholie leicht überschattet waren. Was konnte ihr fehlen, die von ihrem Vater verwöhnt wurde, wie die ganze Stadt wußte? In diesem Augenblick wandte sie sich ihm zu, und ihre Blicke trafen sich. Er sah, daß sie errötete, und ein Ozean von Glück überschwemmte ihn.

Mit einem scheuen Blick zu ihrem Vater hinüber wagte er es, sein Glas gegen sie zu erheben. Sie dankte mit einem kleinen Lächeln, das gleich wieder verblaßte. Von da an hatte Brodersen einen Hörer weniger.

Nach einer Weile kam Blinsky zu ihm und nahm auf einem Hocker nebenan Platz. Grottecks gute Laune verschwand. Er hatte das Gefühl, daß dieser Mensch ihn beaufsichtigen und von weiteren Vertraulichkeiten gegen die Tochter seines Chefs zurückhalten wollte.

Sie sprachen im halblauten Ton Gleichgültiges, Blinsky immer sein japanisches Lächeln um die dünnen Lippen, Grotteck vorsichtig, immer auf der Hut. Allmählich glaubte er zu verstehen, daß Blinsky einen Auftrag erfüllte, indem er ihn ins Gespräch nahm und ablenkte.

Im Kreis um Brodersen hatte sich das Thema geändert. Vielleicht war nur der Faden wieder aufgenommen, der bei seinem Dazukommen fallengelassen war. Er hörte von internationalen Finanzaktionen, von bolschewikischer Propaganda in den Oststaaten und Rumänien, von Kriegsvorbereitungen an der litauisch-polnischen Grenze, von bevorstehenden Umwälzungen in Angora.

Mitten in ihrem privaten Zwiegespräch wandte sich Blinsky bisweilen an seinen anderen Nachbar, einen schweigsamen, eleganten Herrn, und übersetzte einige Wendungen jener Unterhaltung ins Englische, was jedesmal mit höflicher Kopfneigung quittiert wurde. Blinsky folgte also Brodersens Worten, während er Grotteck unterhielt oder – ablenkte.

Grotteck empfand das Ungewöhnliche mit peinigendem Schmerz. Er wandte sich gereizt an seinen Nachbar: »Sie erfüllen Ihre Aufgabe gut.«

»Welche Aufgabe?« fragte Blinsky mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Natürlich die, mich von der Sprachbegabung des Russen zu überzeugen. Sie sind doch Russe?«

»Man sagt es. Aber es ist schon so lange her, daß ich es selber kaum glaube.«

»Sie können nicht zurück?«

Ein flüchtiges, ironisches Lächeln umflog Blinskys Mund. »Oh, ich könnte wohl zurück. Aber, was wollen Sie, Herr Baron? Ich habe hier eine so gute Stellung – wie kann ich da an eine Rückkehr denken?«

»Ich dächte, die Heimat sei das Beste des Menschen?«

»Meine Heimat ist die Welt, die Menschheit«, sagte der Russe langsam, feierlich, fast wie ein Bekenntnis.

»Bravo. So ungefähr sagt es die Hapag ja auch. ›Mein Feld ist die Welt‹, nicht wahr? Sie haben sich weite Ziele gesteckt, Herr Blinsky.« Er erhob sich lachend, ohne den finsteren Blick des andern zu beachten, und ging auf Inge zu, die an der Balkontür stand. Die Gesellschaft hatte ihr Gefüge gelockert und stand dicht davor, sich aufzulösen.

Beide traten auf die breite Plattform und schauten über die blumengefüllten Vasen hinunter auf die Lichterketten der einschlafenden Stadt. Ein zweiter Sternhimmel war da unten ausgebreitet. Dichtere Lichtbündel verkündeten den Bahnhof, einige schnurgerade Lichtlinien neuere Straßen und die Allee, die zum Fluß führte.

»Wer ist dieser Blinsky eigentlich?« fragte er unvermittelt.

Inge zuckte die Achseln. »Wer er ist? Ein junger, strebsamer Mann, der bescheiden und anstellig ist und die rechte Hand meines Vaters. Im übrigen hat er Talent zu allen möglichen Dingen.«

»Ich weiß: er lithographiert, malt und kann verschiedene Sprachen.«

»Er will mich malen.«

»Aber Sie erlauben es nicht?« fragte er hastig und erregt.

Sie sah ihn mit überraschtem Lächeln an. »Ich hatte bisher gar nicht darüber nachgedacht«

Er hatte eine andere Antwort erwartet und fühlte sich enttäuscht. »Wahrscheinlich ist er auch so ein ehemaliger russischer Fürst, wie?« höhnte er. »Alle Russen, die sich in unserm Vaterland breitmachen, sind ja Prinzen oder Fürsten gewesen. Es muß ganze Bataillone davon gegeben haben.«

Sie lächelte noch immer über die Gereiztheit seiner Stimme. »Ich glaube nicht. Dazu ist er ein viel zu fleißiger Arbeiter. Denken Sie, er arbeitet sogar oft nachts. Er experimentiert viel.«

Grotteck wollte sagen, daß er vielleicht Dinge tue, die das Licht des Tages zu scheuen hätten, aber er sagte nur: »Hoffentlich fabriziert er keine Bomben.«

»O nein. So altmodisch ist er nicht Er sagt, er sei einem neuen Steindruckverfahren auf der Spur.«

»Also ein genialer Erfinder?«

»Genial? Ach nein. Er hat wohl nur Talent. Aber eins haben ja alle Russen, die zu uns kommen. Wenigstens schwören sie selber darauf. Kennen Sie übrigens die Geschichte vom Maler Pettkow in Paris?«

»Nein.« Er wollte sagen, daß er eigentlich ganz andere Dinge mit ihr zu besprechen habe. Aber sie erzählte schon lachend weiter. Und Inge Brodersen war so schön, wenn sie lachte.

»Also der große Pettkow malte Bilder, und zwar nur im Riesenformat. Sie verstehen, weil Rubens und Michelangelo es geradeso gemacht haben. Er malte eine Sintflut mit Dutzenden lebensgroßer Unglücklichen darauf, denen man das Sterben wahrhaftig gönnte. Und er mietete ganze Säle zur Ausstellung und stellte rechts und links von den Schinken Lorbeerbäume und empfing die Gäste bei unsichtbarer Harmoniummusik in priesterlicher Gewandung. Wie einst sein Landsmann Wereschtschagin.«

»Ein glücklicher Mensch, dieser Pettkow!«

»Nein, denn er hatte bisweilen lichte Augenblicke. Und in einem solchen stöhnte er zu mir über die Schwierigkeiten, die ihm das Aktmalen bereitete. Da prägte er das treffende Wort: Komposition kann sein idealisch, aber Akt gibt kein Pardon …«

Wider Willen stimmte er in ihr helles Lachen ein. »Also Blinsky ist nicht genialisch?«

»Sind Sie noch immer bei Blinsky?« fragte sie verwundert und mit ein wenig Spitzbüberei in der Stimme. »Sie wissen doch, wer er ist?«

Aus dem Zimmer, wo die Gäste jetzt in losen Gruppen umherstanden, auf das Signal zum Aufbruch wartend, knallte eine Lachsalve in die feierliche Stille.

Inge blickte zurück und sagte schnell, im leichten Plauderton: »Es gibt keinen Zufall. Jeder Schritt, den wir gehen, ist in uralten Gesetzen vorgeschrieben – jeder Atemzug – jedes Lachen, jede Träne. Wissen Sie das nicht?«

Kurt Grotteck fühlte erstaunt den Unterschied der ernsten Worte und des konventionellen Tons. Da sah er Blinsky an der Balkontür stehen, halb abgewandt, unauffällig. Nun begriff er Inge, und er antwortete im gleichen Tonfall: »Also ist es Bestimmung, daß ich Sie liebe, Inge?«

Sie legte den Schal fester um die Schultern. »Es wird kühl. Ich muß hinein.«

Verwirrt folgte er ihr. Hatte sie mit ihm gespielt? Hatte die Nähe des Lauschers sie abgeschreckt? Aber was ging sie dieser Angestellte ihres Vaters an?

Plötzlich fiel ihm sein Reichtum ein, der drunten in der Stadt in einem lächerlichen Versteck schlief. Er war nicht mehr der mittellose junge Mann aus guter Familie, er konnte um Inge Brodersen werben und ihren Weg glatt und eben halten. Konnte er es denn? Gehörte ihm denn dieser Schatz schon?

Das Rätsel dieses Geldes wurde immer dunkler. Keine Zeitung hatte irgendeine Zeile über einen Einbruch oder einen Geldverlust gebracht, und es gab doch keinen Menschen, der so reich war, daß er eine solche Summe sich stehlen lassen konnte, ohne sich darum zu kümmern. Nicht einmal Brodersen hätte das gekonnt.

Bei diesem Gedanken stockte er: sein Name war auf jenem geheimnisvollen Papier! Waren hier Zusammenhänge? Er redete sich ein, daß einer seiner Leute im Spiel war, vielleicht dieser Blinsky: was er zur Schau trug, war nur Fassade, der wirkliche Blinsky sah ganz anders aus. Eine unerklärliche Angst überfiel ihn, Angst um Inge und sich.

Brodersen saß noch immer in seinem Sessel, während eine dichte Gruppe ihn umstand. Als Grotteck nähertrat, hörte er Namen russischer Führer. Tagesprobleme der Politik hingen in der Luft. Das beruhigte ihn merkwürdigerweise.

Aber nun brach Brodersen, der ihn hinter den andern gar nicht gesehen haben konnte, mitten in einer Erklärung russischer Finanzaktionen ab und gefiel sich in einer Anekdote aus Lenins Studentenzeit in Zürich. Grotteck hatte wieder das Gefühl, daß die plötzliche Wendung durch sein Dazukommen veranlaßt war. Er lenkte seine Schritte zurück und stand vor Blinsky.

Er hatte Lust, den russischen Zeitungsausschnitt hervorzuziehen und ihn sich erklären zu lassen. Oh, er hätte in diesem wachen, überwachen Augenblick jedes Schwanken in Blinskys Haltung bemerkt!

Aber ehe er sich dazu entschließen konnte, trat der Bankier auf ihn zu. »Ich hörte Sie gestern im Rundfunk. Famos, wirklich. Hat dies Handwerk wenigstens einen goldenen Boden?«

Grotteck verneinte lachend.

»Kaufen Sie Papiere! Schwedische Hotelaktien. Ich schenke Ihnen den Tip. Feine Sache. Na? Wieviel soll ich notieren?«

»Hunderttausend.«

Der Bankier lachte. »Donnerwetter, Sie gehen gut ins Zeug. Na, besuchen Sie mich mal.«

Blinsky lächelte sein dünnes Lächeln. Nein, hier schien niemand Mißtrauen zu haben.

Brodersen erhob sich, und im gleichen Augenblick löste sich die Gesellschaft auf. Grotteck fühlte seine Hand gedrückt. »Kommen Sie bald wieder. Ein Stuhl ist für Sie immer bereit, und der Flügel wartet auf Sie. Wieviel Instrumente spielen Sie Wunderkind eigentlich?«

»So ziemlich alle«, antwortete Grotteck lächelnd.

»Das habe ich auch immer getan – nur auf andern.« Die Herren lachten verständnisvoll, und Grotteck sah sich Inge gegenüber. Sein Blick flehte sie an.

»Mir ist etwas an Ihnen aufgefallen«, sagte sie leise, und sie sagte es mit dem gleichen beherrschten Lächeln; »Sie sind der einzige unter unsern Gästen, der mir nicht die Hand küßt.«

Er sah sie verwirrt an. »Ich habe bisher nur die Hand meiner Mutter geküßt …«

Andere drängten sich heran, und Grotteck ging.

Nun waren Vater und Tochter allein. Er stand noch immer, die Hände auf die Tischplatte gestemmt. »Bist du sehr müde, Inge?«

Seine Stimme klang weich und zart. Niemand hätte Brodersen an dieser Stimme erkannt. Alles Rauhe, Schroffe, Eherne war verschwunden. Seine Hände lösten sich vom Tisch und hoben sich ihr in einer Gebärde rührender Hilflosigkeit entgegen. »Sag', daß es dich nicht zu sehr angestrengt hat.«

Inge trat zu ihm. »Du weißt ja, daß ich gern zuhöre.«

Er zog sie mit einer scheuen, vorsichtigen Bewegung an sich. »Zuhören ist das Allerschwerste. Ich kenne deine Opfer, Inge. Warum bist du aber immer so einsam? Warum suchst du dir nicht eine Freundin?«

In ihr Gesicht trat ein gehetzter, gequälter Ausdruck. »Laß das, Vater!«

»Fand sich keine?«

»Ich suchte keine.«

»Es gibt keine Frau in der Stadt, die nicht stolz auf diesen Vorzug wäre, und ich möchte es auch keiner raten, in diesem Punkt anders zu denken.«

»Freundschaft läßt sich nicht erzwingen, Vater. Ich fand nur Neugierige oder Neidische. Meinst du, daß das der rechte Anfang einer Freundschaft ist?«

Ein höhnisches Lachen stieg auf. »Reichtum macht also einsam? Aber Einsamkeit ist kein Glück für junge Menschen.«

»Ich bin ja glücklich«, sagte ihre zitternde Stimme.

Seine Hände glitten über ihr Haar. »Alles Glück der Erde auf dich, Inge!« Und dann, als schämte er sich seiner Aufwallung: »Du darfst nicht zuviel von Menschen verlangen. Du kannst sie gar nicht niedrig genug einschätzen. Glaubst du, daß unter meinen Gästen einer ist, der sich von mir nicht kaufen ließe?«

Ja, dachte Inge Brodersen, einer ist darunter. Laut sagte sie nur: »Warum empfängst du sie denn?«

Er ließ von ihr ab. »Das verstehst du nicht. Sie dienen alle einer Sache, freiwillig oder unfreiwillig. Ist Blinsky schon fort?«

»Ja. Er arbeitet doch jetzt wieder nachts unten in seinem Laboratorium.«

Langsam ging er im Zimmer auf und ab, die Arme über der Brust verschränkt. »Er ist großen Dingen auf der Spur. Und große Dinge kennen keine Uhr.«

Sie hörte seine Worte nicht. An das Fenster gelehnt, sah sie in das Dunkel draußen.

Ich hätte freundlicher zu ihm sein sollen, dachte sie, er ging so traurig fort. Ich hätte mutiger sein sollen und ihm sagen, daß ich –

Aber diesen Gedanken vollendete Inge Brodersen nicht einmal vor sich selber.

*

Grotteck hatte sich draußen einigen Herren angeschlossen, die zum Autoplatz hinuntergingen. Eine steile, schmale Treppe, in den grünen Berg geschnitten, führte in die Stadt

»Hier stand früher der Galgen«, bemerkte der Fabrikant. »Hören Sie es nicht noch von Gerippen klappern?«

»Nein, aber von Sovereigns«, meinte der Bankier lachend. »Zum mindesten vorhin beim Gorilla.«

Nun unterhielten sie sich laut und lachend über den Wirt, den sie eben verlassen hatten.

»Sieht er nicht aus wie ein alter Seeräuber?«

»Tatsache ist, daß er einen nicht genau ansehen kann.«

Allerlei Anekdoten erwachten in den weingekitzelten Gehirnen. Brodersen sollte in Paris ein Kunstmäzen von eigner Art gewesen sein. »Er borgte jedem Künstler, ob berühmt oder unbekannt, und verlangte als Entgelt nur eine Karikatur von sich in ein besonderes Album. Viele erlesene Namen waren darin. Aber eines Tages bekam er die Pumperei und Paris satt und schenkte die Sammlung beim Wegzug dem Louvre. Na ja, er hatte es ja dazu, und wenn er eine Karikatur von sich sehen will, braucht er bloß in einen seiner geschliffenen Venetianer zu gucken.«

Ein andres Mal sollte er, von Weltflucht besessen, ein Jahr lang an der kalifornischen Küste in einer Jacht entlanggefahren sein. »Kein Mensch außer den Matrosen hatte Zutritt.«

Der Bankier lachte. »Vielleicht hatte er auch andre Gründe, sich unsichtbar zu machen.«

Angewidert verließ Grotteck die Gruppe, ohne sich zu verabschieden. Als er ein paar Schritte gegangen war, schob sich ein Arm in den seinen.

»Ich darf Sie doch begleiten?« fragte eine weiche Knabenstimme.

Der junge Surrmann blickte ihn lächelnd an. »Ich bin Ihnen die ganze Zeit gefolgt. Ich dachte es mir, daß Sie diese lärmenden Menschen nicht lange vertragen würden.«

»Ja, ich suchte die Stille und den Duft des Abends und …«

»… und den Duft der Erinnerungen festzuhalten, nicht wahr, der so leicht verfliegt.«

»Der Erinnerung?« Grotteck empfand die Anspielung peinlich, und er fragte schroffer, als es hier nötig war: »Welche Erinnerung meinen Sie?«

Surrmann seufzte vor sich hin. »Ist sie nicht herrlich?« fragte er dann vertraulich. »Lebt nicht der ganze Rausch des Urwaldes in ihrem Gang?«

»Des Urwaldes?« Grotteck befreite sich unwillkürlich von dem Arm des andern.

»Ja«, fuhr der Lyriker leuchtenden Auges fort. »Des Urwaldes. Ich höre das Fauchen und Schreien fliehender Affenherden im Lianengestrüpp, das Grollen der Vulkane, das Splittern der Bungalows beim Erdbeben. Ich fühle die rasende Energie des Tigersprungs und die schöne Verderblichkeit der lautlosen bunten Schlangen. Ich sehe die flammende Sonne auf den gemeißelten Felsen von Borubudur, und hunderttausend Gebete aus ungezählten Jahrhunderten zittern im Glast Ich höre das Gurgeln der Stromschnellen und das weiche Fallen reifer Früchte im brühheißen Urwald. Und dann den Gesang, den sanften, uralten, heiligen Sang bei den Tänzen hüftenschlanker Tempelmädchen, wie sie vielleicht eines war … Empfinden Sie das nicht auch, wenn Sie sie sehen?«

Immer verwunderter blickte Grotteck Seinen schwärmenden Begleiter an. »Offen gestanden, nein. Aber ich bin ja auch kein Dichter.«

»Aber Sie sind doch Künstler. Sie haben doch Einfühlungsvermögen. Sie müssen durch ihren Anblick doch aus dem Alltag geweckt werden?«

»Ich finde es sonderbar, daß ich Ihnen so etwas gestehen soll.«

» Si ist der Grund, warum ich zu Brodersen gehe«, fuhr Surrmann fort, ohne auf den Einwurf zu achten. » Si ist der Magnet. Denn sonst gehöre ich ja wahrlich nicht dorthin. Nicht wegen des Abstands, den der Reichtum schafft. Den erkenne ich nicht an. Ich bin ja innerlich viel reicher als all diese Finanzleute dort, und mein Reichtum ist keiner Kursschwankung unterworfen. Ist es nicht so?«

»Ich gratuliere«, sagte Grotteck lächelnd. »Und was stört Sie sonst bei Brodersen?«

»Die Politik. Dieses gefährliche, lauernde Ungeheuer.«

»Wird dort mehr politisiert als anderswo?«

Surrmann lachte sehr überlegen. »In Ihrer Gegenwart nicht. Wenn Sie kommen, schweigt das Gespräch, oder es nimmt eine kühne Wendung ins Ethnologische. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«

Grotteck mußte zustimmen. »Aber warum?«

»Weil man Sie nicht für so harmlos hält wie mich. Ja, mich nimmt man in diesen Kreisen nicht für ganz voll. Wenn ich dabei sitze, hält man es nicht für nötig, ein Blatt vor den Mund zu nehmen.«

»Nun, und was haben Sie denn so Gefährliches entdeckt?«

Surrmann preßte Grottecks Hand. »Gefährlich … das ist das richtige Wort. Ich glaube, daß Brodersen an einen gefährlichen Zirkel gebunden ist.«

»Bei Brodersens internationaler Art ist das doch nicht so verwunderlich, daß allerlei landfremdes Volk bei ihm auftaucht.«

»Landfremdes Volk … wissen Sie, wie man das früher nannte? Unehrliche Leute! Sie hatten kein Recht. Sie waren geächtet. Sie konnten nicht in die Zünfte eintreten. Sie durften nicht in die Kirche. Sie wurden hinterm Zaun verscharrt.«

»Stimmt. Das wollen wir in der Zeit des Flugzeugs und der elektrischen Schnellzugslokomotive aber doch gern jener Zeit überlassen, die man die gute nennt.«

»Es war eine gute, Grotteck. Zum mindesten in diesem Punkt. Was wollen die Landfremden bei uns? Sie wollen ihr Gift in unsre Furchen streuen, das Unkraut ihrer fremden Ideen zwischen unsre Saat schmuggeln … ist es nicht so?«

Grotteck lachte in das aufgeregte Gesicht seines Begleiters. »Sie sehen zu schwarz, Surrmann, oder Sie haben … entschuldigen Sie schon … zu heftig dem sündhaft guten Wein oben zugesprochen.«

»Nein, nein. Ich fühle die Atmosphäre dort wie einen Alpdruck. Aber das könnte mich ja reizen, wenn ich objektiver wäre. Und Brodersen … sieht er nicht wie das Prinzip des Bösen aus? Wie die Wiederverkörperung des Tamerlan oder einer andern Gottesgeißel?«

Grotteck zuckte die Achsel. »Geschmacksache.« Und er setzte nach einigem Zögern hinzu: »Und Inge Brodersen?«

Er erwartete ein schwärmerisches Aufleuchten in den Augen des jungen Mannes und war erstaunt, als dieser düster wie bisher fortfuhr: »Auch sie bedrückt mich. Auch sie trägt Geheimnisse in ihren Falten.«

»Aber eben sagten Sie doch, daß sie Sie zu den schönsten Phantasien anregt?«

»Kein Wort habe ich von ihr gesprochen«, fuhr Surrmann auf. »Ich versichere Ihnen, daß sie gar nicht für mich existiert.«

Grotteck blieb verblüfft stehen. »Ja, wovon sprachen Sie denn die ganze Zeit?«

»Von Si natürlich. Von der malaiischen Dienerin. Haben Sie sie nicht bemerkt?«

Fast hätte Grotteck den Poeten umarmt. »Sie sind das prächtigste Kind, Surrmann, das mir je über den Weg gelaufen ist. Mir ist, als ob ich die Hände usw.« Er lachte laut in die Nacht und lud, noch lachend, den Verdutzten zu einer Tasse Tee ein.

Die beiden saßen die halbe Nacht in Grottecks Zimmer, und Surrmann schüttete sein Herz aus.

»Das Arbeitsamt ist jetzt meine Zufluchtstätte«, klagte er. »Ist mir das wohl in der Wiege gesungen worden? Ach, ich glaube, an meiner Wiege ist überhaupt nicht gesungen worden. Denken Sie: ich bin wie jeder anständige Mensch ein Langschläfer von Natur aus, und ich muß jeden Morgen, den Gott wachsen läßt, um acht Uhr pünktlich in meiner Schreibstube sein. Aber es ist mir bisher noch nie geglückt, früher als fünf Minuten nach acht aufzutauchen. Gestern hat mir der Rechnungsrat vorgerechnet, daß ich die Stadt in 25 Arbeitstagen monatlich um 125 Minuten betrüge.«

»Er trägt also seinen Titel mit Recht.«

»Und das Sonderbare ist, daß ich gar nicht durch sein Zimmer 47 hindurch muß. 47a hat seinen eigenen Ausgang. Aber unter einem dunklen Zwang verlaufe ich mich jedesmal.«

»Ist es denn unbedingt nötig, daß Sie in diese Fron gehen?«

»Denken Sie, ich kann von meinen Gedichten leben? Ein Mäzen hat mir diesen Posten verschafft, wo ich in acht einhalb Stunden täglich so viel verdiene, daß ich nachts Sonette feilen kann.«

Grotteck dachte froh, daß er ja nun helfen konnte. Das Geld bekam einen Sinn. Aber lag es denn noch in seinem Versteck? Unruhig ging er zur Kommode, aber er wagte nicht, sie zu öffnen.

In diesem Augenblick unterbrach Surrmann seine Klagen. »Ich werde aber einmal reich, das fühle ich, und wenn es durch ein Verbrechen sein müßte!«

»Durch ein Verbrechen?« fragte Grotteck, irgendwie beunruhigt.

»Haha, jetzt sehen Sie mich schon ganz anders an, wie? Trauen Sie mir keins zu? Wissen Sie nicht, daß Hebbel von sich sagte, er wäre zu jedem Verbrechen fähig gewesen?«

»Er hat aber keins begangen, soviel ich weiß. Und er meinte es auch wohl nur geistig.«

»Was weiß einer vom andern?« begann Surrmann mit wichtiger Miene. »Ich hatte eine Zeitlang sogar einen ganz bestimmten Plan.« Er rückte näher an Grotteck heran und flüsterte: »Von meinem Fenster im Arbeitsamt sehe ich in allerlei Geschäfte und Büros der tiefergelegenen Straßen, und in einem, denken Sie, erkannte ich Banknoten in Bündeln. Uebrigens sah ich sie nur, wenn ich den doppelten Kneifer aufhatte.«

»Banknoten in Bündeln?« Es war schwer, diese wenigen Worte zu wiederholen. »Sie müssen geträumt haben.«

»In Bündeln«, triumphierte Surrmann. »Und eines Tages oder besser Nachts werde ich sie mir holen. Wollen Sie dabei sein? Es müssen nämlich zwei sein: derjenige, der das Geld holt, muß es einem andern übergeben, damit es nicht bei ihm gefunden wird.«

Ein Verdacht stieg in Grotteck auf. »Haben Sie mit jemand darüber gesprochen?«

»Wo denken Sie hin?« meinte der andre gekränkt. »Man ist doch kein Anfänger!«

Da mußte Grotteck wieder lachen. »Nun, ich hoffe, daß Sie es auf diesem Gebiet doch sind! Das ist wohl eine Kriminalgeschichte, die Sie mir da skizziert haben, wie?«

Surrmann stimmte in das Lachen ein. »Ein Phantasieprodukt, versteht sich. Leider werde ich zu diesen Dingen nie die nötigen Nerven aufbringen.«

Grotteck goß seinem Gast Tee ein und sagte ruhig:

»Nun wollen wir aber von Dingen reden, die nicht unsre Träume beeinflussen. Erzählen Sie noch ein bißchen von Ihrem Arbeitsamt.«

»Schön. Oder vielmehr nicht schön. Wir haben doch da einen Abreißkalender mit schönen weißen Rückseiten, gerade groß genug, um ein Gedicht darauf zu schreiben. Ein Gedicht an den Frühling, an malaiische Wälder, an ein junges Mädchen. Glauben Sie, daß man es dort gern sieht, wenn ich darauf meine Verse schreibe? Man ist so pedantisch, daß man sich daran stößt, wenn plötzlich der 7. Mai oben steht, während es erst der 22. April ist.«

»Unglaublich, in der Tat.«

»Mit den männlichen Kollegen dort stehe ich mich gut. Sie halten mich für blödsinnig. Das macht mich ihnen sympathisch. Aber die Damen …«

»Nun, mit denen sollten Sie doch fertig werden.«

»Nein!« rief Surrmann in ehrlicher Empörung. »Seit sie Bubiköpfe tragen, ist ihnen jede Achtung vor der Poesie verlorengegangen. Das eine Fräulein wollte neulich ein Polterabendgedicht von mir für ihre Freundin, die einen Katasterkontrolleur heiratet!« Er leerte vor Wut die Tasse mit einem zu großen Schluck und prustete eine Weile vor sich hin.

»Schlimm«, meinte Grotteck tiefernst, ihm auf den Rücken klopfend. »Aber es gibt ja gottlob noch andre Frauen, die wahres Verdienst zu schätzen wissen.«

Surrmann nickte. »Ich muß Ihnen etwas anvertrauen«, begann er verlegen. »Was ich vorhin über Fräulein Brodersen sagte, stimmte nicht ganz. Ich habe natürlich für sie geschwärmt. Welcher Mann täte es nicht? Aber ich bin sozusagen außer Kurs gesetzt. Brodersen hat mich mit Geld unterstützt. Das ist es. Denken Sie, man kann ein Mädchen umwerben, wenn es weiß, daß man seinen Vater angepumpt hat?«

»Nein«, entgegnete Grotteck kühl. »Das kann man nicht. Und nun ist es Zeit, die Sitzung abzubrechen.«

Surrmann reichte ihm mit treuherzigem Gesicht die Hand. »Ich wollte Ihnen einen Band meiner gotischen Sonette widmen, und zwar mit der Widmung: Meinem Freund Kurt Grotteck. Darf ich?«

»Sie dürfen. Aber nun ade! Morgen ist auch noch ein Tag, wie Peter Cornelius so schön singt.«

Kurt Grotteck dachte lange über den Besuch nach. Er hatte also einen Freund – Ach ja, einen Freund konnte er gut brauchen. Aber auch der kleine Surrmann war nicht derjenige, auf dessen Schultern er sein Geheimnis laden konnte. Und wer blieb sonst?

Inge Brodersen –! sagte eine Stimme in ihm. Sie war klug und stark. Ihr konnte er beichten. Ihr mußte er beichten, ehe er ihre Hände küßte. Ja, das war es gewesen, was er hatte sagen wollen. »Ich habe meiner Mutter versprochen, außer ihr nur die Hände der Geliebten, der ewig Geliebten zu küssen …«

Einmal würde er den Satz vollenden. Und in diesem Gedanken schlief er ein.

*

Als er am nächsten Tag aus dem Rundfunkbau trat, stand Martha Rebmann an der Freitreppe.

»Sie hier?« fragte er stirnrunzelnd. Er gab sich gar keine Mühe, seine peinliche Ueberraschung zu verbergen. Aber dann rührte ihn ihr verlegenes, demütiges Gesicht, und er zwang sich zu einer freundlichen Miene.

»Wenn ich Sie störe, gehe ich gleich wieder,« sagte sie unterwürfig. »Ich weiß ja auch gar nicht, ob Sie Zeit haben.«

Er überflog ihr einfaches, geschmackvolles Kostüm und stellte fest, daß sie ihn nicht kompromittierte. So wurde ihm seine Liebenswürdigkeit nicht allzu schwer. »Für Sie habe ich immer Zeit, Fräulein Rebmann. Ich freue mich, Sie bei Tageslicht betrachten zu können.«

Sie lachte auf, um einen Grad zu laut, wie ihm schien. »Sie machen aber eigentlich nicht den Eindruck.«

Er gab ihr die Hand. »Ich zerbreche mir noch den Kopf, wie Sie mich ausfindig gemacht haben. Zufall?«

»Ich will ehrlich sein: es ist Berechnung. Nein, Berechnung ist nicht der richtige Ausdruck. Na, es war jedenfalls nicht allzu schwer. Quevedo kannte ja Ihren Namen, und daß Sie hier zu tun hatten, las ich im Programm.«

»Also eine kleine Detektivin?« fragte er lachend.

Sie erblaßte und warf ihm einen erschrockenen Blick zu. Warum traf sie dieser Titel so? Aus dem Gefühl heraus, eine Beleidigung gutmachen zu müssen, setzte er lächelnd hinzu: »Natürlich nur eine in eignen Angelegenheiten. Ich wollte Sie gewiß nicht mit jenem Kiewening in eine Reihe stellen. Ich weiß ja, daß Sie eine Kollegin von mir sind und eine sehr begabte dazu.«

Als sie durch den Torbogen auf die Straße getreten waren, sagte Martha, schüchtern aufblickend: »Nehmen wir wieder ein Auto? Am Tage ist es ja billiger.« Sie hob wie ein kleines Kind die Hände hoch: »Bitte, bitte, es war so schön neulich.«

»War es schön?« fragte er, etwas gerührt. »Ich hatte ein schlechtes Gewissen: ich glaube, ich war gar nicht sehr freundlich zu Ihnen.«

»Es kam doch alles so überraschend, und Sie hatten gewiß an andres zu denken.«

»Das hatte ich«, sagte er lachend.

»An Jokohama?«

»Nein, an näherliegende Dinge.«

Das hatte er also schon vergessen. Sicher hatte er etwas ganz andres bei dem eiligen Abschied neulich vorgehabt. Sie ging wortlos, beklommen neben ihm. Sie blickte erst etwas freier drein, als Grotteck, um die Stimmung zu retten, ein Auto heranwinkte und ihr ritterlich beim Einsteigen half.

»Wohin?« fragte der Schofför.

»Das hat die Dame zu bestimmen«, meinte Grotteck.

Sie errötete vor Freude. »Auf die Höhe! Zum Wald.«

»Müssen Sie denn nicht jetzt im Alcazar spielen?«

»Heute ist mein freier Tag.«

Sie saßen, jeder in eine offene Ecke des Wagens gedrückt, als ob sie eine Berührung vermeiden wollten. Martha Rebmann schaute die Passanten strahlend an, als wollte sie sie auf die Tatsache ihrer Autofahrt aufmerksam machen.

»Ich muß mich entschuldigen,« begann er nach einer Weile, »daß ich Sie nicht seitdem aufgesucht habe. Aber ich war allzu beschäftigt.«

»Sonst wären Sie gekommen?«

»Natürlich. Warum sollte ich nicht?«

»Dann ist alles gut«, sagte sie leise, mit einer Zärtlichkeit, die er zu überhören versuchte.

Gewaltsam riß er sich aus seinen Gedanken. »Was ist Quevedo für ein Mensch? Ist er eigentlich Spanier? Oder stammt er vom Bodensee? Er spricht ein verdächtig gutes Deutsch.«

Sie wußte, daß der Spanier eine deutsche Mutter gehabt hatte, daß sein Bruder ebenso kohlrabenschwarz war wie er semmelblond, und daß er der gutmütigste Chef sei, den man sich denken konnte. »Aber er ist raffiniert. Und stark wie ein Bär. Er wird mit jedem Gast fertig«, setzte sie mit naivem Stolz hinzu.

»Ist das bisweilen dort nötig, so ein bißchen Brachialgewalt?«

»Brachialgewalt?« wiederholte sie unsicher.

Wie war er eigentlich auf dies Aktenwort gekommen? Er drückte sich doch sonst deutsch aus. Richtig, Herr Kiewening, der große Detektiv, hatte es neulich gebraucht. Wie kam er aber immer wieder im Gespräch mit diesem Mädchen auf diesen Kerl?

»Kennen Sie Ihre Gäste bei Namen?«

»Einige, die der Wirt kennt. Und die Stammgäste natürlich.«

»Auch Herrn Kiewening?«

Er sah verwundert, wie sie bei diesem Namen zusammenfuhr und verwirrt verneinte.

»Ich bin noch zu neu dort.« Und sie lenkte geschickt ab: »Sehen Sie nur den schönen Wagen, den grünlackierten!«

Unwillkürlich folgte er der Richtung, die ihr ausgestreckter Zeigefinger ungeniert wies.

Es war Brodersens Wagen. Er erkannte ihn sofort. Drinnen saß Inge mit ihrem Vater.

Der Wagen fuhr langsam die Rückertstraße empor. An einer starken Kurve bog er scharf ab, um einem Lastkraftwagen auszuweichen.

Grotteck sah dicht vor sich Brodersens großes gelbes Haus. In dem breiten Vorgarten arbeitete ein Gärtner. Auf dem Balkon, da, wo er gestern mit Inge gestanden hatte, stand Blinsky, die Hand über der Stirn, als blicke er einem bestimmten Gegenstand nach.

Grotteck erkannte das kühle, geringschätzige Lächeln, und er fühlte sich erleichtert, als der Russe sich abwandte.

Einige Minuten später ließ er den Wagen vor dem Waldcafé halten. Es hatte keinen Sinn, diese Fahrt noch länger auszudehnen, und er suchte nach einem Grund, seine stummgewordene Begleiterin zu verlassen.

Er trank schweigend einen elenden Kaffee. Martha Rebmann schien seine schlechte Laune nicht zu bemerken. Sie wurde plötzlich redselig und erzählte unvermittelt, in ihrem Eis löffelnd, von der Spanischen Wirtschaft, von ihren Kolleginnen und den musikalischen Wünschen des Publikums. »Viel Vergnügen macht es ja nicht, immer diese Schmarren zu spielen, aber es bringt doch etwas Geld ein. Und essen dürfen wir auch da, und der dicke Quevedo läßt sich dabei nicht lumpen. Und wenn solche Gäste wie Sie kommen, ist er noch um ein paar Grad höflicher.«

»Es kommen wohl nicht oft solche Gäste?« fragte er, endlich sein Schweigen brechend.

Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »O ja. Hin und wieder. Das Alcazar gilt ja als eine originelle Gaststätte. Aber sie sind nicht alle so gut wie Sie.«

Nun tat sie ihm wieder leid. Er bemühte sich, sie seine Schärfe von vorhin vergessen zu lassen, was ihm leicht gelang.

»Ich bin gar nicht gut«, sagte er, während sie den Weg zum nahen Wald einschlugen. »Ich bin nur liebenswürdig, vielleicht auch gutmütig. Aber das ist etwas ganz andres. Zur Güte gehört bisweilen eine Härte, die ich leider nicht besitze. Mein Vater sagte immer: »Menschen, die nicht nein sagen können, kommen unter die Räder.«

»Ihr Herr Vater lebt noch?« fragte sie. Sie sagte: Herr Vater! Anstandslehre – dachte er –, das Buch des guten Tons, na ja.

»Nein, meine Mutter bewirtschaftet das Gut allein.«

»Ein Gut? Das muß herrlich sein. Ich bin noch nie auf ein richtiges Gut gekommen.«

»Ja, die Städter träumen vom Landleben, auch wenn sie nicht Gerste von Lupinen unterscheiden können, und die Landleute laufen in die Städte wie die Motten ins Licht. So harmonisch ist der Sinn des heutigen Menschen.«

»Ist es ein großes Gut?«

»So ziemlich. Aber es ist so weit von hier, daß ich Ihnen alles mögliche vorschwindeln könnte, ohne daß Sie es zu kontrollieren vermöchten. Lassen wir das also.«

»Könnten Sie mich überhaupt anlügen?« fragte sie mit einem koketten Augenaufschlag.

»Aber mächtig. Sie ahnen gar nicht, welche Kreise meine Phantasie zu ziehen vermag.«

»Phantasie? Dann raten Sie, woher ich stamme.«

»Sie? Aber das ist doch klar. Sie sind ein Zigeunerkind. Aus dem Stamm jener, welche lieben, wenn sie leben.«

Ihre Stirn krauste sich zu drolliger Wichtigkeit. »Sie irren. Ich bin aus einer guten Familie. Mein Vater ist … aber das ist ja egal. Und ich habe das Konservatorium besucht.«

»Also eine höhere Tochter. Aber warum leben Sie dann in der verruchten Luft des Alcazar?« Nun würde eine lange Lügengeschichte kommen, vollgestopft mit Romantik wie die guten Würste daheim mit Fett und Majoran: erste, unglückliche Liebe, die harten Eltern, die Flucht bei Mondschein – ich werde kein Wort glauben.

Aber es kam nichts davon. »Mein Bubikopf war schuld daran!«

Er glaubte nicht richtig gehört zu haben. »Ihr Bubikopf?«

»Ja, mein Vater erlaubte mir nicht, mein Haar zu schneiden. Es war auch beinahe schade: es reichte so weit.« Sie deutete naiv die sanfte Rundung ihrer Hüften an. Mein Vater hielt das für eine Erfindung des Teufels. Er ist bei einer Sekte, müssen Sie wissen, wo man alles schrecklich ernst nimmt. Und als ich doch zum Friseur ging und mit abgeschnittenem Haar zu Hause ankam – es war gerade beim Mittagessen –, hieb er mit dem Löffel in die Nudelsuppe, daß sie über das Tischtuch spritzte, und schrie, nur Dirnen trügen sich so, und eine Dirne sei nicht seine Tochter. Dann ließ er mir durch meine Mutter Geld geben, das gerade für einen Monat reichte, und draußen war ich.«

»Was es doch für Tragödien gibt! Selbst meine Phantasie wäre nicht auf ein so pikfeines Motiv verfallen. Heute könnte es sich Goethe mit seinem Gretchen leichter machen.«

»Sie lachen«, schmollte sie. »Aber es war lange Zeit gar nicht zum Lachen. Gar nicht, versichere ich Ihnen.«

Er ergriff ihre Hand. »Das Lachen ist nur äußerlich. Ich bedaure aufrichtig, daß Sie an einem falschen Platz sind. Vielleicht kann man das aber ändern.«

Er verwünschte seine Ritterlichkeit, als sie sich an ihn schmiegte und ihre schönen dunklen Augen zu ihm aufsahen.

Er befreite sich vorsichtig von ihr und ging den Waldweg voran. Ein weiter Blick öffnete sich. Der Wald kletterte die Höhe hinab und verlor sich in Wiesen und Gärten. Ferner schimmerten die roten Dächer und die goldenen Kirchturmhähne der Dörfer. Das Wasser des schmalen Flüßchens blitzte bisweilen auf.

»Wie schön! Kann man darüber nicht allerlei vergessen, was die Engstirnigkeit der Menschen zu gegenseitiger Quälerei ersonnen hat?«

»Warum leben Sie eigentlich nicht auf dem Lande?« fragte sie vorsichtig.

»Daran ist Venus schuld, mein Fräulein.«

»Also die Liebe?«

Eigentlich sah sie wunderhübsch aus, wie sie so lächelnd vor ihm stand und ihren fraulichen Instinkt aussprach. Aber er nahm sich zusammen und erzählte ernsthaft, daß er laut Horoskop im Zeichen der Venus geboren sei. »Und das bedeutet, daß man zum Künstlertum verdammt und verflucht ist. Man kann nichts dagegen tun.«

Sie zögerte, ehe sie fragte. »Und jene junge Dame im Auto ist nicht der Grund, daß Sie hier bleiben?«

Er drehte sich schroff um. »Wir müssen kehrtmachen. Es ist die höchste Zeit. Ich habe noch eine wichtige Probe für morgen.«

Sie folgte gehorsam, einen Schritt hinter ihm, den Kopf gesenkt.

Als sie sich dem Waldrand näherten, wandte sich Grotteck ihr zu, und er sah Tränen in ihren Augenwinkeln. »Verzeihen Sie und seien Sie mir nicht böse. Ich bin etwas nervös.«

»Ich bin nicht böse«, sagte sie schnell, seine Hand fassend. Es sah aus, als ob sie sie küssen wollte …

*

Ein Paket war aus Grotthausen gekommen mit Würsten, Speck und der erneuerten Wäsche. Aber der mütterliche Brief war voller Sorgen.

Es schien schlimm auf dem Gut auszusehen. Schlimmer als sonst.

Kurt Grotteck las zum zehntenmal diesen Brief, der gerade so tändelte, wie es die Mutter im Gespräch tat, aber durch ihr liebenswürdiges Geplauder klang es wie ein schlecht unterdrückter Schrei.

»… Die Moore, denke Dir, die Moore sollen Geld bringen, schönes Geld, sagt Papendick, aber zuerst muß man Geld hineinstecken. Ich habe ihn gefragt, ob es denn nicht am Ende drin versinkt. Er verstand den Witz nicht. Mein Gott, wie schwer ist es doch, mit Menschen umzugehen, die immer ernsthaft sind! Aber ich will nichts gegen ihn sagen. Er sieht mich immer so erwartungsvoll an wie Pluto, wenn er merkt, daß ich ausgehen will. Specht hat doch damals unser Vorwerk Birkenholz verkauft, damals, als ich von dem Hypothekenmenschen geknebelt werden sollte. Und Papendick hat todanständig bezahlt. Jeder sagt es, und jeder blinzelt dann so zartfühlend, daß es eine Kuh merken müßte. Warum blinzeln die Leute immer in solchen Fällen? Dein Vater hat nie geblinzelt Er schlug dann mit dem Krückstock auf – Du weißt, der mit dem greulichen elfenbeinernen Löwenkopf, der wie ein Schafskopf aussieht –, und er hätte seine Meinung gesagt, daß sie der Landrat in der Kreisstadt gehört hätte und daß der Pastorstochter ihre Sommersprossen aufgeglüht wären. Wie hübsch das doch übrigens klingt: »Sommersprossen« – nicht wahr? Und wie wenig ich darauf Wert lege! …«

Der Name des Gutsnachbarn Papendick kam in der letzten Zeit immer häufiger in den Briefen der Mutter vor. Er sah ihn vor sich, wie er ihn bei dem letzten Besuch daheim gesehen: groß, ernst, ungeschickt – man konnte schon sagen: tolpatschig, mit dem rötlichen Schnauzbart, bei dem man immer an einen Gendarmen dachte. Aber er war schuldenfrei – übrigens kein Kunststück bei den Zuckerrübenfeldern und der Brennerei. Ein Säugling hätte dort wirtschaften können.

»… Ich habe ihn neulich vor das Nietzschebild geführt (es steht unangerührt und, wie ich fürchte, unabgestaubt in Deinem Zimmer und wartet auf Dich, mein lieber Junge) und fragte ihn, grausam, wie wir Frauen sind, wie man es mit solchem Schnurrbart anstelle, Suppe und Klietermus zu essen. Ob da nicht Brocken hängenblieben und der ganzen Nachbarschaft das Menü verrieten? Er ist rot geworden und hat vor sich hingebrummt. Acht Tage war er weg, und dann kam er – denke nur! – ohne Bart wieder! Ich frage Dich als Mann (oh, Du kleiner Junge, Du!), ist das nun Liebe oder nicht? …«

Kurt Grotteck mußte lachen. Papendick schien also wirklich ernste Absichten zu haben. Er hatte in seiner ersten Ehe Pech gehabt: eine Schauspielerin, die er bei einem seiner alljährlichen Besuche in Danzig in einer Pagenrolle gesehen, hatte es ihm so angetan, daß er ihr noch auf die Bühne hinauf seinen Antrag schickte. Sie hatte mit dem ungefügen Bären nichts anfangen können und mit der einsamen Landschaft noch weniger. Als sie bei einer Manövereinquartierung eine Liebschaft anfing, setzte Papendick sie, ohne ein Wort zu verlieren, auf den Wagen und befahl dem Kutscher schnellstes Tempo bis zum Bahnhof. Nun war die Ehe längst geschieden, und sie tanzte in einem Münchener Kabarett Schleiertänze. Nein, sie war nicht die rechte Frau für einen Mann gewesen, der Papendick hieß und auch so aussah.

Aber Mutter war es noch viel weniger. Es war eine Lästerung, so was nur zu denken.

»… Mein Horizont ist ein bißchen duster. Aber der liebe Gott hat uns Grottecks ja noch immer geholfen, wie er jedem guten Deutschen hilft. Nur daß Papendick immer sagt, daß mich alle bemogeln, vom Inspektor bis zum Milchmädchen. Bin ich eigentlich so dumm? Sag' selber! Irgendwo las ich mal, daß der Mensch, der nie eine Dummheit machte, lange nicht so klug ist, wie er glaubt … Oder so ähnlich. Damit tröste ich mich. Halte den Kopf nur recht hoch, mein Junge: es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird, das Schicksal pustet schon rechtzeitig dazwischen. Grotthausen soll Dir erhalten bleiben. Denn einmal wird ja die Zeit kommen, wo Du des Umhervagierens müde wirst – vielleicht, wenn Du das liebe Mädchen findest, das ich Dir so wünsche …«

Kurt Grotteck legte den Brief beiseite. Nie hatte die Mutter so geschrieben. Er las alles, was zwischen den Zeilen stand: das Wasser stand ihr bis an den Hals. Immerhin war aus dem krausen Geplauder zu ersehen, daß mit einigen tausend Mark die Hypothekenschulden zu decken waren.

Er fühlte nach den beiden kleinen Safeschlüsseln, die das Vermögen in dem Stahlkästchen freigaben. Eines Tages – wann immer – würde man es von ihm fordern. Es gehörte ihm nicht. Aber konnte er sich schon jetzt den Finderlohn sichern? Daran konnte niemand etwas finden. Niemand? Erst mußte er mit Inge Brodersen sprechen.

Deutlich wie ein Bild sah er das Gutshaus vor sich: die bescheidenen vier Säulen, denen es den Namen des »Schlosses« verdankte – die Eingangshalle mit den vielen Geweihen, sogar einem Elchgeweih, und den ausgestopften Raubvögeln –, und dicht neben der Tür den alten Kupferstich: der Alte Fritz auf Grotthausen.

Jetzt war Grotthausen wieder von Preußen losgesprengt und durch einen Zufall dem unfreien Freistaat Danzig zugesprochen worden. Eigentlich war es nur ein Berechnungsfehler der internationalen Kommission gewesen, aber man hatte ihn stehen lassen wie andre, schlimmere Fehler auch. So konnte man doch bei Familienfesten auf dem Dach des »Schlosses« Grotthausen die Danziger Flagge hissen, die beiden Kreuze mit der Krone, und es brauchte nicht der weiße Adler zu sein.

Sie würde auch flattern, wenn er wieder heimkam – und das war jetzt wohl notwendiger als je. Schrie dieser Brief nicht nach ihm?

Etwas schlurfte im Gang draußen, und ein zaghaftes Klopfen löste ihn von seinen Gedanken. Die Nachbarin, die alte Lehrerin, trat ein.

Fräulein Fuchs war eine Tiernärrin, die die Pensionsmutter bisweilen durch mitgebrachte herrenlose Katzen und Hunde in gelinde Verzweiflung versetzt hatte. Es hieß von ihr, daß sie in trockenen Tagen die Schnecken aufsammelte, um sie daheim feucht zu betten, bis besseres Schneckenwetter eintrat. Fest stand, daß sie mit einem Läppchen die Vogelspuren vom Fensterbrett allabends wischte, damit der Hausherr nichts gegen die Vogelfütterung und die damit verknüpften Folgen einzuwenden hätte. Sie mußte täglich mancherlei Grobheiten einstecken, wenn sie Tierbesitzern unerbetene Ratschläge gab.

Grotteck hatte manche Spötterei an der Pensionstafel von ihr abgewandt, wo sie übrigens Fleisch ganz gern aß, und sich ihre Freundschaft und ihr Vertrauen erworben.

Fräulein Fuchs hatte wieder einmal eine große Sorge. In der Nachbarschaft waren vier Affenpinscher geboren, ein unerwünschter Zuwachs, dem Vernichtung drohte, da die Mutter sich mit einem minderwertigen Vater gepaart hatte. Nach der Ansicht der alten Dame, die verlegen ihr Leid klagte, waren es die süßesten Geschöpfe ihrer Gattung.

»Lieber Herr Grotteck, die Hundesteuer ist doch erhöht worden. Es wird ein Hundeblutbad geben, wenn Sie nicht hilfreich eintreten.« Es klang, als ob er den bethlehemitischen Kindermord verhindern solle.

»Ja, aber ich kann doch nicht vier Affenpinscher aufnehmen. Was würde Frau Zedlitz wohl dazu sagen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber wissen Sie nicht ein Plätzchen für die kleinen Gottesgeschöpfe? Wenigstens für eines?«

Sie stand so zerknittert vor ihm, in ihrem Kostüm von Urzeiten her, das »immer noch« genügte. Als sein Blick auf den Brief aus Grotthausen fiel, sagte er schnell: »Ich will bei meiner Mutter anfragen. Ich will es sogar mündlich machen; denn ich reise bald dorthin.« Nun war auch dies entschieden.

Das alte Fräulein strahlte. Ihre lederfarbenen Bäckchen hatten je einen roten Farbtupfen aufzuweisen. Es hätte nicht viel gefehlt, daß sie ihn umarmt hätte.

»Wir packen sie gut ein. Es wird schon Platz auf dem Gut sein. Ist es denn weit?«

»Weit ist ein relativer Begriff. Aber wenn wir sie im Flugzeug schicken, geht es ja schnell.«

»Bekommt es den Tierchen aber auch? Sie sind doch daran nicht gewöhnt.«

»Sie dürften auch die Eisenbahn nicht gewöhnt sein«, meinte Grotteck, der ungeduldig zu werden begann.

»Sicher nicht«, antwortete sie nachdenklich. »Das wäre immerhin ein Ausweg. Und in der Landluft können sie sich ja wieder erholen. Ach, Sie ahnen gar nicht, was für Sorgen unsereins hat!« Ihre Hand glitt über seine Rechte. Es war wie zerknülltes Leder, was über seine Hand strich.

Er bemühte sich, ernst zu bleiben und komplimentierte sie hinaus.

Dann nahm er Hut und Mantel und ging zur Bank.

Der Besuch der Bank war eine starke Nervenprobe. Die Blicke der Kontrollbeamten durchbohrten ihn. Jeden Augenblick erwartete er, daß sich eine Hand auf seine Schulter legte und daß eine strenge Stimme fragte: »Woher stammt dies unmenschlich viele Geld?«

Aber es geschah nichts. Ein höflicher, unpersönlicher Gruß von dem jungen Mann war alles.

Als er die Halle durchquerte, rief ihn eine Stimme beim Namen, die ihn erzittern ließ.

Inge Brodersen stand vor ihm, in ihrer unauffälligen Eleganz. »Was treiben Sie im Tempel des Mammons?«

Da war die Frage, und es galt, zu antworten. Er stand verwirrt vor dem schönen, lächelnden Mädchen und rang nach Worten. »Ich muß einmal mit Ihnen sprechen, aber allein … allein …«

Sie schien seine Verwirrung mißzuverstehen. Errötend sagte sie: »Wir sehen uns doch am Freitag wieder?«

»Ich will verreisen. Ich muß. Aber vorher …«

›Also am Freitag. Ade. Mein Vater wartet draußen auf mich. Der letzte Abend ist Ihnen doch gut bekommen?«

»Oh, gut über mein Verdienst.«

Als er mit ihr vor die Tür trat, war der Wagen noch nicht da. »Dann hat Blinsky meinen Vater aufgehalten«, sagte sie leise, und er vernahm deutlich das leichte Zittern in ihrer Stimme. Wieder ergriff ihn die unerklärliche Angst, die er an dem letzten Freitagabend empfunden hatte. Nur war es damals ein Flügelstreifen gewesen, und jetzt krallte sie sich mitten in sein Herz.

»Kann ich Ihnen nicht helfen?« fragte er schnell.

»Sie – mir helfen?« Einen Augenblick sah sie ihn prüfend, zögernd an. »Nein,« setzte sie mit einem stolzen Lächeln hinzu, »da ist nichts zu helfen.«

»Glauben Sie nicht, daß meine Jugend mich dazu unfähig macht?«

»Nein, das ist es auch nicht. Uebrigens sind Sie ja älter als ich. Wie sollte ich da der Jugend nicht trauen? Es ist eben nichts zu helfen.«

Aber so leicht ließ er sich nicht aus dem Sattel werfen. »Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich fühle es, daß der Augenblick kommen wird, wo Sie einen Menschen brauchen werden. Machen Sie mich glücklich, und sagen Sie, daß Sie mich dann rufen werden, wo ich auch bin.«

Sie sah in sein ernstes Gesicht und sagte, ihm die Hand reichend, langsam: »Ich verspreche es Ihnen.«

»Ich danke Ihnen.«

Sie nahm wieder den leichten Plauderton auf. »Nun dürfen Sie mich noch drüben bis zum Parfümerieladen begleiten und mir etwas erzählen. Zum Beispiel: wer war die junge Dame gestern im Auto?«

»Ein Mitglied des Rundfunks«, log er verlegen. »Sie begreifen, ich stelle mich gern gut mit den Mitarbeitern dort …« Er stockte und fühlte, daß er rot wie ein Junge wurde, rot bis über beide Ohren.

Sie blickte ihn lächelnd an. »Soll ich das glauben?«

»Nein, das sollen Sie nicht glauben. Ich kann Sie nicht anlügen. Ich kann überhaupt schlecht lügen. Es hat mir schon in der Schule geschadet. Sie ist eine kleine Klavierspielerin in einem öffentlichen Lokal.«

Inge blickte beiseite. »Sie war hübsch.«

Das hatte sie also auch gesehen. »Ich bin nicht deswegen mit ihr zusammen«, warf er fast heftig ein. »Ich lernte sie in einer Stunde kennen, wo ich nicht allein sein wollte.«

»Das begreife ich.«

Er strahlte. »Sie begreifen alles. Ich wußte es. Es war auch etwas Mitleid, was mich gestern mit ihr zusammenbleiben ließ, und irgendeine dumme Ritterlichkeit Nein, ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Als ich sie kennenlernte, war ich nicht ich selber.« Nun war der Augenblick, wo er Inge sein Geheimnis beichten mußte. Aber er sah in ihre Augen, die gespannt die vorbeisausenden Autos prüften, und er fühlte ihre innere Unruhe mit.

Er schwieg verwirrt. Als sie vor dein Parfümerieladen standen und sie sich verabschieden wollte, fragte er plötzlich: »Wissen Sie, was im Russischen ›slowo‹ heißt?« Er wußte selber nicht, warum sich ihm diese nebensächliche Frage aufgedrängt hatte.

»Ich muß Sie enttäuschen. Russisch ist eine der wenigen Sprachen, die ich nie begriffen habe. Wohin reisen Sie übrigens?«

»Nach Grotthausen. Zu meiner Mutter.«

»Wie ich Sie beneide! Reisen Sie bald! Und wenn Sie wiederkommen, müssen Sie mir von Ihrer Mutter erzählen.«

Nervös schritt Kurt Grotteck der Hauptpost zu, um das Geld an die Mutter zu senden. Telegraphisch, damit sie noch heute von ihren Nöten erlöst war und nichts Unüberlegtes tat.

Ungeduldig stand er vor den Postschaltern. Der Geruch nasser Mäntel mischte sich mit dem Qualm schlechten Tabaks. Er krauste die Nase.

Die dicke Dame vorn am Schalter versuchte, ihren Kopf durch das Schiebefenster zu stecken, als wollte sie den Beamten küssen Ihre eifrige, sich überschlagende Stimme beherrschte seit einer Viertelstunde die Situation. »Ich versichere Sie, es können nicht mehr als 230 Gramm sein, höchstens 240. Hoch gerechnet. Meine Briefwaage funktioniert doch, sollte ich meinen.« Ein mäßig unterdrücktes Gelächter antwortete von drinnen. Seufzend, empörten Blicks, zog sie endlich ihre Tasche und legte Geldstück für Geldstück hin.

Grotteck sah erbittert auf seine ruhigen Nachbarn. Sie standen Wie erschlagen von der Gewalt eines übermächtigen Schicksals. Sie hatten offenbar mehr Nerven und mehr Zeit als er.

Endlich kam ein halbwüchsiger Junge dran, der ein Firmenschild an der Mütze trug. Dann ein dicker Herr, und nun war er vor dem Schalter. Er schob das Formular hinein, zog es aber im gleichen Augenblick zurück, murmelte etwas von vergessenem Geld und zog sich unter dem schadenfrohen Grinsen der Nachbarn zurück.

Die Scheine! Wie konnte er so leichtsinnig sein, diese Scheine einem Beamten zu geben! War es nicht möglich, daß sie schon bekannt waren?

Er hatte nur deutsche an sich genommen und sich auf diese Klugheit etwas zugute getan – aber gerade diese waren besonders gefährlich. Wie hatte er daran nicht denken können?

Einen Dienstmann damit beauftragen und im Hintergrund abwarten wie ein Erpresser, der das Lösegeld von Schmach und Schande abwartet? Unsinn, sein Name stand ja groß und breit als Absender da. Er mußte draufstehen. Sonst nahm Mutter das Geld gar nicht erst an.

Was sollte er tun? Verzweifelt durchirrte er die Straßen. Aus dem Alcazar klang scharf rhythmisiert ein Jazz. Es klapperte, schrillte, schepperte und lärmte. Wie hatte er dies je ertragen können? Als sich die Tür öffnete, Rauchschwaden entsendend, floh er.

Lange hielt er vor einem kleinen Postamt der Vorstadt. Aber hier wagte er nicht einmal einzutreten.

Gegenüber war ein Polizeibüro. Ja, da konnte er hineingehen und den Fund anzeigen, wie ein Kind, das einen Regenschirm gefunden hat.

Aber dann kam das Ausfragen, wo, wie und warum. Kein Mensch würde ihm glauben, daß man ihm dieses Vermögen in die Hand gedrückt. Sie würden ihn dabehalten und mit Fragen quälen, bis er irgendeinen Unsinn sagte. Es war ja möglich, nein, es war wahrscheinlich, daß sie längst von einer Bankberaubung wußten, daß sie diesmal eine neue Taktik einschlugen und auf die nicht immer wünschenswerte Mitwirkung der Oeffentlichkeit verzichteten.

Er flüchtete in ein kleines Café und erkannte erst nach einer Weile, daß es dasselbe war, wo er neulich nachts mit Martha Rebmann gewesen war. Immerhin war um diese Stunde keine Musik.

Schläfrigkeit breitete sich über den Raum. Der gleiche Kellner von damals brachte eine schwärzliche Brühe als Mokka. Angewidert bemerkte Grotteck seinen schmierigen Frack.

Er durchflog alle Zeitungen, deren er habhaft werden konnte. Nirgends war auch nur die geringste Andeutung über einen Geldverlust, Endlich stieß er im Inseratenteil auf die Empfehlung des Okulus.

Kiewening – den konnte er ausfragen. Wenn irgendeiner, so mußte er Bescheid wissen. Ob es die Möglichkeit gab, daß man solch einen Fall im Dunkeln ließ, ob ihm nichts von solchen Dingen bekannt war? Wenn er nichts wußte – und er würde ihn mit schlangenkluger Vorsicht ausfragen –, dann war er ein elender Windmacher.

Die Wohnung war nicht weit von hier. Er warf das Geld auf den Tisch und ging.

An der Ecke sah er einen schlanken, mittelgroßen Herrn vor sich, der ihm bekannt vorkam.

Der andre blickte einen Augenblick in ein Schaufenster, und da erkannte er ihn. Es war Blinsky.

Was hatte der Privatsekretär Brodersens hier in dieser verlorenen Gegend zu suchen? Grotteck folgte ihm vorsichtig, das Taschentuch zur Hand, um das Gesicht zu decken, falls jener sich umwandte.

Blinsky bog in die Reinhardstraße ein, suchte an den Nummern der Häuser und betrat nach kurzem Zögern das Eckhaus.

Grotteck ging langsam nach und sah, daß das Haus die Nummer »154« trug. Hier wohnte Kiewening.

Er trat ein und hörte Blinsky die letzten Stufen der ersten Treppe emporgehen und einen Augenblick später kurz und energisch läuten. Seine trockne Stimme fragte nach dem Chef des Okulus, und er wurde eingelassen.

Was wollte er dort?

Grotteck wartete eine kurze Weile und überlegte, ob er ihm folgen solle. Dann entschloß er sich, ihn abzuwarten.

Aber im Hausflur war ein lebhaftes Hin und Her der vielen Mietparteien, und draußen mochte er nicht stehen. So gab er den Besuch bei Kiewening für diesmal auf und fuhr mit der nächsten Trambahn nach Hause.

*

Herr Kiewening stocherte in einem Rettichsalat, sorgsam die dünnsten Scheiben aus der öligen, übel duftenden Brühe holend, als ihm von seiner Haushälterin der Besuch eines Herrn gemeldet wurde.

»Wie sieht er aus?«

Sie zuckte die Achseln. »Nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt. Und ein kleines Schnurrbärtchen hat er auch.«

»Das ist gar nichts«, fuhr er sie an. »Da hätten Sie ebensogut sagen können: keine besondern Merkmale. Sie müssen sich eine subtilere Ausdrucksweise angewöhnen. Es geht hier nicht zu wie auf dem Paßamt. Subtil heißt übrigens« – er sann angestrengt nach und vollendete ärgerlich: »Subtil heißt eben subtil. Wie kann man bloß so dumm sein?«

»Danke für die Belehrung«, höhnte sie.

Er überhörte ihre Worte und fragte streng: »Haben Sie auch gesagt, daß ich sehr beschäftigt bin?« Er schob ihr den Teller mit dem Rettichsalat zu, wischte sich mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch den Mund und holte aus dem Regal aufs Geratewohl ein dickes Aktenbündel, das er mit einer kräftigen Handbewegung auf den Tisch schleuderte. Eine kleine Staubwolke kräuselte sich empor.

»Ich habe ihm gesagt, daß er warten soll«, brummte die Haushälterin. Sie trug mürrisch den Teller hinaus und warf die Tür hinter sich zu, daß es knallte.

»Alte Kreuzspinne!« schrie Herr Kiewening ihr nach. Dann ging er leise zu der Portiere, die die Tür zum Nebenzimmer einrahmte. Er schob eine kleine Klappe beiseite und betrachtete den neuen Kunden. Als er mit seiner Beobachtung fertig war, öffnete er die Tür mit jenem raschen Ruck, der die Mehrzahl seiner Besucher aufschrecken ließ, als ob sie bei frischer Tat ertappt wären.

Hier versagte seine Probe. Blinsky sah ihn ruhig mit seinem undurchdringlichen Blick kühl an.

»Bitte, mein Herr, treten Sie ein – aber nur, wenn es sich um eine sehr eilige Angelegenheit handelt.«

»Selbstverständlich. Sonst wäre ich nicht hier.« Blinsky trat ein, sah sich im Zimmer um, schnupperte in der Luft und sagte: »Pfui Teufel, riecht das hier schlecht!«

Dann zündete er sich eine Zigarette an, deren beißender Duft den Geruch des Rettichsalats langsam vertrieb. Auch Kiewening griff mit schuldbewußtem Gesicht nach einem Zigarrenstummel, der in einem Aschenbecher lag, und setzte ihn umständlich in Brand.

Blinsky nahm, ohne zu fragen, in dem schief gepolsterten Stuhl Platz. »Können wir anfangen? Meine Zeit ist nämlich bemessen.«

Kiewening setzte sich verblüfft und versuchte mühsam, Haltung zu gewinnen: für gewöhnlich stellte er diese Frage.

Nach einem kräftigen Räuspern sagte er: »Ich nehme an, daß Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Darf ich nun um Ihren Namen bitten?«

»Nein«, klang es schroff zurück. »Das dürfen Sie nicht.«

»Wie?« fragte Kiewening, der nicht recht gehört zu haben glaubte.

»Es handelt sich um eine Sache, aber nicht um meinen Namen.«

Kiewenings Stimme bekam einen flehenden Ton. »Ich muß doch wissen, unter welchem Namen ich Sie in mein Kundenbuch eintragen darf und wohin ich etwaige Informationen richten soll.«

»Ach so, eine Adresse brauchen Sie. Ja, die sollen Sie haben.« Er lehnte sich zurück und sagte, zum erstenmal lächelnd: »Sagen wir Brod. Hans Brod, hauptpostlagernd. Ich bin viel auf Reisen. Daher. Brod ist doch ein ganz hübscher Name, wie?«

»Unser täglich Brod«, witzelte Kiewening, den Namen in einem umfangreichen Buch eintragend. »Und nun Ihr Auftrag, Herr – Brod!«

»Es handelt sich um Papiere, die am letzten Mittwoch, abends zehn Uhr, durch Einbruch gestohlen sind.«

»Geraubt«, verbesserte Kiewening. »Uebrigens am Mittwoch? Heute ist Dienstag.«

»Das weiß ich.«

»Warum kommen Sie erst heute damit?«

»Nehmen Sie an, daß ich den Raub erst heute bemerkt habe.«

»Das kommt vor, gewiß. Namentlich, wenn man viel verreist. Aber Sie müssen zugeben, daß sich in dieser Zeit die besten Spuren verwischt haben können.«

»Spuren sind keine da. Der Verbrecher muß mit Handschuhen gearbeitet haben.«

Kiewening lächelte geringschätzig. »Es wären schon Spuren zu finden gewesen. Diese Herren schwitzen bisweilen bei ihrer anstrengenden Tätigkeit.«

»Er hat nicht geschwitzt, verlassen Sie sich darauf.«

»Um was für Papiere handelt es sich?«

Blinsky zögerte. »Das ist hier gleichgültig.«

»Bitte. Ich muß alles wissen, wenn ich erfolgreich arbeiten soll.«

»Nein«, entgegnete der andre scharf. »Das müssen Sie nicht.«

Kiewening zündete seinen ausgegangenen Zigarrenstummel wieder an. So fand er seine Ruhe wieder und bemerkte augenzwinkernd: »Wollen wir nicht erst die Frage des Vorschusses erörtern?«

»Ach so.« Blinsky zog seine Brieftasche und entnahm ihr einen Schein, den er auf den Tisch warf.

»Bitte, quittieren.«

Der Detektiv steckte den Schein sofort in seine Brusttasche und quittierte. Sein Interesse wuchs. Es mußte sich um eine große Sache handeln.

»In welchem Hause hat der Raub stattgefunden, wenn ich fragen darf?«

Wieder zauderte Blinsky. »Es ist wohl nötig, daß Sie das wissen«, sagte er nachdenklich.

»Allerdings«, höhnte Kiewening, über soviel Anfängerschaft lächelnd.

»In einem Hause der Altstadt, nicht weit von der Sparkasse. Obere Flußstraße.«

»Nummer?«

»Nummer 7. Zweiter Stock. Hinterhaus. Es ist dort eine Lichtpausanstalt, wo auch künstlerische Steindrucke gemacht werden. Nach einer neuen Erfindung. Es handelt sich übrigens mehr um Experimente.«

»Breite Lichtfenster also?«

Blinsky bestätigte überrascht.

»Mit Vorhängen?«

»Natürlich.«

»Es handelt sich nämlich darum, Herr Brod, ob die Wohnung von einer andern Stelle einzusehen ist. Sie wissen ja, daß die unterschiedlichen Höhenlagen unsrer Straßen das bisweilen ermöglichen.«

»Eine gute Bemerkung.« Es klang wie: du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst. »Geben Sie einen Stadtplan her. Da Sie die Stadt sicher besser kennen als ich, müssen Sie überlegen, von wo das Haus eingesehen werden kann.«

Kiewening holte die Karte, breitete sie aus und fuhr mit einem unsauberen Zeigefinger bis zur obern Flußstraße, wo er stehenblieb. »Nummer 7 kann eigentlich nur von der Kaiserstraße eingesehen werden, etwa von dem Warenhaus aus oder einem Büro. Wohnungen sind dort keine. Allerdings auch hier vom Arbeitsamt der Schmelzstraße. Es ist das höchste Gebäude der Gegend und dem Warenhaus zum Teil vorgelagert.«

»Schön. Dann hätten wir ja eine Spur.«

»Tausend, mein Herr. Leider. Wer verkehrt nicht alles in einem Warenhaus und einem Arbeitsamt?«

»Es kann sich nicht um einen zufälligen Einblick handeln Der Täter muß die Gelegenheit genau geprüft haben.«

»Vielleicht. Haben Sie die Kriminalpolizei benachrichtigt?«

»Nein«, antwortete Blinsky schnell. »Ich wünsche auch nicht, daß das geschieht.« In dem Gefühl, seine Worte erklären zu müssen, setzte er hinzu: »Ich halte nicht viel von ihr.«

»Bravo!« schrie Kiewening. »Sie sind mein Mann! Sie sind vor die richtige Schmiede gekommen. Wir haben Fälle entdeckt, Fälle, wissen Sie! Da war hier eine alte Dame …«

Blinsky schnitt die Geschichte mit einer energischen Handbewegung ab. »Interessiert mich nicht. Bleiben wir bei der Sache. Es handelt sich für mich nur darum, wer an jenem Mittwoch die Papiere geraubt hat. Alles andre ist meine eigne Sache.«

»Es sind also wichtige Papiere? Diskrete, sozusagen?«

»Ja.«

Kiewening gab das weitere Ausfragen auf und griff zum Telephon. »Einen Augenblick, bitte.« Er rief eine Nummer an und wartete, mit den Fingern ungeduldig auf dem Aktenbündel trommelnd.

Endlich hörte Blinsky ihn in den Apparat sprechen: »Sind Sie es selbst, Fräulein Rebmann? Gut. Sie müssen gleich zu mir kommen. Quevedo wird es nicht erlauben? Sagen Sie ihm, er kann mir gut sein. Wie? Ja, sofort.«

Er hing ab. »Es ist natürlich nicht Neugierde, wenn ich nach den Papieren fragte. Es wäre nur wichtig, ob es sich um Geld handelt. Man könnte dann auf Personen achten, die sich durch große Geldausgaben verdächtig machen.«

»Ich glaube, das tut heutzutage nicht einmal der blutigste Anfänger. Wen riefen Sie eben an?«

»Eine Hilfskraft unsers Instituts.«

»Eine Dame?«

»Ja. Ein Fräulein Martha Rebmann.«

»Kann sie schweigen?«

»Ich habe gefunden, daß Frauen zuverlässiger sind als Männer: sie trinken wenigstens nicht.«

Blinsky entzündete eine neue Zigarette, erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er an der Portiere stehen, lüftete sie, hob die Ausguckklappe und sagte mit eisiger Verachtung: »Dadurch glaubten Sie mich prüfen zu können?«

Kiewening stammelte bestürzt: »Es ist so meine Methode. Es sollte keine Beleidigung sein, Herr Brod.«

Blinsky ließ die Klappe zurückfallen. »Ist es auch nicht. Es ist nur eine Narrheit, eine Idiotie, ein veralteter, lächerlicher Kniff. Natürlich habe ich Ihr Gesicht drinnen bemerkt. Ich hatte nicht übel Lust, Ihnen die Zunge auszustrecken.«

»Erregen Sie sich doch nicht über solche Kleinigkeit …«

»Guckt man auch durch diese Tür da?« fragte Blinsky leise. »Belauscht uns dort irgendein blöder Teufel?«

Im nächsten Augenblick war er auf Zehenspitzen an der Tür angelangt und riß sie auf. Die Haushälterin fuhr aus gebückter Stellung auf.

Kiewening war mit einem Satz an der Tür. »Geh zum Kuckuck, du dummes Luder! Belauschst du etwa meine Geschäftsgeheimnisse?« Er drohte mit geballter Faust.

»Ich verbitte mir das Du«, sagte sie frech. »Wir haben nicht zusammen Schweine gehütet. Und vielleicht ist mein Gewissen reiner als Ihres.« Den Besen als Schutzwaffe vor sich haltend, verließ sie das Nebenzimmer.

»Sie wird noch heute rausgeschmissen«, stöhnte Kiewening. »Aber vorher kriegt sie den Buckel vollgeschlagen.«

»Davon würde ich abraten. Aber in Zukunft besprechen wir uns anderswo, nicht in diesem Idyll.«

Es läutete in bestimmten Abständen dreimal.

Kiewening verließ das Zimmer und kam gleich danach mit Martha Rebmann zurück. Sie begrüßte den Fremden flüchtig und fragte Kiewening, was denn vorliege.

Kiewening stellte vor: »Herr Brod – wenigstens für uns, Fräulein Rebmann, meine tüchtigste Kraft.«

Blinsky musterte sie ungeniert. »Sie fuhren im Auto zum Wald hinauf, nicht wahr? Wann war es doch gleich?«

Sie sah ihn verblüfft an.

»War das auch eine Geschäftstour? Ich meine: steht der betreffende Herr unter Beobachtung des Okulus?«

Ein scheuer Blick Marthas flog zu Kiewening hinüber. »Nein«, sagte sie fest.

»Schade. Das hätte mich interessiert«, meinte er mit verkniffenem Lächeln. »Na, es ist ja auch so ganz wertvoll. Aber nun zur Sache. Erklären Sie.«

Kiewening nahm wieder Platz und setzte Martha die Sachlage auseinander. Er schloß: »Sie haben doch Verbindung mit dem Arbeitsamt?«

»Verbindung? Höchstens durch meinen Wirt, der dort vorübergehend in der Schreibstube arbeitet.«

»Richtig. Dekepper ist dort. Ausgezeichnet. Sie werden ihn sofort in seiner Arbeitsstätte besuchen. Ein Vorwand wird sich schon finden. In welchem Stockwerk ist die Schreibstube?«

»Im vierten. Es ist das oberste. Von dort dürfte man den besten Ausblick auf die Nachbarschaft haben.«

Kiewening meckerte. »Und den Einblick. Vergessen Sie den Einblick nicht!«

»Zurzeit ist Dekepper aber gar nicht im Arbeitsamt.«

»Seit wann? Vielleicht seit Donnerstag?«

»Ich weiß nicht. Ich sehe ja meine Wirtsleute tagelang nicht. Beim Weggehen jetzt eben traf ich ihn zufällig im Flur.«

Blinsky mahnte zum Aufbruch. »Ich muß Ihren Wirt unbedingt sehen.«

»Das ist einfach. Er ist ja jetzt zu Hause.«

»Hat er in letzter Zeit so viel verdient, daß er es sich leisten kann, auf seine Gelegenheitsarbeit zu verzichten?«

»Das weiß ich nicht. Er klagte über Kopfschmerzen.«

»Lüge!« schrie Blinsky erregt. »Lüge. Er hat es nicht mehr nötig. Sie werden es sehen. Wir fangen ihn in eigener Falle.«

Kiewening betrachtete aufmerksam seinen aufgeregten Kunden. Es handelte sich also doch um Geld … Aber warum verschwieg er das?

Martha sagte ruhig: »Die Familie lebt sehr bescheiden von dem Verdienst der Frau. Gestern hat sie mich sogar angeborgt, weil sie nichts zum Mittagessen hatte.«

»Finte!« schrie Blinsky. Da er die prüfenden Blicke des Detektivs fühlte, fiel er in einen leichtern Ton: »Wir werden ja sehen … Gehen wir jetzt? Ach so, ich verspreche mich: die Dame wird wohl mehr für ein Auto zu haben sein, wie?«

»Es kommt ganz auf die Gesellschaft an«, wies Martha ihn zurück. »Aber da alles so eilig ist, müssen wir wohl einen Wagen nehmen.«

»Herr Brod bezahlt«, fiel Kiewening rasch ein. »Oder soll ich es auf Konto nehmen?«

Blinsky antwortete nur mit einem ungeduldigen Achselzucken.

Die drei gingen Haus für Haus der hochgelegenen Kaiserstraße ab. Lifts führten sie in die hohen Stockwerke. Da überall Geschäftsräume waren, fiel es nicht schwer, Vorwände für den Eintritt zu finden und in der Wartezeit die Aussicht zu bewundern.

Im obersten Stockwerk des Warenhauses war ein Spielwarenlager. Kiewening entschied sich für eine elektrische Eisenbahn. Blinsky nahm den Kassenschein an sich, um ihn draußen wegzuwerfen. Nirgend war ein Einblick in das beraubte Haus möglich. Aber Kiewening bestand darauf, systematisch vorzugehen.

Es dämmerte schon, als sie zum Arbeitsamt kamen.

Dunkle Gestalten standen in Gruppen vor dem Haus, mißbilligende Urteile über das Auto fällend.

Martha ging schweigend hinter den beiden.

Endlich waren sie im vierten Stock. Gleich links an der Treppe war ein Glasverschlag, in den man eine Tür eingebaut hatte. »Zimmer 47a« stand darüber. Eine Pappkarte mit schön geschweifter Rundschrift verriet, daß hier die Kurse für Erwerbslose verwaltet wurden.

»Hier ist der Zugang zum Schreibbüro«, sagte Martha.

Sie berieten einen Augenblick, klopften und traten, ohne »Herein« abzuwarten, ein.

An einem primitiven Tisch, der mit Aktendeckeln, Kalendern, Kuverts und losem Papier bedeckt war, hockte eine krumme Gestalt, die sich jetzt aufrichtete und aufsprang. Es war Surrmann.

»Sie wünschen?« Seine kurzsichtigen Augen kniffen sich zusammen. Er erkannte Blinsky und wollte im ersten Augenblick auf ihn zugehen. Da jener aber eine schroff abweisende Miene zur Schau trug und es ihm selber peinlich war, hier arbeitend getroffen zu werden, wandte er sich an Kiewening, der sein Mienenspiel neugierig gemustert hatte.

»Ist Herr Dekepper da?« fragte Martha schnell. »Ich habe meine Schlüssel zu Hause gelassen, denken Sie nur.«

»Bitte, dort hinein!« Die drei kümmerten sich nicht um ihn und traten ein.

Das Zimmer war leer. In hohen Stapeln lagen Briefumschläge, Adreßbücher und Reklameblätter mit verschiedenen Firmenaufdrucken.

Blinsky und Kiewening traten sofort an das hohe Fenster. Als sie kurze Umschau gehalten hatten, sagte Kiewening: »Das dort ist die Obere Flußstraße. Sollte das große Fenster dort Ihre Lichtpausanstalt sein?«

Blinsky nickte. Sein Gesicht war in diesem Augenblick von Wut verzerrt. »Er sieht wie ein wildes Tier aus«, dachte Martha.

»Das ist es, natürlich. Sonst ist ja kein großes Fenster dort. Wenn der Vorhang offen ist, kann man so ziemlich alles drin sehen. Und es muß manchmal offen gewesen sein«, setzte er mit geballten Fäusten hinzu.

Eine Tür öffnete sich, und das Geklapper von Schreibmaschinen klang laut und vernehmlich herein. Ein kleines Männchen, in einen gelblichen Arbeitskittel gehüllt, schlotterte herein und fragte nach den Wünschen.

Kiewening fragte nach dem Preis für Adressen. »Sie machen sie hier doch billiger?«

»Billiger und besser«, sächselte der kleine Herr und schob seine Brille auf die bucklige Stirn. Er zog eine Schublade auf und suchte einen Prospekt heraus. »Wieviel Tausend dachten Sie?«

»Wer arbeitet hier?« fragte Blinsky. »Ich meine, sind es zuverlässige Leute?«

»Es sind alles stellungslose Kaufleute und abgebaute Bankbeamte. Sie werden zufrieden sein.«

Kiewening winkte Martha zu, die schnell nach Dekepper fragte.

»Herr Dekepper fehlt. Er hat Zahnschmerzen, der arme Wicht.«

»Er fehlt seit Donnerstag, nicht wahr?« fiel Blinsky ein.

»Seit Donnerstag?« wiederholte das Männchen, ohne sich über die genaue Fragestellung zu wundern. »Es ist möglich. Wir führen darüber nicht Buch. Wer nicht kommt und nichts verdient, hat es mit sich auszumachen. Ersatz ist sofort da.«

Kiewening bedankte sich für die Auskunft und versprach, morgen das Adressenmaterial zu bringen.

Sie eilten hinaus, die Treppen hinab, Blinsky voran.

»Jetzt zu Ihrem Herrn Wirt!« Keuchend bestiegen sie den Wagen, der sie in zehn Minuten zur Steinstraße brachte.

Blinsky sprang zuerst heraus. »Bleiben Sie hier!« befahl er. »Dies hier geht mich allein an.«

Er läutete an Dekeppers Wohnung heftig und unbeherrscht. Drinnen klirrte etwas, dann herrschte Stille – eine künstliche, wartende Stille. Er glaubte das Schlurfen von Pantoffeln zu hören und den unterdrückten Atem eines Menschen.

Rasend vor Wut, trommelte er mit beiden Fäusten auf die Tür. »Oeffnen Sie! Ich höre doch, daß jemand da ist, Sie Narr!«

Aber die Tür blieb verschlossen. Blinsky lief die Treppe wieder hinunter. »Er macht nicht auf.«

»Wir werden doch die Polizei holen müssen«, meinte Kiewening lauernd.

Blinsky würdigte ihn keiner Antwort. »Geben Sie Ihre Schlüssel her!« herrschte er Martha Rebmann an.

»Das ist Hausfriedensbruch«, warnte Kiewening.

Blinsky sah ihn so wütend an, daß er keinen Einwurf mehr wagte. Martha ging hinauf und öffnete. »Bleiben Sie beide unten am Treppenabsatz stehen, was auch kommen mag! Welches ist sein Zimmer?«

Sie deutete auf eine Tür rechts und ließ ihn ein.

Der überfüllte Korridor barg keinen Menschen. Blinsky klemmte sich an den Möbeln vorüber bis zu der bezeichneten Tür. Zu seiner Überraschung war sie unverschlossen.

Er trat in das Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Er mußte warten, bis er sich in dem halbdunkeln Raum zurechtfand. Da lenkte ihn ein Ächzen und Stöhnen nach dem Bett in der Ecke. Dort lag jemand mit verbundenem Kopf.

»Guten Abend!« sagte Blinsky mit übertriebener Höflichkeit. Als er keine Antwort bekam, ging er zum Fenster und riß die Vorhänge zurück. »Stellen Sie sich nicht tot wie eine Wanze, Sie da!«

»Was wünschen Sie?« hauchte eine Stimme.

Blinsky setzte sich auf einen Stuhl, der am Bett stand, blickte den Daliegenden eine Weile prüfend an und sagte dann, wie enttäuscht: »Er ist es nicht.«

»Nein«, antwortete der andre schnell. »Ich bin es nicht.«

»Was sind Sie nicht?«

»Wahrscheinlich nicht der, den Sie suchen«, antwortete der Kranke, der sich sichtlich zur Haltung zwang. »Wie kommen Sie übrigens dazu, hier einzudringen? Wissen Sie nicht, daß das strafbar ist?«

Blinsky hatte seine Worte gar nicht gehört. »Sie sind Herr Dekepper, nicht wahr?«

Der andre nickte.

»Und Sie liegen im Bett? Seit wann?«

Dekepper richtete sich jäh auf. »Der Satan soll mich beißen, wenn ich Ihnen Rechenschaft schuldig bin. Wer sind Sie überhaupt?«

»Bleiben Sie ruhig im Bett«, befahl Blinsky streng. Er beugte sich dicht über Dekepper und sagte langsam: »Wer ich bin? Das ist sehr schnell gesagt. Ich bin der Verwalter des Geldes.«

»Des Geldes?« stammelte Dekepper. »Des Geldes? Sind Sie verrückt? Von welchem Geld reden Sie?«

»Von dem in der Obern Flußstraße gestohlenen oder geraubten Geld – wie Sie wollen.«

Dekepper versuchte zu lachen, aber er gab den Versuch bald auf. Er faßte an seine Backe und jammerte: »Mein Zahn … Sie sollten mir einen Zahnarzt holen …«

Blinsky ließ ihn nicht aus den Augen. »Ich werde statt dessen lieber die Polizei holen.«

Dekepper zuckte zusammen. Aber plötzlich schrie er den Eindringling an, dröhnend und gar nicht wie ein Kranker: »Scheren Sie sich hinaus! Sie sind …« Mitten im Satz war er aus dem Bett. Aber ehe er sich aufrichten konnte, hatte Blinsky ihn an der Brust gepackt. »Wo steckt das Geld?«

Der Angegriffene versuchte sich vergebens loszureißen. »Ich weiß nichts«, stöhnte er, mit einem prüfenden Blick die Entfernung zur Tür messend.

»Versuchen Sie nicht zu entfliehen. Draußen stehen andre. Es ist hier nicht wie im Mauergang.«

»Ich will ja gar nicht davonlaufen.«

»Um so besser. Hören Sie mal ruhig zu. Es ist Geld geraubt worden, und Sie sollen uns wieder dazu verhelfen. Uns, sage ich. Denn das Geld gehört nicht mir, aber ich bin dafür verantwortlich. Es gehört einer großen Macht, verstehen Sie? Und das ist das Schlimme daran«, wiederholte er drohend. »Das ist das Schlimme daran.«

»Ich verstehe«, murmelte Dekepper, ihn verständnisvoll anblickend.

»Gut. Wir kommen uns also schon etwas näher. Ihre Aufgabe ist nur, das Geld wiederzubeschaffen. Ich sichere Ihnen Straffreiheit zu. Es wird keine Anzeige gemacht werden. Wir werden sogar nicht einmal genau nachzählen. Nun?«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen …«

»Ueberlegen Sie sich alles ruhig. Wir haben ja Zeit.«

»Ich könnte Geld gut brauchen«, klagte Dekepper. »Ich bin ein armer Mann. Verarmt, mein Herr. Ich war nicht immer so schlecht dran. Abgebaut und all mein Geld auf der Sparkasse …«

»Ganz recht. In der Nähe der Sparkasse geschah es. In der Obern Flußstraße, nicht wahr?«

»Obere Flußstraße?«

»Es ist nicht weit von hier. Gar nicht weit, wenn man Auto fährt – und das taten Sie ja wohl nachher, wie?«

Dekeppers Augen irrten im Zimmer umher, und Blinsky folgte ihm mit den Augen aufmerksam. Als sie an dem eisernen Ofen hängenblieben, fragte er: »Ist es da drinnen?«

»Sehen Sie doch selber nach.«

»Also dort nicht? Gut. Aber wo sonst?«

Dekepper sprang einen Schritt zurück. »Wenn Sie nicht sofort gehen, schreie ich die Nachbarn zusammen.«

»Tun Sie das nicht. Ich warne Sie.« Er öffnete seinen Mantel.

»Wollen Sie mich morden?« Dekepper ging, die Hände ängstlich vor sich streckend, bis ans Fenster zurück.

»Schießen? Nein. Man macht heutzutage so was ohne Lärm. Sehen Sie hier dies kleine Instrument? Es sieht wie ein Thermometer aus, nicht wahr? Aber es ist ein Indikator.«

»Indikator?« stotterte der andre.

»Ja, ein Druck auf diesen kleinen Knopf genügt, um Sie durch einen elektrischen Schlag, einen kleinen Blitzschlag, für eine Weile unschädlich zu machen. Eine russische Erfindung. Na, wir werden sie hoffentlich nicht brauchen. Setzen Sie sich doch! Es plaudert sich dann angenehmer.«

Dekepper nahm gehorsam Platz. »Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts weiß. Ich habe das Geld nicht, von dem Sie da reden.«

»Aber der andre hat es, wie? Der, dem Sie es gaben, wie? Der große Unbekannte, wie?«

Bei jedem »Wie?« zuckte Dekepper zusammen. Er faßte an seine Backe. »Geben Sie mir wenigstens meine Zahntropfen drüben.«

»Bitte, bedienen Sie sich selber.«

Dekepper schlich mit kläglichem Gesicht zum Tisch, nahm das kleine etikettierte Fläschchen und entkorkte es. Mit zitternder Hand füllte er einige Tropfen in einen Kaffeelöffel.

Als er bemerkte, daß sein Besucher ein Stück frischer Tapete musterte, warf er sich auf ihn. Seine Faust schlug schwer auf den Kopf des Quälers.

Blinsky glitt vom Stuhl, riß sich wieder auf und drückte an dem kleinen Instrument.

Dekepper, der zur Tür flüchtete, blieb plötzlich stehen. Seine Arme flogen in die Höhe, der Körper krümmte sich und sank in sich zusammen wie ein leerer Sack.

*

»Bedaure, das gnädige Fräulein ist nicht zu Hause«, sagte der Diener. Er hielt die Hand an der Türklinke, als wollte er dem Besucher den Eingang versperren.

Grotteck wollte ärgerlich umkehren, als eine tiefe Stimme herabgrollte: »Aber ich bin da.«

Er blickte empor. Ueber das Geländer des Balkons beugte sich die massige Gestalt Brodersens.

»Darf ich kommen?« fragte er mit lebhaftem Gruß.

Brodersen schwieg einen Augenblick, als wollte er sich erst vergegenwärtigen, wer der Besuch war. »Herzlich willkommen!« donnerte er dann herunter. »Herzlich, wie immer, Herr Baron, oder wie man Sie anreden soll. Kommen Sie und leisten Sie einem alten Mann Gesellschaft. Sie tun ein gutes Werk.«

Der Diener riß die Tür auf.

»Na also«, meinte Grotteck lächelnd. »Warum nicht gleich?« Er warf ihm Hut und Mantel zu und ging die Treppe empor.

Oben an der Tür stand Si. Ihre großen Hundeaugen blickten ihn groß an. Aber sie schienen ihn nicht zu prüfen. Sie sahen durch ihn hindurch, über ihn hinweg.

»Guten Tag, Si!« Er dachte an Surrmanns Schwärmerei und nickte ihr vertraut zu. Sie neigte sich mit einer feierlichen Gebärde und huschte davon, ihm den Weg zeigend. Ob sie wohl sprechen kann, dachte er.

Brodersen saß an einem Tisch, der für zwei gedeckt war. Es schien Grotteck als ein Zeichen dafür, daß Inge erwartet wurde.

»Nehmen Sie Platz, junger Freund, und entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht entgegenkam. Alte Leute haben ihre Eigenheiten.« Mit dröhnendem Lachen preßte er Grottecks Hand.

Trotz der Freundlichkeit des alten Herrn fühlte sich Grotteck bedrückt. Was sollte er mit ihm sprechen? Das einzige Thema, an dem ihm lag, durfte hier nicht berührt werden – das fühlte er.

»Herrlich wohnen Sie hier«, begann er endlich und schämte sich des banalen Anfangs.

»Ja, unten die Stadt, die hier nicht mitzureden hat, rings die Gärten, eigens zur Verschönerung meiner Aussicht gepflanzt … und die Sonne, vergessen Sie die Sonne nicht. Sie steht sogar in meinem Kaufvertrag drin. Ich habe in meinem Leben nämlich so viel Sonne geschluckt, daß ich immer friere.«

»Warum sind Sie da nicht tiefer in den Süden gezogen?«

»Nein, nein, ich brauche Wechsel. Nie ist die Sonne so schön, als wenn sie nach einem Winter voll Schnee und Kälte einem wieder auf den Pelz brennt. Das ist Lebenskunst, mein lieber junger Freund: die Veränderung erhält frisch. Alles treibende Element beruht auf dem Wechsel, auf dem Rhythmus. Ohne ihn keine rechte Melodie. Das werden Sie mir bestätigen können.«

Si stand neben Grotteck und goß ihm Tee ein. Herber Duft strömte aus ihrem glatten schwarzen Haar. Tiergeruch – empfand er wieder – Wildgeruch. Ach, Surrmann würde Schöneres gedacht haben …

»Bedienen Sie sich! Das nächste Mal weiß Si schon, was Sie brauchen. Nehmen Sie eine Wodka? Sie ist nach einem Rezept der Zarenküche gebraut. Oder Whisky? Sie dürfen nicht vergessen, daß die Nationen, die ihn am meisten trinken, die Welt beherrschen: die Angelsachsen.«

»Und Amerika?«

»Das ist ein raffiniertes Land, haha! Machen wir uns nichts vor: jener weise Gesetzgeber, der die Prohibition einführte, handelte wie Mohammed, als er seinen Gläubigen den Wein verbot. Er schenkt seinen Landsleuten das Verbot als Anregung und neuen Reiz. Er war ein Menschenkenner. Jetzt ist es drüben Ehrensache, einen Whiskykeller zu haben.«

Grotteck lachte Aber seine Blicke blieben unruhig an den langen, schweren Händen drüben haften, die langsam über den Tisch krochen – wie Tiere mit eignem Leben.

»Meine Tochter las mir neulich aus Schillers Briefen vor. Er bedankte sich da sehr sachverständig für eine Weinsendung, die ihm sein Verleger geschickt.«

Grotteck fühlte sich freier, seit Inge erwähnt war. »Solche Verleger gehören heute in das Reich der Fabel wie die Seeschlange.«

Brodersen ließ die Tasse heftig niederklirren. Seine grauen Brillengläser blitzten ihn zornig an. »Die Seeschlange – ein Fabeltier? Wissen Sie nicht, daß sie im australischen Meer von glaubwürdigen Leuten gesehen wurde?«

»Das ist mir neu.«

Der Stierkopf Brodersens war vornübergebeugt, als er in fast drohendem Ton fortfuhr: »Lesen Sie die Berichte von Le Soniew und vom Kabelschiff Osborn, das Seeschlangen von 60 Fuß Länge beobachtet hat. Ich selber sah an der Queenslandküste eine, die mit einem jungen Walfisch kämpfte und ihn bewältigte. Sie erwürgte ihn wie die Boa ein Kalb und zog ihn hinab.«

Grotteck begriff nicht, wie man sich über eine Seeschlange so erregen konnte. »Natürlich, wenn Sie sie sahen …«

»Freilich sah ich sie mit meinen eignen Augen. Ich war damals dreißig Jahre alt und hatte Augen wie ein Seeadler. Wie ein Seeadler«, wiederholte er leiser, und seine Stimme bekam einen weichen, fast traurigen Beiklang.

Aus dem Nebengarten rief eine gutturale Stimme: »Mister Brodersen?«

Der Angeredete warf sofort seinen Körper in der Richtung der Stimme herum und rief lachend: »Kommen Sie nur, Frau Gräfin. Hier sitzen zwei Bewunderer von Ihnen, ein alter und ein junger. Zum Aussuchen.«

Grotteck beugte sich über die Brüstung, um zu sehen, wessen Bewunderer er sei. Eine kleine, korpulente Dame im grauen Haar stand am Gartenzaun und klagte: »Ich kann leider nicht. Ich bin doch Sklavin des gräßlichen Gartens, und der Gärtner läßt mich wieder im Stich. War er schon bei Ihnen?«

»Ja. Entschuldigen Sie schon, daß ich so ungalant war, ihn anzunehmen. Uebrigens werden Sie mit jedem Tage jünger und schlanker.«

Die Gräfin quittierte über das faustdicke Kompliment mit glücklichen Trillern. »Immer Schwernöter, der Mister Brodersen! Denken Sie, Spaziergänger haben wieder meine schönen Forsitien geknickt. Was macht man nur gegen dies Gesindel?«

»Schießen!« brüllte Brodersen überzeugt hinunter. »Oder lassen Sie einen Ihrer Panther los!«

Nun wußte Grotteck, wer die Dame unten war. Einst hatte sie als Miß Lawrence, die kühne Löwenbändigerin, die Plakate aller Zirkusse der Welt geziert. Ihre zwölf abessinischen Löwen waren berühmt gewesen. Tausende hatten in wollüstigem Grauen geschaudert, wenn sie dem größten den Kopf in den weit aufgesperrten Rachen gesteckt hatte. Eines Tages hatte sie ein ungarischer Graf geheiratet, die Bestien wurden verkauft – nicht ohne einen Verzweiflungsausbruch der Dompteuse, die nun ihren Kopf in den Rachen der Ehe steckte.

Merkwürdigerweise war die romantische Ehe glücklich geworden, während die Tiere dem Nachfolger kein Glück brachten: sie kamen auf einer südamerikanischen Tournee bei einem Eisenbahnbrand um. Nun war die Gräfin längst Witwe und saß mit den Resten ihres Vermögens in ihrer Vaterstadt, dick und rund, keineswegs an ihre bunte, gefährliche Vergangenheit erinnernd.

»Meine Panther? Ach, hätte ich sie nur behalten! Wissen Sie, daß man mich einmal im Cirque Medrano in Paris pfänden wollte? Ich saß inmitten meiner Panther und sagte: »S'il vous plaît, monsieur?« Was für eine Zeit! Le Rire brachte eine glänzende Karikatur des armen Beamten. Ist Fräulein Inge nicht da?«

»Nein, sie spielt Hausfrau und kauft ein.«

»Hausfrau? Caracho. Das riecht so nach Marktkorb und Saisonausverkauf.«

»Was wollen Sie? Die Zeiten sind schlecht. Also ich schicke Sie Ihnen, da Sie sich doch nicht zu mir herwagen.«

Sie lachte kokett hinauf. »Sie sind mir zu gefährlich, Mister Brodersen.«

Brodersen wandte sich wieder seinem Gast zu. »Ich habe Miß Lawrence, die eigentlich Lorenz hieß, in Konstantinopel kennengelernt. Es ist lange her, und daß wir einmal Nachbarn werden würden, hätten wir uns nicht träumen lassen. Sehen Sie mich nicht so spitzbübisch an: verliebt habe ich mich auch damals nicht in sie, by Jove.«

Grotteck war verwundert: er hatte den Hausherrn gar nicht angesehen. Sein Blick war gerade auf die Straße abgeirrt, wo ein Auto herankam. Aber er wagte nicht zu widersprechen.

»Welches Instrument haben Sie heute schon gespielt, Sie vielseitiger Tausendkünstler?«

»Heute war freier Tag. Ich spielte heute nur das königliche Spiel.«

»Also Schach. Haben Sie mein koreanisches Spiel gesehen? Es steht da drinnen irgendwo und verstaubt.«

Grotteck, der das für eine verhüllte Aufforderung ansah, lud ihn zu einer Partie ein. Es war ja auch der beste Ausweg, um hier auf Inge zu warten. Er würde schon dafür sorgen, daß die Partie sich hinzog.

»Sie sind zu liebenswürdig, wirklich.« Brodersen reichte seine Hand herüber. »Aber ich bin gar nicht in Form, wie die Sportleute sagen.« Grotteck begriff nicht, womit er dem »Gorilla« solchen Gefallen getan hatte, daß er ihm immer wieder und wieder die Hand drückte.

Aus der Partie wurde nichts. Brodersen begann wieder von seinen Reisen zu erzählen und unterbrach sich plötzlich mit der unvermittelten Frage: »Bringt Grotthausen viel ein?«

Grotteck war empört. »Das dürfte Sie kaum interessieren.«

»Nehmen Sie es einem Geschäftsmann und alten Mann nicht übel,« sagte Brodersen ganz sanft, »wenn er so geradeaus fragt. Aber die Zeiten sind für Deutschland ja nicht gerade rosig angehaucht. Können Sie davon leben?«

»Das klingt ja wie ein Verhör«, bemerkte Grotteck gereizt. »Ich komme aus, und mehr braucht man nicht.«

»Warum wohnen Sie nicht dort, in Ihrer Heimat?«

»Sie wohnen ja auch nicht in Ihrer Heimat.« Er fühlte die Ungezogenheit seiner Antwort, aber freute sich ihrer. Das Sprunghafte in Brodersens Unterhaltung hatte ihn verwirrt. Er hatte das Gefühl, daß der düstere alte Mann dort mit ihm spielte, daß alles nur dazu bestimmt war, das Gespräch unübersichtlich zu machen, um jäh mit einer entscheidenden Frage den geplanten Ueberfall zu machen. Und plötzlich kam ihm der Gedanke: Inge ist gar nicht fort, sie ist irgendwo in diesem weitläufigen Haus, und man verheimlicht sie vor mir …

Brodersen schien die schlechte Laune seines Besuchers nicht zu merken. »Künstler müssen Schwierigkeiten haben. Reibung erzeugt Wärme und Glut. Aber es muß Spielraum da sein. Kein Flugzeug steigt senkrecht aus der Tiefe in die Luft. Ich wünschte, Ihnen einen solchen Anlauf geben zu können.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

Brodersen beugte sich herüber und sagte so leise, wie es seiner Stimme möglich war: »Es wird unter uns bleiben. Wieviel brauchen Sie?«

Grotteck erblaßte. Das war es also gewesen. Er dachte an Surrmanns Worte: »Ich bin dort außer Kurs gesetzt.« Sollte mit ihm das gleiche geschehen? Wie mußte dieser Mann die Menschen einschätzen!

»Es ist keine Schande,« fuhr Brodersen leise und geschmeidig fort, »von einem alten reichen Mann Geld anzunehmen. Glauben Sie mir. Ich kenne die Welt.«

»Ich brauche nichts, nichts.«

»Ein großes Wort. Nur ein Diogenes oder ein Ford kann das sagen. Zu welcher Klasse rechnen Sie sich?«

»Nehmen wir an, daß ich Diogenes bin«, brachte Grotteck mühsam hervor.

Mit einem eigentümlichen Lächeln holte Brodersen aus seiner Seitentasche ein Scheckformular hervor. »Es ist schon gezeichnet. Sie brauchen nur auszufüllen.«

So leicht also dachte sich der Reichtum die Entwürdigung! Er fühlte stolz: und wenn ich bettelarm wäre, und wenn Grotthausen zusammenfiele, keine Mark würde ich nehmen. Er knüllte das Blatt zusammen und warf es vor Brodersen hin. »Nun sprechen wir wohl von etwas anderm, wie?«

Brodersens Hände glitten über den Tisch, ergriffen das Papier wie eine Beute und trugen es wieder in die Seitentasche zurück.

»Sie sind der erste, der es ablehnt, sich von mir helfen zu lassen.« Es war nicht klar, ob in seiner Stimme Enttäuschung oder Bewunderung schwang.

»Nehmen Sie an, es war die Laune …« Er hielt inne und wandte sich um. Sein Gesicht war angespannt. Er lauschte und dann flüsterte er: »Blinsky ist draußen.«

Unwillkürlich folgte Grotteck seinen Blicken. »Wer?«

»Pst!« machte der Alte. »Gehen Sie leise zur Tür, ganz leise, und reißen Sie sie auf!«

Grotteck stand so im Bann dieser befehlenden Stimme, daß er gehorchte. Als er öffnete, schloß sich eine Tür jenseit des Ganges. Er lief hinüber und öffnete auch diese Tür. Auch dort war niemand. Nur der leise hin und her schwankende Perlvorhang drüben verriet, daß dort jemand herausgegangen war.

Er stand verwirrt. Was bedeutete das alles? Blinsky belauschte seinen Herrn, und dieser schien Furcht vor ihm zu haben? Denn sonst hätte er seinen Privatsekretär doch hereingerufen.

Brodersens Lachen klang. »Kommen Sie nur. Das sind so kleine Ueberraschungen, an die man sich gewöhnen muß.«

Als Grotteck zurückkam, lachte der Alte noch immer, wie über einen gut gelungenen Spaß. »Ich habe gute Ohren, wie? Ein Wachthund kann von mir lernen. Wissen Sie, das ist die Entschädigung, die die Natur gewährt. In gewissem Sinn ist sie nämlich gerecht. Man muß nur nicht zuviel verlangen.«

»Entschädigung? Wofür denn?«

»Für das Alter, mein lieber junger Freund. Aber bedienen Sie sich doch!« Er war schon wieder der liebenswürdige Wirt. Si goß ihm ein und schob die Whiskykaraffe hin. »Erzählen Sie etwas von Zuhause!«

Grotteck dachte nur daran, daß Inge ja einmal kommen mußte, ob sie nun draußen war oder im Haus. Er begann von Grotthausen zu sprechen und kam auf die friderizianischen Erinnerungen, die sich an das Gut knüpften.

»Sie sind also eine Art preußischer Junker?«

»Junker? Ach, das ist auch so ein Schlagwort. Ich habe mir sagen lassen, daß der englische Adel von lächerlicher Exklusivität ist und daß seine Kultur sich auf Fuchsjagden und Golfsport beschränkt.«

»Stimmt. Ich wollte Sie übrigens nicht verletzen, als ich Sie einen Junker nannte. Oder vielleicht wollte ich es doch …« Er zögerte, und ein seltsames Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er vollendete: »Aus Neid vielleicht.«

»Aus Neid?«

»Ja. Es muß schön sein, mit jahrhundertelangen Erinnerungen verknüpft zu sein.«

Eine Weile schwiegen beide, und Grotteck nahm es als Aufforderung zum Gehen. Er erhob sich. »Ich muß nun leider fort. Ich habe noch einige Vorbereitungen zur Reise zu treffen.«

»Sie fahren nach Hause?«

»Ja, und ich bitte Sie, Ihrem Fräulein Tochter meine Grüße zu übermitteln.« Er verbeugte sich korrekt und wollte gehen.

»Nichts da«, rief Brodersen. »Einen Gefallen müssen Sie mir noch erweisen, schon zum Zeichen, daß Sie mir nicht böse sind. Drinnen steht der Flügel. Er wartet schon allzulange auf Sie. Meine Tochter hat mir heute Escreabine gespielt, was mich ein bißchen nervös machte. Spielen Sie etwas Ausgeglichenes!«

Wieder klang es wie ein Kommando. Aber der Satz mit der Tochter entschied. Grotteck trat ins Nebenzimmer und öffnete den Flügel. Zärtlich streichelte er die Tasten, die vor kurzem Inges Hand berührt.

Er spielte das Präludium in Cis-Moll von Rachmaninow und wußte selber nicht, wie er die Sammlung zum Spiel fand. Aber er spielte ja nur Inge, seine Liebe zu Inge und seine Sehnsucht nach Inge … Er vergaß bald, daß er für den ungefügen, unheimlichen Mann dort spielte, der Inges Vater war.

Ein Klirren und ein unterdrückter Fluch weckten ihn. Mitten im Spiel drehte er sich um. Brodersens Teetasse lag auf dem Boden, und seine Hände tasteten am Tischtuch entlang nach dem Fußboden. Es war eine unsäglich hilflose Bewegung.

Und plötzlich erkannte Grotteck: Brodersen war blind! Er war blind und spielte den Sehenden, wie es dieser letzte König von Hannover getan, dessen Bild über dem Flügel hing. All die Zeit über hatte er dies Spiel getrieben!

Ein tiefes Mitleid und eine Scham überkam ihn, daß er alle Kraft zusammennehmen mußte, um nicht das Spiel mit einer grellen Disharmonie zu enden. Er durfte dem Unglücklichen dort nicht zeigen, daß er hinter sein Geheimnis gekommen war.

Eine Klingel schrillte, und Sis Gazellengestalt huschte durch das Zimmer nach draußen. Zornige Worte in einer fremden Sprache tönten gedämpft herüber. Endlich war sein Spiel zu Ende. Er erhob sich mühsam und ging auf den Balkon.

Der Blinde stand auf und hielt ihm beide Hände hin. »Sie haben mir eine große Freude bereitet. Ihr Spiel war hell wie die Sonne draußen.«

Zu Grottecks Entsetzen beschrieb Brodersen die Linie der Hügel drüben mit der Hand. »Wie das Licht die Berge saftig macht! Wie eine grüne Frucht, nicht wahr? Wie sie die Fenster da drüben zum Aufflammen bringt! Sie sehen es doch?«

Grotteck hatte nur auf den Sprechenden geblickt und stotterte eine Bejahung.

»Nicht wahr, nun begreifen Sie auch, warum ich hier wohne?«

Grotteck schwieg erschüttert, indes der Blinde seine große heroische Lüge fortspann und auf die Blütenpracht der Gärten ringsum wies. »Aber nun muß ich Sie entlassen. Ich sehe, daß mein Schreibfräulein unten gerade ankommt. Es gibt allerlei zu diktieren. Gute Fahrt und auf Wiedersehen!«

Grotteck ging schwankend vor Erregung hinaus, durch das Zimmer, die Treppe hinunter. Niemand begegnete ihm.

Grotteck fühlte sich erst erleichtert, als das Gitter des Vorgartens mit einem kleinen Knall zuschlug. Als er ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich um. Irgend etwas zwang ihn dazu.

Oben auf dem Balkon stand Brodersen, die Fäuste auf die Brüstung gestemmt, den schweren Kopf lauernd vorgestreckt. Aus den Brillengläsern stach eine gelbliche Flamme. Die dunkle, massige Gestalt stand in entsetzlicher, beklemmender Einsamkeit inmitten des blumendurchdufteten Sommertags.

*

»Haben Sie: Glücklich im Besitz schwer und mit Opfern errungenen Wohlstandes?«

»Ja, Herr Brodersen.« Das kleine magere Fräulein saß am Schreibtisch, dem Zimmer den Rücken kehrend, und bemühte sich, dem Diktat zu folgen. Der Bleistift hatte es nicht leicht, die heftig hervorgestoßenen Sätze, die plötzlich langen Pausen folgten, auf das Papier zu bringen.

Brodersen ging während des Diktats langsam im Zimmer auf und ab. Die Zigarre saß ihm schief im Mund. Ab und zu fielen Aschenreste auf den Perser.

»Schreiben Sie weiter: Aber ich war nicht immer reich. An meinem Kinderbett – wenn es ein Bett genannt werden kann, dieser Kartoffelsack voller Laub –, an meinem Bett also stand die Erniedrigung der Armut. Meine Mutter wusch Geschirr im Hotel, ja, sie wusch mit ihren vom Hunger ausgemergelten Händen die fetten Schüsseln der Prasser und Fresser sauber – für andre Prasser und Fresser. Mein Vater war Lokomotivheizer gewesen und bei dem großen Unglück im Zentralbahnhof von Kopenhagen umgekommen; er war zu einem unkenntlichen Brei zerquetscht worden. Ich kannte ihn gar nicht. Dafür um so besser meine Mutter, meine über alles geliebte Mutter –«

Brodersen ging immer den gleichen Weg, vom Fenster bis zur gegenüberliegenden Tür, die Hände auf dem Rücken, den Kopf vorgeschoben.

Ohne sich umzusehen, fragte das Fräulein vorsichtig: »Soll ich ›Fresser‹ schreiben?«

Mit einem Ruck drehte er sich auf dem Absatz um. »Schreiben Sie, was ich diktiere«, schrie er grob. »Das ist Ihre Aufgabe. Nichts andres. Wenn ich gesalbte und geschminkte Worte brauchte, würde ich mir einen Dichter kaufen. Diese sind billig genug.«

Das Fräulein duckte sich, als wenn sie geprügelt würde. »Ich tue natürlich alles nach Ihrem Wunsch«, sagte sie zitternd.

»Tun Sie es, und Sie tun wohl daran.« Seine Stimme wurde um einen Grad weicher. »Sind Sie übrigens hungrig?«

Sie verneinte schüchtern.

»Ihre Stimme klingt aber hungrig. Reden Sie mir nichts dagegen! Ich verstehe mich darauf. Nun, hier können Sie nicht essen. Dies ist hier kein Restaurant. Sie sollen Geld zu einem vernünftigen Frühstück haben, das Leib und Seele zusammenhält. Erinnern Sie mich nachher daran!«

»Ich danke Ihnen, Herr Brodersen.« Es war ihr anzumerken, daß sie so was nie wagen würde.

»Fahren Sie fort: Meine Mutter brachte es fertig, mir von ihrem Erlös ab und zu eine kleine Ueberflüssigkeit zu kaufen, ein Butterbrötchen oder Roed-groed mit Floede. Schreiben Sie, wie es klingt, es ist ein dänisches Gericht. Weiter! Von dem Essen im Hotel, von all den guten Brocken durfte sie nichts mitnehmen. Die Ueberbleibsel wurden zusammengescharrt und für billiges Geld einem Tierasyl verkauft. Das ist der Grund dafür, daß ich niemals ein Tier um mich geduldet habe. Ich sah in jedem Hund einen Feind, der mir einst meine Nahrung weggefressen hatte … Haben Sie zu Hause Tiere? unterbrach er sich.

Das Fräulein dachte an den kleinen Kanarienvogel zu Hause, aber sie getraute sich nicht, ihn einzugestehen.

Brodersen wartete ihre Antwort gar nicht ab und diktierte unvermittelt weiter. »So wuchs ich heran in Not und Dunkel. Ich war Zeitungsjunge, dann brachte ich vor dem Schulbeginn die warmen, duftenden Brötchen in die Häuser von Kongens Nytorp und da herum. Es war eine Riesenenergie nötig, um dies Geschäft mit hungrigem Magen zu besorgen, aber diese Energie habe ich schon damals gehabt. In meinem Schulranzen stak ja nur ein Stück trockenes Brot, das hart war, ehe ich es zwischen meine Zähne stecken konnte. Aber ich tat meine Pflicht und sammelte jeden Oer in eine blecherne Zigarettendose, die ich einmal auf der Straße gefunden. Der Kopf einer Sängerin war drauf, das weiß ich noch. Man darf es mir aber nicht übelnehmen, daß ich mitunter die Brötchen beleckte. Ich wundere mich noch heute, daß ich nicht darauf gespuckt habe.«

»Herr Brodersen!« schrie das Fräulein unwillkürlich auf, aber sie biß sich schon wieder auf die Zunge und krümmte den Rücken.

Der Blinde hatte gar keine Notiz von ihrem Aufschrei genommen.

»… Es war die erste große Freude in meinem Leben, als ich von meinem Ersparten meiner Mutter einen wollenen Schal in einem billigen Ramschladen kaufen konnte. Er war rot und grün mit gelben Querstreifen – merkwürdig, wie man solche Kleinigkeiten behält. Ich sehe ihn jetzt ganz deutlich vor mir. Wahrscheinlich war er scheußlich. Die Aestheten unter meinen Gästen von heute würden sehr in Verlegenheit geraten, wenn sie ihn vor mir loben müßten. Und das müßten sie ja, solange sie meine guten Weine trinken und mein Geld annehmen …«

Er stand jetzt an der Tür, lauschte einen Augenblick, riß sie auf und starrte angestrengt hinaus. Dann warf er sie knurrend wieder zu.

»Schreiben Sie: Ich lernte wie ein Teufel, bekam Prämien für freie Mittagstische, gewürzt mit Ermahnungen und Demütigungen. Aber ein junger Lehrer gab mir Bücher. Mich interessierten übrigens nur Sprachen und Reiseberichte. Das erste handelte von einem mutigen Franziskanermönch, der um das Jahr 1250 – also vor Marco Polo – durch Asien wanderte, ungefähr dort, wo in unsern Tagen Sven Hedin gezogen ist. Dann ein Buch über die spanischen Konquistadoren. Es war voll Blut und Grauen, vom Triumph der Roheit und der Zähigkeit – es gefiel mir weit besser, dies teuflische Buch, als der Bericht des frommen Mannes, der mit dem Brevier in der Hand auf dem Kamelrücken schwankte. Notabene habe ich diese Wege später auch gemacht, allerdings im Zug oder in einem Reiseauto.«

In den wasserblauen Augen des kleinen Fräuleins schimmerte Bewunderung auf. »Was Sie alles gesehen haben!« seufzte sie.

Brodersen zuckte zusammen. »Gesehen …«, sagte er langsam. »Gesehen habe ich, ja. Vielleicht habe ich zuviel gesehen, und das mußte ich bezahlen.« Er ließ sich, wie von einer jähen Müdigkeit überwältigt, in einen Sessel nieder. »Bewundern Sie mich, weil ich so viel gesehen habe?« fragte er lauernd.

»Ich bin nie hinausgekommen. Aber mein Bruder ist bis Berlin gekommen.« Es klang wie eine Ehrenrettung der Familie.

Er winkte ab. »Weiter! Da ich bei Kerzenlicht nachts las, ist es kein Wunder, wenn meine Augen früh schwach wurden. Ich mußte schon im zehnten Jahr eine Brille tragen, was meine Mutter viel unnützes Geld kostete. Sonst war ich stark wie ein Satan. Aber das half nichts, als meine Mutter eines Nachts erkältet nach Haus kam. Sie hustete, als ob sie die Seele aus dem Hals husten wollte. Sie verlor die Stellung im Hotel, und ich rang mit der Krankheit wie jener in der Bibel mit Gott. Ich glaube, ich habe damals sogar gebetet …«

Das Fräulein mußte lange warten, bis er fortfuhr, und sie tat es, ohne sich umzusehen. Die Stille, die im ganzen Hause herrschte, war so beklemmend, daß sie kaum zu atmen wagte.

»Sie ist verkommen«, diktierte die dunkle, grollende Stimme weiter. »Gestorben, weil ein paar Kronen zu den teuern Medizinen fehlten, die der Arzt, ein eiliger, alter Trottel, verschrieb. Jene Nacht gebar einen Haß in mir, mit dem mein späteres Leben nie fertig wurde. Er gewann neue Nahrung mit jedem Anwachsen meines Vermögens in spätem Jahren, wie das Raubtier durch Fleischbrocken gierig und kräftig wird. Ich haßte Geld, je mehr davon in meine Hände kam. Ich liebte es vielleicht nur als Mittel zum Zweck meiner Rache. Und nur darum habe ich jene übermenschlichen Anstrengungen gemacht, die mich in allen Teilen der Welt gefürchtet, also geachtet machten …«

Wieder dauerte es eine Weile, bis er fortfuhr: »Nur mit Geld kann man das Geld entthronen. Das begriff ich bald, längst, ehe es mir fanatische Theoretiker mit einem Schwall von Gründen beibringen wollten. Und jetzt ist es so weit. Es soll nicht Ruhe herrschen in den Palästen. Die Peitsche der Sorge soll um die Ohren der Zufriedenen knallen. Aus den Tresoren ihrer gepanzerten Geldschränke soll sie die Verzweiflung ihrer Ohnmacht angrinsen …«

Es gab einen kleinen Knacks. »Mein Bleistift ist abgebrochen«, flüsterte das Fräulein schuldbewußt. »Ich hole einen andern aus meinem Mantel.«

»Nein, es ist genug«, sagte Brodersen langsam. »Es ist genug für heute. Sie sind ja auch schon ganz entkräftet.« Das Fräulein wagte keinen Widerspruch und sammelte die Notizen zusammen.

»Die Blätter kommen nicht aus dem Hause«, befahl er schroff. »Sie werden sie meiner Tochter einhändigen und unter ihren Augen, wann sie es für richtig hält, in die Maschine übertragen.«

»Ja, Herr Brodersen.«

»Wünschen Sie sonst noch etwas?«

»Soll alles heute Geschriebene stehenbleiben?«

»Warum fragen Sie?«

»Nur, weil Sie den letzten Abschnitt schon mehrere Male diktiert haben.«

Brodersen runzelte die Stirn. Das Fräulein, das zitternd zu ihm hinübersah, bemerkte erschreckt, daß sein schwerer Körper in sich zusammensank. Sie wollte ihm zu Hilfe eilen. Aber sein Gesicht sah so drohend aus, daß sie mitten im Zimmer stehenblieb, mit ihren Tränen kämpfend.

»Ich werde es noch oft diktieren«, sagte Brodersen endlich. »Oft. Oft. Noch viele Male. Denn die Welt wird doch einmal wissen wollen –. Und jedesmal werde ich stärkere Ausdrücke finden. Man muß mir nur Zeit lassen.« Er lachte plötzlich laut auf, und dies Lachen war noch schlimmer als sein Zorn.

Während er sich schwerfällig aus dem Sessel erhob und dem Schreibtisch zuging, setzte er in gleichgültigem Ton hinzu: »Uebrigens diktiere ich Ihnen nicht etwa Lebenserinnerungen. Alles ist freie Erfindung, Phantasie, Roman. Sie dürfen nichts andres annehmen.«

Er drückte auf einen Knopf am Schreibtisch, den sie bis dahin nicht bemerkt hatte, und einige Minuten später trat Inge ein.

»Guten Tag, mein Kind. Das Fräulein will dir das Stenogramm geben.«

Inge nahm die eng bekritzelten Blätter und drückte aufmunternd die Hand des Mädchens. »Vielen Dank, und nun geleite ich Sie hinaus.«

Als Brodersen allein war, wandte er sich plötzlich dem Fenster zu, öffnete es und holte aus seiner Westentasche ein Silberstück hervor. Er wartete, bis draußen die Tür des Vorgartens klirrte, dann rief er, das Geldstück hinunterwerfend: »Fräulein, Ihr Frühstück!«

Die Münze blitzte im Sonnenschein auf und fiel in einen Syringenstrauch. Das Fräulein lief davon, als würde nach ihr geschossen.

Als Inge zurückkam, ging Brodersen ihr mit geöffneten Armen entgegen. »Ich habe dich vermißt, Inge.«

»Es war allerlei zu tun, Vater.«

»Ja, aber du weißt doch, daß ich dich am liebsten in jeder Minute um mich habe. Du bist ja schon an meinen Egoismus gewöhnt, wie?«

Sie streichelte seine Rechte. »Setz' dich. Das Diktieren wird dich wieder angestrengt haben. Soll ich dir nicht etwas bringen?«

Er nahm wieder im Sessel Platz. »Du sollst mir nichts bringen als deine Jugend.«

Inge schob einen Hocker näher und setzte sich zu seinen Füßen. »Du hast mich ja immer, Vater.«

»Ja, ich habe dich … dich. Aber wie lange noch?«

Sie erschrak. »Fühlst du dich nicht wohl, Vater?«

»So meinte ich es nicht, Kind. Ich habe eine Bärengesundheit und bin noch auf ein paar Jahrzehnte abonniert.« Er legte beide Arme um sie. »Meinst du nicht, daß ich dich noch immer mit meinen Armen zerdrücken könnte?«

»Ja, aber du tust es nicht«, sagte sie lächelnd.

»Nein, ich tue es nicht. Ich schütze dich. Ich hüte dich. Aber für wen, Inge? Für wen?« Sein Kopf neigte sich, als wolle er ihre verborgenen Gedanken lesen. »Für wen?«

»Für dich, Vater.«

Er wiegte den Kopf. »Deine Stimme zittert, Kind. Du täuschest mich nicht. Es ist ein neuer Klang in deiner Stimme.«

»Du irrst, Vater.«

»Du verbirgst mir etwas«, sagte er argwöhnisch.

Sie erhob sich und ging langsam von ihm fort. »Was sollte ich dir wohl verbergen?«

Er nickte. »So hast du immer gesprochen. Und immer ist es wahr gewesen. Bis heute.«

Sie überhörte den Doppelsinn seiner Worte. In ihre Stimme kam eine fliegende Angst, als sie fragte: »Was ist mit Blinsky? Du verbirgst mir wichtige Dinge, Vater.«

»Was soll mit ihm sein?«

»Er arbeitet nicht mit dir. Er ist fast Tag und Nacht unterwegs. Wenn man ihn fragt, weicht er aus. Und was für verdächtige Menschen besuchen ihn!«

»Verdächtige?« Der Blinde lachte lautlos vor sich hin. »Wer ist heutzutage nicht verdächtig?«

»Du zum Beispiel nicht. Und ich.«

»Von dir ist hier nicht die Rede. Aber ich dürfte wohl manchem verdächtig sein. Nun, um Blinsky kümmere dich nicht. Laß ihn seiner Wege gehen. Er weiß schon, was er will.«

Inge nahm alle Kräfte zusammen. »Ich fürchte, er weiß es nur zu gut.«

Der Blinde fuhr auf. »Wenn er es wagen sollte, seine Domestikenaugen zu dir zu erheben, wenn er es wagen sollte …!«

»Sei ruhig, Vater. Ich wehre mich schon selber. Er hat es nicht getan. Noch hat er es nicht getan. Aber wer weiß, was er nicht alles auf dein Vertrauen aufbaut.«

»Du meinst, auch mein Vertrauen sei blind, wie?«

In Inges Augen traten Tränen. »Quäle dich doch nicht selber, Vater!«

»Er soll dich nicht haben. Niemand soll dich haben. Ich will nicht, daß dich einer liebt.« Seine Stimme war wie Erz.

»Wer redet denn davon?«

»Alles redet davon. Alle Wände reden es. Jede Stunde, wenn ich allein bin, höre ich es. Jeder neue Frühling brennt es in mich ein.« Seine Stimme wandelte sich jäh zu einer erkünstelten Gleichgültigkeit. »Ich hatte vorhin Besuch. Vor einer Stunde.«

»Ich weiß: Herr Grotteck. Du hast mich nicht rufen lassen. Und du weißt ja, daß ich ohne dein Zeichen nicht komme.«

»Es war nicht nötig, um so mehr, als ich ihn prüfen wollte.«

Inge flog herum. »Prüfen?«

»Ja, ich prüfte ihn. Ich zeigte ihm die Schönheit unsrer Aussicht Wie ich das so mache. Und dann …«

»Und dann?«

»Dann bot ich ihm Geld an, wie allen andern. Viel Geld.«

»Vater, wie konntest du?«

»Warum nicht? Weil sie ihn Baron nennen? Weil er diesen hochmütigen, sichern Ton in der Stimme hat? So, als klirrte ein Kavaliersdegen von einst an seiner Seite?«

Inge kam Schritt für Schritt näher. Ihr Körper flatterte vor Erregung. »Weiter!« Mehr wagte sie nicht zu sprechen. Sie fürchtete, sonst aufschreien zu müssen.

Der Blinde hob seinen Kopf. Scharfe Falten schnitten in die Mundwinkel. »Glaubst du, er wäre der einzige, der nichts von mir nahm?«

»Ja, Vater, das glaube ich.«

Brodersen ließ den Kopf sinken. Er hatte genug aus dem Klang ihrer Stimme gehört. »Tröste dich. Ich erlitt eine Niederlage. Du hast recht.«

Inge fiel vor ihm auf die Knie. Ihre Hand griff nach der seinen. »Sag' mir, daß du ihn nicht geprüft hast, wie du es nennst. Sag' mir, daß du ihm das erspart hast, ihm und dir!«

»Und dir, meinst du doch, nicht wahr?«

»Antworte mir doch, Vater!«

Der Blinde umkrampfte beide Lehnen des Sessels. »Ich mußte es tun.«

»Nein, du mußtest es nicht. Es war nicht nötig, ihn zu demütigen.«

»Nun, er hat die Probe ja bestanden.«

Inge stand auf. »Ich muß jetzt gehen.«

»Was willst du?«

»Ich muß ihm schreiben. Ich muß ihn in deinem Namen um Entschuldigung bitten, daß du ihn beleidigtest«

»Das wirst du nicht tun, Inge.« Seine Stimme hatte alles Schroffe verloren. Es klang wie eine demütige Bitte: »Tu es nicht. Ich bitte dich darum.«

Als sie schwieg, stand er auf, nach der Ecke gehend, aus der er ihre Stimme zuletzt gehört. »Ich bitte dich selten, so selten. Aber nun bitte ich dich.«

Als sie ihn auf sich zutasten sah, hilflos und schwach geworden, wurde sie weich. »Wie du willst, Vater.«

»Uebrigens, wir verreisen morgen.«

Ihre Arme sanken. »Wohin?«

»Du wirst es noch rechtzeitig hören. Laß Si für alles sorgen.«

»Weswegen reisen wir, Vater?«

»Es sind wichtige Dinge im Werk«, begann er leise. »Aber nichts für dich. Nichts für dich.«

»Du weichst mir aus. Aber diesmal darfst du mir nicht ausweichen. Meinst du, ich spüre nicht, daß hier etwas vorgeht? Warum vertraust du es mir nicht an? Du warst früher anders.«

Er stand, an den Schreibtisch gestützt wieder ruhig und beherrscht. »Vertrauen gegen Vertrauen. Inge. Hast du mir nichts zu sagen?«

»Ich bin in Angst, Vater, merkst du es denn nicht? Ich glaube, Blinsky ist ein schlechter Berater. Er wird dich …«

»Er ist mein Privatsekretär, der seine Pflicht tut. Nichts gegen ihn! Er opfert sich in meinem Dienst auf.«

Sie sagte nichts mehr. Sie fühlte ein dunkles Schicksal heraufziehen, gegen das sie wehrlos war.

»Du bist in geschäftlichen Dingen nicht gewandt genug, als daß ich dir die gewaltigen finanziellen Aktionen erklären könnte. Du mußt mir glauben, daß ich das alles nur von dir fernhalte, um deinen jungen Sinn nicht zu verwirren. Es geht um so etwas wie die Weltherrschaft oder vielleicht auch um die Erschütterung dieser Weltherrschaft. Aber jedes Positive hat ja auch sein Negatives, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie mutlos.

»Ich habe die Fäden eines großen Netzes in der Hand. Verzeih' mir darum, wenn ich bisweilen ungeduldig bin. Gegen dich sollte ich es nicht sein.«

»Ich habe dir nichts zu verzeihen.« Einen Augenblick fühlte sie die alte Bewunderung für diesen Mann mit seinem unbeugsamen Willen, der alle Widerstände des Körpers beiseiteschob um einer Aufgabe willen, die hundert Augen erforderte.

Aber dann dachte sie an Grotteck und daß sie ihm nun wieder ferner gerückt war. Reiste Vater deswegen? Sie war an plötzliche Fahrten gewöhnt – wo war sie nicht überall gewesen, seit er sein Augenlicht endgültig eingebüßt hatte und sie ihm unentbehrlich geworden war? Aber seit sie hier in dieser deutschen Stadt wohnten, war er seßhaft geworden, bis vor einigen Monaten die ewigen Geheimsitzungen mit all den dunklen Menschen begannen, bis dies Werk sich anbahnte, das sie fürchtete, ohne es zu kennen. Oft hatte er ihren Instinkt anerkannt – warum wollte er jetzt nichts davon wissen, wo sie den Zusammenbruch dieses dunkeln Werks fühlte, das sie alle und ihr Glück mit sich reißen würde?

Das Schlimmste war, sie traute ihrem Vater nicht mehr. Sie hatte wohl bemerkt, daß er hatte sagen wollen, Grotteck sei in die Falle gegangen. Nur irgendeine alte Gewohnheit hatte ihn im letzten Augenblick umgestimmt und ihn zur Wahrheit genötigt, die so zögernd herausgekommen war. Sie fühlte etwas wie Haß aufsteigen. Aber da sah sie eine kindlich ungeschickte Bewegung des blinden Mannes, und alles Feindliche ertrank in einer Weile von Mitleid.

»Du weißt doch.« begann er endlich, »daß ich dir sonst jeden Wunsch erfülle.«

»Ja,« brach sie heftig aus, »du kaufst mir alles, Auto, Kleider, Perlen, die ich gar nicht will …«

Ueberrascht wandte er sich nach ihr hin. »Ich will, daß du glücklich bist. Du wärest das erste junge Mädchen, das an diesen Dingen keinen Gefallen fände.«

Sie schwieg. Es hatte keinen Zweck, dagegen zu reden. Ihre brennenden Augen waren erfüllt von einer abgrundtiefen Traurigkeit.

… Draußen kam Blinsky über den Korridor. Er hielt an der Tür an und lauschte. Da legte sich eine Hand auf seinen Arm.

Das malaiische Mädchen stand vor ihm und wies ihn mit einer Handbewegung fort.

Wut verzerrte sein Gesicht. Er hob die Faust, als ob er zuschlagen wollte. »Fort mit dir, gelbe Bestie!«

Si stand aufrecht und sah ihn mit ihren schwarzen Tieraugen ruhig an, ohne von der Stelle zu weichen. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie sprach kein Wort.

Langsam wich Blinsky Schritt für Schritt zurück, die umwölkten Augen auf die Wächterin gerichtet

*

Grotteck nahm sich vor, seine Reise zu verschieben, bis er ein Lebenszeichen von Inge erhalten hätte.

Seit er in Brodersens erloschene Augen geblickt hatte, war ihm das Rätsel dieses Hauses gelöst. Brodersen hatte ihn niemals übersehen – oder doch nicht mehr als alle andern –, und Inges schwermütige Stille war ja nun begründet Was für ein Schicksal lag auf ihr all die Zeit! Was mußte es sie kosten, dies Geheimnis ihres Vaters zu teilen, zu hüten und in immer neuer Anstrengung vor der Neugierde der Besucher zu wahren!

Als er seine Wohnung verließ, kam Fährmann an. »Wohin des Wegs, Barönchen? Schon auf die Bahn?«

»Ich muß zur Probe«, log Grotteck. »Ich soll doch in der Eroika mitspielen.«

»Ein paar Schritte komme ich mit. Also die Eroika im Sender. Das hat sich der olle Beethoven auch nicht träumen lassen. Großartig ist es übrigens schon, wie er mit den beiden kurzen Schlägen zu Anfang ›Paßt auf!‹ sagt! Und dann der Trauermarsch im zweiten Satz, wo die acht Takte des Hauptthemas von den Hoboen gejammert werden! Das ist schon direkt talentvoll erfunden. Und nun machst du ihn also berühmt?«

»Ja, aber unfreiwillig. Weil ich Geld verdienen muß. Das Zusammenspiel macht mir durchaus keine Freude.«

»Ich glaube, du spielst darauf an, daß du mir gestern Geld gepumpt hast. Du wirst wohl ein Philister?«

»Bewahre. Es war nur ein Stoßseufzer.«

»Nun, wenn man das Geld zu solcher Reise hat …«

»Falls dich das beunruhigt – ich habe es von Zuhause.«

»Der liebe Mammon!« seufzte Fährmann. »Wie sagt doch der Dichter: Das Niederträchtige ist das Allmächtige – nicht wahr?«

Grotteck mußte lachen. »Zitate und Fremdwörter sind Glückssache.«

»Nun, jedenfalls sind wir uns in diesem Punkt einig, daß Armut allein nicht glücklich macht. Wollen wir unsre Erkenntnis nicht im Alcazar begießen? Du mußt mich allerdings einladen.«

»Geh nur voraus. Wenn ich nicht nachkommen kann, darfst du die Zeche auf meine Rechnung schreiben lassen.«

Zu dieser Zeit saß Herr Kiewening im Alcazar, neben ihm hockte Dekepper, geknickt und zerstreut.

Kiewening war schlechter Laune, obwohl die Geschäfte lange nicht so gut gegangen waren wie in letzter Zeit. Dieser neue Kunde, der sich »Brod« nannte, machte zuviel zu schaffen.

Was war das für eine Dummheit gewesen, diesen tollen Menschen allein in die Wohnung Dekeppers zu lassen! Um ein Haar hätte ihn das mit der staatlichen Konkurrenz in unliebsame Berührung gebracht Als der Verrückte nach einer halben Stunde aus der Wohnung gestürzt kam, bleich und verwildert, hatte er den Revolver entsichert. Hatte jenem nicht der Schaum vor dem Mund gestanden?

Und dann Dekepper, mitten im zerwühlten Zimmer auf der Erde liegend, wie ein Toter! Gott sei Dank hatte er bald die Augen aufgeschlagen. Aber was ihn betäubt hatte, war nicht aus ihm herauszukriegen.

»Wissen Sie es noch immer nicht, wie er Sie betäubte?«

Dekepper zuckte bei der Frage zusammen. Er wagte kaum, von dem Wein zu nippen, zu dem ihn Kiewening freigebig eingeladen hatte. Er witterte seit dem schrecklichen Tag immer einen neuen Ueberfall. »Indikator …«, murmelt er. »Indikator oder so ähnlich hieß es …«

»Quatsch. Ihr Geist ist wohl noch verwirrt, he?«

Dekepper nickte. Er glaubte es selber.

Und wie die Wohnung zugerichtet war! Als ob die Senegalesen und Madagassen des Weltkriegs darin gehaust hätten. Alles schien umgestülpt. Alle Schubladen waren herausgerissen, die Tapete an verschiedenen Stellen abgerissen und der Aschenkasten des Ofens mitten im Zimmer zwischen den Betten! Kein Quadratzentimeter war ihm entgangen. Das einzig Erfreuliche war, daß jener nichts gefunden hatte und ihn mit neuen Aufträgen bombardieren mußte.

»Was hat denn Ihre Frau gesagt?«

»Da war ja schon wieder alles in Ordnung.« Dekepper blickte scheu beiseite. »Sie hätte sich sonst zu sehr aufgeregt«

»Und nur deshalb haben Sie uns händeringend gebeten, aufzuräumen?« fragte der andre streng. »Sehen Sie mich einmal an!«

»Nur deshalb.« Dekepper sah interessiert nach der Kapelle.

»Und Sie wollen auch nichts von dem wissen, was dieser Brod mit Ihnen gesprochen hat?«

»Nichts. Kein Sterbenswort. Er hatte mich doch betäubt«

»Ja, aber womit? Chloroform hätte man gleich gerochen. Und im Faustkampf war er Ihnen doch kaum überlegen. Sind Sie immer noch dagegen, daß man ihn verklagt?«

»Um Himmels willen!« Er sah so verstört aus, daß die andern Gäste schon aufmerksam wurden. Es war nichts aus diesem Waschlappen herauszukriegen, und das Glas Wein hätte er sich schenken können.

Es war klar, daß er irgendwie schuldig war. Aber wieweit? Daß man diesem schlappen Kerl keinen gefährlichen Auftrag geben würde, war klar. Höchstens hatte er Schmiere gestanden, und er war entweder aus Angst ausgekniffen oder er war von seinem kühnern Komplicen übers Ohr gehauen worden. Beides sah ihm ähnlich. Tatsache war nur, daß dieser mysteriöse Raub geschehen und daß dieser trübe Kerl dabei beteiligt war. Aber aus der Kenntnis beider Dinge ließ sich für den Okulus Nutzen ziehen.

Er wußte längst, daß sein Auftraggeber nicht Brod hieß. Es war nicht schwer gewesen, das herauszubekommen: er hatte beobachtet, daß der junge Mensch im Arbeitsamt ihn kannte, und Martha Rebmann hatte das übrige erkundet.

Ob »Brod« oder »Blinsky« – solange er zahlte, würde er Informationen kriegen, über wen er immer wollte. Aber er würde ihn für seine freche Art bestrafen, indem er ihn lange zappeln ließ: Rache ist süß.

Was für Geld konnte es nur gewesen sein, dessen Raub nicht an die Oeffentlichkeit sollte? War es nicht das Nächstliegende, daß Brod alias Blinsky es geklaut hatte? Aber wem? Nun, seinem Chef, dem reichen Brodersen. Da konnte er es verschleiern – wenigstens auf einige Zeit –, und das erklärte auch, daß noch nirgend etwas über den Verlust bekannt war. Ob man Brodersen einen kleinen Fingerzeig gab? Ungeahnte Möglichkeiten ergaben sich für den Okulus.

Während er zufriedener seinen Wein schlürfte, überlegte er weiter: Brod alias Blinsky hatte ihn auch mit der Beobachtung dieses Grotteck betraut, die er schon längst auf eigene Faust unternommen hatte. Warum? Nun, auch das war klar: Brodersen hatte ein einziges Kind, ein Mädchen von anerkannter Schönheit. War Grotteck, der dort verkehrte, sein Rivale? War er auf ihn eifersüchtig und suchte er deshalb Material gegen ihn? So was kam vor. Und er, Kiewening, war in solchen Fällen nicht schüchtern gewesen. Wer zahlte, war sein Freund. Warum kam nicht der andre zu ihm?

Hatte dieser Grotteck etwas auf dem Kerbholz? Es war immerhin ein sonderbarer Zufall gewesen, daß er gerade damals in ziemlich aufgeregtem Zustand ins Alcazar gekommen war, das ein paar Minuten vom Tatort lag, und daß er Martha Rebmann den Fünfmarkschein hingeschmissen hatte. Aber es konnte auch gut sein, daß er dem hübschen Mädchen imponieren wollte, die er ja angekeilt hatte. Kiewening kam zu dem Schluß, daß diese Möglichkeit viel für sich hatte.

Auf alle Fälle notierte er: M. R. seinen Geburtstag unauffällig erforschen! Auch das würde kein Beweis sein. Aber eins würde schon zum andern kommen, und sein Scharfsinn würde daraus eine Hauptaktion machen. Unberufen – toi, toi, toi!

Er notierte weiter: Auftrag an Lichtpausanstalt Obere Flußstraße 7, als ihn ein dumpfes Stöhnen seines Nachbars aus seinen Ueberlegungen riß. Er hatte ihn fast vergessen.

»Trinken Sie aus und gehen Sie nach Hause!« befahl er. »Wenn Ihr Kopf wieder klarer ist, suchen Sie mich auf. Es soll Ihr Schade nicht sein.«

Dekepper gehorchte erleichtert. Während er den schwarzen Wein in schnelleren Zügen trank, als ihm gut sein konnte, dachte er: Das ertrage ich nicht länger … ich bin ja schlimmer dran als ein gehetzter Hund … am besten, ich gehe gleich auf die Polizei und zeige alles an, ihn und mich … dann ist alles vorbei …

»Sie gehen direktemang nach Hause, verstanden?« fuhr Kiewening ihn an,

Dekepper duckte sich. Hatte dieser Mensch seine innersten Gedanken erraten? Mit einem schüchternen Gruß schlich er hinaus.

Als Kiewening nach ihm aufbrechen wollte, sah er Fährmann in das Lokal treten. Er winkte ihn eifrig heran und hatte die Genugtuung, daß er sich zu ihm setzte.

Die Kapelle hatte eben ein Potpourri beendet, und die Klavierspielerin ging einsammeln. Ehe sie das Podium verließ, irrte ihr Blick suchend über das Publikum. Sie seufzte: Kurt Grotteck war wieder nicht da.

»Erzählen Sie einen neuen Schwank aus Ihrem Leben, Herr Kiewening.«

Der andre war gleich dabei. Wenn man ihm glauben konnte, hatte er einen Bankdefraudanten erwischt. »Ein dummer Junge, aber anfangs hat er es uns schwer genug gemacht. Eben aus lauter Dummheit. Keine Fingerabdrücke, da er sowieso immer in Handschuhen ging. Und er trat kontraktlich an jenem Tag aus der Bank, an dem er das Ding drehte. Ein Scheckformular hat er sich aber noch rechtzeitig zu besorgen gewußt.«

»Wieviel?« fragte Fährmann interessiert.

Kiewening zwinkerte ein wenig. »5000 Mark hat er unterschlagen. Er war, wie gesagt, ein blutjunger Anfänger. Wie weit kommt man denn heutzutage mit 5000? Prosit übrigens!«

Fährmann lachte. »Das wäre gerade das, was meines Vaters Sohn brauchte, um ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Ich würde damit ein Konkurrenzlokal zum Alcazar eröffnen …«

»… und Ihr bester Gast sein«, vollendete Kiewening. »Kennimus. Geht Ihr Geschäft denn nicht?«

»Nie sollst du mich befragen …«, grölte Fährmann. Er hatte schon einiges an diesem Tag getrunken.

Martha trat an den Tisch und hielt den Sammelteller hin. Fährmann legte ein Zehnpfennigstück darauf und versuchte, zärtlich zu werden. Ob sie noch frei sei. Sie ging, ernst, ohne eine Miene zu verziehen. Kiewening schien sie gar nicht zu kennen.

»Ihr Freund Grotteck hat bessere Chancen«, meinte dieser lachend.

»Ja, der Baron ist jung und reich. Wer will dagegen aufkommen?«

»Er ist also wohlhabend?« Kiewening spitzte die Ohren.

»Er ist sogar mildtätig. Dank ihm bin ich wieder obenauf. Mein Freund Grotteck hat sich mir immer als rechter Freund erwiesen, und wer was dagegen sagt, ist nicht mein Freund und hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Ausstaffiert hat er mich! Er ist der einzige, der sich um einen Entgleisten wie mich kümmert.«

Die Kapelle spielte einen rauschenden Marsch, der jedes Gespräch totschlug. Als sich Musik und Beifall gelegt hatten, begann Kiewening: »Ihr Freund verkehrt doch auch bei Brodersen?«

»Gewiß«, bestätigte Fährmann stolz. »Er verkehrt in den besten Kreisen.«

»Ein reicher Mann, einer unsrer besten Steuerzahler, habe ich mir sagen lassen.«

»Und ob. Hat er übrigens mit Ihrem Fall etwas zu tun?«

Kiewening schlug sich auf die Schenkel. »Brodersen als Defraudant? Ausgezeichnete Idee. Nee, wissen Sie, eher schieben wir so'n Ding oder Ihr Freund Grotteck. Aber nun ist der historische Moment gekommen, wo ich der Kapelle was spendiere. So einen süßen Wein, wie ihn die kleinen Mädchen lieben.« Er rief den Kellner herbei und trug das Tablett selber auf das Podium.

Fährmann sah, wie er allen lächelnd einschenkte und wie er sich dann an die Klavierspielerin wandte, auf die er eifrig einsprach.

Was er nicht hörte, war seine Frage: »Nichts Neues?«

»Nichts von Bedeutung.«

»Alles ist von Bedeutung. Macht er keine auffälligen Ausgaben?«

»Nein. Es ist ganz ausgeschlossen, daß er …«

»Nichts ist ausgeschlossen«, fuhr er sie, immer lächelnd, an. »Sie haben nur Ihre Instruktionen zu befolgen, verstanden?«

»Das tue ich ja.«

»Und keine Liebelei, verstanden? Geschäft ist Geschäft. Jedes zu seiner Zeit.«

Marthas Gesicht war glutrot, als er sie verließ. Sie preßte die Hände wie in einem ohnmächtigen Zorn zusammen.

»Ein nettes Mädchen«, meinte Kiewening, der wieder Platz nahm. »Ihr Freund Grotteck meint es auch. Sie sagte mir eben, daß sie ihn schmerzlich seit einiger Zeit vermißt. Er sei der einzige wahre Kavalier hier.«

»Ist er«, bestätigte Fährmann, dem schon wieder Tränen in die Augenwinkel traten. »Und dazu eine Seele von Mensch Er nimmt sich unter Opfern meiner an. Ich weiß gar nicht, was er an einem solchen Wrack, wie ich es bin, gefressen hat. ›Wrack‹ ist übrigens gut gesagt, wie?«

»Man merkt die Bildung.« Er goß ihm das leere Glas voll. »Das wird Herrn Grotteck auch zu Ihnen ziehen. Er ist wohl sehr begütert, oder er hat Nebeneinnahmen, so eine kleine Erbschaft, wie?«

Seine Augen lauerten. Und plötzlich warf sich Klarheit in Fährmanns umnebeltes Gehirn. Dieser Mensch wollte etwas von Grotteck erfahren. Was hatte er nur alles gesagt? Er hatte wohl mit einem Maßanzug renommiert, ohne etwas andres dabei zu denken, als mit seinem Freund zu renommieren

Mechanisch setzte er das volle Glas an den Mund. Der Wein schmeckte mit einemmal essigsauer. Was wollte dieser grinsende Mensch? Was hatte er gesagt?

»Alles Renommisterei, mein Herr«, brachte er hervor, und er merkte, daß seine Zunge ihm nicht mehr ganz gehorchte. Das vermehrte seine Verwirrung. »Ein kleiner Rundfunkspieler ist er … ein großer Künstler … aber ein kleiner …« Er sah Quevedo am Tisch stehen. Wie durch einen Nebel sah er sein vergnügtes Schmunzeln. Das erbitterte ihn vollends. »Fragen Sie doch nach!« schrie er auf. »Und von meinem Anzug ist kaum das Futter bezahlt.«

Nun lachten auch die aufmerksam gewordenen Gäste an den Nebentischen. Kiewening zahlte für sie beide. »Das ist mir der Spaß wert«, meinte er zum Wirt, der verständnisvoll lachte.

Fährmann suchte in seinen Taschen, aber sie enthielten nur kleine Münzen. »Mein Freund Grotteck … der Baron … zahlt für mich. Er hat es mir selbst gesagt, er selbst … Lachen Sie nicht … Von Ihnen will ich nichts …«

Er wollte aufstehen, um ihm deutlich zu erklären, daß er nur renommiert habe. Aber Kiewening war schon fort, und Quevedo forderte ihn auf, für diesmal nach Haus zu gehen.

*

Grotteck stand vor dem gelben Haus der Rückertstraße. Aber er machte wieder kehrt, ehe er noch die Hand auf den Klingelknopf gedrückt hatte. Eine Weile wartete er noch, ob er nicht jemand sah, der ihn einführte. Als sich niemand zeigte, ging er weiter, den Weg zum Wald empor, den er damals mit Martha gegangen war. Es war eine Ewigkeit her.

Oben trat er in das kleine Waldcafé ein, und er ging gleich in die Telephonzelle, um Inge anzuläuten.

Es war feige, daß er nicht ins Haus gegangen war. Aber seine Nerven hatten jäh versagt.

Er war so verwirrt, daß er das Mundstück ans Ohr setzte und in die Hörmuschel sprach. Er übersah den Selbstanschluß der Nummer, rief das Amt an und mußte sich belehren lassen. Es kostete eine große Anstrengung, den Hörer wieder aufzuhängen, abzunehmen und die Zahl abzutippen. Zweimal verzählte er sich. Endlich glückte es: 20 136.

Eine wildfremde Stimme meldete sich. Zornig begehrte er das gnädige Fräulein an den Apparat. »Wie? … Ja, es ist dringend … sehr dringend … So rufen Sie sie doch endlich!« Er stampfte mit dem Fuß auf. Es dauerte dennoch lange, bis er ihre Stimme vernahm.

Ihre Stimme klang fremd und gezwungen, als sie auf seine Frage antwortete: »Mein Vater ist nicht wohl, wir können nicht empfangen.«

Er spürte nur ihr Zögern. »Ich möchte Sie so gern vor meiner Reise sprechen. Läßt es sich nicht dennoch ermöglichen?«

Eine Minute verfloß, eine unendliche, qualvolle Minute. Dann klang es leise, stockend, wie unter einem Diktat: »Es ist nicht möglich.« Und dann in jagender Hast, als fürchte sie einen Einwurf, der die schwachen Schranken ihrer Absage niederwarf: »Ich schreibe Ihnen.«

Das war alles. Jeder Versuch, noch mit ihr in Verbindung zu kommen, scheiterte.

Als Inge den Hörer ablegte, stand Blinsky hinter ihr, in seiner etwas gebeugten, devoten Haltung.

»Was wollen Sie hier? Belauschen Sie mich?«

Ohne aufzublicken, deutete er auf die Papiere in seiner Hand: »Ich bitte um Ihre Unterschriften.«

Seine unterwürfige Haltung reizte sie mehr, als es Frechheit getan hätte. »Sie wissen genau, wann ich für diese Dinge zu sprechen bin. Wenn Sie mir jetzt damit kommen, muß ich denken …«

»Was müssen Sie denken?« fragte er leise.

Inge zwang ihre Erregung nieder. »Die Unterschriften haben bis zum Abend Zeit. Mein Vater erwartet mich.«

»Es ist nur wegen der Reise, dieser äußerst notwendigen Reise …«

Er wußte also, warum diese plötzliche Reise notwendig war. Er wußte hier alles. Fast hätte sie ihn gefragt. Aber ein Blick in sein verschlossenes Slawengesicht ließ sie erschaudern, ohne daß sie sich Rechenschaft über ihren Widerwillen ablegen konnte. Sie vermochte die Worte nicht zu unterdrücken: »Sonderbare Besucher haben Sie in letzter Zeit, Herr Blinsky.«

Er neigte den Kopf. »Es sind Landsleute von mir, denen es nicht gut geht.«

»Und Sie haben Zeit, mit ihnen so lange Gespräche zu führen? Ich kann Sie mir in der Rolle des Wohltäters eigentlich nicht gut vorstellen.«

»Vielleicht kennen Sie mich nur nicht genug …«

»Möglich. Aber Sie täten besser, in Zukunft diese Herren außer unserm Hause zu empfangen.«

»In der nächsten Zeit wird das ja sowieso nicht in Frage kommen. Und in Zukunft wird alles nach Ihrem Willen geschehen. Ich wußte ja nicht, daß Sie mich überhaupt so beachteten, daß ich Ihr Mißfallen erregen konnte. Ich bin gewissermaßen glücklich darüber.«

Ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren, ging Inge in das Zimmer ihres Vaters. Blinsky richtete sich auf. Sein leidenschaftlicher Blick folgte ihrer entschwindenden Gestalt.

Grotteck hatte nicht geglaubt, daß Inge ihm schreiben würde. Aber am nächsten Mittag kam ihr Brief.

 

»Lieber Herr Grotteck! Ich bin beim Telephonieren immer etwas ungeschickt und habe mich wohl nicht recht klar ausgedrückt. Rechnen Sie alles meinen Nerven zugut, die durch die Pflege meines Vaters etwas in Unordnung geraten sind. Sie dürfen nicht vergessen, daß Mädchennerven ein leicht zu beschädigendes Gewirr sind – trotz Sport und allem andern, was uns den Männern gleichmachen möchte.

Mein Vater sagte mir, Sie reisen zu Ihrer Mutter. Tun Sie es noch heute! Fliehen Sie aus der Stadt! Städte sind nichts für Menschen wie Sie. Sie gehören zwischen die Weiden und Birken Ihrer Heimat, von denen Sie mir einmal geschwärmt haben. Sie gehören in die Ebene, die den Blick weit macht. Ich beneide Sie um Wald und Feld und um Ihre Mutter, die ich durch Sie kenne, als hätte ich sie gesehen.

Kehren Sie nicht mehr in die Stadt zurück! Vergessen Sie nicht, daß Ihre Aufgabe dort liegt, dort, zwischen Weichsel und See. Sie haben Land zu hüten, Sie haben ein Erbe zu hüten – denken Sie Tag und Nacht daran! Und wenn wir uns wiedersehen, dann lächeln wir … wie es bei Shakespeare irgendwo heißt.

Ihre
Inge Brodersen.«

 

Er las den Brief hundertmal, ohne damit fertig zu werden. War es nicht ein Abschiedsbrief? »Kehren Sie nicht wieder in die Stadt zurück!« Aber schrieb man so, wenn man sich trennen wollte? Schwang nicht Liebe in jedem Wort?

Es klopfte, und unter bedrohlichem Hüsteln trat die alte Lehrerin ein. Sie stand wie die verkörperte Verlegenheit da, als sie vorbrachte: »Ich wollte nur noch mal an meine vier Pintscher erinnern, da Sie ja doch heute reisen, wie mir Frau Zedlitz sagt. Nicht wahr, Sie vergessen sie nicht?«

Grotteck verneinte mechanisch.

Fräulein Fuchs rieb ihre Hände. »Es findet sich dort sicher ein gutes Plätzchen für die Tiere. Und Milch ist ja wohl auch dort?«

Er nickte und dachte dabei: Warum soll ich nicht wiederkehren?

Sie wurde ängstlich. »Ich störe doch nicht? Vor einer Reise ist ja soviel zu besorgen und zu bedenken. Und ich helfe auch, die Tierchen zu verpacken, wenn wir uns wiedersehen. Das wollte ich bloß sagen, Herr Grotteck.«

»Wenn wir uns wiedersehen, dann lächeln wir …« sagte er, wie aus tiefem Traum heraus.

»Wie?« fragte sie erschreckt

Er trat zu ihr und drückte ihre welke, lederne Hand. »Dann lächeln wir«, wiederholte er. »Nun müssen Sie mich aber wirklich verlassen, mein liebes Fräulein.«

Er fuhr mit dem Nachtzug nach Berlin. Da er es vermieden hatte, ein Schlafabteil zu bestellen, saß er zwischen unfreundlichen Menschen eingepreßt, auf einer harten Bank der dritten Klasse.

Im letzten Augenblick war ein kleiner, brünetter Herr eingestiegen, der mit nervösem Lächeln einen Platz suchte, bis er unter dem schadenfrohen Grinsen der Fahrtgenossen heraus mußte.

Es fiel Grotteck auf, daß der Fremde im Gang vor seinem Abteil stehenblieb, ohne sich anderswo nach einem Platz umzusehen. Je länger er ihn betrachtete – und das war leicht, da jener oft in das Abteil blickte –, desto bekannter kam er ihm vor. Hatte er ihn nicht einmal bei Brodersens gesehen? Ach, alles hatte für ihn Beziehungen zu Brodersens gefunden. Es war wohl ein Irrtum.

Aber nach der nächsten Viertelstunde ging er doch hinaus auf den Gang und berührte die Schulter des Fremden, der eben angelegentlich aus dem Fenster in die dunkle Nacht blickte. »Ich glaube, ich hatte schon das Vergnügen?«

Der andre griff höflich zum Hut. »Sie irren, mein Herr. Eine Verwechslung. Oh, bitte!« Und er sah schon wieder in die Nacht draußen, die von wenigen Lichtern durchblitzt war.

Verwundert begab sich Grotteck auf seinen Platz zurück. Aus den Worten des Fremden hatte er ersehen, daß es ein Russe war: das slawisch betonte »R« war zu stark aufgefallen. Er glaubte nun bestimmt, daß er ihn schon einmal gesehen, aber er wußte ihn nicht unterzubringen.

Ein leichtes Unbehagen überkroch ihn angesichts dieses Herrn, der den Platz vor dem Abteil die ganze Nacht nicht verließ, obwohl ihn der Schaffner, wie deutlich zu hören war, auf freie Plätze in den hintern Wagen aufmerksam gemacht hatte.

Wenn es seine Aufgabe war, ihn zu beobachten, so erfüllte er sie mehr eifrig als geschickt. Aber wer konnte ihm einen solchen Auftrag gegeben haben?

Grotteck knöpfte seinen Mantel fester – trotz der drückenden Hitze im Wagen –, lehnte sich zurück an die harte Wand und verfiel in einen kurzen, unruhigen Schlaf.

Der Zug rasselte in eine thüringische Station ein, das Tempo wurde schlaffer, mit einem klirrenden Ruck hielt der Wagen.

Als Grotteck den brünetten Herrn noch immer vor dem Abteil stehen sah, kam ihm der Gedanke, ihn zu erproben. Er nahm den Hut und verließ Abteil und Wagen. Als er am Zug entlang ging, sah er den andern gleichfalls aussteigen und sich forschend umsehen.

Im Augenblick der Abfahrt sprang Grotteck wieder in den Zug, ganz vorn, und er hatte die Genugtuung, den närrischen Verfolger – denn das war er nun schon für ihn – eilig einsteigen zu sehen. Immerhin waren sie jetzt beide durch die Schlafwagen getrennt.

Er zündete sich eine Zigarre an, um den Rest der Nacht zu durchwachen. Die Sache war doch ernster, als er gedacht

Es war nicht schwierig, seiner Spur zu folgen. In der Stadt wußten alle seine Bekannten, daß er zum Freistaat Danzig fuhr, um seine Mutter zu besuchen. Wer aber hatte ein Interesse daran, das zu kontrollieren?

Das Geld in den Geheimtaschen begann zu drücken. War es nicht doch besser, es ins Dunkel der Nacht auf den Bahndamm zu werfen? Vielleicht war es seine Bestimmung, irgend jemand unvermutet in den Schoß zu fallen.

Unsinn. Dieser slawische Herr machte einen zu scheuen und zu ungeschickten Eindruck. Er sah eigentlich aus, als ob er selber genug auf dem Kerbholz hatte, um Beamte heranzurufen. Wie mochte es zum Beispiel mit seinem Paß aussehen? Uebrigens – worauf war denn eine Verhaftung zu gründen? Das Geld war niemals gefordert worden. Kein Inserat, kein Anschlag hatte seinen Verlust gemeldet. Es war wie vom Himmel gefallen.

Als der Zug bei grauendem Morgen sich Berlin näherte, fühlte er sich wieder sicherer. In der unermeßlich großen Stadt konnte er untertauchen und diesen Anfänger seiner eignen Lächerlichkeit preisgeben. Kopf hoch!

Endlich kamen die südwestlichen Vororte in Sicht. Die riesigen grauen Steinkulissen der beginnenden Großstadt stiegen auf. Der Zug fuhr in die Halle des Anhalter Bahnhofs. Grotteck stieg gleich aus und begab sich zu seinem früheren Abteil zurück. Die Handtasche lag noch im Netz, von der gleichen verschnürten Hutschachtel seiner einstigen Nachbarin gekrönt. Aber als er sie öffnete und mit einem flüchtigen Blick ihren Inhalt musterte, merkte er gleich, daß fremde Hände darin gewühlt hatten.

Der kleine brünette Herr war also am Werke gewesen. Jetzt stand er an der Zeitungsbude. Grotteck ging lachend an ihm vorüber. Dachte dieser Naivling, er würde in der Handtasche, die jedes Kind öffnen konnte, Belastendes verbergen? Er hätte ihn gern für seine Dummheit geohrfeigt.

Der Wunsch nach einer Tasse Kaffee lenkte seine Schritte in den Wartesaal, wo es nach Schweiß und schlechtem Tabak roch. Der Rauch hing in grauen Schichten in der Luft.

Grotteck kaufte einem Zeitungsjungen alle Morgenblätter ab und durchflog sie, während er den heißen Trank schlürfte. Nach seiner Gewohnheit überflog er die Inseratenseiten zuerst. Mehrere Male stieß er auf die aufpeitschenden Worte: »Hohe Belohnung!« Aber es handelte sich um Eisenbahnattentate, um den Einbruch in ein Juwelengeschäft der Tauentzienstraße, um einen frechen Fassadenkletterer, der einen ausländischen Hotelgast erleichtert hatte.

Er wollte die Zeitungen schon weglegen, als er auf der ersten Seite des Lokalanzeigers auf einen gesperrt gesetzten Artikel stieß: Banknotenfälschungen großen Stils in Rumänien. In Bukarest war man genial angelegten Fälschungen auf die Spur gekommen. In Andeutungen wurde von der Mitwisserschaft bekannter und führender Politiker gesprochen und von Spuren, die in eine fremde Botschaft führten. Es handelte sich in der Hauptsache um die Nachahmung holländischer Guldennoten und deutscher Reichsbankscheine. Die Untersuchung sei im Gange und würde ohne jede Rücksicht durchgeführt werden. Der holländische Gesandte habe noch in der Nacht eine Audienz bei dem Ministerpräsidenten erhalten.

Grotteck steckte das Blatt ein und überflog die andern Blätter, die noch nichts brachten. Sein Atem ging schwer.

Hier konnte eine Lösung seines Rätsels sein: Das Geld, das man ihm damals zugesteckt hatte, war falsch, und darum wagte der Besitzer nicht, eine öffentliche Anzeige zu machen. Unruhig trommelten seine Finger auf der Tischplatte.

Das Mädchen erwachte, wischte sich den Schlaf aus den Augen und gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Grotteck stellte Zahnlücken fest. Sie erschien ihm mit einemmal abstoßend und widerlich, und das Grinsen ihres Begleiters war nicht geeignet, ihm den Aufenthalt hier angenehmer zu machen.

Als er den Kellner heranwinkte, sah er seinen Verfolger einige Tische hinter sich in der Nähe der Tür sitzen. Auch er war in eine Zeitung vertieft, aber er hielt das Blatt so, daß er ihn gut im Auge behalten konnte.

Grotteck mußte an ihm vorbei. Und diesmal lachte er nicht. Etwas saß in der Kehle und preßte sie zusammen. Er fühlte, wie sich sein Gesicht verzerrte. Dieser Mensch konnte gut aus dem großen Hexenkessel am Balkan stammen. Es lief hier ja genug von diesem Pack umher, das ihm bisher nichts zuleide getan hatte, das er jetzt aber inbrünstig zu hassen begann.

Nachdem er die Handtasche als Handgepäck aufgegeben hatte, verließ er den Bahnhof und überschritt zwischen Zeitungs- und Blumenständen den Platz. Er sprang in das erste Auto, das zum Halleschen Tor fuhr. Unter dem Bogen der Hochbahn stieg er wieder aus, um die Treppe emporzueilen. Während er die grüne Karte in Empfang nahm, stellte er mit Befriedigung fest, daß der andre ihm nicht folgte. Wahrscheinlich strich er beim Handgepäck umher, um seine Wiederkehr zu belauern. Aber da konnte er lange warten –

Am Untergrundbahnhof Friedrichstraße stieg er aus. Der Menschenstrom trug ihn nach oben. Zuerst ging er in ein Lokal und trank – ganz gegen seine Gewohnheit – mehrere Kognaks nacheinander. Sie schmeckten etwas nach Seife, aber sie strafften die erschlafften Nerven wunderbar. Einen Augenblick dachte er an Brodersen und sein Loblied auf die Prohibition.

Leichten Schritts ging er zur Wechselstube. Der untersetzte alte Herr darin ordnete gerade einige Depeschen, als er eintrat.

»Sie wünschen?«

Grotteck holte mehrere Hundertmarkscheine hervor, und er bemerkte ärgerlich, daß seine Hand ein wenig zitterte. Um so stärker zwang er seinen Ton zu hochmütiger Gleichgültigkeit. »Habe von Fälschungen gelesen. Sehen Sie doch mal nach, mein Lieber!«

Der Bankbeamte nahm einen Schein nach dem andern vorsichtig auf, hielt sie gegen das Licht und prüfte sogar mit einer Lupe den Rand und die Fasern. Endlich sagte er lächelnd: »Ich wollte, alle Scheine, die ich bekomme, wären so echt wie diese.«

»Also ein kalter Blitz«, sagte Grotteck nachlässig. »Aber wissen Sie, Verehrtester, seit Europa eine Räuberhöhle geworden ist, müssen anständige Leute auf der Hut sein.«

»Gewiß. Die Anständigen trifft solch Pech ja erfahrungsgemäß am liebsten. Übrigens sind wir auf der Hut. Die Kriminalpolizei hat uns neue Warnungen zugehen lassen.«

»Fabelhafte Einrichtung«, näselte Grotteck und verabschiedete sich jovial.

Beim Weitergehen fiel ihm ein, daß die Anspielung auf die anständigen Leute eigentlich im Grund eine Beleidigung enthielt. War sie auf ihn gemünzt? Wie kam er übrigens auf dies Wort »gemünzt«? Er brauchte es sonst gar nicht. War das ein Diktat des Unterbewußtseins? Nun, jedenfalls war sein Geld echt.

In einem Reisebüro am Friedrichsbahnhof bestellte er eine Fahrkarte nach Danzig für ein Flugzeug der Lufthansa. Es blieb noch genügend Zeit, in einer Badeanstalt ein heißes Bad zu nehmen und sein bescheidenes Frühstück zu ergänzen.

Er war glänzender Laune, als er um 12 Uhr den Flugplatz betrat. Interessiert betrachtete er die Piloten in ihren unförmigen Anzügen und die lauteste von allen, eine Pilotin mit einem roten Wuschelkopf. Das Kostüm war ihr wohl wichtiger als die Fahrt. Eifrig stolzierte sie in ihren ledernen Hosen umher, ihre kecken Augen blitzten Grotteck herausfordernd an.

Da er kein Gepäck bei sich hatte – sein Koffer fuhr mit der Bahn – war er bald fertig. Beim Einsteigen dachte er vergnügt an den brünetten Herrn, der jetzt das Handgepäck am Anhalter Bahnhof bewachte. Viel Vergnügen!

Die Propeller surrten. Grotteck fühlte die Erde unter sich versinken, und er betrachtete zufrieden den sehnigen Führer des Flugzeugs: Du trägst Cäsar und sein Glück –

*

Der Zug hielt in Niederstein, der Station von Grotthausen. Er hatte auf seiner Fahrt durch den Freistaat, von Danzig bis hier, fast die Hälfte der Zeit beansprucht, die sein kleiner Bruder in den Lüften von Berlin bis Danzig gebraucht hatte.

Grotteck sah auf dem kleinen Bahnsteig kein bekanntes Gesicht. Wurde er nicht erwartet?

Als er am Zug entlang ging, glaubte er plötzlich seinen Verfolger wiederzusehen. Er saß in einem Wagen vierter Klasse am Fenster und las die Prawda.

Grotteck sprang in den Wagen, trat auf den Fremden zu, schob rücksichtslos die Zeitung beiseite und blickte in ein fremdes Gesicht, das ein schmutzigrötlicher Bart umrahmte.

Er entschuldigte sich und eilte hinaus. Der Zug rollte schon wieder. Fast wäre er also mitgefahren, über die Grenze womöglich – hier stieß man ja immerfort auf Grenzen –, und nur, weil seine Nerven versagt hatten. Aergerlich ging er zur Bahnschranke. Der Mann an der Sperre nahm ihm die Fahrkarte mit einem flüchtigen Gruß ab. Er war hier neu, sonst hätte er den Erben von Grotthausen schon anders begrüßt. Er mußte ein aufsteigendes Gefühl von Enttäuschung bekämpfen, als er den leeren Warteraum durchschritt und auf die Straße trat.

Da klang Lärm an sein Ohr, der alle Gespenster verscheuchte: rasendes Bellen stieg auf. Ein großer Wolfshund jagte in wilden Sätzen heran, fuhr heulend auf ihn los, an ihm empor, zwei Pfoten legten sich auf seine Schultern, und um ein Haar wäre eine mächtige rote Zunge über sein Gesicht gefahren.

»Pluto, du Höllenhund! Friß mich nicht auf! Wo ist Frauchen?«

Der Hund ließ augenblicklich von ihm ab, raste auf einen kleinen offenen Wagen los, der auf der andern Straßenseite stand, und sein Herr lief ihm nach, als wäre keine Zeit zu verlieren.

Drinnen, eng an die Lederpolster gepreßt, saß Karola Grotteck. Sie hockte fast ängstlich darin. Nun richtete sie sich auf.

»Ich konnte nicht an den Zug kommen. Die Freude war mir in die Beine gefahren und die Angst auch.«

»Die Angst, Mutti?«

»Ja, daß du am Ende doch nicht kämst. Denke, ich habe erst daran geglaubt, als Pluto zu jaulen begann.«

Er schlug sich vor die Stirn. »Ich Esel habe ja nicht von Danzig depeschiert!«

»Das war nicht nötig. Wir haben die Lufthansa ein paarmal angeläutet.«

»Soviel Mühe um den verlorenen Sohn!« Er nahm das Gesicht der Mutter in die Hände und küßte sie.

»Uff!« machte sie lachend. »Ich kann ja gar nicht schnaufen. Begrüß nun aber Tobien. Er sieht schon ganz gekränkt aus.«

Der Kutscher grinste verlegen, nahm umständlich die Peitsche in die linke Hand und drückte die Rechte des Heimgekehrten. »Willkommen zu Hause, junger Herr!«

»Willkommen, Tobien! Uebrigens sind Sie auch heute nicht rasiert.«

Tobien fuhr erschreckt nach seinen Bartstoppeln. »Den Deibel auch,« brummte er, »ich dachte, man täte es nicht sehen.«

Kurt Grotteck gab ihm lachend eine von seinen Zigarren und stieg ein. Der Wagen fuhr auf dem holprigen Pflaster der Kleinstadt, umbellt von Pluto, der die ganze Nachbarschaft zu Zeugen seiner Freude machen wollte.

Einige Fenster öffneten sich. Ein paar Mützen entfernten sich von struppigen Blondköpfen. Gottlob, er war zu Hause! Zärtlich streichelte er die Hand der Mutter.

»Daß du wieder da bist, Junge!«

»Nun, ich war ja schließlich nicht in Hawai … Aber ist das da nicht Bellmann? He, Bellmann!«

Ein kleiner Handwagen, mit rasselnden Blechkannen bestellt, hielt mit einem Ruck. Der Milchmann grüßte herüber und grinste, daß sich beide Ohren Gute Nacht sagten.

»Der Philosoph. Weißt du noch, Mutter?« Er sprach in Bellmanns breitem Tonfall weiter: »Gnädiges Frauchen, die verdammten Bengels haben mir wieder in die Milch gespuckt. Gott, es schad't ja nichts, aber wozu?«

»Daß du da bist!« sagte die Mutter wieder. »Laß mir deine Hand, sonst fliegst du mir noch davon.«

Da war der Krug ›Zum fröhlichen Westpreußen‹ mit dem fetten Gambrinus über der Tür und den Tischen im verwilderten Garten. Und da das Kriegerdenkmal, und dort die weißgetünchte Kirche aus der Ordenszeit. Und nun kam die Chaussee mit den Ebereschen, die nach Grotthausen und den Nachbargütern führte. Alles war unbegreiflich schön und friedlich.

Der süßliche Duft von blühenden Lupinen zog herüber, ein Vogel sang immer dieselbe jubelnde Strophe. »Es ist ein Sprosser«, sagte die Mutter leise. »Er begrüßt dich.«

Eine Schar Krähen überflog die Straße. »Sie kamen von rechts, Mutter. Ein gutes Zeichen. Aber nun muß ich aussteigen, ich will wieder Heimaterde unter den Füßen haben. Du bleibst wohl drin?«

»Du denkst wohl, ich bin eine alte Frau? Schäm' dich!«

Arm in Arm, wie ein Liebespaar, gingen Mutter und Sohn die Chaussee entlang. Drüben blaute der Wald. Aus den Häusern der Kätner stieg Rauch auf. Pluto jagte querfeldein hinter einer wildernden Katze und kam schnaufend, die Zunge weit aus dem Hals, mit enttäuschtem Gesicht zurück. »Wo ist Katzchen?« Mißmutig sah er auf, und er trabte von da an mit eingezogenem Schwanz neben seinem taktlosen Herrn einher.

»Wenn der Wald nicht wäre, würde man dort die Weichsel aufblinken sehen.« Er blieb stehen. »Und da ist das Schloß.«

Auf dem Dachgiebel flatterte lustig die Fahne des Freistaats. Es war alles so, wie er es sich geträumt hatte.

Ein Reiter kam langsam näher. Man sah, wie er an dem vorausgefahrenen Wagen anhielt und wie er sich wieder in Trab setzte. »Der Inspektor?«

»Nein«, sagte die Mutter leise. »Es ist unser Nachbar.« Ihm war, als ob ihr Arm leicht zittere. Ein kühler Hauch zog durch den warmen Tag.

Nun hielt der Reiter vor ihnen, und Kurt Grotteck sah in Papendicks gemütliches, braunes Gesicht.

»Guten Tag, Frau Nachbarin! Und das ist der Herr Sohn? Willkommen zu Hause.« Seine Augen musterten ihn offenbar mit Wohlgefallen. Er wandte sich an Karola Grotteck. »Nein, daß Sie schon einen so großen Sohn haben! Es ist nicht menschenmöglich.«

Sie lächelte. »Daran können Sie sehen, daß ich schon eine alte Frau bin.«

»Ja«, meinte er gemütlich. »An den Kindern merkt man, daß man in die Jahre kommt.« Er besann sich, wurde noch um eine Schattierung brauner und setzte verlegen hinzu: »Nein, nein, das ist nun doch …«

In seinem schweren Gehirn ballte sich offenbar eine Galanterie zusammen. Aber ehe er sie beieinander hatte, sagte Karola Grotteck: »Sie wollten zur Stadt, nicht wahr? Da wollen wir nicht aufhalten.«

»Danke … danke … Ja, das heißt, es täte wohl not, mal mit dem Bürgermeister ein ernstliches Wörtchen zu sprechen. Ich treffe ihn beim Skat im ›Fröhlichen Westpreußen‹ am ehesten.«

»Dann also adieu, Herr Papendick. Schönen Gruß. Und heute abend sehen wir Sie doch bei uns?«

»Aber gern!« dröhnte Papendicks Baß. »Das Wiedersehen muß doch gefeiert werden. Auf Wiedersehen, Gnädigste! Auf Wiedersehen, Herr Grotteck!«

Er war schon weit fort, als Kurt sagte: »Er ist gar nicht so übel. Aber vorgestellt hat er sich mir nicht.«

Frau Karola lachte wie ein Kind. »Ist das deine einzige Sorge?«

»Nein, meine einzige Sorge ist, was es heute zu essen gibt.«

»Dein Leibgericht aus Kinderzeiten: Königsberger Klops. Was wohl sonst? Eigentlich ist es sonderbar, daß du in diesem einen Punkt so einen entsetzlich plebejischen Geschmack hast.«

»Das macht nichts. Ich gleiche es schon wieder aus. Es gibt doch eine ganze Schüssel voll, wie?«

»Einen Waschkessel voll. Du kannst beruhigt sein. Ich werde mich doch nicht lumpen lassen.«

Wie zwei gute Kameraden zogen sie in Grotthausen ein. Der Anstrich der Fassade war bedenklich abgeblättert. Auch die beiden grünen Bänke unter dem vorspringenden Dach hätten eine neue Bekleidung vertragen können. Frau Karola fiel es plötzlich auf, und sie blickte ein bißchen schuldbewußt zum Sohn hinüber.

Aber er merkte offenbar nichts. Er drückte die breiten Pfoten der aufgeregten Wirtschafterin und fuhr in allen Räumen umher. Die alten, schon etwas wurmstichigen Möbel standen noch wie damals. Der große runde Tisch war noch da und der Spiegel mit dem kleinen Sprung in der Ecke. Und daneben das Ledersofa, in dem man so herrlich einsank, daß man nie mehr aufzustehen vermeinte.

»Mutti, es ist herrlich, zu Hause zu sein.«

Sie tranken im Garten unter dem alten Apfelbaum Kaffee, und die Mutter schnitt dicke Stücke von einem selbstgebackenen Napfkuchen ab. »Willst du vielleicht einen Schnaps?«

»Nein, Mutti, dein Anblick berauscht mich schon genug.«

»Ach du dummer Junge!« Sie sah glücklich zu, wie Stück um Stück verschwand. Er aß, als hätte er während der ganzen Fahrt gefastet.

»Was ist denn das für ein Kraut dort?«

»Tomaten. Das Grün ist nicht schön, es sieht wie nach Kartoffeln aus. Aber warte nur, wenn erst die roten Früchte dranhängen. Es ist ein Versuch von mir, weil hier doch die Sonnenseite ist.« Sie glühte vor Stolz.

»Du bist ein wirtschaftliches Genie, Mutti. Ich dachte, es seien Maulbeerpflanzen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Der Olle Fritz hat mich darauf gebracht. Er wollte doch hier überall Maulbeerplantagen errichten, um die Seideneinfuhr zu verringern.«

»Ja, so heißt es. Aber auch der Alte Fritz irrte sich bisweilen. Aber hier kann man wohl keine Seide spinnen …«

Beide lachten über den Doppelsinn des Worts, und dann machte er seinen Rundgang durch die Ställe und Scheunen.

Beim Betrachten einer lustig quiekenden Schweinefamilie störte ihn das Getrapps schwerer Stiefel auf. Inspektor Specht kam und begrüßte ihn. »Na, sind Sie zufrieden, junger Herr?«

»Man muß wohl, Specht. Die Zeiten sind ja nicht rosig.«

»Nein, das sind sie nun wohl nicht. Aber man tut, was man kann.«

»Tut man das?« Er betrachtete das treuherzige Gesicht mit den kleinen, etwas schiefgestellten Augen genau. Warte, alter Gauner, dachte er. Laut sagte er: »Wir müssen gelegentlich mal die Bücher durchsehen, Specht.«

»Das sollen Sie, gnädiger Herr.« Er blickte ihn noch um einen Grad treuherziger an als vorher. »Aber viel Freude erlebt man nicht dabei.«

»Man kann nicht immer bloß Freude erleben, Specht. Ich finde zum Beispiel, daß die Milchwirtschaft mehr abwerfen müßte. Es ist doch alles guter Schlag, und die Stadt ist nicht weit.«

Der Inspektor kratzte sich hinter dem Ohr. »Wenn man bloß die dämlichen Städter mehr zahlen wollten! Und den Margellens ist auch nicht zu trauen.«

»Dafür sind Sie ja da. Na, von nun an soll ordentlich auf alle Finger gesehen werden.« Er sah ihn scharf an und bemerkte mit Befriedigung den Zug des Unbehagens. Mit einem kurzen Gruß wandte er sich ab. Er würde ihm schon zeigen, was drei Erbsen für eine Suppe gaben, wie man hier sagte.

Der Inspektor blickte ihm nachdenklich nach. Was verstand der junge Bengel davon? Na, und eines Tages würde er schon wieder verduften. Wer so lange in der Stadt gewesen war, der hielt es hier auf der Klitsche nicht lange aus. Auch von den Landarbeitern, die einmal die städtische Luft gerochen hatten, kam keiner mehr zurück, ob ihm der Wind dort auch durch die hohlen Backen blies.

Indessen lief Frau Karola aus dem Eßzimmer in die Wäschekammer und wieder zurück. Sie brachte das Mädchen zur Verzweiflung.

Mein Gott, wo war nur das weiße Tischtuch? Und die Servietten? Waren sie gestohlen? Ach so, in der Wäsche. Ja, aber man konnte doch nicht heute die gestopften decken!

Wie power sah alles aus, wie unansehnlich! Was würde Kurt sagen? Und die Stubendecke war ja schwarz wie die Erde. Hätte man sie nicht längst streichen können? Dachte denn kein Mensch an so was?

Plötzlich lief sie aus der Stube auf die Veranda, in den Garten, dann auf den Gutshof. Sie stolperte über ein Bündel Reisig und wäre beinahe in den Düngerhaufen gefallen. »Kurt! Wo steckst du nur?« Ihr war etwas Wichtiges eingefallen. »Specht, haben Sie meinen Sohn nicht gesehen?«

Der Inspektor wies auf den Pferdestall und wollte hin. Aber sie war schon an ihm vorüber, ehe er sich in Bewegung gesetzt.

In dem dämmrigen Stall ging Kurt Grotteck von Abteil zu Abteil. Er streichelte die glänzenden Pferderücken und beklatschte die Flanken sachgemäß. Pluto ging, etwas gekränkt über soviel verschwendete Liebenswürdigkeit, neben ihm.

»Kurt, denke nur, ich habe ganz vergessen …«

Er wies auf den Braunen. »Das ist doch ein kapitaler Gaul. Den möchte ich mal reiten.«

»Er ist zu wild. Er hat sogar Specht beinahe abgeworfen. Und gestern wäre er auf der Chaussee fast unter ein Auto gekommen.«

»Ich werde schon mit ihm fertig werden. Mein alter Reitanzug muß ja noch irgendwo da sein. Na, nun schieß mal los.«

»Ich hatte ganz vergessen, zu erzählen, daß Pastors heute kommen. Ich konnte es nicht verhindern. Sie kommen doch jeden Samstag.«

»Kommen alle zehn?«

»Acht sind es doch nur. Nein, es kommen nur Pastors selber und Amalie.«

Amalie war die älteste der sechs Pastorstöchter. Sie sagte jedem, daß sie alle Partien ausgeschlagen, weil sie ihre lieben Eltern einfach nicht verlassen könne.

»Hoffentlich hat sie keine Absichten auf mich, Mutti. Sag' ihr lieber gleich, daß mich der Arzt vor Sommersprossen gewarnt hat.«

»Aber wie kannst du nur solchen Unsinn reden!« Sie umfaßte ihn mit einem zärtlichen Blick. »Auf dich wartet die Allerschönste.«

Er strich sich über die Stirn. »Laß das, Mutti!« Er fühlte sich mit einemmal müde und verzagt.

Sie sah ihn besorgt an. »Was ist dir? Und so blaß siehst du aus!«

»Nichts. Es ist nur von der Reise. Sie war doch ziemlich anstrengend. Aber heute wollen wir nur vergnügt sein, ja?« Er nahm sie unter den Arm und spazierte mit ihr durch die Scheunen und über den Hof, über einen kleinen Hahn lachend, der mit gesträubten Federn einen großen Rivalen anfuhr. Aber das Lachen klang gezwungen, und Frau Karola merkte es.

Es war gut, daß Pastors kamen – sie kamen immer eine halbe Stunde zu früh – und daß sie sie beanspruchten.

Der Pastor war ein alter, schon etwas zitteriger Herr, der Kurt Grottecks Hände gar nicht losließ und immer wieder beteuerte, wie sehr er seinem Vater ähnlich sei. Seine Frau war rundlich und sah in ihrem »guten Seidenen« noch immer recht stattlich aus. »Es ist doch etwas andres, die gute Landluft zu atmen, nicht wahr?«

Amalie fragte gleich, wie lange er bliebe, und sie setzte, kaum daß er geantwortet hatte, hinzu: »Ich für meinen Teil könnte mich hier nicht fortdenken. Ich könnte mich auch von meinen lieben Eltern gar nicht trennen.« Sie sprach »liebe Eltern« aus, als lutschte sie an einem süßen Bonbon.

Papendicks Augen zwinkerten verdächtig. »Na, na?« machte er, verstummte aber auf einen bittenden Blick der Hausherrin und erkundigte sich, ob es Bier, Grog oder Rotspon gäbe.

»Grog? An so einem heißen Tag?«

»Homöopathie, Herr Pastor. Warm vertreibt warm.« Alle lachten gefällig, und es war nicht schwer zu merken, daß dieser Witz von Papendick bei jeder gleichen Gelegenheit gemacht wurde.

Beim Essen hielt der Pastor eine lange Rede auf den Heimgekehrten, der mit Bedauern für sich feststellte, daß die Klopse inzwischen kalt wurden. Endlich war auch das überstanden, und eine Weile hörte man nur das Klappern des Geschirrs und der Gabeln.

Papendick entkorkte die Rotweinflaschen; er tat es wie eine feierliche Handlung. Einen Augenblick sah es aus, als ob auch er eine Rede halten wollte. »Verehrte Anwesenden!« begann er, um dann zu vollenden: »Na, Pröstchen allerseits!«

Frau Karola lachte, daß sie sich die Seiten halten mußte, und der Redner setzte sieh befriedigt.

*

Kurt Grotteck saß im Wohnzimmer an dem alten Schreibtisch, an dem er in Kinderjahren so oft den Vater hatte sitzen und rechnen sehen.

Er war früh aufgewesen – zu einer Zeit, wo er in der Stadt noch friedlich schlummerte – und war auf dem Braunen ins Land geritten. Herrlich war es gewesen, wieder ein Pferd zwischen den Schenkeln zu haben. Im wilden Galopp war der Braune matt und zahm gemacht worden, bis er den Herrn erkannt hatte und fromm dahingetrabt war. Bis an die Weichsel waren sie gekommen, die schwer und dunkel dahinfloß, beherrscht von den Dämmen, die die Niederung schützten. Der Ritt hatte ihn frisch und elastisch gemacht.

Das war nötig. Denn die Bücher grinsten ihn herausfordernd und feindlich an, mit jener infamen, unangreifbaren Treuherzigkeit des Inspektors. Er warf sich mit Feuereifer auf sie. Stundenlang saß er stirnrunzelnd davor, notierend und vergleichend. Aber die Versuche, in das Chaos dieser Buchführung einzudringen und den Wirrwarr dieser Tabellen, Rechnungen und Quittungen zu überschauen, waren aussichtslos. Endlich gab er es auf.

Nur zwei Dinge schienen klar: daß die Einnahmen und Ausgaben liederlich notiert waren, wahrscheinlich, um den Betrug zu verschleiern, und daß es um Grotthausen geschehen war, wenn das noch eine Weile weiterging. Es mußte Ordnung geschafft werden. Aber wer half ihm, die entsetzlichen Zahlenkolonnen dieser verdammten Bücher zu enträtseln? Wie hatte es sein Vater nur fertigbekommen, Landwirt und Kaufmann zugleich zu sein?

Zum erstenmal empfand er wieder den tiefen, dumpfen Respekt vor dem Mann, der dort aus der gerahmten Photographie blickte. Er hatte ihn nur als ernsten, wortkargen Mann in Erinnerung. Aber damals hatten wohl schon die ersten Schatten über Grotthausen gelagert.

Die Mutter kam. »Du kommst doch mit in die Kirche?«

»Erlaß es mir diesmal. Ich habe den Kopf noch ganz voll Zahlen, und das ist keine gute seelische Vorbereitung.«

»Du Aermster!« sagte sie aus tiefster Seele heraus.

»Ruf' mir Specht her. Ich muß mit ihm hier einiges durchsehen. Alles ist ja wie Kraut und Rüben. Aber das beste dürfte wohl sein, man läßt aus Danzig einen Bücherrevisor kommen.« Er hatte keine Ahnung, was für Funktionen ein Bücherrevisor erfüllte, und er kannte den Titel nur aus Zeitungsinseraten.

»Eine glänzende Idee«, bewunderte die Mutter den Einfall. Ihre Augen strahlten. »Natürlich, ein Bücherrevisor!« Sie küßte ihn und huschte hinaus. Sie sah ganz erleichtert aus, als gäbe es nun auf Grotthausen keine Sorgen mehr.

Specht wischte draußen seine Schaftstiefel ab, aber brachte einen starken Trangeruch ins Zimmer.

Grotteck rümpfte die Nase, aber er begnügte sich, eine Zigarre anzustecken und dem Inspektor eine anzubieten.

»Specht, ich finde mich hier nicht ganz zurecht. Erklären Sie mir nur das eine: warum geht das Milchgeld von Monat zu Monat zurück? Kühe sind keine verkauft. Wenigstens finde ich keine Abrechnung darüber, und das wäre ja auch wohl das letzte, was man verkaufen würde.«

»Das soll wahr sein, gnädiger Herr. Aber mit den Kühen ist das man so 'ne Geschichte. Sie geben nicht gleichmäßig her. Es ist nicht wie in der Stadt bei den Automaten, wo immer das gleiche herausläuft.« In sein treuherziges Biedermannsgesicht trat ein kleiner Zug von Bosheit, und Grotteck fühlte sich unbehaglich, wie als Schüler vor einer Aufgabe, die er nicht gelernt hatte.

»Ist denn das Futter nicht gut?« fragte er unsicher.

»Es ist nicht schlechter als anderswo in der Gegend, das soll wahr sein. Aber die Kühe ruhen sich auch manchmal aus – gerade wie die Obstbäume.«

»Machen Sie keine Witze, Specht. Die Kühe können sich im Winter ausruhen. Sagen Sie ihnen das gefälligst. Wir dürfen nicht so wie bisher wirtschaften. Ich muß doch mal mit Papendick darüber sprechen.«

Er hatte das aufs Geratewohl gesagt. Aber er schien das Richtige getroffen zu haben. Specht wurde unruhig. »Man bloß nicht die Nachbarn fragen. Die gönnen einem nicht das Schwarze unterm Nagel. Sie reden einem zum Mund, und hinter dem Rücken lachen sie sich einen Ast.«

»Hm«, machte Grotteck. Er war auf dem richtigen Weg.

Der Inspektor sah auf seine Transtiefel, als er sagte: »Wenn Sie aber Mißtrauen haben, kann ich ja auch gehen, gnädiger Herr. Ich bin zwar hier ein alter Mann geworden, aber ich will doch sehen, ob man den alten Specht nicht noch irgendwo gebrauchen kann.«

Also die Kabinettsfrage. Er hatte wohl viel Schuld.

»Quatsch«, meinte Kurt in gemütlichem Ton. »Jeder Kaufmann muß sich Revisionen gefallen lassen. In Danzig sogar. Das ist keine Schande und keine Kränkung. Kommen Sie, wir trinken einen Schnabus zusammen und vertragen uns wieder.«

Während er zu dem kleinen Likörschränkchen ging, dachte er: dieser Bursche ist ein ausgepichter Betrüger, aber bis ich es ihm nachweisen kann, muß ich ihn mir warm halten.

»Prost, Specht. Und erzählen Sie was Fideles.«

»Auf die liebe gute Gesundheit! Aber was das Fidele anbetrifft, da können Sie wohl mehr erzählen.« Er goß das Glas hinunter, wischte sich mit dem Handrücken den Bart und setzte hinzu: »Wir haben eigentlich gedacht, Sie täten nicht allein herkommen.«

»Nicht allein? Wie meinen Sie das?«

»Na, mit einem Frauchen. So einem hübschen kleinen Stück in die Wirtschaft, haha. Nichts für ungut.«

Grotteck goß dem Inspektor ein neues Glas voll. »Ich bin noch viel zu jung. Sagen Sie, können Sie eigentlich Russisch?« Der Gedanke an den Zeitungsausschnitt war ihm plötzlich gekommen. Zu irgend etwas mußte dieser Mensch doch zu brauchen sein.

»Ein bißchen schon. Man kommt ja mit dem Volk öfter zusammen. Drüben im ›Fröhlichen Westpreußen‹ wohnt ja einer.«

»So. Na, die sind ja früher auch zu uns gekommen. Und jetzt ist es ja nicht sehr gemütlich in Rußland.«

»Das soll wohl wahr sein. Sie beißen sich ja dort gegenseitig die Köpfe ab.«

Grotteck sog heftig an seiner Zigarre. »Das ist überall so. Es kommt im Leben eben darauf an, wer die bessern Zähne hat. Na, und was wird dieser Russe drüben groß sein. Viehhändler, was?«

»Nee. Diesmal nicht. Er malt.«

»Er malt. Sieh mal an. Gibt es so was denn noch? Wissen Sie vielleicht, wie er heißt?«

»Es ist so'n halb polnischer Name. Die Brüder heißen ja alle wie Husten und Niesen zugleich.«

»Blinsky?« fragte Grotteck ganz ruhig. Sein Herz klopfte zum Zerspringen.

»Nee. Ganz anders. Er soll notabene ein bißchen dwatsch sein. Der Krugwirt kennt ihn schon seit ein paar Jahren.«

Ein Stein fiel ihm von der Seele. Wieder war er auf falscher Fährte gewesen, wie gestern auf der Station. Er trank den Korn aus, der noch von seinem Vater stammte. »Pfui Teufel, schmeckt das prächtig!« Er mußte sich schütteln. »Aber Sie trinken ja gar nicht, Specht. Muß ich Ihnen vortrinken?«

»Ach wo, in dem Fall bin ich schon ziemlich volljährig. Ich bin ein Mann von altem Schrot und altem Korn, wie mein Vater selig immer zu sagen pflegte.«

»Was heißt Slowo im Russischen?«

»Wort.«

»Wort? Weiter nichts?«

»Nein, weiter nichts. Was soll es denn schon groß heißen?«

Grotteck zog seine Brieftasche und entnahm ihr den Zeitungsausschnitt. »Können Sie es auch lesen?«

»So für den Hausgebrauch langt es schon. Man hat ja doch früher immer die Pässe lesen müssen, wenn die Erntearbeiter kamen. Man ist doch nicht auf den Kopf gefallen.«

Nein, das war Specht nicht. Was für ein Segen doch ein dummes Gesicht für manche Menschen war! Sie konnten jahrelang alles mögliche begehen, ohne daß man es ihnen zutraute.

Der Inspektor drehte den Zettel hin und her, kratzte sich öfter hinter dem Ohr und machte ein angestrengtes Gesicht. »Es ist etwas Politisches«, sagte er endlich. Irgend etwas aus so 'ner damaligen Reichstagssitzung – das heißt: von da drüben. Sowjets nennen sie's.«

»Und der Inhalt?«

Specht las wichtig: »Der Kapitalismus – sehen Sie, das hier heißt Kapitalismus –, es ist fast wie im Deutschen. Also der Kapitalismus kann nur durch eigene Mittel getroffen werden. Hier kommt etwas, was ich nicht ganz verstehe. Aber es bedeutet: überschwemmt. Das weiß ich genau. Also: man soll die Welt mit Banknoten überschwemmen.«

»Ueberschwemmen? Wirklich?«

»So steht es Schwarz auf weiß. Ich hab' das Wort doch oft gehört, jedesmal, wenn die Weichsel hochkam. Schön gesagt, aber erst können vor Lachen!«

»Da kommt ja gar nicht slowo vor. Hier das unterstrichene Wort.«

»Ja, das ist der Schluß. Es heißt … Das ist das Wort, Genossen, an das ihr euch halten müßt … Sie nennen sich ja alle Genossen da drüben. Und wer es nicht tut, kann sich gratulieren.«

»Das ist doch eine ganz sinnlose Geschichte? Oder verstehen Sie das?«

»Keine Bohne, gnädiger Herr. Wenn man die Welt mit Banknoten überschwemmt, werden sie ja wohl weniger wert als damals in der seligen Inflationszeit. Aber erst muß man sie doch haben, und zwar zum richtigen Wert. Außer man macht sie nach. Dann läßt es sich gut überschwemmen.«

Grotteck steckte den Zettel ein. Die alte Unruhe kam wieder über ihn. Die Notenfälschungen in Rumänien – dieser Ausschnitt, der seinem Geld beigelegen hatte und der irgend etwas mit Brodersen zu tun hatte –, was bedeutete das alles? Wo war da ein Zusammenhang? Seine Banknoten waren echt. Er fand keinen Ausweg aus dem Irrgarten.

Aber dieser bäuerliche Schlauberger hatte am Ende richtig kalkuliert. Es mochte in einem fanatischen Hirn so ein Gedanke schon geboren sein. Wenn es in großem Stil geschah, konnte es die beabsichtigte Wirkung haben, eine Geldpanik zu erzeugen und die Vermögen zu entwerten – namentlich, wenn es in einem Schlag durchgeführt wurde. Und den Sowjets standen wohl genug Hilfskräfte zur Verfügung. Aber wer wagte diesen Angriff auf die festesten Fundamente der Gesellschaft? Nun, ihn ging es nichts an.

»Zunächst wollen wir mal uns überschwemmen«, sagte er zu dem Inspektor, dessen verwunderten Blick er auf sich ruhen fühlte. »Prost, Specht! Auf gute Zusammenarbeit! Sagen Sie, gibt es hier in der Nachbarschaft keine neuen Zeitungen?«

»Die gnädige Frau hält ja das Kreisblatt.«

»Nein, nein, das bringt die Nachrichten aus dem vorigen Jahrhundert.«

»Das soll wahr sein. Aber im Krug drüben in Niederstein werden drei Danziger Zeitungen gehalten.«

»Schön. Ich gehe gelegentlich mal rüber. Heute ist es schon zu spät.« Er verabschiedete den Inspektor und entschloß sich, den geheimnisvollen Ausschnitt nicht mehr zu beachten.

Er ging hinaus, der Mutter entgegen. Auf der halben Chaussee kam ihm der Wagen entgegen. »Papendick hat mich begleitet, hoch zu Pferd. Schade, daß du es nicht erlebt hast. Mit Mühe und Not habe ich ihn zu seinem Sonntagsstammtisch treiben müssen. Wie gefällt er dir eigentlich?«

»Besser, als du ihn geschildert hast. Auf alle Fälle paßt er hier gut in die Landschaft, und das ist doch eigentlich ein Lob für ihn.«

Sie nickte. »Ein sehr hohes, sollte ich meinen.«

»Ist er dir je lästig gefallen?«

»Nein, nie. Obgleich schüchterne Männer die lästigsten werden, wenn sie …« Sie hielt errötend inne.

»Ich verstehe. Du brauchst mir nichts mehr zu sagen.«

»Doch. Ich muß. Es soll Klarheit sein zwischen so guten Freunden, wie wir es sind.«

»Nicht in diesen Dingen, Mutti!« bat er. »Die muß jeder selbst entscheiden. Ueber sich selber ist man nur selber Souverän.«

»Würdest du mir solche Dinge auch verschweigen?«

Er drückte sich fester in die Polster des Wagens. Sein Blick folgte einem krächzenden Krähenschwarm, der die Straße überquerte. »Diesmal kamen sie von links, Mutti …«

»Ja, ich verstehe. Und diesmal brauchst du nichts zu sagen.«

Dankbar nahm er ihre Hand. Schweigend fuhren sie weiter, bis Pluto blaffend herbeirannte, der am Feldweg gewartet hatte.

»Ich hatte ihn eingesperrt, sonst wäre er mir in die Kirche nachgelaufen.«

»Das wäre schlimm gewesen; denn unser guter Pastor ist kein Franziskus, der den Tieren predigt … Viech, freches!« Das galt Pluto, der mit einem Satz in den Wagen gesprungen war und nun Grotteck umarmte.

Zu dritt gingen sie ins Eßzimmer. »Ich muß dir etwas gestehen«, sagte Frau Karola mit schuldbewußtem Gesicht. »Ich habe Austern da. Aber nur ein kleines Fäßchen. Durfte ich es nicht?« Sie blickte scheu zu dem großen Sohn empor.

»Ich muß wohl schon verzeihen, und am deutlichsten kann ich es ja, indem ich möglichst viele Dutzend aufbreche. Aber zu Austern gehört Rheinwein oder Sekt.«

Sie druckste eine Weile umher, ehe sie gestand: »Es ist beides da. Der Reisende hat mich regelrecht beschwatzt. Weißt du, ich kann immer so schlecht widerstehen, wenn ich einen feinen Mann betteln sehe.«

Lachend umarmte er sie. »Meine liebe kleine Mama, du paßt zur Gutsfrau wie ich zum Schneeschaufeln. Na, künftig müssen sie sich an mich wenden.«

Als sie mit dem Essen fertig waren – es wurde viel gelacht dabei – fragte Frau Karola: »Und wie steht es nun mit den Büchern? Sind sie jetzt wieder in Ordnung?«

»Ach, Mutti, frag' lieber nicht!«

Eine kurze Zeit schwieg sie, dann kam es leise heraus: »Wir könnten ja einiges verkaufen.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Ich dachte an die alte Bibel, die mit den Silberspangen. Der Pastor erzählte, solche Bibeln seien sehr wertvoll.«

»Sicherlich. Wenn wir Glück haben, kriegen wir 3,50 Mark dafür.«

Ihre Miene wurde kläglich. »Er sagte, ein New-Yorker Millionär habe für eine Bibel 100 000 Dollar gezahlt.«

»Ja, er hat nun aber wohl genug an der einen.«

»Ich sehe schon, du hältst mich für ein dummes Eselein«, klagte sie.

Er ging zu ihr und strich über ihr Haar. Wie voll es noch war! Und die graue Strähne darin stand ihr eigentlich ausgezeichnet. »Du bist göttlich unpraktisch, meine Freundin!«

»Ja, sei gut zu mir. Kein Mensch ist gut zu mir.«

»Und Papendick?« scherzte er.

Sie entgegnete nichts und begann nach den Hypotheken zu fragen. »Die Zinsen müssen doch bezahlt werden.«

»Ueberlaß es nur mir. Hoffen und glauben!«

»Du sprichst wie der Pastor. Aber Geld fällt doch nicht vom Himmel, nicht wahr?«

»Vielleicht doch«, sagte er ernst.

»Nein, jetzt redest du wie ein rechtes Schaf.« Dann nach kurzem Besinnen: »Ich glaube doch, daß es Menschen gibt, denen die Sterntaler in den Schoß fallen. Dir könnte es zum Exempel passieren.«

»Mir?« fragte er erschrocken.

»Weil du der beste, liebste Junge bist. Deshalb.« Sie lief von dem Sohn fort, klappte das Klavier auf, das immer wie ein Spinett klang, und sang, sich im Stehen begleitend: »Weil du min Leewsten bist, wie du wohl weeßt …«

Lachend warf sie den Deckel wieder zu. »Ach, es wird sich schon was finden. Und jetzt trinken wir gerade ein Gläschen Sekt.«

Kopfschüttelnd ging er auf sein Zimmer. Es hatte keinen Zweck, mit Mutter über schwere Dinge zu sprechen. Sie würde zusammenknicken, wenn er sie in sein Geheimnis einweihte. Aber Grotthausen mußte gerettet werden. Es war die Insel im rasenden, aufgepeitschten Meer.

Er nahm Inges Brief vor. Riet sie ihm nicht dazu, als ob sie alles wüßte? »Das Erbe …« War hier nicht ein Sinn in all der dunkeln Verworrenheit, die ihn seit jenem unseligen Abend um und um getrieben hatte? Auf die mächtige Krone des Kastanienbaums vor dem offenen Fenster starrend, flüsterte er Inges Namen.

Ein Kratzen an der Tür schreckte ihn auf. Ein dumpfes Jaulen klang unmelodisch herüber. Er schloß auf, und Pluto stürmte ins Zimmer und an ihm empor.

Diesmal wehrte er den Hund nicht ab. »Muß Grotthausen erhalten bleiben, Pluto? Soll ich das Geld angreifen und den Kampf aufnehmen mit allen Bedenken und allem, was noch kommen mag?«

»Wuff! Wuff!« machte Pluto. Und da war es entschieden.

*

Kurt Grotteck war nach Rosoggen hinübergeritten, dem Gut Papendicks. Er traf den Gutsbesitzer am Waldeck, das die Grenze bildete, und erzählte offen von den Sorgen, die Grotthausen ihm mache. Es hatte keinen Zweck, Dinge zu verhehlen, die jeder Nachbar besser kannte.

»Sie haben sich rasch hineingefunden«, meinte Papendick anerkennend. »Na, Sie werden sich auch schön hineingekniet haben.«

»Hab' ich. Es war ja auch meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit.« Als der andre lächelte, setzte er hinzu: »Sie wollen sagen, daß sie das schon längst gewesen wäre, wie?«

»Bewahre.« Aber sein Gesicht wurde doch um eine Schattierung brauner.

Grotteck wippte nachdenklich die Reitpeitsche in der Hand. »Jeder muß sein Gesetz leben. Da ist nichts zu machen. Ich mußte erst die Kunst an mir ablaufen lassen, die mir nun mal in den Adern saß und rumorte. Glauben Sie mir, daß andre ihre Hörner bei schlechtern Gelegenheiten einrennen.«

»Das weiß ich. Ich verstehe von diesen Dingen auch so wenig und maße mir da kein Urteil an. Von Kunst verstehe ich verflucht wenig. Auch wenn Ihre Frau Mutter spielt, fühle ich nur, daß es schön ist, aber warum …«

»Unser Klavier ist miserabel. Es muß mal gestimmt werden.« Er hörte nicht gern, daß das Gespräch auf seine Mutter kam. »Lieber Papendick, Sie müssen mir helfen und raten, als echter Nachbar: ich will nämlich mein eigener Inspektor werden.«

»Bravo. Ihr Specht ist ein ausgekochter Spitzbube, und es ist ja auch sonst das Netteste, was es gibt. Ihre Frau Mutter ist nun mal nicht dazu geschaffen, so was zu überblicken. Da gehört ein Mann hin.«

»Ja«, fiel Grotteck schnell ein. »Da gehöre ich hin. Aber ich verstehe davon ungefähr soviel wie Sie von der Kunst.«

»Sie können ja lernen.«

»Haben Sie geeignete Bücher?«

Papendick wurde verlegen. »Ein Landwirt und Bücher? Nun, ein paar landwirtschaftliche Schwarten habe ich wohl noch aus meiner Elevenzeit her. Ich will sie raussuchen und bringen. Aber die Praxis? Wissen Sie was? Lernen Sie bei mir!«

Entzückt wollte Kurt Grotteck zugreifen. Dann aber fiel ihm ein, daß diese Freundlichkeit nicht ihm galt, sondern dem Sohn seiner Mutter. Sein Blick fiel auf die rasierte Oberlippe, und er mußte lächeln. »Zuerst mal die Bücher, und dann will ich mir Ihren freundlichen Vorschlag durch den Kopf gehen lassen.«

»Aber Geld gehört auch dazu«, sagte der andre ernster. »Die Hypothekenzinsen und so was.«

»Sie sind für diesmal gestundet«, wich Grotteck aus. Die Bank in Danzig hatte die fremden Scheine anstandslos genommen. Man war ja dort an Geld aus aller Herren Ländern gewöhnt, und dann stammten sie von seinen internationalen Konzertreisen –. Der alte Herr dort hatte ja auch seinerzeit bei jenem Konzert im Danziger Schützenhaussaal gesessen, das er als Wunderkind von elf Jahren gegeben hatte. Nur die Prüfung der Scheine hatte einige Zeit gekostet.

»Ja, dann können Sie also an die Arbeit gehen.« Der Gutsbesitzer begleitete ihn noch ein Stück. Beim Abschied sagte er zögernd: »Grüßen Sie Ihre Frau Mutter von mir herzlich und sagen Sie ihr …«

»Was soll ich ihr sagen?«

»Ich wäre froh,« stotterte Papendick, »ich wäre so froh …«

»Wenn wir mal zu Ihnen kämen?« fiel Grotteck ein. »Aber gewiß. Wir werden uns ja nun oft zu sehen kriegen, vielleicht öfter, als Ihnen lieb ist. Schönen Dank.«

Papendick wandte das Pferd. Gesenkten Kopfes ritt er weiter.

In der nächsten Zeit hatte Frau Karola nicht viel von ihrem Sohn. Er saß oben auf seinem Zimmer und büffelte sich tapfer durch die Bücher durch. Er hatte keine Zeitung nachkommen lassen und wollte keine lesen. Es mußte ein Strich gemacht werden. Die Arbeit an Grotthausen würde alles rechtfertigen: einmal würde er alles ausgleichen können. Bis dahin mußte er Ruhe haben: nicht rechts noch links sehen, wie der Mann im Märchen.

Aber die Ruhe hielt nicht an. Mitten im eifrigen Studium des Kunstdüngers und seiner Methoden überfiel ihn ein Heißhunger nach Nachrichten aus der bewegten Welt, die er verlassen hatte. Die alte Unrast überfiel ihn, und es half nichts, daß er die Finger in die Ohren steckte, wie einst als Kind, wenn er beim Lesen nicht gestört werden wollte. Die Stimmen von draußen waren lauter. Sie durchdröhnten das stille Grotthausen wie Posaunenton.

Er mußte Zeitungen haben – es half nichts. Er stürmte hinunter, ließ den Braunen satteln und ritt zum Krug in Niederstein. Denn das Blättchen, das man zu Hause wegen der Märkte und der behördlichen Anordnungen hielt, brachte nur dürre Notizen. Es hatte auch die Meldung des Berliner Blattes wie eine eigene Meldung aus Bukarest gebracht, aber so verstümmelt, daß kein Mensch daraus klug werden konnte.

Der Krugwirt begrüßte den jungen Herrn von Grotthausen freudig. »Rare Gäste sind die liebsten Gäste, Herr Baron!«

Auch hier »Baron«! Wie leicht hätte er es als Hochstapler haben können! »Und wenn Sie mich Fürst und Durchlaucht nennen, ich trinke doch bloß ein Lagerbier.«

»Macht nichts. Einmal muß man anfangen. Eins nach dem andern, sagte der Fuchs, als er in den Hühnerstall stieg.«

Die Danziger Zeitungen des Kruges waren zerfetzt, beschmutzt, voller Bier- und Kaffeeflecke. Einzelne Seiten fehlten, bei andern hatte man Stücke herausgeschnitten. Er gab es bald auf, hier nach Neuigkeiten zu suchen.

Aber eine Notiz peitschte ihn auf. Auch in Stockholm war man groß angelegten Fälschungen auf die Spur gekommen. Diesmal waren es schweizerische Franken und Scheine der Bank von England gewesen, die in meisterhafter Nachahmung ins Publikum geworfen waren. Einige Leute hatte man verhaftet, bald aber als harmlos entlassen. Nur zwei Russen hatte man einstweilen zurückbehalten, weil ihre Pässe nicht in Ordnung waren.

Der Titel hieß: »Rußland im Spiel?« Grotteck sah – er wußte nicht, warum – sofort Blinsky vor sich. Und daneben Brodersen, dessen Name sich ja auf jenem Zeitungsausschnitt abgepreßt hatte. Warum dachte er immer an Brodersen? Er war ja blind, also ein willenloses Werkzeug in der Hand seines Privatsekretärs. Unsinn – Brodersens Wille war stark wie Diamant. Um so schlimmer war aber dann alles. Er ertrug es nicht in der kleinen gemütlichen, verräucherten Wirtsstube mit den Oeldrucken an den Wänden und der vergoldeten Germania aus Gips.

Er stellte den Braunen ein und fuhr mit der nächsten Kleinbahn nach Danzig. Auf dem Bahnhof kaufte er die neuesten Blätter, aber das genügte nicht. Er mußte wissen, was in dieser Zwischenzeit geschehen war, wo er davon geträumt hatte, Grotthausen aufzubauen, um dann werbend vor Inge zu treten.

Die alten Straßen, die gleich an dem modernen Bahnhof begannen, und die er so gut von der Schulzeit her kannte, durchschritt er eilends, um zu den Zeitungen selber zu gehen. In der Breitgasse, die auf das Wahrzeichen Danzigs, das Krantor, mündete, in der Ketterhagergasse, der Hundegasse – mein Gott, gab es diese Namen noch immer? –, am Spendhaus, überall kaufte er die Zeitungsnummern der letzten Zeit zusammen. Der Schweiß rann ihm nieder, als er mit seinem Riesenpaket in ein Kellerlokal am Langenmarkt niederstieg. Einen Augenblick zögerte er auf den ersten Stufen, als das Glockenspiel vom Ratsturm zu spielen begann: »Nun danket alle Gott …«

Aber gleich danach lief er die Stufen abwärts, stolpernd und ausgleitend: der Friede, der aus dem alten, frommen Lied strömte, war nicht in ihm.

Er bestellte Porter wie alle ringsum und blätterte die Zeitungen auseinander. Jetzt fühlte er erst, wie zeitlos er auf Grotthausen gelebt hatte: alarmierende Nachrichten schrien überall in Sperrdruck aus den Spalten.

Wie Raketen am Abendhimmel schossen sie auf. Auch in Prag waren Fälschungen entdeckt worden. In Brüssel. In Mailand. In London. In Smyrna. In Kopenhagen. In Hamburg. Und immer waren es Scheine verschiedener Länder gewesen, meisterhaft nachgeahmt und nur dem Eingeweihten als Fälschung kenntlich. Hier und da hatte man Leute verhaftet, die sie in Umlauf gesetzt hatten, aber sie hatten nur wenige Falsifikate neben zweifellos echten bei sich gehabt. Sie galten als reingefallene Betrogene.

Eine Zeitung warnte vor Sensationsstimmung und Nervosität und fuhr fort: Es liegt nahe, an eine Zentrale zu denken, von der aus diese Fälschungen geleitet werden. Aber es ist nicht einzusehen, was diese Zentrale damit bezwecken sollte. Der Gedanke an Rußland, der ja hier und da aufgetaucht ist, muß wohl fallengelassen werden, seitdem auch russische Papiere gefälscht aufgefunden wurden. Man kann der Räteregierung alles mögliche zutrauen, nur nicht, daß sie ihre eigne Währung entwertet in einem Augenblick, wo sie ausländische Kredite mit allem Eifer erstrebt. Wahrscheinlich liegt hier der Fall vor, wo ein gelungenes Verbrechen ansteckend wird, wo die »Serie« beginnt. Die geringen Erfolge, die man bisher bei der Verfolgung und Befragung der Ertappten gehabt hat, legen in der Tat die Befürchtung nahe, daß der Anreiz eines bequemen, wenn auch nicht ungefährlichen Gelderwerbs noch einige »Talente« zur Nachahmung verlocken wird. Auf alle Fälle werden die Banken und Regierungen gut tun, die Augen offen zu halten, wenn nicht tatsächlich der Geldmarkt in Verwirrung gebracht und jenes Vertrauen erschüttert werden soll, ohne das ein internationaler wirtschaftlicher Verkehr unmöglich ist.

Die Logik des Blattes hatte etwas für sich – wie aber, wenn es eine höhere Logik gab, aus einer andern Perspektive heraus? Hatte der Wille zur Vernichtung je nach Logik gefragt?

Er sah nach der Uhr. Es war Zeit, zum Bahnhof zu eilen, wenn er heute noch heimkommen wollte. Er riß die Seiten aus, die die gefährlichen Nachrichten gebracht hatten und stopfte sich damit die Manteltaschen voll – wie damals die Scheine, dachte er. Und die dunkle Erfühlung eines rätselhaften Zusammenhangs jagte ihn hinaus, daß er auf der Treppe immer zwei Stufen auf einmal nahm und keuchend in die Straßenbahn stieg.

Drinnen begrüßte ihn nach einigem Zaudern ein alter Herr: »Grotteck, wenn ich nicht irre?«

»Ja, Herr Professor.« Er war sein Mathematiklehrer gewesen, damals, als er auf der Schulbank des Gymnasiums in der Weidengasse sich mit Logarithmentafeln und Wurzelziehen abgequält hatte. Wie alt der Professor geworden war – war das schon so lange her?

»Wie geht es? Was macht die Kunst?«

»Die Kunst geht nach Brot, Herr Professor. Ich ziehe jetzt vor, auf meinem Gut zu bleiben und Kohl und Rüben zu bauen.« Wie ich lügen kann – dachte er –, wie sollte ich nun die Ruhe finden?

»Bleibe im Lande und nähre dich redlich«, scherzte der alte Herr. »Denken Sie noch manchmal an Ihre Schulzeit? Sie war doch gar nicht so übel, wie? Was Sie auch damals geschimpft haben mögen.«

»Sie war herrlich, Herr Professor, trotz aller Prüfungsarbeiten. Es war meine friedlichste Zeit.«

»Ihr Abiturium hing an einem seidenen Faden, wissen Sie das noch?«

»Ja, und die Seide war noch schlecht. Wenn Sie nicht ein Auge zugedrückt hätten …«

»Beide Augen, mein lieber Herr Grotteck, beide. Einen Künstler muß man anders beurteilen, haben wir beschlossen.«

Grotteck dachte: Wie beurteilt man mich jetzt, wo die Kunst in die Binsen gegangen und Hausgebrauch geworden ist? Ach, ich fürchte, ich werde kein Examen mehr bestehen, sei es, was es sei.

Gott sei Dank war der Bahnhof in Sicht, und er konnte mit dem Versprechen eines baldigen Besuchs dem friedsamen Gespräch entfliehen und dem abseits gelegenen Bahnsteig der Kleinbahn zustreben. Die langsame Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. Er begleitete sie mit tausend Flüchen und wunderte sich am Ende, daß er überhaupt noch in Niederstein aussteigen konnte.

Während er vor dem ›Fröhlichen Westpreußen‹ wieder den Braunen bestieg, zeigte ihm der Krugwirt den russischen Maler, der bei ihm einquartiert war. Es war ein müder, welker Mann mit weltfremden Augen und ebensolchen Manieren. Nein, der hatte keine schlimmen Absichten. Erleichtert nahm er sich vor, ihm, wenn er wiederkam, eine seiner sauber aquarellierten Landschaften abzukaufen. Wenn er wiederkam … Wann würde das sein?

Unterwegs auf der Chaussee überholte er den Landbriefträger. »Haben Sie was für mich?«

Der alte, sehnige Mann mit dem Krückstock öffnete bereitwillig die Ledertasche. »Paar Drucksachen für die Mama«, sagte er gemütlich. »Ja, und ein Briefchen für Sie. Von einer Dame«, setzte er schmunzelnd hinzu.

Inge! – dachte Grotteck, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Er drückte dem Alten ein reichliches Trinkgeld in die Hand und setzte den Braunen in Galopp, bis Pluto herangestürmt kam und das Pferd beinahe scheu machte. Erst als er in gelinderm Trab zum Herrenhause bog, wagte er es, den Brief näher zu betrachten. Es war eine fremde Schrift, eine unruhige, kleinliche, nervöse Schrift. Nie hätte Inge Brodersen so schreiben können. Aber der Stempel war aus der Stadt, die er verlassen hatte.

Er war froh, daß die Mutter im Garten beschäftigt war und daß er nicht Rede und Antwort stehen mußte. Als er sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, riß er den Brief auf.

Enttäuscht ließ er ihn niedergleiten. Er war von Martha Rebmann. Wie kam sie dazu, ihm zu schreiben und ihn bis hierher zu verfolgen, wie sie ihn am Rundfunk drüben verfolgt hatte? Er hatte sich nicht einmal von ihr verabschiedet.

Aber der Brief war so rührend, daß er den aufsteigenden Aerger niederdrückte. Sie schrieb, daß sie entlassen sei – Quevedo habe jetzt eine bayrische Kapelle in Landestracht – und daß sie krank sei. »Aber Geld brauche ich nicht. Deswegen schreibe ich nicht. Das dürfen Sie nicht von mir denken! Kommen Sie bald zurück?«

Natürlich noch echt weiblich eine Nachschrift, und sie enthielt das Wichtigste des ganzen Briefs: »Es wäre gut, wenn Sie bald kämen! Ich glaube, es ist dringend nötig!«

*

In derselben Nacht fuhr Kurt Grotteck fort. Von seiner Mutter hatte er sich mit ein paar Zeilen verabschiedet, die er auf ihren Nachttisch gelegt. Es wäre zu schwer gewesen, in ihre fragenden Augen zu sehen. Er würde ihr alles schreiben, wenn es so weit war, und sie würde ihm verzeihen, wie sie alles verziehen hatte.

Er drängte alle Gedanken fort, um den Kopf frei zu halten für das, was da unten auf ihn wartete. Inge! Warum hatte sie nicht geschrieben? Auch daran durfte er jetzt nicht denken.

Aber er konnte es nicht verhindern, daß der rollende Rhythmus der Räder immerfort sang: »Inge Brodersen … Inge …«

Es war ein glücklicher Zufall, daß er in Berlin einen Platz im Flugzeug bekam, weil ein angemeldeter Passagier wegen Krankheit abgesagt hatte. Es war eine stürmische Fahrt, die keinen Raum zum Grübeln ließ. Ueber dem Thüringer Wald erhoben sich Böen, die das Flugzeug um hunderte Meter niederdrückten, um es dann ebenso hoch emporzuwirbeln. Der Pilot mußte große Umwege machen, die Grotteck, der mit einer aufsteigenden Uebelkeit zu kämpfen hatte, verwünschte. Man sprach schon von Notlandung. Aber es ging ohne das ab.

Regen fiel nieder, als sie auf dem Flugplatz landeten. Bei Beginn der Dämmerung brachte sie das Auto in die Stadt. Grotteck sprang auf dem Schloßplatz ab und fuhr gleich auf die Höhe, zur Rückertstraße. Eine unsinnige Sehnsucht nach Inge erschlug alle andern Gedanken. All die zurückgedrängte Angst um sie flatterte auf wie ein losgebundener Vogel.

»Fahren Sie doch schneller!« schrie er den Schofför an, der achselzuckend auf die Steigung und die Kurven wies.

Endlich stand er vor dem großen gelben Haus, das ihn fremd und feindlich anstarrte. Sein Atem ging stoßweise: plötzlich wußte er, daß etwas geschehen war.

All sein Mut verließ ihn, als er vor der Tür des Gartengitters stand. Es kostete viel Anstrengung, den Klingelknopf niederzudrücken.

Das Läuten der Glocke war vom Innern des Hauses her deutlich in der Stille zu vernehmen. Angespannt lauschte er den Schritten, die sich endlich – endlich – endlich hören ließen.

Der Diener, den er schon kannte, öffnete ein wenig die Haustür und fragte, ob eine Depesche da sei.

»Nein, zum Teufel«, schrie Grotteck. »Erkennen Sie mich denn nicht?«

Der Diener trat heraus. Er hielt die Hand vor den Hals, und Grotteck bemerkte, daß er keinen Kragen trug. Das nahm ihm den letzten Mut, er wußte selbst nicht, warum.

»Sie wünschen?« fragte der Diener mit derselben Ruhe und Würde, mit der er oben in der Halle servierte.

»Ist Herr Brodersen zu sprechen?«

»Bedaure.«

»Aber es ist eine dringende Angelegenheit. Richten Sie das aus.« Die Ruhe des Dieners wirkte aufreizend, aber es galt, sich zusammenzunehmen. »Schlafen die Herrschaften denn schon?« Die Frage war lächerlich zu dieser Stunde, aber er klammerte sich an die Möglichkeit, daß Brodersen sich nicht wohl fühle und deshalb keine Besuche empfangen wolle.

»Nein. Herr Brodersen ist noch gar nicht zurück.«

»Zurück? Von wo?«

»Herr Brodersen ist verreist. Mit dem gnädigen Fräulein.«

»Verreist? Wohin?«

»Bedaure. Das darf ich nicht sagen.« Der Diener verneigte sich korrekt und ging zum Haus zurück, um keinen Grad schneller als beim Servieren. Wußte dieser Mensch denn nicht, was er ihm eben gesagt hatte? Stand ihm die Verzweiflung nicht auf dem Gesicht, das er erstarren fühlte?

Aus dem Nebengarten klang die Stimme der Gräfin. Miß Lawrence beklagte sich bei einem Unsichtbaren darüber, daß Spaziergänger bei ihr Blumen beschädigt hatten. Die einstige Löwenbändigerin schien auf ihre alten Tage sentimental geworden zu sein. Er gab den Gedanken, sie auszufragen, ebenso schnell auf, als er aufgestiegen war, und ging fort.

Der Duft von Nelken und Narzissen strömte aus den feuchten Gärten. Wie still hier alles war! Man mußte seinen Herzschlag hören können –

Ohne einen Plan zu fassen, ging er die Treppe hinunter, die er damals mit den Gästen Brodersens gegangen war, die soviel abenteuerliche Geschichten über ihn zu erzählen wußten. Als er auf einer Straßenbahn unten den Namen Steinstraße las, fiel ihm ein, daß dort Martha Rebmann wohnte. Kurz entschlossen stieg er ein.

Unterwegs fiel ihm ein, daß sie krank sei. Er stieg aus, kaufte Blumen, Obst und eine Flasche Sherry und ging durch den Regen weiter, da keine neue Bahn kam.

An ihrer Tür mußte er mehrere Male klingeln, ehe sie sich, durch eine Sicherheitskette abgesperrt, eine Handbreit öffnete.

»Wer ist da?« fragte eine zitternde Männerstimme.

»Ich wünsche bei Fräulein Rebmann einen Krankenbesuch zu machen.«

»Krankenbesuch?« klang es sichtlich erleichtert zurück. »Wie heißen Sie?«

Zornig nannte Grotteck seinen Namen. Es hätte nicht viel gefehlt, daß er seine Sachen abgestellt hätte und fortgegangen wäre. Drinnen schlurften Schritte. Er hörte Klopfen, dann seinen Namen, dem ein kleiner entfernter Aufschrei folgte. Endlich öffnete sich die Tür. »Sie üben die Tugend der Vorsicht«, sagte er höhnisch zu dem Mann, der ihn aus ängstlich verzerrtem Gesicht ansah.

»Es sind schlimme Zeiten«, stammelte Dekepper.

Verwundert betrachtete Grotteck den überfüllten Korridor, durch den er sich hindurchzwängen mußte, so schlank er war. Und warum starrte dieser Mensch ihn so wahnsinnig an?

Martha Rebmann lag auf dem Sofa, eine rotgewürfelte Steppdecke bis unter das Kinn hinaufgezogen. »Danke!« sagte sie inbrünstig, ihm die Hände entgegenstreckend.

Ihr glückliches Lächeln rührte ihn, und er begann, etwas gespannt, die Geschenke auszubreiten. »Habe ich nicht alle Anlagen zu einem Weihnachtsmann?«

»Oh, die schönen Blumen!« Sie sah nichts als die Blumen. Sie preßte ihr Gesicht hinein, sog den Duft wie etwas lange Entbehrtes auf und kühlte ihre heißen Augen mit den kühlen Blüten.

»Fieber?« Er faßte ihren Puls und zog die Uhr. Er hatte gar keine Ahnung, wieviel Pulsschläge die Fieberkurve anzeigten. Aber das sah man auch so, daß das Mädchen krank war.

»Etwas. Ich habe mich in letzter Zeit etwas überangestrengt, Kurt.«

Er zuckte zusammen, als sie ihn bei seinem Vornamen anredete, und ließ ihre Hand aus der seinen gleiten.

»Darf ich so sagen?« fragte sie zuckend. »Und du? Nur dies eine Mal? Nur dies eine Mal?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Er bekam es nicht fertig, ihr den Wunsch zu verweigern. Vielleicht war es das letztemal, daß er sie sah. »Keine Aufregung, Kind. Du bist mir doch eine gute Freundin – warum sollten wir uns da nicht mal für ein Weilchen du nennen?«

Mit einer raschen Bewegung, die er nicht hatte verhindern können, zog sie seine Hand an ihren Mund. Heiße Küsse brannten darauf.

»Na, aber!« machte er verlegen.

»Ich bin schon wieder ruhig. Hab' keine Angst. Und mit dem Fieber ist es nicht so schlimm. Hast du draußen lange warten müssen?«

»Ziemlich. Dein Wirt braucht verzweifelte Sicherheitsmaßregeln. Ist denn bei ihm so viel zu holen?«

»Er ist verstört seit einiger Zeit …« Sie verbarg ihr Gesicht unter den Blumen. Sie gedachte des furchtbaren Tags, da sie diesem Brod Einlaß in die Wohnung gewährt hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zu einem Lächeln zwingen konnte. »Denkst du noch an unsern Spaziergang zum Wald?«

»Ja, das würde dir gut tun heute: Wald und Sonnenschein …« Er dachte nur daran, daß er damals Inge getroffen hatte.

»Und Liebe«, vollendete sie seinen Satz.

Er sah sie erschreckt an und begann in seiner Verwirrung einen Pfirsich zu schälen. »Er kommt aus Kalifornien, denk mal! Braune, vielleicht auch schwarze Männer, mit großen Sombreros auf den wolligen Köpfen, haben ihn gepflückt. Vielleicht auch Kinder oder Mädchen wie du. Und er wurde in Watte gepackt und quer über ganz Dollarika geschickt und über den Atlantik, durch Nebel und Sturm, und dann trug ihn die Bahn, ach, die donnernde Bahn, bis hierher. Bis hierher«, wiederholte er, die traurige Oede des unbehaglichen Zimmers mit einem traurigen Blick umfassend.

Sie lauschte lächelnd und folgte dann argwöhnisch seinem Blick.

»Es gefällt dir hier nicht, ich weiß, du bist Besseres gewöhnt.«

»Besseres? Meinst du, daß die Zimmer bei Mutter Zedlitz mehr Kultur aufweisen?« Er dachte: Immerhin hättest du die beiden grauenhaften Bilder da von der Wand reißen können, diesen Wilderer im Kerker mit Weib und Kind – »Sei, Gott, du mit der roten Hanne!« – und diese verlogene Moorlandschaft mit der Limonadenfarbe.«

»Wenn man um Geld arbeiten muß, hat man keine Zeit, sich wohnlich einzurichten«, klang es scharf herüber.

»An der Zeit liegt es wohl nicht allein.«

Martha richtete sich halb auf. Ein böses Leuchten glomm in ihren Augen auf. »Du meinst, eure sogenannte Kultur gehört dazu? Ich pfeife auf eure Kultur, sage ich dir. Hungere erst mal, wie ich es getan habe!«

Grotteck stand auf und ging ans Fenster. Am besten war es wohl, fortzugehen. Was sollte er hier? Die Traurigkeit des Regens draußen machte sein Herz noch schwerer. »Hungern?« sagte er endlich. »Ich habe auch gehungert, in meiner Konservatoriumszeit, wenn ich meinen Vater nicht mehr um Geld angehen konnte. Aber ich habe es immer mit Grazie getan. Kein Mensch hat es mir angemerkt, daß ich tagelang von Brötchen lebte. Und den letzten Groschen gab ich noch einem Bettler, weil ich mich genierte.«

»Man wird schlecht, wenn es einem schlecht geht, verstehst du das? Eine Frau wird schlecht.«

Er antwortete nur mit einem Kopfschütteln. Nein, das verstand er nicht.

Ihre Augen funkelten, als sie hervorstieß: »Deine Mutter wäre auch anders geworden, wenn sie …«

Mit einem Sprung war er bei ihr. »Meine Mutter darfst du nicht erwähnen. Ich verbiete es dir.«

Sie duckte sich. »Willst du mich schlagen?«

Grotteck erschrak; er war dicht daran gewesen. Beschämt trat er zurück.

»Das gehört wohl auch zu deiner berühmten Kultur?« höhnte sie. Aber als sie sah, daß er nach seinem Hut und Mantel griff, um zu gehen, sprang sie mit einem Schmerzensschrei vom Lager auf, rannte ihm nach und klammerte sich an ihn. Ihr Körper, den nur das dünne Nachthemd deckte, glühte. Ihre Arme warfen sich um seinen Hals.

»Bleib'! Bleib'! Schlag mich, aber bleib'! Ich kann ja nicht ohne dich leben, und ich quäle dich ja nur, weil ich dich liebe … Oh, wenn du wüßtest, was ich alles um meiner Liebe willen durchgemacht habe! Fühlst du das nicht?«

Langsam schob er sie vor sich her, zum Sofa zurück. »Du bist krank, Kind. Ich fürchte, kränker, als ich dachte.« Ihre tränenüberströmten Augen hingen an ihm. Ihr roter Mund näherte sich dem seinen. »Leg' dich! Sonst gehe ich.«

Da gehorchte sie mit niedergeschlagenen Augen. Sie wickelte sich wieder in die Decke und nahm den Pfirsich, den er ihr bot.

Eine kurze Zeit klang nur das gleichmäßige Plätschern des Regens, der auf das Fenster fiel. Endlich bat sie: »Verzeih' mir. Ich werde nie wieder so sein. Aber sieh' mich nicht so an! So geringschätzig, so verächtlich! Ich bin es ja nicht wert, daß du mich liebst, ich weiß es ja …«

Sie wimmerte, von einem innern Sturm durchschüttelt, vor sich hin.

Er stand ratlos vor ihr. »Soll ich nicht lieber einen Arzt holen?«

Sie sah ihn an. » Du bist mein Arzt. Bleib' noch ein Weilchen und sprich lieb zu mir. Lüge, wenn es nicht anders geht, aber sprich lieb zu mir. Dann bin ich gesund.«

Als er im Zimmer nach einem Korkzieher suchte, um die Flasche zu öffnen, fiel sein Blick auf einen offen daliegenden Brief, den er bis dahin nicht bemerkt hatte. Er las am obern Rand in lithographierten Buchstaben: »Auskunftei Okulus, Inhaber …« Weiter las er nicht, und er öffnete die Flasche.

Sie hatte, wie sie es in der ganzen Zeit getan, ihn beobachtet. »Gib den Brief!« sagte sie hastig. »Er ist von einer Freundin. Sie hat ihn liegen lassen, als sie mich besuchte.«

Er reichte ihn ihr, und sie steckte das Schreiben gleich unter ihre Decke. »Von einer Freundin? Hast du Freundinnen, die mit diesem Kiebitz, oder wie er hieß, verkehren?«

»Meine Freundin ist bei ihm angestellt.« Sie sah ihn aus halb geschlossenen Lidern an, um die Wirkung ihrer Worte zu prüfen.

»Tippt sie dort?« fragte er, den Wein in zwei Wassergläser gießend. »Trinke, Kind. Das wird dich kräftigen.«

»Nein.« Sie schob das Glas beiseite, da es ihr den Ausblick verengte. »Meine Freundin ist bei ihm angestellt, aber als Beobachterin. Sie sammelt Informationen für ihn.«

Besorgt empfand er die Veränderung des Tons. Kam es wieder zu einem Ausbruch? »Ich verstehe mich nicht auf diese Berufe …«

Sie erhob sich etwas, nippte an dem Glas und sagte, ihm ins Gesicht sehend: »Ja, zu solchen Berufen greifen Frauen, wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie sich nicht verkaufen wollen. Verachtest du meine Freundin sehr?«

Er strich beruhigend über ihr Haar. »Ist denn so Schlimmes mit diesem Beruf verknüpft?«

Sie hielt seine Hand fest und preßte sie in jäher Aufwallung. »Es ist ein gemeines, erniedrigendes Leben. Kiewening beschäftigt nur Kräfte, die zu allem fähig sind. Verstehst du: zu allem. Sie müssen nicht nur beobachten und Material sammeln, sie müssen manchmal auch nachhelfen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Freilich. Du brauchst so was ja auch nicht zu verstehen. Meine Freundin hatte zum Beispiel den Auftrag, einer jungen Ehefrau eine Eheirrung nachzuweisen. Er wollte sie los sein. Wie das machen? Sie erfuhr, daß die Dame abergläubisch sei und empfahl sich als Handleserin. Es war nicht schwer, ihr allerhand Richtiges zu sagen und ihr Vertrauen zu erwerben. Nun, und dies Vertrauen mußte sie büßen. Hörst du auch genau zu?«

Er hatte die ganze Zeit in den Regen gestarrt, der die Welt verhüllte. »Ich werde Licht machen. Es erzählt sich besser, wenn man sich sieht. Oder willst du nicht lieber schweigen und ruhen? Ich will ganz still neben dir sitzen.«

»Nein, ich will nicht schweigen. Du sollst alles hören.« Sie sah in das aufspringende Licht und fuhr fort: »Meine Freundin hat auch den umgekehrten Fall gehabt. Die Frau eines Kaufmanns wollte geschieden sein, und ihrem Mann mußte ein Fehltritt nachgewiesen werden.« Sie würgte an ihren Worten, aber sie peitschte sich weiter in ihre häßlichen Erinnerungen hinein, in eine qualvolle Beichte. »Mehrere Tausende waren als Prämie ausgesetzt. Meine Freundin täuschte das Vertrauen ihres Chefs nicht. Sie wurde Stenotypistin bei dem Kaufmann, machte sich unentbehrlich, besuchte ihn und – verweigerte beim Scheidungsprozeß die Aussage …«

Diesmal hatte er zugehört. Als sie fertig war und ihn lauernd anblickte, sagte er: »Du solltest mit einer solchen Freundin nicht verkehren.« Er wischte unwillkürlich mit seinem Tuch über den Handrücken.

»Siehst du? Du verachtest mich. Sag' es doch laut! Ich sehe es dir ja an.« Ihre fiebernden Augen sprühten auf.

Seine Hand glitt flüchtig über ihre fieberfeuchte Stirn. »Ruhig, Kind. Dich trifft es ja nicht.«

Sie warf sich mit einem wilden Schluchzen zurück. »Ich wußte es ja … ich wußte es …«

Verwirrt sah er auf das fiebernde Mädchen. Warum erregte sie sein Urteil über ihre Freundin so? Im Alcazar kam sie doch auch nicht nur mit Gentlemen zusammen. Plötzlich fiel ihm ein, daß dieser Kiewening damals, als er ins Alcazar flüchtete, an seinem Tisch gesessen und sich immer wieder an ihn herangedrängt hatte. Und dann war Blinsky zu ihm gegangen – ob sie etwas wußte? Ein unbehagliches Gefühl überkroch ihn.

Marthas Schluchzen war verebbt. Ihr Gesicht kam unter der Decke vor, und sie versuchte zu scherzen: »Nun habe ich wohl eine rote Nase von dem dummen Weinen?«

»Du hast sehr interessant erzählt. Aber ich habe das Gefühl, daß du mir noch nicht alles erzählt hast.«

»Nicht alles?« Ihre Augen weiteten sich angstvoll.

Er beugte sich über sie. »Du verbirgst mir etwas.«

Jetzt, da sie alles sagen sollte, fühlte sie sich feige werden. »Ich verberge nichts … ich …« Mutlos legte sie den Kopf auf das Kissen. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen.«

»Diesmal sprichst du wahr. Du hast mir nichts mehr zu sagen; denn ich weiß nun alles. Du bist dieses Kiewening Gehilfin, und du hast auch mich beobachtet. Ist es so?«

Sie blickte furchtsam auf. »Es ist so.«

Grotteck stand auf. Er fühlte, wie sich ein Netz über ihn legte. »Und – wie weit ist dein Chef nun informiert?«

»Ich schwöre dir, ich habe es nur übernommen, damit es nicht jemand anders bekam. Nie hatte ich dich ihm preisgegeben, nie … nie … nie. Ich liebe dich doch. Fühlst du das nicht?«

»Was weiß er nun von mir?«

»Nichts. Er hat mich gequält und ausgeforscht, er hat mich beleidigt und mit Entlassung bedroht. Kurt, glaube mir, und wenn ich auf der Folter gelegen hätte, ich hätte nichts verraten.«

»Was war denn zu verraten?«

»Nichts. Es liegt nichts gegen dich vor.«

»War es das, was du in deinem Brief andeutetest?«

»Ja, er scheint von andrer Seite etwas gehört zu haben.«

»Von Blinsky?« fragte er schnell.

»Den kenne ich nicht. Ich wollte dir nur raten. Sieh' dich vor! Oder noch besser: bezahle Kiewening. Dann ist er auf deiner Seite.«

»Danke schön.«

»Wirst du nun wiederkommen?«

Grotteck zog den Mantel an. »Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß du Hilfe brauchst. Ich nehme an, daß du dies alles im Fieber gesprochen hast. Ich muß es annehmen. Du mußt hier heraus, aus dieser Bude und aus der Stadt. Ich gebe dir Geld, damit du in ein stilles Schwarzwalddorf ziehen kannst, sobald es der Arzt erlaubt. Deine Nerven müssen sich wieder erholen.«

»Du willst mir Geld geben?«

Er zog die Brieftasche und legte mehrere Scheine hin. »Das wird fürs erste reichen, denke ich.«

Mit einem Ruck saß sie aufrecht. »Woher hast du das Geld?«

»Es fiel vom Himmel«, sagte er ruhig.

Entsetzt schlug sie die Hände vor die Augen. »Dann bist du es also doch!« schrie sie plötzlich auf.

Draußen vor der Tür gab es ein kurzes Stolpern, als wenn ein Mensch über die dort aufgestapelten Pappschachteln gefallen wäre.

»Werden wir hier belauscht?« Aber als er die Tür öffnete, war niemand zu sehen. Er schloß sie wieder.

»Nun will ich gehen«, sagte er mit tonloser Stimme.

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Es ist noch nichts verloren …«

»Ich fürchte, es ist mehr verloren, als du ahnst.«

»Kann ich dir nicht wenigstens einen Rat geben?«

»Nein. Ich brauche keinen Rat von dir.«

Sie zuckte zusammen. Ein schlimmes Lächeln stand plötzlich in ihrem geröteten Gesicht. »Wenigstens kannst du jetzt nicht zu ihr gehen«, sagte sie befriedigt.

Seine Haltung war wieder gestrafft. »Wen meinen Sie, Fräulein Rebmann?«

»Zu ihr, zu dieser Brodersen in ihrem Auto!« Sie lachte schadenfroh. Sie war ihm ganz fremd.

»Und warum sollte ich nicht?«

»Weil sie nicht da sind. Weil sie in Paris wohnen.«

Einen Augenblick sah es aus, als ob er sich auf sie werfen wollte. Aber er erkannte blitzschnell an ihrem wartenden Gesicht, daß sie nicht gelogen hatte. Natürlich, sie hatte ja ihre Verbindungen.

»Gute Nacht.«

Sie sah ihm nach, wie er zur Tür ging, wie er hinausschritt. Da erst schrie sie seinen Namen. Er hörte sie gar nicht, stolperte im Korridor über eine Schachtel und wunderte sich nur, daß der vorsichtige Hausherr die Flurtür offen gelassen hatte …

Martha Rebmann sprang von ihrem Lager, als sie die Tür zufallen hörte. Was hatte sie getan? Er mußte zurück. Sie lief fiebernd bis zur Tür, aber sie mußte sich an den Türrahmen klammern, um nicht umzufallen. Langsam sank sie in die Knie.

Sie rief nach dem Wirt. Er mußte ihm nach und ihn zurückholen, damit sie alles sagte, was noch nicht ausgesprochen war, damit er nicht zu schlecht von ihr dachte … damit er nicht zu der andern ging, die sie haßte …

»Dekepper!« rief sie ächzend. Wo steckte er denn? Er hockte doch sonst wie ein Narr an der dreimal versperrten Tür.

Als keine Antwort kam, richtete sie sich mühsam auf. An die Wände gestützt, wankte sie durch die kleine Wohnung. Niemand war da.

Da begriff sie, daß er draußen gelauscht hatte, daß er aus ihren Worten die Bestätigung gehört hatte – in dem Augenblick, als Kurt Grotteck ihr Geld zu ihrer Genesung gegeben hatte. Und sie hörte deutlich sein Stolpern draußen wieder, als er fortging. Er war schon unterwegs.

Weinend sank sie hin, als sie alles begriffen hatte. Ihre Stirn schlug auf den kalten Boden.

»Aus …« Sie brachte immer nur das eine Wort hervor. »Aus … aus …«

*

In der Abenddämmerung des nächsten Tages durchfuhr Grotteck die Vororte von Paris. Er hatte die letzte Nacht in einem Hotel am Bahnhof zugebracht, um nicht in der Pension Zedlitz, wo er immer noch sein Zimmer hatte, Bekannte zu treffen. Trotzdem er keinen Schlaf gefunden hatte, und trotz der Anstrengung der Reise fühlte er sich frisch und zäh. Aubervilliers flitzte vorüber, dann kamen die Vorposten der großen Stadt und endlich der Ostbahnhof.

Draußen nahm er sich keine Zeit, nach einem anständigen Hotel zu suchen. Er warf seinen Koffer einem schmutzigen Jüngling zu und folgte ihm über den Platz in ein fünfstöckiges Haus, das wie alle andern Häuser des Viertels aussah.

Monsieur, an dem das gekräuselte Haar und der schmutzige Klappkragen zuerst auffielen, empfing ihn mit der Versicherung, daß man nirgends in Paris so gut aufgehoben sei. Grotteck säuberte sich und fragte nach dem Telephon.

Monsieur war unglücklich, daß es gerade heute in Unordnung sei. Aber morgen, womöglich noch in der Nacht würde es gerichtet sein, Madame würde selbst das Nötige veranlassen, oh, es sollte an nichts fehlen – übrigens zahle man hier im voraus. Als Grotteck das Geld hingelegt hatte, begann Monsieurs Verzweiflung über das fehlende Telephon gefährliche Formen anzunehmen, beinahe hätte er seine schöne Frisur zerstört.

Mühsam machte sich Grotteck frei. Auf dem Boulevard de Strasbourg wartete er an der Haltestelle eines Autobusses, bekam eine Karte mit einer Nummer und stieg in das nächste Gefährt ein. Er hatte keine Ahnung, wohin es ihn trug.

Es war ja auch gleichgültig. Hier irgendwo war Inge Brodersen.

Er blieb auf der äußeren Plattform stehen, in das Gewühl der Wagen und Passanten blickend, auf die Tische vor den Cafés, auf das bunte internationale Durcheinander. Man hörte alle Sprachen und sah alle Hautfarben. Paris war ein Schuttabladeplatz Europas geworden. Eine kleine brünette Dame, geschickt angezogen wie alle hier, blickte den großen blonden Mann herausfordernd an und machte ihm Avancen. Als sie kein Entgegenkommen fand, wandte sie sich einem zähnefletschenden Nigger zu, der zwischen seinen wulstigen Lippen eine Zigarre von Bananengröße balancierte.

Am Turm Saint Jacques stieg er aufs Geratewohl aus. Autos fuhren in vier, fünf Reihen nebeneinander in ununterbrochener Folge. Wie kam hier eigentlich ein Fußgänger über die Straße? Endlich wagte er es, wand sich, andern folgend, hindurch, und bog drüben in die Rue de Rivoli ein. Er ging die Kolonnaden entlang, mit einem Seitenblick auf die mittelalterliche Kirche von Saint Germain L'Auxerrois, die wie ein Gespenst in die Gegenwart sah. Alte Schulerinnerungen tauchten auf: hier hatte man die blutige Bartholomäusnacht eingeläutet. Wie oft war hier das Signal zu großen Schlächtereien gegeben worden! Jede Stadtgegend in Paris hatte solche Erinnerungen.

An einer Ecke hing ein halb abgerissenes Plakat in knallroter Farbe, worin die Kommunisten zu einer Begrüßung einiger in Paris anwesenden Kommissare der Räteregierung in leidenschaftlichen Worten aufforderten. Grotteck studierte aufmerksam die übriggebliebenen Sätze: er dachte an den Zeitungsausschnitt, den er noch immer bei sich trug, und er bedauerte, daß der Ort der Kundgebung nicht zu finden war. Vielleicht hätte er Blinsky dort getroffen.

Die Fenster von Rumpelmayer winkten, und er trat ein. Während er das Eis bestellte, sah er, daß sein Reiseanzug nicht hierherpaßte und daß er nun als neues Exempel für die schlecht gekleideten deutschen Vergnügungsreisenden gelten würde. Das ärgerte ihn, und er blickte herausfordernd auf die Angelsachsen, die das vornehme Lokal füllten und so dasaßen, als ob sie hier zu Hause, in ihrer Kolonie weilten.

Zeitungen gab es hier keine, dafür aber mehrere Telephonzellen. Aufmerksam das Publikum musternd, durchschritt er die Räume. Brodersens waren nicht da, wie er heimlich gehofft hatte. Nun, irgendwo mußten sie ja wohnen.

Er telephonierte alle möglichen großen Hotels an und stellte die Schwierigkeiten fest, die Zahlenangaben in einer fremden Sprache bieten. Nirgends wohnte ein Brodersen. Es blieben noch die Pensionen zu erfragen, aber davon gab es Tausende in dieser Fremdenmetropole. Enttäuscht ging er zurück, zahlte einen unverschämten Preis – die Speisekarten trugen keine Preisangaben – und verließ Rumpelmayer.

Am Châtelet bestieg er die Metro, um zum Ostbahnhof zurückzukehren. Er mußte es anders anfangen. So wie er es bisher gemacht, konnte er Jahre in Paris umherwandern, ehe er auf Brodersens stieß. Mechanisch blätterte er in dem veralteten Vergnügungsanzeiger. Als er auf die Anzeige der Großen Oper stieß – sie spielte Thais von Massenet –, fühlte er, daß hier ein Weg war. Es war gut möglich, daß sich Brodersens einmal dort einfanden. Es galt An- und Abfahrt gut abzupassen, Tag für Tag. Plötzlich war er seiner Sache sicher.

An der Haltestelle Sebastopol stieg er um, fuhr in falscher Richtung bis zum Père Lachaise, stieg wieder um und landete endlich vor der Großen Oper.

Der Regen fegte stärker über die Boulevards. Grotteck nahm am Café de la Paix Posto und wartete die Anfahrt ab. Eine Reihe Fußgänger eilten in den protzigen Prunkbau. Nun kamen die ersten Wagen, und bald war es eine Kette, die nicht abriß. Er ging zum Theatereingang hinüber und versuchte, dort stehenzubleiben, aber Polizisten drängten ihn weiter. Fast wäre er arretiert worden, als er sich fortzugehen weigerte. Die Polizisten waren meist große blonde Burschen, die den Dialekt der Normandie sprachen.

An der Ecke des Boulevards des Italiens stockte er. Beinahe hätte er aufgeschrien: aus einem Auto sah ein Herr heraus, der eine große Aehnlichkeit mit Brodersen hatte. Er drängte sich durch und sah den Herrn aussteigen und einer üppigen Dame heraushelfen. Nein, er hatte sich geirrt. Die meisten Amerikaner hier hatten Aehnlichkeit mit Brodersen.

Das Sicherste war wohl, ein Billett zu nehmen und in der Pause das Foyer und die Logen abzusuchen. Er ging in den Kassenraum und klopfte an das verschlossene Bürofenster. Ein Theaterdiener belehrte ihn, daß keine Karten mehr zu haben seien. Es blieb nichts anders übrig, als den Schluß der Oper um Mitternacht abzuwarten oder doch das Ende des zweiten Aktes, nach dem die vornehmeren Besucher das Theater zu verlassen pflegten.

Mißmutig ging er durch den strömenden Regen, der so gut zu seiner Stimmung paßte, den Mantelkragen hochgeklappt, die Boulevards entlang. Aus einem der vielen Kinos klang Musik, Lachen und Händeklatschen. Einige verspätete Zeitungshändler schrien mit gellender Stimme Sportblätter aus. Eine Frau, die müde und abgehetzt aussah, schrie ihr »Paris Sport!« Auf dem Zeitungsbündel lag ein schlafender Säugling, über dessen Kopf sie ihr jämmerliches »Paris Sport!« rief.

Grotteck warf ihr einen Schein zu und beeilte sich, in ein Auto zu steigen, um nach seinem Hotel zu fahren. Der Concierge musterte ihn mißtrauisch über den Apachenroman des Matin hinweg.

Er grüßte höflich und ließ sich das Morgenblatt geben. Beim Schein einer trüben Lampe las er auch hier von Fälschungen in aller Welt. In den meisten europäischen Groß- und Hafenstädten waren sie angehalten worden. Der aufgeregte Artikel sprach deutlich von den Absichten, den Franken von seiner mühsam erklommenen Höhe wieder herabzustürzen. Niemand konnte schuld sein als Deutschland oder die Räteleute. Kreischend wurde die Aufhebung des verdächtigen Kongresses verlangt. Man würde dann schon sehen, wie die Boches und die Russen Hand in Hand gegen das unschuldige, viel zu gutmütige Frankreich arbeiteten. »Schläft Poincaré?« hieß der Schlußsatz.

Er wollte sich für eine Stunde hinlegen, aber er stellte fest, daß die Bettwäsche seit dem vorigen Gast noch nicht erneuert worden war. Es ekelte ihn. Keine Nacht konnte er hier zubringen. Aus einem Zimmer, das irgendwo an der andern Seite des kleinen Lichthofs lag, kam ein falsches Flötengequiek, Weibergelächter und das Kläffen eines Köters.

Grotteck rauchte eine Zigarette nach der andern, im Zimmer auf und ab gehend, unwillkürlich den Takt der blödsinnigen Flötenmelodie einhaltend.

Plötzlich erhob sich im Hotel Lärm. Man hörte wütendes Klopfen an eine Tür, Schreie und die bellende Stimme von Monsieur. Dann trat ebenso unvermittelt Stille ein, die wie ein Auftakt zu einer neuen Szene wirkte. Das ganze Haus schien durchseucht von verbrecherischem und lasterhaftem Leben. Er ertrug es nicht mehr und zog sich an.

Die Flöte blies immer noch ihre dumme Melodie, während er die Treppen hinunterraste. Der Concierge blickte ihm kopfschüttelnd nach und vertiefte sich wieder in seinen Apachenroman.

Grotteck aß eine Kleinigkeit in einem Duval, eine Pastete von klangvollem Namen und undefinierbarem Inhalt. Als er an der Oper ankam, fuhren die ersten Wagen schon ab.

Er blickte in jeden hinein, ließ sich zur Seite stoßen, anschreien, verdrängen, kam aber immer wieder zur Zeit, um die Insassen kontrollieren zu können. Er spürte die Passion eines Jagdhundes.

Kein Gefährt entging ihm. Aber als nach einer Weile keine Besucher mehr die Oper verließen, mußte er für diesmal sein Suchen aufgeben. Vielleicht hörten Brodersens die Oper bis zu Ende an. Denn nun zweifelte er gar nicht mehr daran, daß sie drin waren.

Der Regen war schwächer geworden. Er schlenderte die Rue de la Paix auf und ab. Die Läden der Juweliere waren verschlossen und verriegelt, Wächter strichen umher, die ihn mißtrauisch prüften. Da ging er in das Café drüben und wartete die Stunde ab. Das Café war schwach besucht: das Nachtleben begann ja erst wieder nach Theaterschluß.

Endlich war es so weit. Aber nun war die Ermattung fühlbar geworden, die die Erregungen dieser Tage geschaffen hatten. Langsam, schwankend ging er zur Oper hinüber, obwohl man drüben begann, die Türen zu öffnen, und die ersten Menschen heraushasteten.

Fast willenlos ließ er sich von dem Mahlstrom der Menge mitreißen, der ihn bald an sich saugte, im Kreiswirbel herumwarf, ausspie, dann wieder dicht an die Wagenreihe brachte, um ihn wieder wegzuschleudern. Der einzelne war machtlos gegen die Anziehungs- und Abstoßungskraft dieses Stroms.

Einmal versuchte er, am Fuß eines Kandelabers Halt zu finden. Aber die Menschenflut spülte ihn fort, über den Platz hinweg, bis zum Eingang der Untergrundbahn.

In diesem Augenblick, als er schon alles aufgegeben hatte, bog ein einzelner Wagen um die Ecke. Er wäre fast umgeworfen worden, wie damals von dem grünlackierten Wagen Brodersens. Wieder sprang er instinktiv auf das Trittbrett, aber diesmal verließ er den Platz nicht so bald wie damals: drinnen saß Brodersen mit seiner Tochter.

Er rief dem Schofför »halt!« zu, der unwillkürlich gehorchte. Dann riß er die Wagentür auf, stieg, ohne zu fragen, ein und setzte sich den beiden gegenüber. Inge tat einen kleinen Schrei, und er nahm ihre Hand und küßte sie. Erst ein unwilliges Brummen Brodersens brachte ihn zur Erkenntnis der ungewöhnlichen Lage. »Ich bin Kurt Grotteck. Sie haben mich hier wohl nicht vermutet?«

Er fragte nicht, ob man ihm erlaube, mitzufahren. Er küßte nur erglühend vor Glück Inges Hand, die sich ihm nicht entzog.

»Grotteck?« wiederholte Brodersen langsam, als müßte er sich erst auf den Träger dieses Namens besinnen. »Wie kommen Sie denn hierher? Ich glaubte Sie auf Ihrem Gut?« Das klang nicht sehr ermunternd.

Er lachte hellauf. »Ich machte diesen kleinen Abstecher und bin glücklich, Sie getroffen zu haben.«

Inge blickte ängstlich auf ihren Vater, als Grotteck ihre Hände küßte. Spielte sie die grausame Komödie noch weiter? Noch heute mußte das ein Ende haben. Alles mußte klar werden zwischen ihnen, alles, auch dies. Aber vorläufig hatte er noch genug mit diesen kleinen, festen Händen zu tun, die zärtlich suchend in den seinen lagen und bebten. Nie hatten zwei liebende Menschen in der Stunde, da sie sich fanden, so wenig Worte gebraucht.

*

Die Fahrt war nur kurz. Brodersens wohnten in der großen Karawanserei des Grand Hotel. Dieses Hotel hatte er auch angefragt, aber man hatte es anscheinend nicht für nötig gefunden, sich seinetwegen zu bemühen. Vielleicht hatte man ihn auch nicht verstanden.

Grotteck sprang aus dem Wagen und half Inge beim Aussteigen. Als er auch ihrem Vater helfen wollte, trat sie hinzu. Aber er hatte schon den Arm des Blinden erfaßt und führte ihn ins Hotel.

In der Vorhalle blieb Brodersen stehen, den Arm mit einer trotzigen Bewegung abschüttelnd. »Vielen Dank«, sagte er mit einer merkwürdig verschleierten Stimme. »Aber ich bin noch nicht so alt, wie Sie zu glauben scheinen.«

Er stand aufrecht, das Gewühl der Halle überragend, und suchte mit einer Gebärde, die Grotteck schon kannte, nach Inge, die erblassend zu ihm trat.

»Leider kann ich Sie nicht in unsre Zimmer einladen. Ich habe noch eine wichtige Konferenz vor. Eine geschäftliche. Aber wir werden ja wohl morgen das Vergnügen haben.« Er lüftete den Hut und ging an Inges Arm zum Aufzug.

Grotteck folgte beklommen. Als die beiden in den Lift einstiegen, fing er einen Blick Inges auf, und er wußte gleich, was dieser Blick bedeutete: »Warte auf mich. Ich komme.«

Langsam ging er in das Schreibzimmer, das um diese Stunde ziemlich leer war. Fast wäre er gleich wieder umgekehrt: am Schreibtisch stand Blinsky, bleich, erregt, mit flatternden Händen auf einen gut gekleideten Herrn einredend. Er mußte sehr beschäftigt sein, daß er ihn nicht gleich erkannt hatte.

Er setzte sich ihm gegenüber, durch die seitlichen Milchglaswände gedeckt, und hielt den Temps vor sich, der dort gelegen.

Er konnte nichts verstehen, da beide russisch sprachen. Sie unterhielten sich gedämpft, aber jedes Wort schien mit Elektrizität geladen. Er sah, daß Blinsky die Fäuste ballte und den andern mit heftig sprudelnden Worten beschwor. Er hatte seine Maske der Undurchsichtigkeit abgeworfen oder vergessen, und er hatte auch sein gleichmäßiges japanisches Lächeln verloren.

Ein dritter näherte sich, ein langer Mensch Sommersprossen. Die beiden schwiegen und blickten ihn erwartungsvoll an. »Slowo«, sagte er leise.

Grotteck zuckte zusammen. Da war das Wort, das ihn selber so beschäftigt hatte. Und plötzlich bekam es einen Sinn: es war das Losungswort, die Parole, das Erkennungszeichen. Es kamen noch zwei andre hinzu, die mit einer kleinen Verbeugung das gleiche Wort murmelten. Dem Uneingeweihten mußte es wie eine Vorstellung erscheinen.

Grotteck atmete auf, als er sie jetzt deutsch reden hörte. Es war ja die internationale Verständigungssprache des Ostens. Die beiden letzten schienen keine Russen zu sein. Grotteck riet auf Letten oder Polen.

»Nichts ist entschieden. Nichts ist beschlossen«, sagte Blinsky leise und eindringlich. »Die Versammlung war gar nicht beschlußfähig. Die Statuten besagen …«

»Wir pfeifen auf die Statuten«, unterbrach ihn der erste. »Wenn wir legal vorgehen wollen, können wir ja den Polizeipräfekten selber zu unserm Konvent einladen. Es handelt sich nur um eins. Das weißt du gut.«

»Nein, es handelt sich für mich darum, was hier vergessen wird. Hättet ihr, um nur eins zu nennen, den englischen Streik ohne meinen Plan auch nur vier Wochen finanzieren können? Konnten wir etwa ein Drittel unsrer ganzen Ausfuhr – und soviel machte es aus – als Unterstützung nach England schmeißen? Eine Tollhäusleridee! Jeder Muschik kann euch da belehren. Eine Viertelmilliarde Rubel ist über den Kanal gegangen. Wer hätte sie gegeben?«

Ein sattes Lachen klang herüber. »In fremden Scheinen.«

»In Duplikaten, ja.«

»Sag' ruhig: in Fälschungen. Wir sind ja unter uns.«

»Man muß vorsichtig sein. Denkt ihr, bei unsrer Zahlungspassivität hätten unsre kurzfristigen Bankkredite zu dieser Riesenausgabe genügt? Es ist zum Lachen.«

»Du vergißt, daß jeder Arbeiter, jeder Ingenieur, also auch die fremden, einen Tagelohn im Monat hergeben mußten. Es sind wahrhaftig genug Opfer gebracht worden.«

»Ja, und in Kiew und Poltawa haben unsre Arbeitslosen dagegen demonstriert. Es roch nach Revolution.«

»Nitschewo. Man hat sie mit Gummiknüppeln auseinandergejagt und die Führer eingesperrt – bis auf weiteres. Du biegst aus.«

Blinsky rang die Hände. »Ich weiß alles. Ich kenne die Opfer wie ihr. Ich weiß, daß wir für unsre Ausfuhr sofortige Zahlung verlangen und daß die Fremden für ihre Warenlieferungen Kredite bis zu einem Jahr und darüber hinaus gewähren müssen. Aber das alles waren doch nur Tropfen auf einen heißen Stein. Erst meine Idee …«

»Halt dein Maul«, fuhr eine grobe Stimme dazwischen. »Es handelt sich darum, zu wissen, wo das deutsche Geld geblieben ist. Das ist das einzige, was uns hier interessiert. Und da hast du dich zu rechtfertigen.« Ein beifälliges Murmeln der andern war zu hören.

Blinsky ließ sich in einen Stuhl fallen. Seine Fäuste trommelten auf der Tischplatte. »Ich sagte es schon … ich sagte es ja schon: ich weiß nichts …«

»Nimm dich zusammen. Spiel' nicht den Hysterischen. So was können wir hier nicht gebrauchen. Dir war es anvertraut.«

»Ich bin unschuldig«, stöhnte Blinsky.

»Möglich. Wir lassen dir ja auch deswegen 24 Stunden Zeit, es zu beweisen.«

»Wie soll ich denn den Beweis erbringen?«

»Sehr einfach. Das Geld ist der Beweis.«

»Ich habe doch alles erklärt.«

»Ja, aber wir glauben dir nicht.«

»Ich schwöre …«

Wieder klang das gemütliche Lachen herüber. »Beim brennenden Dornbusch oder bei der heiligen Mutter von Kasan, der wir die Edelsteine ausbrachen?«

Eine Weile hörte Grotteck nur das leise Fluchen Blinskys und den Wirbel seiner Handknöchel auf der Schreibtischplatte. »Nur Zeit! Ich bin auf der Spur.«

»Das bist du schon seit einiger Zeit. Ich bin müde, Genossen. Außerdem glaube ich, daß wir allmählich auffallen, der Betreßte draußen sieht schon ziemlich argwöhnisch her, und allzu beliebt sind wir hier ja am Ende nicht. Blinsky entrinnt uns wie Quecksilber. Ich denke, wir heben die Sitzung auf. Bis morgen abend hast du Zeit, dich reinzuwaschen. Was geschieht, wenn du es nicht kannst, weißt du?«

»Ich weiß«, sagte Blinsky dumpf. »Ich würde selber an eurer Stelle nicht anders handeln.«

»Nun also. Auf morgen.« Die Schritte entfernten sich, kamen aber wieder zurück. »Und keine Dummheiten, verstanden? Die Bahnhöfe sind von zuverlässigen Leuten besetzt.«

Der erste blieb noch zurück. Er sprach beruhigend auf den dasitzenden Blinsky ein. »Es bleibt ja noch eine Möglichkeit …«

»Welche?«

Von nun an sprachen sie wieder russisch, und Grotteck konnte nur den Namen Brodersen verstehen. Die beiden gingen auch, ohne auf den eifrigen Tempsleser zu achten.

Nach einiger Zeit erst wagte Grotteck, sich zu erheben und den leergewordenen Raum zu verlassen.

Er brauchte nur wenige Minuten zu warten, bis Inge aus dem Speisesaal trat. Sie errötete glücklich, als sie ihn begrüßte. »Wir wollen in den Wintergarten gehen.«

Als sie in dem feuchtwarmen Raum zwischen Orchideen und breitblättrigen exotischen Bäumen standen, nahm Grotteck ihre Hand und sagte: »Ich vollende jetzt den Satz, den ich damals, an jenem Freitagabend, begann: Ich habe bisher nur die meiner Mutter geküßt, und ich habe ihr versprochen, nur die Hand der Ewiggeliebten zu küssen. Ich liebe dich, Inge.«

Sie neigte ihm mit einer keuschen Gebärde den Mund zu. Als sie den ersten Kuß ihres Lebens empfangen hatte, sagte sie, seine beiden Hände fassend: »Ich wußte, daß du kommen würdest, wenn ich dich rief.«

»Du hast mich nicht gerufen, Inge!«

»Doch. Ich rief dich Tag und Nacht. Hast du es wirklich nicht gehört?« Ihr Lächeln füllte die ganze Halle mit Glanz und Leben.

Er nahm sie jubelnd in seine Arme. »Ja, ich hörte es. Ueber Länder hinweg. Bis in das stille Grotthausen hörte ich deine Stimme. Wäre ich sonst gekommen? Hätte ich dich sonst gefunden?«

Eine Weile schwiegen sie, erschüttert von Glück und Erfüllung.

»Es müßte schön sein, jetzt sterben zu können …«

»Das Leben beginnt, Inge. Wach' auf!«

Sie wiegte plötzlich ernst den Kopf. »Ich wage es nicht zu glauben. Verzeih', Liebster, aber es ist so überwältigend, das Glück.«

Er sah in ihre tiefen Augen. »Ich bin in Sorge um dich.«

Sie warf den Kopf zurück. »Wir wollen nur an uns denken, nicht an das andre, das Feindliche …«

»Was ist das Feindliche, Liebste?«

»Laß das!« bat sie. »Höre nicht auf mich! Alle diese Dinge gehen ihren Gang. Wir beide können nichts dazu tun. Es wäre gerade so, als wollten wir eine rasende Maschine mit unsern Händen zum Stillstand bringen.«

»Und ich soll ruhig zusehen, wie du zerquält und verängstigt dasitzest und wie du selbst in dieser Stunde unruhig nach der Tür blickst?«

»Du irrst.«

»Ich wollte, daß es so wäre. Aber glaubst du, ich fühlte nicht im gleichen Herzschlag wie du? Ich spüre all diese Zeit eine dunkle, schrecklich rätselvolle Macht, die uns bedroht und die dich mir entreißen möchte. Inge, was hat dein Vater gegen mich?«

»Er hat nichts gegen dich. Oder zürnst du ihm noch wegen deines letzten Besuchs?«

Seine Stirn umwölkte sich. »Warum tat er das? Ich habe oft darüber nachgedacht. War es das, was der kleine Surrmann meinte? Du kennst ihn doch?«

»Er hat mir seine Sonette mit einer überschwenglichen Widmung gesandt. Was sagte er denn?«

»Dein Vater hätte ihn mit einem Geldgeschenk außer Kurs gesetzt. Wollte er das vielleicht bei mir auch?«

Sie sah ihn offen an. »Ich will nichts verheimlichen. Ja, er wollte es. Wenigstens nehme ich es an. Aber er wollte es sicherlich nur aus Liebe.«

»Eine sonderbare Liebe, findest du nicht auch?«

»Aus Liebe zu mir. Ich bin ihm alles. Er kann den Gedanken nicht fassen, daß ich einmal von ihm gehe, daß ich einem Mann meine Liebe schenke. Du mußt versuchen, zu verstehen.«

»Er ist mir wie der furchtbare Gott des Alten Testaments: du sollst keine andern Götter haben neben mir – welch ein tyrannischer Egoist!«

»Laß uns von andern Dingen sprechen«, bat sie. »Kommst du geradeswegs hierher?«

»Nein«, antwortete er fest. »Vorher war ich bei einem Mädchen. Bei demselben, das du damals im Auto neben mir sahst.«

Sie rückte unwillkürlich von ihm ab. »Das konntest du?«

»Ja, weiche nur von mir. Es muß gesagt werden. Ich habe – mein Gott, wie lange ist das her? Ein Jahrhundert oder zwei Tage? –, ich habe sogar du zu ihr gesagt. Du mußt auch das wissen. Aber ich glaube, du hättest es in dieser Stunde auch gesagt. Sie war so arm und elend, Inge, so grenzenlos verwildert war ihre Seele. Und sie liebte mich …«

»Sagte sie das?«

»Ja, begreifst du, daß so was möglich ist?«

»Nein«, sagte sie versonnen. Und dann nach einer Weile: »Wenn du jetzt nicht gekommen wärest, ich wäre gestorben, ohne daß du je erfahren hättest …«

»Was hätte ich nicht erfahren?« fragte er lächelnd.

»… wie du zu meinem Leben gehörst«, vollendete sie gesenkten Hauptes. Plötzlich umklammerte sie ihn. »Schwöre mir, daß du mich immer lieben wirst, immer …«

»Muß ich das erst schwören?« fragte er zwischen brennenden Küssen.

Sie entwand sich ihm leicht und sah ihn ernst an. »Du, es könnten Dinge kommen, die dich von mir treiben.«

Er lachte bei ihrer Angst. »Nicht Himmel noch Hölle sind stark genug dazu.«

»Aber die Welt kann es sein.«

»Das glaube ich nicht. Ich bin stark und nehme es mit ihr auf. Aber wollen wir die Gespenster nicht laut anrufen? Ich habe gehört, das sei die beste Art, sie zu verscheuchen.«

Sie überlegte einen Augenblick. »Weißt du, warum ich jetzt herkommen konnte?« Ihre Blicke irrten nach der Tür, und wieder fiel ihm der zerquälte, gehetzte Zug in ihrem Gesicht schmerzlich auf. »Er ist jetzt bei meinem Vater, Blinsky.«

Beruhigend streichelte er ihre Hände. »Blinsky? Ich fragte dich einmal, was ›Slowo‹ heißt, weißt du noch? Jetzt weiß ich es.«

In ihren Augen brannte Schreck und Bangen. »Du weißt auch den Sinn?«

»Ich glaube.« Er erzählte, wie er vorhin ihn und seine Genossen belauscht hatte. »Ich weiß natürlich nicht, worum es sich im letzten Grunde handelte. Aber ich entsinne mich gut, wieviel in euerm Haus politisiert wurde und daß man mich nie in diese Gespräche hineinzog.«

»Sei froh! Mische dich nie wieder in diese Dinge! Um meinetwillen nicht.« Sie schmiegte sich dicht an ihn.

»Ist Politik so ein Ungeheuer? Ich habe mich nie um diese Dinge gekümmert. Ich habe wohl in Grotthausen gehört, was dort darüber gesprochen wurde. Aber es schien mir immer wichtiger, die Chaconne von Bach zu kennen oder etwas Hübsches von Scarlatti.«

»Beides ist gleich wichtig«, sagte sie nach langem Schweigen, das nur von Küssen ausgefüllt war. »Beides kann ein Leben entscheiden. Du fragtest mich einmal, wer Blinsky sei – wie gut übrigens dein Instinkt war! Heute kann ich es dir sagen: er ist der Dämon der Politik, grausam in seinem Zerstörungswillen gegen andre und wohl auch gegen sich. Er ist der Wille zur Auflösung.« Sie richtete sich auf. »Ach, er ist vor allem der böse Geist meines Vaters gewesen, immer. Ich fürchte, er ist es noch heute.«

»Er hat es leicht, den Blinden zu beherrschen.«

»Ich glaube, er fühlt, daß du es wußtest. Er ist so anders. Aber ich fürchte, es ist nicht gut für unsre Liebe, daß er es fühlt: er hat all seinen Stolz, diesen unbändigen Stolz, darein gesetzt, alle Außenstehenden über seinen Zustand zu täuschen. Liebster, zürne ihm nicht! Er ist viel unglücklicher, als du glaubst.«

»Er durfte mit deinen Augen sehen – war er nicht dennoch glücklich?«

Ihre Hände verkrampften sich ineinander. »Hätte er es nur immer getan! So vieles wäre nicht geschehen.«

»Wen haßte er?«

»Seine Kindheit – klingt es nicht sonderbar?«

»Das verstehe ich nicht. Es war die hellste Zeit meines Lebens.«

Ein strahlendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich glaube, Liebster, ich spüre es ja an dir. Und das ist so gut an dir. Aber meines Vaters Kindheit war so furchtbar schwer. Ich glaube, jeder Mensch ist durch seine Kindheit gestempelt und gebunden.«

»Wie war deine, Inge?«

Sie sann nach. »Meine Mutter ist früh gestorben, auf einer unsrer ewigen Reisen. Ich habe nur die Erinnerung an eine hohe, schlanke Frau, die mich mit Anstrengung aufhob und nach vielen braunen Dienerinnen rief, wenn ich zu laut war. Ich war schon früh einsam.«

»Jetzt bin ich bei dir.« Er umschloß sie froh und durchglüht.

»Aber mein Vater war der einsamste aller Menschen. Ich las seine Jugenderinnerungen, die er zu irgendeinem Zweck diktiert. Sie sehen aus wie eine Rechtfertigung. Einmal diktierte er: Diese Jugenderinnerungen sind jene Komplexe, von denen die modernen Aerzte reden. Ich kann sie nur durch die Tat loswerden.«

Eine Tür öffnete sich. Getuschel von Stimmen und ein girrendes Lachen wurden hörbar und erloschen wieder.

»Hier können wir nicht reden«, sagte sie erschrocken.

»Also morgen. Ich hole dich ab. Das kann auch dein Vater nicht verwehren. Wir steigen auf eine Höhe, wo diese Stadt wie unser Reich zu unsern Füßen liegt. Auf den Montmartre vielleicht. Da ist eine Kirche, protzig und kalt, wie ein Salon des lieben Gottes, die Sacré Coeur. Aber ein köstlicher Ausblick. Nein, wir wollen Notre-Dame erklettern. Sie ist uns vertraut wie unsre gotischen Dome im deutschen Land. Liebst du die Schimären so wie ich?«

»Ich bin in den Städten immer nur dort gewesen, wo mein Vater war. Und was sollte er dort?«

Wieder ging eine Tür. Ein Schatten huschte heran. Si stand vor ihnen, ihre Herrin bedeutungsvoll ansehend.

Inge erhob sich. »Ich muß zu meinem Vater zurück.«

»Laß mich mit zu ihm gehen und mit ihm sprechen!«

»Nein, jetzt nicht«, fiel sie rasch ein. »Ich fühle, daß sich heute alles entscheidet, heute oder morgen, vielleicht schon, während wir hier reden. Er hätte kein Ohr für dich. Warte, bis wir zu Hause sind! Es wird nicht mehr lange sein.«

»Ich will gehorchen«, sagte er traurig. Aber als er ihre Hände drückte, überkam ihn die alte Angst. War dies ein Abschied für immer? Und hatte er nicht die wichtigsten Dinge ungesprochen gelassen? »Inge, liebst du mich?«

»Weißt du es nicht?«

»Ich meine: über alles. Ueber alles, was die Menschen über mich sagen werden.«

»Sie sagen nur Gutes von dir, Liebster.«

Die Malaiin stand, den Kopf geneigt, die Arme über die Brust gekreuzt, als ob sie betete –.

Langsam folgte Grotteck den beiden. In der Vorhalle, die jetzt leer war, hielt er einen Augenblick inne, dann ging er zur Pförtnerloge und fragte, ob er ein Zimmer haben könnte. Wenn er im Hotel blieb, war er Inge nahe und konnte ihr helfen. Hatte nicht jeder Atemzug um Hilfe gerufen?

Diesmal war das Schicksal gegen ihn. Das letzte freie Zimmer war vor wenigen Minuten besetzt worden. »Es sind so viele Kongresse in dieser Jahreszeit, mein Herr.« Der Mann log nicht: die Namentafeln waren alle beschrieben.

Enttäuscht verließ er das Grand Hotel. Der Regen strömte nicht mehr, er legte sich wie ein nasser Schleier um das Gesicht.

*

Inzwischen saß Brodersen in der Nische des großen Saales, eine Zeitung vor sich ausgebreitet, in die seine erloschenen Augen ab und zu hineinstarrten.

Blinsky stand in seiner devoten Haltung vor ihm. Er mußte seine Frage wiederholen: »Haben Sie nicht ein paar Minuten für mich übrig?«

»Ist noch etwas zu sagen? Und vollends hier?«

»Auch ich hätte lieber an einem andern Ort mit Ihnen gesprochen.«

»Das weiß ich«, entgegnete Brodersen bestimmt. »Aber ich bleibe hier. Ich finde es hier sehr angenehm und unterhaltend. Die Kapelle spielt ausgezeichnet. Finden Sie nicht auch?«

»Mein Sinn ist nicht auf Musik eingestellt Es handelt sich um ernste Dinge, Herr Brodersen.«

»Das ist schade, Blinsky. Ich hätte mir jemand als Vertrauten nehmen sollen, der lachen kann. Nun, setzen Sie sich immerhin.«

»Sind Sie nicht immer mit meinem Eifer zufrieden gewesen, Herr Brodersen? Habe ich je Ihr Vertrauen getäuscht?«

»Ich hoffe nicht.« Brodersens Hände tasteten vorsichtig nach der Zeitung und legten sie zusammen. »Besinnen Sie sich übrigens auf die Stunde, wo ich Sie aufnahm?«

»Wie könnte ich sie jemals vergessen!«

Der Blinde beugte sich über den Tisch. »Als die Weiße Armee Denikins Odessa besetzte, war Ihr Leben keine Kopeke wert. Sie standen schon an der Mauer. Ich weiß heute noch nicht, warum ich mich gerade Ihrer erbarmte. Richtig … die kleine Frau war schuld, die vor mir kniete und so jämmerlich weinte. War es Ihre Frau?«

»Wir waren nicht getraut. Im übrigen ist sie längst tot.«

»Ich nahm Sie in meinem Wagen mit, ich habe Sie auf dem Schiff in meiner Kabine versteckt, obwohl ich dadurch in schlimme Lagen geriet: Sie waren schon damals zu bekannt in gewissen Kreisen. Na, schließlich kamen wir dann ja glücklich in Konstantinopel an.«

»Sie haben wie ein Vater an mir gehandelt«, sagte Blinsky inbrünstig. »Ich habe mich bemüht, durch treue, selbstlose Arbeit meine Schuld abzutragen.«

»Ja, gearbeitet haben Sie. Es war schade, daß Sie dann auf diese Idee, diese unselige Idee kamen.«

»Sie haben diese Idee, die Sie jetzt unselig zu nennen belieben, einst gefeiert und gepriesen.«

»Sie kennen doch das russische Sprichwort, daß selbst der Jude für Vergangenes nichts gibt, wie? Wir wollen der Wahrheit geben, was der Wahrheit ist. Wir wollen uns doch darüber klar sein, daß wir uns verrechnet haben. Es kann für einen Geschäftsmann wohl ein Schade sein, sich zu verrechnen, aber kaum eine Schande. Die Gesellschaft ist viel elastischer, als Sie und die Ihren geglaubt hatten. Sie hält noch ganz andre Stöße aus, ohne in Trümmer zu gehen.«

»Wenn man auf mich gehört hätte!« stöhnte Blinsky. »Aber diese Leningrader Narren hatten ja keine Zeit, zu warten. Es wurde zu früh losgeschlagen, gegen meinen inständigen Rat. Wir hatten eine glänzende Organisation in Händen. Alles hätte geklappt, wenn nicht diese hirnlosen Pfuscher am Werk gewesen wären. Man hätte auf alle Fälle meine Erfindung abwarten sollen.«

»Es ist gut … auch für Sie … daß man sie nicht abgewartet hat. Ich hätte nie meine Hand dazu hergeben sollen.«

»Werfen Sie die Flinte ins Korn?« Blinskys Augen waren angstvoll auf ihn gerichtet.

»Uebrigens sollten Sie nicht nur von den Pfuschern reden. Sie vergessen die Schuldigen. Wissen Sie, daß sich eine hübsche Reihe Ihrer Vertrauensleute an diesen Summen bereichert hat?«

»Das glaube ich nicht. Sie vergessen, daß es nötig war, sie auch mit gutem Geld zu versehen, um sie nicht der Gefahr der Entdeckung auszusetzen.«

»Sie scheinen nicht im Bilde zu sein. Allzu viele hat das Geld geblendet, und es waren nicht nur arme Teufel darunter.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

Brodersen lachte hart auf. »Meinen Sie, ich hätte mich in diesen Dingen ganz und gar auf Sie verlassen?«

»Das war also Ihr Vertrauen?« schrie Blinsky auf.

»Sie müssen sich einen ruhigern Ton angewöhnen. Man unterhält sich hier halblaut, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben werden. Namentlich wenn die Musik eine Pause macht. Ja, ich bin in den letzten Tagen über mancherlei belehrt worden. Auch über Sie. Wo ist das Geld?«

Mit geballten Fäusten erzählte Blinsky zum hundertsten Male, wie es geraubt sei. Der Vertrauensmann Woronzow hatte die Lichtpausanstalt in der Obern Flußstraße gemietet. Er blieb Tag und Nacht dort und nahm darin sogar seine Mahlzeiten ein. An diesem Abend hatte er den Geburtstag eines Freundes gefeiert und hatte unter der Einwirkung ungewohnten Wodkas tiefer geschlafen, so daß er den Täter erst bemerkte, als ein Windstoß die offene Tür zuschlug. »Was wollen Sie, der Täter hatte das bekannte Glück des Anfängers. Jeder Spieler kann davon erzählen. Woronzow ist ihm sofort gefolgt, und er hat sogar von seinem Revolver Gebrauch gemacht, obwohl ihm das untersagt war. Dazu war der Indikator vorgesehen.«

»Und die Polizei hat sich nicht eingemischt?«

»Glücklicherweise nicht. Wir hätten sie damit auf unsrer Spur gehabt.«

»Man hätte die Fälschungen vernichten können, nein, man hätte es sofort müssen.«

»Die Noten vernichten?« gab Blinsky entsetzt zurück. »Es waren die besten Arbeiten, es waren Kunstwerke. Ich habe nicht umsonst Tag und Nacht experimentiert. Es gehörte die genaueste Prüfung, selbst für uns, dazu, sie von den echten zu unterscheiden.«

»Jetzt sind sie aber vernichtet Verlassen Sie sich darauf, sie sind es.«

»Auch das ohne mich? Nun gut, wir fangen von neuem an.« Ein lauernder Blick flog hinüber. »Dazu gehört neues Geld.«

»Holen Sie es, wo Sie wollen. Ich bin fortan außer Ihrem Spiel.«

»Sie haben genug«, stieß Blinsky böse hervor.

»Ich habe eine Riesensumme geopfert, weggeworfen. Wenige Menschen in Europa konnten eine solche Summe verschmerzen. Sie bekommen von mir keinen Pfennig, keinen Oer, keine Kopeke, keinen Sou, verstehen Sie mich?«

»Ich verstehe Sie gut. Ihre Stimme ist deutlich genug. Aber Sie sollten Ihre Weigerung noch überlegen.«

Blinskys Stimme gewann einen drohenden Klang. »Sie vergessen eins. Man kann nicht jedes Spiel beenden, wann man will. Wer sich so weit einließ wie Sie, muß auch weiter mithalten.«

Brodersen richtete sich auf. Es sah aus, als wollte er sich auf den andern stürzen. Seine breiten, schweren Hände ballten sich. »Wollen Sie erpressen, Sie Schuft?« Er ließ eine Menge Schimpfworte auf Blinsky niederregnen, und Blinsky duckte sich wie unter Steinwürfen.

»Ich bin an Ihre starken Ausdrücke schon gewöhnt«, begann er endlich. »Sie sind mit mir nie besonders zart umgegangen.«

»Mit Ihnen nicht unzarter als mit andern.«

»Ich bin in einer Zwangslage. Bis sich Ihr Geld wiederfindet, muß ich neues haben. Das Komitee fordert es von mir.«

»Es tut recht daran. Sie haben unverantwortlich gehandelt, als Sie das Geld so offen zur Schau hinlegten.«

»Maizow hat …?«

»Ja, Maizow hat eingesehen, daß ein blinder Mann ein ungeeigneter Mitarbeiter ist.«

»Das ist Verrat.«

»Sie irren. Das ist Vernunft.«

»Wenn ich ihn finde!« keuchte Blinsky. »Wenn ich ihn finde!«

»Nun, was geschieht dann?«

»Dann muß er sterben …«

»Mord? Sind Sie schon so weit?«

»Das wäre kein Mord, das wäre Vergeltung, Gericht.«

»Jonglieren Sie nicht mit solchen Begriffen! Tat ist Tat. Kein Mensch und kein Gott befreit Sie davon.«

»Gott?« machte Blinsky achselzuckend.

»Nun habe ich genug von Ihrer Narretei. Verlassen Sie mich.« Er wandte sich an Si, die bis dahin lautlos, bewegungslos daneben gestanden hatte, und sagte ihr einige malaiische Worte. Si glitt fort. Niemand schien sie hier aufzufallen. Man sah über sie hinweg wie über einen Schatten. »Meine Tochter kommt gleich wieder. Gehen Sie. Ich will nicht, daß sie Sie hier sieht. Außerdem ist es Zeit zum Schlafen.«

Blinsky erhob sich mühsam. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er die Nische.

*

Vor seinem Zimmer blieb Blinsky einen Augenblick horchend stehen. Er hatte ein Geräusch darin gehört, und er öffnete vorsichtig und sprungbereit. Er fühlte im Zimmer den Atem eines Menschen und knipste eilig das Licht an.

Der Lange mit den Sommersprossen saß auf einem Stuhl am Fenster, das halb geöffnet war, und kaute Sonnenblumenkerne.

»Was soll das?«

»Ich habe den Namen meines Hotels vergessen, Brüderchen. Was doch alles vorkommt, nicht wahr? Nun mußt du mir schon ein Dach über dem Kopf gönnen.«

»Warum hast du dich nicht hingelegt?«

»Ich wollte warten, Ilja, bis du mich auffordertest. Man muß auch Gastfreundschaft nicht ausnutzen. Es saß sich übrigens schön hier. Die Stimmen der großen Stadt, diese vielfältigen Stimmen, sie sind wie das Geflüster eines Stroms in der Nacht. Kennst du den Dnjepr?«

»Ja, aus Gogol«, sagte Blinsky finster.

»Nun also, das ist es, was mir die ganze Zeit durch den Sinn geht: wie verwandt doch alles ist, Stadt und Strom. Man fühlt, sie sind beide von der gleichen Hand geformt. Der gleiche Wille steckt dahinter und gibt beiden den Atem. Widersprich nicht, Brüderchen! Auch die Menschen, die die Stadt auftürmten, sind nur Werkzeuge gewesen.«

Blinsky setzte sich an den Tisch, der mitten im Zimmer stand, und entzündete eine Zigarette. »Bist du nur deswegen zu mir gekommen, um mir solche Dummheiten zu erzählen?«

»Wie du redest! Ich sagte dir doch schon, daß ich den Namen meines Hotels nicht weiß.«

»Den kann ich dir sagen. Gehst du dann?«

Der Sommersprossige lächelte. »Bin ich dir so zuwider? Laß mich nur noch ein Weilchen hier sitzen.«

»Bis zum Morgen, wie? Bis du abgelöst wirst?«

»Wer wird solche Worte gebrauchen? Es klingt so nach Ochrana.«

»Nein, nach Tscheka.«

»Jacke wie Hose, Brüderchen. Ob Dershawin oder Iwan der Schreckliche – das immer gutgläubige russische Volk betet sie an. Sie müssen notwendig sein, sonst wären sie nicht, verstehst du das?«

Blinsky zerdrückte wütend seine Zigarette. »Du solltest dich um einen Philosophenposten bewerben.«

»Leider bringt er nichts ein. Inzwischen bin ich Briefträger geworden. Hier ist etwas für dich. Ein Eilbrief aus Deutschland. Wartet ein Liebchen auf dich?«

Blinsky riß ihm den Brief aus der Hand. »Ich habe an andres zu denken, du Narr.« Ehe er den Brief öffnete, untersuchte er den Umschlag. »Nicht aufgemacht? Da muß ich mich wohl noch bedanken?«

»Wo denkst du hin? Das Briefgeheimnis ist unverletzlich – solange es sich nicht um wichtige Briefe handelt.«

Der Sommersprossige las am Gesicht des Lesenden eine ganze Skala der Leidenschaften ab. Alles war drin, von der Enttäuschung bis zum gellenden Triumph, von fliegender Ungeduld bis zum genießerischen Auskosten von Einzelheiten. Also doch eine Liebelei – dachte er.

»Ich bin gerettet«, stieß Blinsky endlich hervor. »Ich bin gerechtfertigt. Lies!«

Der andre knackte erst einige Kerne, ehe er den Brief überflog. »Ich verstehe mich schlecht auf Deutsch. Lies ihn mir vor, aber füge nichts hinzu!«

Der Brief war von der Auskunftei Okulus, Leiter Kiewening. Er schrieb seinem Auftraggeber, dessen richtigen Namen er längst verwandte, daß es dem Scharfsinn seines Instituts gelungen sei, den Besitzer des geraubten Geldes zu »eruieren«. Er erzählte vom mürbe gewordenen Dekepper, der Grotteck bei Martha Rebmann belauscht und angegeben hatte. Der Schluß des Briefes enthielt eine leise Drohung: »Bezugnehmend auf Ihren geschätzten Hinweis absoluter Diskretion erlaube ich mir die ergebene Anfrage, was nun geschehen soll. Es steht zu befürchten, daß besagter Dekepper die Angelegenheit der staatlichen Polizei mitteilt, die seinen Komplicen von damals (wegen eines andern nicht hierhergehörigen Delikts) schon in Händen hat. Da die Befürchtung naheliegt, daß die Untersuchung dann in Ihnen unerwünschte Bahnen gelenkt wird, empfiehlt sich, besagten D. mit einer Geldsumme zu versehen, um ihn von hier zu entfernen. Andernfalls wäre ich nicht in der Lage, Ihren Wünschen nachkommen zu können, ohne mein Institut, vorzüglich seinen Ruf, zu schädigen. Ich sehe Ihren Anordnungen, insbesondere bezüglich des Grotteck, mit Vergnügen entgegen, und bemerke gleichzeitig, daß die bislang gelieferten Vorschüsse aufgebraucht sind …«

Blinsky war fertig. »Nun?« sagte er. »Bin ich nun gerechtfertigt?«

Der Sommersprossige überlegte einen Augenblick. »Wir wollen zu Maizow. Rue Legendre, nicht wahr?«

Sie verließen gemeinsam das Hotel, fuhren durch die nächtliche Stadt, am Warenhaus Printemps vorüber, über den Bahnhofsplatz von St. Lazare, bis sie in der Nähe des Alexandre-Dumas-Denkmals ausstiegen.

Der Kommissar Maizow wohnte in der kleinen russischen Pension. Er lag, noch wach, im Bett, beim Schein einer Nachttischlampe Broschüren und Zeitungen lesend. Auf der Bettdecke und dem Fußboden lagen ganze Stapel aufgetürmt.

Sein hageres, gelbliches Gesicht, das der schwarze Knebelbart noch verlängerte, lag wie eine Totenmaske auf dem Kissen. Es schoß ein wenig Farbe hinein, als Blinsky erzählte. »Her mit dem Brief!«

Blinsky reichte ihn, tief aufatmend, hin. Der Kommissar betrachtete aufmerksam den Umschlag, die Marke und den Stempel darauf, bis er ihn endlich, ohne eine Miene zu verziehen, las.

»Was sollen wir davon glauben?« fragte er kühl.

Blinsky erblaßte. »Ich bin ihm auf der Spur. Nein, ich habe ihn. Begreifst du nichts? Ja, begreift ihr denn nicht die Tragweite des Briefes? Morgen, übermorgen habe ich alles.«

Die beiden andern wechselten einen Blick, den Blinsky auffing. Wütend stieß er hervor: »Ihr glaubt, er sei bestellt …«

Es kam keine Antwort. Aber dies Schweigen war belastender als eine Anklage. Er fühlte erbittert, daß ihm hier keiner glaubte.

Ohne ein Wort zu sagen, riß er den Brief wieder an sich und verließ das Zimmer. Der Sommersprossige folgte ihm. An der Haustür stand ein dritter Mann in der Uniform eines französischen Postbeamten.

»Es ist besser, wir begleiten dich, Brüderchen. Die Nächte sind unsicher in diesen Zeiten. Und womöglich geht es dir wie mir, daß du dein Hotel verfehlst.«

Blinsky verstand und ließ sich von den beiden zum Grand Hotel zurückführen. Er war schon dankbar, daß sie ihn in seinem Zimmer allein ließen.

Er lief im Zimmer auf und ab wie ein gefangenes Tier. Seine Lippen bewegten sich, ohne daß ein Wort zu hören war. Die Wut über seine Enttäuschung peitschte sein Blut zur Raserei auf. Tolle Bilder der Rache rollten im wilden Wirbel durch sein entzündetes Hirn. Mord hatte Brodersen getadelt? Mord an dem, der das Geld hatte? Er hatte recht: Mord war viel zu wenig. Blut trat ihm in die Augen, als er an die Wonnen der Vergeltung dachte. Seine Phantasie stürmte von Bild zu Bild! Folter! Martern! Glied um Glied! Wie man damals die gefangenen Weißgardisten in Kiew gemartert hatte, denen man die Haut von den Händen als lebende Handschuhe streifte – Nägel in die Augen und lebend in das Kohlenfeuer geworfen, wie es die aufrührerischen Matrosen damals mit den Offizieren gemacht hatten! Das Tier raste in ihm, die große asiatische Bestie tobte in dem Zimmer des Pariser Hotels.

Mit der körperlichen Ermattung wurde er langsam ruhiger. Er begann zu überlegen. Gab es wirklich keinen Ausweg mehr? Hatte er nicht noch immer einen gefunden? Solange er lebte, war noch nichts verloren. Solange er atmete, lebte der Traum der Rache weiter.

Er horchte auf. Auf dem Korridor klang verstohlenes Geflüster und ein kleines klingendes Lachen aus Frauenmund.

Er stellte sein ruheloses Wandern ein. Es gab noch einen Ausweg: Inge Brodersen war ja da. Sie konnte ihn retten. Sie wußte, daß er ihren Vater und sie vernichten konnte. Zum mindesten mußte sie es glauben.

Lange grübelte er über die Möglichkeiten nach, die ihn mit ihr allein zusammenführen konnten. Er nahm den Briefblock zur Hand und schrieb Brief auf Brief. Jeden zerriß er, um ihn dann an einer Kerze zu verbrennen. Endlich blieben nur ein paar Zeilen stehen, die er für gut befand. Nichts von Gefühlen war darin: sie hätten ihr nur dies kühle Lächeln entlockt, das er haßte – und nach dem er sich doch in hundert schlaflosen Nächten gesehnt hatte.

»Ich erwarte Sie morgen früh in meinem Zimmer, um Ihnen Dinge zu sagen, die für Sie und Ihren Herrn Vater von allergrößter Wichtigkeit sind. Ich gebe mein Ehrenwort, daß Sie allein kommen können. Zeugen würden mir meine Erklärungen unmöglich machen …«

So war es recht. Als Tochter ihres Vaters würde sie es verstehen.

Auf Strümpfen schlich er den teppichbelegten Korridor entlang, dann die Treppe hinunter, bis zu ihren Zimmern. Als er die Außentür vorsichtig geöffnet und den Brief unter die Spalte der Innentür geschoben hatte, sah er Inges Schuhe stehen.

Er erhob sich verwirrt und betrachtete sie mit einem wunderlichen Gemisch von Hohn und Leidenschaft. Seine Züge entspannten sich zur Zärtlichkeit.

Mit einem scheuen Blick nach rückwärts preßte er die Schuhe an seinen Mund. Blinsky demütigte sich. Er kasteite seine Seele.

Si brachte morgens den Brief an Inges Bett, und sie reichte ihn mit einer wiegenden, warnenden Kopfbewegung ihrer Herrin.

Als Inge Brodersen ihn gelesen hatte, war sie sofort wach. Sie wußte von ihrem Vater, daß Blinsky mit ihm ein Gespräch geführt hatte, das beide trennen mußte. Das Gefühl der grenzenlosen Erleichterung, das ihr einen tiefen, traumlosen Schlaf geschenkt hatte, wich nun jählings der Angst: es war kein Zweifel, daß Blinsky sich rächen wollte, und daß sie – sie allein – es verhindern konnte.

In fliegender Hast kleidete sie sich an, zum erstenmal zu der Malaiin ungeduldige Worte hinwerfend. Sie hatte nach den Aufregungen des Abends viel zu lange geschlafen. Wie, wenn Blinsky sie nicht mehr erwartete?

Sie sagte Si ein paar malaiische Worte, wohin sie ging und wann sie sie um jeden Preis abholen mußte. Die Dienerin beschwor sie, zu bleiben, und sie legte Inges Hände auf ihre Stirn, als wollte sie ihre Gedanken so übertragen. Ein stolzes Lächeln kräuselte Inges Lippen: sie fürchtete sich nicht. Inge Brodersen fürchtete sich nicht.

Blinsky stand in der offenen Tür, als Inge Brodersen den Korridor entlang schritt. War er ihres Kommens also so sicher gewesen?

Sie trat ein, zog die Tür hinter sich zu, an der sie stehenblieb. »Sagen Sie schnell, was Sie zu sagen haben. Ich werde erwartet.«

Er stand geduckt, in seiner alten demütigen Haltung vor ihr, als ob er seine eigene Persönlichkeit aufgegeben hätte. Nein, von dem war nichts zu befürchten.

»Nichts ist schnell gesagt«, begann er leise. »Tausend Fäden sind ineinander verknüpft. Wie will man schnell den einzelnen lösen? Aber wollen Sie sich nicht setzen?«

»Nein. Ich nehme an, daß Sie meinen Wunsch zur Eile achten. Worauf warten Sie denn noch?«

Sein Blick umspannte ihre Schuhe, die er vor wenigen Stunden geküßt. Er begriff sich nicht mehr und rang nach Worten. Alles war so anders, als er es sich ausgemalt hatte.

»Ich habe nicht viel Zeit, Blinsky. Was sind das für Geheimnisse, von denen Sie schrieben?«

»Geheimnisse?« fragte er, immer ohne sie anzusehen, »Geheimnisse? Bald werden es keine mehr sein. Vielleicht sind sie es in diesem Augenblick schon nicht. Aber setzen Sie sich doch! Ich bin todmüde, und ich kann doch nicht sitzen, wenn Sie stehen. Oder haben Sie etwa Angst vor mir?« Zum erstenmal schoß sein Blick zu ihr auf.

»Nein, Blinsky, ich fürchte mich nicht vor Ihnen. Aber den Schlüssel hier ziehe ich ab und nehme ihn zu mir.« Sie ging aufrecht zu dem Stuhl am Fenster, den er ihr angeboten, aber sie fühlte, daß ihre Knie zitterten. Einen Augenblick sah sie hinaus. Der Platz war stark belebt. Die livrierten Angestellten des Hotels liefen aus und ein. Ein Ruf würde genügen, sie herbeizurufen. Sie setzte sich beruhigt. »Reden Sie endlich!«

Er ließ sich in dem Stuhl am Tisch nieder, durch das halbe Zimmer von ihr getrennt. »Ihr Vater ist in Gefahr … nicht in Lebensgefahr … ich glaube wenigstens nicht, daß er es ist …«

»Blinsky!«

Er lächelte befriedigt. Der Anfang war gut gewesen. »Es war ein großes Werk geplant«, fuhr er fort. »Ein Werk, das mit einem Schlag das Bild der Welt, wie sie jetzt ist, verändert hätte. Durch die Voreiligkeit einiger Narren ist es zerbrochen, und das Alte triumphiert. Es ist stark, oh, Sie ahnen nicht, wie stark! Man hat uns belogen, als man uns predigte, es sei morsch und reif zum Fall wie eine Frucht im Herbst.«

»Was soll morsch sein?«

»Die Welt, die Herrschenden der Welt. Sehen Sie mich nicht so an, als ob ich verrückt sei. Ich habe noch immer mehr Verstand als die Mehrzahl meiner verehrten Zeitgenossen. Vielleicht habe ich zuviel von diesem Artikel. Aber ich will Sie mit diesen Dingen nicht aufhalten. Was Sie und mich angeht, ist dies: Ihr Vater war mit Geld daran beteiligt, mit viel Geld … nein, auch davon will ich nicht reden.«

»Ist das Geld verloren?« fragte Inge schnell.

Er hob die Hände, als wolle er sie beschwören. »Nicht davon wollen wir reden. Es gibt Dinge, die um eine Welt wichtiger sind …«

»Warum?« sagte sie kühl. »Es ist in letzter Zeit bei uns soviel von Geld und Kapital und Finanzaktionen gesprochen und geflüstert worden, daß es hiermit doch im Zusammenhang stehen und wichtig sein muß. Denken Sie, ich sei als Schlafwandlerin durch das gelbe Haus gegangen?«

»Nein, Sie sind klug, Inge Brodersen. Sie sind klüger als die meisten Männer.« Seine Blicke irrten über ihre Gestalt, ihr Gesicht, und blieben wieder an den Schuhen haften. Es klang wie ein Stöhnen: »Sie sind fast so klug, wie Sie schön sind … Nie habe ich eine schönere Frau gesehen …«

»Ich gehe fort, wenn Sie mir nichts andres zu sagen haben.«

Er erhob sich schwankend. Seine Blicke verdunkelten sich. »Könnten Sie mich nicht lieben, Inge Brodersen?«

Sie erhob sich, plötzlich der Gefahr bewußt. »Ich gehe.«

Er löste sich vom Tisch und ging langsam auf sie zu. Als er nur noch einen Schritt von ihr entfernt war und sie schon die Hand zur Abwehr ausstreckte, fiel er plötzlich in die Knie. »Sehen Sie denn nicht, wie ich Sie liebe? Haben Sie das nie gewußt? Fühlt es eine Frau nicht, wenn ein Mann neben ihr brennt, wenn er verbrennt vor Leidenschaft? Können Sie denn nicht den Gedanken fassen, daß Sie mich einmal lieben könnten?«

»Und das müssen Sie mir hier sagen? Ich verachte Sie, ja, ich verachte Sie mehr, als ich es je tat.«

»Ja, ja, verachten Sie mich!« stöhnte er. »Lassen Sie mich Ihren Hohn fühlen. Ich weiß es ja, wie hoch Sie über mir stehen, wie hoch Sie über allen Menschen stehen. Aber verstoßen Sie mich nicht! ich will Sie nicht anrühren, ehe Sie es erlauben, ehe ein Zittern Ihrer Wimpern mir die wahnsinnige Hoffnung gibt. Nur den Saum Ihres Kleides will ich küssen, die Spitze Ihrer Schuhe, die ich heute nacht, als Sie schliefen, geküßt habe wie ein Frommer das Madonnenbild. Haben Sie Mitleid. Sie sind doch eine Frau.«

»Und Sie sind ein Mann, Blinsky. Darum dürfen Sie nicht um Mitleid bitten. Begreifen Sie denn das nicht? Stehen Sie auf und lassen Sie mich fort!«

Er erhob sich langsam. Seine gerungenen Hände lösten und spreizten sich. Nun waren sie wie Krallen eines Raubvogels. »Und wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihren Vater retten will, daß ich seinen Ruf, seinen Namen retten will und wie diese Dinge des Westens alle heißen – könnten Sie auch dann noch nein sagen?«

Sie raffte all ihren Mut zusammen, als sie dem bebenden Mann zurief: »Sie ahnen gar nicht, wie ich Sie verachte!«

Er trat einen Schritt zurück, als hätte er eben einen Schlag bekommen. Aus zusammengepreßten Lippen stießen die Worte: »Nehmen Sie sich in acht! Wenn man den Wolf reizt, beißt er zu. Und der umstellte Wolf ist am schlimmsten.«

»Ich fürchte Sie nicht. Ich fürchte Sie auch in diesem Augenblick nicht.«

Seine Augen flackerten sie an. »Ich bin ein toter Mann, wenn ich heute fortgehe. Ehe der Abend sinkt, bin ich es. Man ist hinter mir her. Man traut mir nicht. Man glaubt mir nicht. Das Geld fehlt, das Ihr Vater gab

Erleichtert atmete sie auf. »Also es handelt sich doch um Geld? Warum sagten Sie das nicht gleich? Warum erst diese Komödie?«

Blinsky lehnte sich an die Wand. Sein Kopf schlug schwer an den weißen Türrahmen, und er empfand die Wollust des ablenkenden Schmerzes. »Es war keine Komödie, Inge Brodersen. Es war Wahrheit. Machen Sie mich nicht wahnsinnig. Ich glaube, es fehlt nicht mehr viel dazu. Glauben Sie wirklich noch immer nicht, daß ich Sie liebe? Ich hätte mein Blut tropfenweise hergegeben, wenn Sie krank gewesen wären und man Sie damit hätte retten können. Oh, wie oft habe ich gewünscht, daß Sie so krank würden, daß ich es beweisen könnte! Anders konnte ich es ja nicht beweisen. Ich war ja nur der Sklave Ihres Vaters.«

»Sie waren der Vertraute meines Vaters, und ich fürchte, Sie haben das Vertrauen des Hilflosen mißbraucht.«

»Ich bin unschuldig. Ich habe ihn manchmal gehaßt, ja, das gebe ich zu, und es hat mich gefreut, als sein Dämon ihn zu uns trieb, bei denen er nichts zu suchen hatte. Aber betrogen habe ich ihn nicht. Kein Pfennig ist unterschlagen worden. Ich würde mich selber anspeien, wenn ich es getan hätte.«

Inge zwang ihre tobenden Nerven zur Ruhe. »Ich sehe aus allem, daß Sie Geld brauchen. Warum sagten Sie das nicht meinem Vater? Sie wissen doch am besten, daß ich für meine Person über nichts verfüge. Und mein Vater willfahrt Ihnen doch in allem.«

»Sie dürfen nicht schlecht von mir denken, Inge Brodersen. Das wäre schlimmer für mich als der Tod, der draußen lauert.«

»Reden Sie vernünftig. Wir sind hier nicht in Rußland.«

»Sie ahnen gar nicht, wie sehr wir hier in Rußland leben …« Wieder umfaßte sie sein Blick, in dem es aufglomm. »Warum sind Sie so kalt zu mir? Wie eine Winternacht auf der Newa sind Sie. Taut meine Glut Sie wirklich nicht auf?«

»Wenn Sie noch ein Wort davon reden, drücke ich auf diesen Klingelknopf und rufe das ganze Hotel zusammen.«

»So«, brachte er langsam hervor, und seine Worte fielen wie geschmolzenes Blei in die Tiefe. »So stehen wir zueinander? Wissen Sie auch, Inge, daß Sie gar nicht um Hilfe rufen werden?«

»Warum?« Seine Blicke ließen sie erstarren. Zum erstenmal fürchtete sie ihn wirklich.

»Wer würde es glauben, daß Sie zu einer geschäftlichen Besprechung bei mir waren? Sie, die junge Dame, im Zimmer des jungen Mannes?«

»Schuft!«

Seine Blicke verzehrten sie. Mit einem bösen Lächeln fuhr er fort: »Sie wären unrettbar kompromittiert. Man hat für solche Dinge in Paris Verständnis.« Er ließ die Wand und trat auf sie zu, die Schritt für Schritt zurückwich. »Glauben Sie im Ernst, daß die Hotelangestellten etwas andres tun würden als lächeln?«

Inge war bis an das Fenster zurückgetreten. Kurt Grotteck – wo war er? Warum kam er nicht?

Blinsky blieb zwei Schritte vor ihr stehen. »Ich sehe mit Genugtuung, daß Sie vernünftiger werden. Wenn man in der Gewalt eines Menschen ist, darf man ihn nicht mehr beleidigen, nicht wahr?«

Sie zwang ihren Ton zur Kühle. »Was wollen Sie eigentlich? Mein Geld oder mich?«

»Beides. Und beides werde ich haben.« In seinem Blick saß die Wildheit des Tiers. Ein häßlicher Gedanke überkroch ihn: der Indikator! Sie war in seiner Gewalt.

Da riß ihn ihr Schrei herum: »Sehen Sie sich vor! Si steht hinter Ihnen!«

In der halbgeöffneten Tür stand die Malaiin, in der Hand die Waffe, deren Gefährlichkeit er kannte.

»Gehen Sie bis zum Schrank zurück!« befahl Inge. »Und rühren Sie sich nicht!«

Er gehorchte zögernd, geduckt, mit verbissenen Lippen.

»Nun sind Sie in meiner Gewalt, Blinsky. Ich werde sie nicht ausnutzen. Nur – die Papiere, wo sind sie? Sind sie überhaupt da oder war alles Lüge?«

»Ich soll mich ja nicht rühren«, sagte er trotzig.

»Wenn sie vorhanden sind, haben Sie sie sicher bei sich. Und solange Sie dort stehenbleiben, bürge ich für Si.«

Sie sah seinen verstörten Blick, und in einer Anwandlung von Mitleid setzte sie leise hinzu: »Nehmen Sie doch Vernunft an! Sie sagten doch, daß Sie mich lieben. Adelt Sie dies Gefühl so wenig?«

Ihre Worte erdrückten ihn. Der Krampf wich allmählich aus seinen Zügen. »Sie sollen sich nicht mehr über mich zu beklagen haben. Ich will Ihnen die Papiere geben und gehen. Nie mehr werde ich vor Ihr Angesicht treten. Hier sind sie. Die Einwilligung Ihres Vaters zu dem Unternehmen. Hier seine Unterschrift.«

»Es war die Unterschrift eines Blinden. Wer kann wissen, was Sie ihm unterlegt haben.«

»Dann fragen Sie ihn. Oder andre werden fragen. Oh, Ihr Vater ist viel zu stolz, um zu lügen.«

Da wußte Inge, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. »Geben Sie!« Mit zwei Fingern faßte sie die Papiere an, als beschmutze die Berührung, weil sie aus Blinskys Händen kamen.

»Blut klebt nicht dran«, höhnte er. »Nur ein wenig von dem Schmutz der Lüge, die die Welt braucht, wenn sie nicht vor Langeweile zerplatzen und in Atome auffliegen will. Ihr Vater wird es bestätigen, daß es die richtigen sind.«

»Ich danke Ihnen zum letztenmal, Blinsky.«

Sie verließ aufrecht, von Si gefolgt, das Zimmer, ohne noch einen Blick auf Blinsky zu werfen. Draußen verließ sie ihre Kraft. Sie sank in die Arme der Dienerin und schmiegte sich an sie. Sie fühlte sich beschmutzt, besudelt, entweiht.

Erst als sie in ihrem Zimmer war, brachte ein Tränenstrom Erlösung.

*

Als sich die Tür schloß, blieb Blinsky noch einen Augenblick an seinem Platz stehen. Langsam fror das Grinsen zu einer Grimasse ein, die weh tat. Da fuhren seine Hände über die Stirn, als wollten sie lästige Fliegen wegscheuchen. Weg damit! Es war gar nichts gewesen. Nie hatte er sich erniedrigt, nie hatte er gebettelt.

Er ging zur Tür und verschloß sie. Dann ging er vorsichtig ans Fenster und spähte, durch den Vorhang gedeckt, hinaus.

Draußen lümmelten sich zwei Blusenmänner seit einer Stunde umher. Sie hockten auf einem Handwagen, rauchten die schwarzen französischen Zigaretten und spuckten in großem Bogen auf die Straße. Nach einer Weile verschwanden sie, und ein Bouquiniste löste sie mit seinem Gehilfen ab. Er konnte von seinem Ausguck deutlich die gelben Umschläge der Romane erkennen und die Pappschachteln mit den Photographien und Ansichtskarten. Sie waren auf dem Posten.

Aber er war es auch. Sein unruhiges Leben hatte ihn auf alle Zufälle und Rückschläge gewappnet. Und bis zum Abend hatte er ja noch Zeit. Hatte er noch soviel Zeit? Plötzlich kam ihm der Gedanke an Brodersen, dessen Tochter er eben beleidigt hatte. Die alte Furcht vor ihm stieg auf und lähmte ihn. Er sah seine breite, schwere Gestalt deutlich vor sich und den mächtigen Kopf, dem die grollende, herrische Stimme entstieg, die ihn immer gebändigt hatte.

Als er einen männlichen Schritt auf dem Korridor hörte, zuckte er zusammen, um gleichzeitig seine Furcht zu verwünschen. Aber eins blieb: er hatte keine Zeit zu verlieren. Vielleicht sprach Inge Brodersen in diesem Augenblick schon mit ihrem Vater, und der furchtbare Blinde kam herauf, um die Schmach zu rächen.

Daß die Leute da unten auf dem Platz ihm diesmal glauben würden, war ausgeschlossen. Mißtrauen war ja der stärkste Faktor ihrer Menschenbehandlung. Mißtraute nicht ein Führer dem andern? Lauerte nicht jeder auf eine Verfehlung, die zum Sturz genügte? In jagender Eile leerte er seine Koffer, bis er fand, was er suchte: Bart, Brille, eine Reisemütze und einen großkarierten Ulster. Vor dem Spiegel stellte er fest, daß seine Kostümierung gelungen war, wenn er sich noch dazu zwang, die englische Pfeife zu qualmen.

Aus den Pässen, die er immer bei sich trug, wählte er den finnischen aus, der auf den Kaufmann Sindfall lautete. Finnland war so sowjetrein wie möglich. Fast belustigt las er die langen finnischen Bezeichnungen der Behörden. Was waren das für Worte: »Alamaisuus, Kansallisuus, Tuntomerkit« – klang es nicht mexikanisch? Und in ein solches Land sollte er nun.

Für die nächste Zeit hatte er Geld genug. Es blieb sogar noch genügend für ein Telegramm an diesen Kiewening, das er schnell hinkritzelte, um es unten in die Portierloge zu legen. »Anzeigen! Grotteck verhaften! Geld folgt morgen. Brod.« Seine Rache war bescheiden genug, aber er hatte ja einstweilen keine Zeit zu einer andern. Vielleicht kamen einmal andre Zeiten.

Vorsichtig die Tür öffnend, ging er hinaus. Auf dem Korridor war niemand. Der Lift trug ihn nach unten, wo reges Durcheinander ihn verdeckte. Er legte die Depesche mit einem Geldschein in die Portierloge und schob sich dann mit einer Gruppe Engländer auf die Straße. Es fiel niemand auf, auch nicht dem fliegenden Buchhändler, der eben einem Fremden die neue Reliefkarte von Paris aufschwatzte. Alles war in Ordnung.

Im phlegmatischen Schritt eines echten Sohnes Albions ging er bis zur Ecke, wo er ein Auto heranwinkte. »Louvre«, rief er dem Chauffeur zu. Das war ein guter Einfall: jeder Engländer besuchte den Louvre.

An der Säule auf dem Place Vendome stieg er aus, zahlte, umständlich mit den französischen Lauten ringend, betrat einen staatlichen Tabakladen, den er gleich wieder verließ, um ein neues Auto zu besteigen.

Als er durch die Bahnsperre trat, ohne behelligt zu werden, atmete er auf. Er war ihnen entkommen. Er ging lächelnd an dem Zug entlang, der schon wartete. Seine Pfeife qualmte.

Ein gutgekleideter Herr streifte ihn mit seinem Reisekoffer und sagte mit unterwürfigem Gesicht, als bäte er um Verzeihung, leise: »Slowo!«

Fast hätte Blinsky aufgeschrien: er war umstellt.

Er bezwang seine Miene und ging achselzuckend weiter. Noch war nicht alles verloren. Hier auf dem Bahnsteig würden sie keine Gewalttat wagen. Zur Vorsicht stellte er sich so, daß er von andern gedeckt war. Wenn er im letzten Augenblick der Abfahrt aufsprang, war er gerettet, zum mindesten für die nächste Zeit. Und im Zug gab es Notbremsen, die ein Ausspringen an einem Punkt, wo es ihm beliebte, ermöglichten.

Die Lokomotive stieß einen langen Pfiff aus, der Zug rollte an. Blinsky faßte einen Griff und wollte sich emporschwingen, aber irgend etwas kam ihm zwischen die Beine, seine unsichere Hand glitt nieder, er fühlte sich ins Schwanken und Stolpern kommen, taumelte und fiel zwischen die fahrenden Wagen.

Ein vielstimmiger Aufschrei gellte durch die Halle. Signale schrillten. Der Zug hielt wieder.

Zwei Beamte zogen einen verstümmelten Leichnam hervor, der einen Anblick von lächerlicher Grausigkeit bot, da die eine Hälfte des Schnurrbarts sich verschoben hatte.

Ein Reisender, der sich offenbar verspätet hatte und der einen stark slawischen Akzent sprach, meinte: »Wahrscheinlich ein Komödiant!«

Die entsetzten Beamten nickten nur.

*

In dem gelben Haus an der Rückertstraße war es still geworden, auch seit Brodersens wieder heimgekehrt waren. Die vielen Besucher der letzten Zeit blieben aus. Gäste wurden nicht geladen und nicht empfangen. Der einzige, der Zutritt hatte, war Grotteck.

Er saß an diesem milden Septemberabend auf dem Balkon und lauschte Inge, die drinnen Bach spielte. Sie spielte auf den Wunsch ihres Vaters, der drüben in seinem Zimmer saß und diktierte.

Das kleine magere Fräulein war wieder da und schrieb. Ihre Furcht vor Brodersen hatte sie verloren, und sie konnte zu ihm aufsehen, ohne zusammenzufahren. Sie erzählte, daß er oft halbe Stunden lang schwieg, als ob er über etwas nachgrüble, und daß sie ihr Stundengeld gar nicht abverdiene.

Er diktierte jetzt nur von seinen Reisen, von Tempelwundern auf Sumatra, von der Seeschlange an der australischen Küste, von fanatischen Sekten im östlichen Rußland. Alle die furchtbaren Dinge, die sie einst mit Schaudern stenographiert hatte, schienen beiseitegelegt zu sein. Sie hatte sie nicht in die Maschine übertragen müssen, und er kam nie auf sie zurück.

Grotteck wußte, daß ihn die Stunde, da man ihm den Tod Blinskys gemeldet, nicht umgeworfen hatte – es war noch andres, was an ihm nagte. Wie ein Fürst hatte er die Pariser Polizei empfangen, die gern wissen wollte, in welchem Auftrag sein ehemaliger Privatsekretär in Verkleidung und mit falschem Paß gefahren sei. Daß es nicht in seinem gewesen war, wußte man: man hatte sein Gespräch im Saal des Grand Hotel behorcht. Man war freundlich auseinandergegangen, und der Heimfahrt war kein Hindernis in den Weg gelegt worden.

Schon am nächsten Tag waren sie gefahren, und Grotteck hatte bei Brodersen bleiben dürfen. Es war eine qualvolle Fahrt gewesen. Brodersen sprach kein Wort, ließ sich von Si bedienen und im übrigen Inge alles bestimmen. Die ganze Zeit über waren seine Augen auf die Landschaft gerichtet, die sie nicht sahen.

»Wir müssen ihn schonen«, hatte Inge gebeten, wenn Grotteck ungeduldig wurde. »Warte noch!«

Aber dies Warten war schwer, zumal er dem Blinden um keinen Schritt näherkam. Entfernte sich nicht auch Inge von ihm? War er ihrer sicher, wenn sich sein Schicksal hier erfüllte? Tag für Tag erwartete er den Schlag, der nun auf ihn niedersausen mußte. Blinsky war tot, in sein eignes Netz verstrickt worden. Aber der andre war da, dieser lächerliche Bursche, den er mit Geld unschädlich machen konnte. Hatte nicht Martha Rebmann dazu geraten? Er verscheuchte diesen Gedanken der Abwehr. Nicht feige sein!

Bisweilen sah sie fragend zu ihm auf, sie fühlte wohl, daß er mit Entschlüssen rang. Aber er wagte nicht, das zu sagen, was sie damals mit Küssen fortgescheucht hatte.

Ihre trotzige, leuchtende Liebe war eine melancholische Liebe geworden, nicht entsagend, aber abwartend und müde von diesem Warten. Es paßte gut, daß die ersten gelben Blätter des Jahres von den Zweigen glitten –

Inge hatte ihr Spiel geendet. Einen Augenblick noch saß sie am Flügel, verträumt in die Weite blickend, bis sie sich zu Grotteck wandte. Wie ernst er war! Er hätte nie in diese Stadt kommen sollen, nie in dies Haus. Unglück steckt an –

Aber als sie sich so weit in ihren Gedanken verirrt hatte, stand sie auf, alles abschüttelnd, und ging langsam zu ihm hinaus.

Er erhob sich verwirrt und reichte ihr die Hände. »Dank, Inge!« Sein scheues Lächeln machte sie erbeben. Konnte sie ihn nicht froh machen?

»Ich habe die Chaconne auf Vaters Wunsch gespielt, ich habe ihm auch gesagt, daß es dein Lieblingsstück ist und daß ich gar nicht wagte, sie vor dem Meister zu spielen.«

»Du hast gut gespielt.«

»Das freut mich, aber ich fürchte, daß du sehr wenig zugehört hast. Gesteh es nur!«

Er nahm sie an der Hand und führte sie an das Geländer. »Sieh!« Ein Regenbogen schwang sich durch die Luft. In tiefen, satten Farben stand er auf dem dunklen Untergrund. »Die Götterbrücke. Jetzt wandeln sie hinüber.«

»Wohin?«

»Siehst du es nicht? Von Westen nach Osten – und drüben ist die Brücke in Grotthausen verankert.«

»Der Bogen des Friedens …« Sie schmiegte sich an ihn. Ihr Haar streifte seine Stirn. Ihr Mund blühte ihm entgegen. Er wagte nicht, ihn zu berühren.

»Frieden? Den könnten wir alle gebrauchen. Wie heißt doch der alte Kirchenspruch? Solange habe ich ihn nicht vernommen, und nun ist mir, als sei er erst gestern durch das spitze Gewölbe unsrer alten Ordenskirche gehallt, feierlich, beschwörend, verheißend: ›Friede, der höher ist als alle Vernunft …‹«

Sie blickte besorgt zu ihm auf. »Er wird auch hierher kommen. Wir haben nur alle zu tief in Abgründe gesehen, um an ihn glauben zu können. Oh, welche Abgründe!« Sie kämpfte das Schaudern nieder. Bis heute hatte sie ihm nicht die furchtbare Szene mit Blinsky gestehen können. »Ist nicht Nachricht aus Grotthausen gekommen?«

»Ja. Mutter sitzt am Waldrand, da, wo man die Chaussee zum Bahnhof überblickt, und wartet auf uns. Auch sie wartet …«

Sie nötigte ihn zum Sitzen und strich über sein Haar. »Wir kommen bald … bald …«

»Mutter glaubt es auch, aber sie ist immer eine unverbesserliche Optimistin gewesen. Inzwischen kontrolliert sie den Gesang der Vögel, anstatt die Melkerei zu kontrollieren.«

Sie lachte ein kleines Lachen. »Wie ich mich auf sie freue!«

»Weißt du übrigens, daß ich im Begriff war, mein eigner Inspektor zu werden?«

»Ich verstehe von diesen Dingen nur, daß sie gesund sind und daß es herrlich sein muß, auf seinem Erbe zu arbeiten.«

Sie hielt inne und lauschte zum Zimmer hinüber, wo ein Schritt erklang, der schwere, gleichmäßige, vorwärtstastende Schritt ihres Vaters. Er verließ jetzt manchmal mitten im Diktat sein Zimmer, durchschritt die Räume, um dann wieder zurückzukehren. Die alte Ruhelosigkeit, die ihn einst über den Erdball getrieben hatte, zerrann in diesem Wandern durch sein Haus.

Nun blieb er am Flügel stehen. »Spielst du noch etwas, Inge?«

Sie war gleich bei ihm. »Wenn du wünschest, Vater. Ich tue es gern.«

Seine Hände suchten sie und faßten ihre Rechte. »Nein, ich danke dir. Du hast genug für mich getan. Wunderbar, wieviel Ruhe aus den paar elfenbeinernen Tasten strömt! Oder sind sie gar nicht aus Elfenbein?«

»Ich weiß nicht.« Sie sah ängstlich in sein Gesicht, das zum Balkon hinüberstarrte. Plötzlich neigte er sich zu ihrem Ohr. »Er weiß es«, flüsterte er. »Aber wissen es auch andre?«

Sie wußte sofort, was er meinte. »Nein, Vater. Ich habe ihn gefragt. Es wird so viel über dich gesprochen, daß er es erfahren haben müßte.«

»Gut«, sagte er befriedigt. Seine gebeugte Gestalt straffte sich wieder. Der alte Trotz meißelte wieder die Furchen um die Mundwinkel ein. »Das ist gut.« Er wandte sich ab, seinem Zimmer zu.

Inges Hände sanken herab. So war es jeden Tag … Er näherte sich ihr, als ob er etwas Wichtiges sagen wollte, und ging wieder. Trieb ihn noch immer die Scham fort, weil Grotteck seine Blindheit erkannt hatte?

Sie hörte ihn schon wieder diktieren. »… Unvergeßlich ist so ein Tropengewitter. Alle Flammen der Hölle schlugen stundenlang auf die Erde. Die Javaner lagen platt auf der Erde und beteten sinnlose Gebete … Nein, streichen Sie ›sinnlose‹ aus! Sie hatten schon Sinn für jene …«

Inge lief hinaus zu ihm, der abwartend dastand.

»Will er noch immer nicht mit mir reden?«

»Warte ab, Liebster!«

Wie lange werde ich wohl noch warten können? dachte er, auf die Stadt drunten blickend, in deren verworrenen Häusern sich irgendwo sein Schicksal braute.

»Sieh!« Er folgte ihrem Blick: der Regenbogen verblaßte auf der dunklen Wolkenwand. Ihn fröstelte. Der Bogen des Friedens verschwand. Und im gleichen Augenblick, in dem er das empfand, wußte er auch, warum es ihn so durchschütterte. Die Serpentinenstraße herauf war ein Auto gekommen, das nun vor dem gelben Haus hielt und dem zwei Männer entstiegen. In dem einen glaubte er diesen Kiewening zu erkennen – aber vielleicht war auch nur dies Warten, dies nervenzerreibende Warten schuld, daß er in diesem Menschen seinen Feind erkannte, diesen kleinen und doch so gefährlichen Feind.

Der Diener kam und meldete zwei Herren an, die sich nicht abweisen lassen wollten und die Herrn Grotteck zu sprechen wünschten. Der eine habe sich als Kriminalbeamter legitimiert, setzte er in schlecht verhehlter Neugier hinzu.

Ehe Grotteck sich gesammelt hatte, traten sie schon ins Zimmer.

Kiewening stand wichtig, gespreizt. »Wir kennen uns ja schon, Herr Grotteck?« sagte er in forciert gemütlichem Ton. Oh, dachte er – ich weiß, wie man bestimmte Leute am ehesten zum Geständnis bringt!

»Ich bin Kurt Grotteck, ja. Was wünschen Sie?«

Der Beamte stellte sich vor. »Es handelt sich nur um eine Kleinigkeit, die sich sicher bald aufklären wird. In Ihrer Wohnung wurde uns gesagt, daß wir Sie hier treffen würden. Sie hatten Nachricht hinterlassen. Nun, das zeugt von gutem Gewissen.«

Grotteck verneigte sich leicht. Inge, die die Menschen hinausweisen wollte, bebte zurück, als sie in sein Gesicht sah, das totenblaß war.

Der Beamte änderte plötzlich seinen Ton und fragte, ihn scharf anschauend: »Wollen Sie mir, bitte, sagen, woher das Geld stammt, das Sie auf der Stuttgarter Bank deponiert haben? Aus den Einkünften, die Sie eine Zeitlang vom hiesigen Rundfunk bezogen, stammt es doch wohl kaum?«

»Nein.« Er versuchte zu lächeln, aber das Lächeln schmerzte. Haltung! sagte er sich.

Kiewening schob sich vor. Er zog die Augenbrauen hoch und sagte bedeutsam: »Wir wissen, daß es mit diesem Herrn Brod alias Blinsky zusammenhängt. Ja, das wissen wir auch. Wo steckt er?«

Inge wandte sich ihm zu: »Wenn Sie den einstigen Privatsekretär meines Vaters meinen – er ist tot. Er ist das Opfer eines Eisenbahnunfalls auf dem Pariser Bahnhof St. Lazare geworden.«

Kiewening verlor seine überlegene Haltung und murmelte etwas wie »außerordentlich leid …« Er meinte es ehrlich: nun würde er den zugesagten Vorschuß, auf den er fluchend gewartet hatte, in den Schornstein schreiben können. Er verlor fast alles Interesse an dem Verhör. »Ich war es meinem Institut schuldig«, begann er verwirrt. »Dem Institut Okulus –« Einen Augenblick sah es aus, als ob er seine Empfehlungskarte ziehen wollte.

Der Beamte drängte ihn beiseite. »Also Sie sind so freundlich, uns zu sagen, woher das Geld kommt? Wir können Sie dann gleich verlassen.«

Inge trat zu Grotteck und berührte seine Hand. Er sah sie nicht an, aber diese leichte Berührung war wie ein elektrischer Schlag, der sein ganzes Wesen durchzuckte.

Nebel traten vor seine Augen. Alles versank: Ruf, Ehre, Name, Grotthausen, die Mutter, Inge –

Nun mußte es gesagt werden. »Ich habe es … Es ist mir …« Er stockte. Wenn er jetzt sagte: »Es ist mir vom Himmel gefallen«, dann sperrten sie ihn ins Irrenhaus. Es war vielleicht besser als alles andre. Er riß sich zusammen. »Das besprechen wir wohl besser draußen, meine Herren.«

Kiewening stieß den Beamten an. Haben wir ihn oder nicht? hieß seine Geste. Der Kommissar nickte. »Sie können das Zimmer bestimmen.«

»Nein. Nicht in diesem Haus. Ich folge Ihnen, wohin Sie wollen.« Er versuchte zu gehen, aber seine Füße gehorchten ihm nicht.

Wie aus weiter Ferne hörte er Inges feste, klare Stimme. »Was für Geld meinen Sie, meine Herren? Um welche Summe handelt es sich?«

Der Beamte nannte bereitwillig dem schönen Mädchen die Summe, und Kiewening bestätigte sie mit energischem Kopfnicken

Nun war es zu Ende. Nun mußte sie von ihm fort. Wenn sie jetzt nur nicht sprach! Alles würde leichter sein, wenn sie jetzt nicht sprach. Aber ihre Stimme klang wieder, und er wagte in Scham und Reue nicht hinzuhören.

Da fuhr er herum. Was sagte sie?

»Sie haben sich ganz umsonst bemüht, meine Herren«, klang es herüber. »Das Geld stammt von mir. Es ist genau die Summe, die ich Herrn Grotteck zur Verbesserung seines Gutes gab.«

»Sie?« fragte der Beamte verwundert. »Wir haben natürlich keinen Grund, diese Angabe zu bezweifeln, aber Sie erlauben wohl, daß wir nach dem Grund fragen, der Sie zur Hergabe einer so bedeutenden Summe veranlaßte.«

»Sie ist für mich nicht so bedeutend«, sagte Inges klare Stimme. »Und der Grund …« Sie brach ab. Sie sah hinter den Beamten ihren Vater stehen. Er hatte wohl schon die ganze Zeit zugehört.

Ihre Stimme zitterte nur ganz wenig, als sie fortfuhr: »Der Grund? Herr Grotteck ist seit langem mein Verlobter.« Ihre Augen flammten trotzig, als sie sich zu Grotteck bekannte.

Schweigen fiel in den Raum, schwer und drückend. Man hörte einen kleinen Vogelschrei draußen im Garten.

Der Beamte faßte sich zuerst. »Natürlich, dann ist unser Auftrag erledigt.« Seine nächsten Worte galten mehr Kiewening als den andern: »Wer eine Tochter Brodersens zur Braut hat, steht außerhalb jedes solchen Verdachts. Wir bitten um Entschuldigung.«

Als er den Hausherrn erkannte, zögerte er. Er wartete auf eine Bestätigung dieser überraschenden Aufklärung, aber er empfing nur eine befehlende Geste, die zur Tür wies.

Die beiden Herren gingen, und Brodersen folgte ihnen bis auf die Treppe. Was er ihnen sagte, verriet er nie.

Inge stand mitten im Zimmer, beide Hände auf das klopfende Herz gepreßt. »Nun? Habe ich es so recht gemacht?« sagten ihre Augen.

Taumelnd schritt Grotteck auf sie zu. »Du …« stammelte er. »Du!« Er wagte nicht, ihre Hand zu fassen. »Wie konntest du …? Du weißt ja nicht, ob ich nicht ein Verbrechen begangen habe …«

Ihre Augen lachten ihn an. »Wenn es eins war – nun trage ich es mit dir. Glaubst du nun, daß ich dich liebe?«

Er sah sie lange an, als sähe er sie zum erstenmal. »Nun mußt du alles hören, und ein Verbrechen war es nicht.« Sie glitt in seine Arme und hörte seine Beichte. Sie erlebte die Zeit mit, wo er aus dem tänzelnden Rhythmus seines Lebens geworfen wurde, in einen Wirbel von Fragen und Rätseln geschleudert, die ihn aber am Ende zu ihr getragen hatten.

»Alles mußte so sein«, sagte Inge. »Alles war nötig, Liebster. Nie hätten wir einander sonst so erkannt. Und daß das Geld damals verschwand, war ein großes Glück. Wie vieles ist so ungeschehen geblieben!« Sie wandte sich plötzlich um. »Wo ist Vater geblieben?«

In diesem Augenblick trat Brodersen ein. Er durchquerte das Zimmer und blieb am Flügel stehen. »Inge!« sagte er nach einer Weile, und seine Stimme klang wunderlich zart und vorsichtig.

Sie warf Grotteck einen zärtlichen Blick zu und trat zu ihrem Vater. »Nun weißt du alles, Vater. Nun weiß es die Welt. Wirst du mich fortjagen?«

»Was du redest! Komm näher zu mir, daß ich dich fühle.« Seine Stimme bebte in einem innern Sturm. »Habe ich so an deiner Jugend gesündigt, daß du das sagen kannst? Bin ich auch hier schuldig?«

»Ich gehöre zu ihm, Vater. Du wußtest es längst.«

Er schwieg eine Weile. Seine Rechte war von ihrer Hand gesunken. Durch seine massige, schwere Gestalt ging ein Zucken.

Inge beobachtete ihn lange. »Vater, mach es nicht so schwer! Dir und uns!« Sie stand dicht neben ihm, und beide waren gleich groß, und sie schienen in diesem Augenblick auch gleich stark. Ihre Willen rangen miteinander. Aber Inge war die Stärkere.

»Verzeih«, sagte er leise, so leise, daß nur sie es hören konnte. »Aber ich wußte ja nicht, daß man so lieben kann …« Sie spürte eine Träne auf ihre Hände fallen. Nie hatte sie ihren Vater weinen sehen.

»Ich bin ja deine Tochter«, lachte sie ihn glücklich an.

Er richtete sich wieder auf. »Ja, wir sind ein starkes Geschlecht«, sagte er befriedigt. »Wir zwingen die Welt, so oder so.« Als schämte er sich seiner Schwäche, verließ er sie unvermittelt und ging zu seinem Arbeitszimmer. Da hielt ihn der zagende Ruf Inges fest: »Vater, er wartet auf dich.«

»Ja, er soll zu mir kommen.«

Er wartete an der Tür, bis er Grottecks Hand in der seinen spürte. »Die Hand ist noch schwach, aber sie wird einmal …« Damit nahm er den Mann, den seine Tochter liebte, bei sich auf –

Als er in sein Zimmer trat, fragte das kleine Fräulein, das am Fenster stand und ihn erwartete: »Kann ich gehen, Herr Brodersen?«

»Bewahre. Sie haben noch ein paar wichtige Dinge zu schreiben. Zuerst eine Depesche: Karola Grotteck, Grotthausen bei Danzig. Sofort herkommen. Alles in Ordnung.«

»Und welche Unterschrift?«

»Brodersen, einfach Brodersen. Sie soll sich den Kopf zerbrechen, ob es meine Tochter ist oder ich. Die geben Sie auf der Post ab, wenn Sie nach Hause gehen, aber Sie dürfen keinem Menschen davon verraten.«

»Wie Sie befehlen, Herr Brodersen.«

»Und nun fahren Sie im Schreiben fort. Nehmen Sie eine neue Seite. Ein neues Kapitel beginnt, verstehen Sie?«

Das Fräulein mußte lange warten, bis sich seine Worte so geformt hatten: »Schreiben Sie: Der Haß ist eine lebendige Kraft, aber er ist ein Stümper, der zu kurzen Atem hat und darum über seine eigenen Beine stolpert. Ich, der ich das Leben kenne, der ich es in seinen Tiefen und Höhen durchlebt habe, ich verrate meinen Lesern: Die Liebe ist das Stärkere, sie ist das Allmächtige. Sie muß es sein: sie hat sogar einen Brodersen bezwungen …«

*

Helikon-Verlag. Berlin W 9.

 


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