Marie von Ebner-Eschenbach
Die Freiherren von Gemperlein
Marie von Ebner-Eschenbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Es ist eine ausgemachte Sache, daß Kämpfe, die man mit einem solchen Aufwande an Geist, Ausdauer und Temperament führt, wie die Freiherren von Gemperlein es taten, nach und nach zum Selbstzwecke werden, während die Veranlassung derselben in den Augen der wackeren Streiter immer mehr an Bedeutung verliert. Wenn Friedrich aufrichtig sein wollte, so mußte er bekennen, daß er hundert Josephen für einen zu standesgemäßen Überzeugungen bekehrten Ludwig gegeben hätte. Ludwig hingegen gestand sich, daß es ihm süßer wäre, von seinem Bruder ein einziges Mal zu hören: Du hast recht, als von seiner Lina: Ich liebe dich!

Nur in ganz bösen Stunden, in denen sie definitiv aneinander verzweifelten, rafften sie sich zu entscheidenden Entschlüssen auf. So geschah es, daß Friedrich eines Tages seine Koffer packen ließ und seine Abreise nach Schlesien für den kommenden Morgen festsetzte, während Ludwig mit sich selbst zu Rate ging, in welcher Weise er Frau Kurzmichel am besten von seinen Gefühlen für ihre Nichte in Kenntnis setzen könnte. Aber – mitten in diese Vorbereitungen hinein fiel ein Wink vom Himmel in Gestalt einer Büchersendung aus Wien. Die Sendung enthielt unter anderm den neuesten Gothaischen Almanach und dieser die Nachricht, daß Frau Gräfin Mutter Einzelnau am 3. August des laufenden Jahres auf Schloß Kwalnow verschieden sei.

Friedrich war von dem schmerzlichen Verluste, den Josephe erlitten, tieferschüttert, und auch Ludwig, der doch keine Ursache hatte, seine Schwägerin zu lieben, versagte ihr in diesem ernsten Augenblicke seine Teilnahme nicht.

«Ah ça! ah ça! meine arme Josephe!» wiederholte Friedrich sechsmal nacheinander und schnalzte dabei energisch mit den Fingern. «Ich bedauere nur meine arme Josephe. Sie ist es, die durch diesen Trauerfall am schwersten betroffen wird. Auf wem ruht jetzt die ganze Last der Haushaltung? Wer ist jetzt die Stütze des Vaters? Wer vertritt jetzt Mutterstelle an den jungen Brüdern? Niemand anders als sie – meine arme Josephe!»

Er gab sich eine Weile schweigend seinen Betrachtungen hin und sprach dann mit würdiger Resignation: «Sie stören in der Ausübung so heiliger Pflichten, in diesem Augenblicke mit selbstsüchtigen Absichten vor sie treten, das wäre nicht mehr und nicht weniger als eine Roheit!... Anton, auspacken!» befahl er seinem Diener, der im Nebenzimmer eben damit beschäftigt war, die Koffer zu schließen.

Ludwig hatte sich in das Studium des Taschenbuches vertieft und rief plötzlich aus: «Sage mir doch nur, wo ist denn deine Josephe hingekommen? Ich finde sie nicht mehr. Ich finde nur noch einen Joseph, Oberleutnant im 12. Dragonerregiment.»

«Ja, du und der Gothaische Almanach!» sprach Friedrich und nahm mit selbstbewußter Kennermiene seinem Bruder das Buch aus der Hand.

Er überflog die betreffende Stelle, er las, er betrachtete, er magnetisierte sie förmlich mit seinen Blicken, aber – auch er fand seine Josephe nicht. Sie war und blieb verschwunden.

«Was soll denn – was soll denn das heißen?» fragte er in großer Bestürzung und antwortete sich selbst endlich: «Es kann nur ein Druckfehler sein!»

Von neuem begann er seine Prüfung: «Hier fehlt das e – es soll stehen Josephe, nicht Joseph. Der Titel Oberleutnant et cetera gehört meinem Schwager Johann, gehört in die nachfolgende Zeile, ist beim Setzen vermutlich nur zufällig hinaufgerutscht...»

«Dieser Schwager», meinte Ludwig, «ist erst sechzehn Jahre alt und sollte schon Oberleutnant sein? Das wäre doch kurios... Bei aller Protektion, die der Bursche genießen mag, doch kurios!... Es hat freilich – lies die Geschichte! – im sechzehnten Jahrhundert einen neunjährigen Bischof von Valencia gegeben...»

«Glaube doch nicht alle diese Klatschereien!» murmelte Friedrich ärgerlich.

«Dennoch», fuhr Ludwig fort, «halte ich einen sechzehnjährigen Oberleutnant, in unserem Zeitalter, für ein Ding der Unmöglichkeit.»

Sie begannen zu streiten.

Friedrich aber war nicht bei der Sache; er ließ so manche von Ludwigs verwegensten Behauptungen unangefochten und entgegnete auf einen von dessen tollkühnsten Schlüssen:

«Ein Druckfehler ist's. Man täte gut, die Redaktion davon in Kenntnis zu setzen.»

Noch am selben Abend schrieb er vor dem Schlafengehen folgenden Brief:

«Verehrliche Redaktion des Genealogischen Taschenbuches der gräflichen Häuser!

Der Unterzeichnete, ein langjähriger Verehrer und Leser Ihres Almanachs, nimmt sich die Freiheit, Ihnen einen peinlich sinnstörenden Druckfehler zu notifizieren, der sich auf Seite 237 des diesjährigen Jahrganges eingeschlichen hat, indem auf der früher von Gräfin Josephe eingenommenen Zeile ein Oberleutnant im 12. Dragonerregimente steht, der offenbar dahin nicht gehört, wovon Sie sich durch Nachschlagung der drei früheren Jahrgänge zu überzeugen die Freundlichkeit haben und mir eine dringend erbetene Aufklärung mit umgehender Post zukommen lassen wollen. Empfangen Sie usw.»

Nach wenigen Tagen erschien die «erbetene Aufklärung». Sie lautete:

«Verehrter Freiherr!

Kein Druckfehler, sondern – eine Berichtigung. Herr Graf von Einzelnau (der unserer Publikation nur sporadisch Beachtung zu schenken scheint) wies erst bei Gelegenheit des uns mitgeteilten Ablebens seiner Frau Gemahlin auf den bedauerlichen Irrtum hin, der sich leider durch drei Jahrgänge unseres Taschenbuches geschlichen hat. Unserseits ersuchen wir Sie, die früheren Jahrgänge des Almanachs nachzuschlagen, in denen Herr Graf Joseph als Kadett, Leutnant usf. eingetragen steht.

Für Ihre Teilnahme dankend, ergreifen wir diese Gelegenheit, um Sie zu bitten, uns jede in Ihrem werten Hause eintretende Veränderung rechtzeitig bekanntzugeben, und zeichnen usw.»

Die Brüder saßen am Frühstückstische, als die verhängnisvollen Zeilen eintrafen. Lange, nachdem er sie gelesen, hielt Friedrich dieselben vor sich hin und blickte sie an wie ein Landmann seine verhagelte Saat, wie ein Künstler sein zerstörtes Werk. Ludwig, der ihn mit ungeduldiger Bestürzung beobachtete, zog ihm endlich das Blatt aus den zitternden, widerstandslosen Händen, überflog es und brach in ein schallendes Gelächter aus. Plötzlich jedoch hielt er inne, hustete und begann sich mit der «Allgemeinen Zeitung» zu beschäftigen.

Friedrich hatte die Pfeife weggelegt, die Arme über die Brust gekreuzt, die Augen niedergeschlagen. Helle Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, die so weiß abstach von seinem übrigen sonnverbrannten Gesicht. Ludwig warf besorgte Blicke nach ihm, räusperte sich immer aggressiver, schleuderte die Zeitung zu Boden und schrie wie besessen: «Das bist halt du! So etwas kann nur dir geschehen! Unter den Millionen, welche die Erde bevölkern, nur dir!... Wenn ich schon ein Narr sein und mir meine Braut im Gothaischen Almanach suchen will, so tue ich's wenigstens gründlich, gehe ihr nach bis auf ihre Quelle, bis auf ihren allerersten Ursprung, kenne ihre Vorvorgroßeltern ungeboren! Aber du! –Was du tust, kannst du nur kavaliermäßig tun, das heißt: – lies die Geschichte! – oberflächlich, leichtsinnig, dumm mit einem Wort!... Gedankenlosigkeit und Gedankenfaulheit – das ist es ja! Daran geht ihr zugrunde, du und dein ganzer vernunftverlassener Stand!»

Jetzt erhob sich Friedrich brüllend wie ein angeschossener Löwe. Der Bann seines Schweigens war gelöst, und in dem Kampfe, der sich nun entspann, fand er seine Stärke wieder.

Der Einsturz von Friedrichs Luftschlössern hemmte natürlich den Aufbau von Ludwigs sicherem Hause. Wie konnte einer der Brüder daran denken, sich einen behaglichen Herd zu errichten in einem Augenblicke, in dem der andere vor den Trümmern seines Familienglückes stand? Ludwig verschob die Unterredung mit Frau Kurzmichel auf einen günstigeren Zeitpunkt. In drei, in sechs Monaten, wenn Friedrichs Herzenswunde vernarbt sein würde, dann erst wollte er die eigene Liebesgeschichte mit Eifer betreiben.

Aber – nur zu oft meint der Mensch, über sein Schicksal noch entscheiden zu können, während dieses längst über ihn entschieden hat. Die Erfahrung sollte Ludwig schon am folgenden Sonntage machen.

Da erschien Frau Kurzmichel in großem Staate beim Diner. Sie hatte sich mit ihren berühmtesten Garderobestücken geschmückt: mit ihrem braunen Seidenkleide, dem Hochzeitsgeschenke, das ihr Gatte ihr dargebracht, und mit dem gelben Schal, der noch aus dem Nachlasse der hochseligen Frau Baronin, der Mutter der Freiherren, stammte. Das braune Kleid pflegte die Frau Verwalterin bei jeder feierlichen Gelegenheit anzulegen, den gelben Schal aber nur dann, wenn sie sich in besonders gehobener Stimmung befand. Dies war heute der Fall. Man sah es ihrer verheißungsvollen Miene an, daß sie trotz all der Frische und Originalität, die wie gewöhnlich ihr Gespräch beseelten, das Beste doch, wie der Feuerwerker das Bukett, für den Schluß der Vorstellung versparte.

Beim schwarzen Kaffee erhob sie denn auch unter allgemeinem Schweigen die Stimme und sagte: «Darf ich mir erlauben, Freiherrlichen Gnaden eine Mitteilung zu machen, die zwar nur eine tief- und fernstehende, aber Freiherrlichen Gnaden doch bekannte Persönlichkeit betrifft: indem dieselbe vor einiger Zeit die Gastfreundschaft des herrlichen Wlastowitz genossen hat?»

«Wen meinen Sie?» fragte Friedrich.

«Sie meinen Ihre Nichte Lina Äpelblüh», sprach Ludwig mit dem devinatorischen Instinkte der Liebe. Frau Kurzmichel verneigte sich beistimmend: «Meine Nichte allerdings – allein nicht mehr Äpelblüh, sondern Klempe, da sie sich vor drei Tagen mit Herrn Notar Klempe in K. verehelicht hat.»

Ludwig fuhr zusammen, und Friedrich rief:

«Was der Teufel! Mit dem? Mit dem alten Griesgram?»

«Griesgram», berichtigte die Verwalterin, «Griesgram ist ein etwas starker Ausdruck, Herr Baron; ich würde kaum wagen, ihn zu gebrauchen. Der Herr Notar hat allerdings viele – Extremitäten, ist aber ein sehr braver Mann, Herr Baron, und wohlhabend...»

«Darum also», fiel Friedrich geringschätzig ein.

«Nicht darum, Herr Baron – aus Liebe...»

«Aus Liebe?» schrie Ludwig.

«Aus Liebe», wiederholte Frau Kurzmichel, «zu ihren unbemittelten Eltern und ihren neun unversorgten Geschwistern. Drei davon durfte sie gleich mit ins Haus bringen. Das war ihre Bedingung; sonst hätte sie sich wohl geweigert; denn, du lieber Gott, wenn sie ihrem Herzen hätte folgen dürfen dies würde wohl anders – einen andern – ganz andern Gegenstand...» Frau Kurzmichel war bewegt; ihre gewohnte Zurückhaltung verließ sie, und sie schloß, hingerissen von Teilnahme und Rührung: «Ich sollte eigentlich – es ist nicht recht, aber jetzt, wo das Opfer vollbracht ist, alles vorbei, die Pforten der Ehe hinter ihr zugefallen sind..., ihr Herz, Herr Baron – ist hier zurückgeblieben.»

«Wie? Wo? In Wlastowitz?» sprach Friedrich betroffen, und Ludwig stand auf und verließ das Zimmer.

«Aber Frau», sagte der Herr Verwalter, «derlei interne Angelegenheiten haben doch kein Interesse für...»

«Frau Kurzmichel», unterbrach ihn Friedrich, der sehr ernst geworden war, «ich wünsche Sie einen Augenblick allein zu sprechen.»

Frau Kurzmichel errötete, und ihr Gatte, diskret und taktvoll wie immer, entfernte sich sogleich.

Durch einige Zeit herrschte im Saale eine tiefe Stille. Friedrich rieb sich die Stirn und die Augen, riß unbarmherzig an seinem Schnurrbart und begann endlich: «Können Sie mir sagen... Nun?»

«Befehlen Herr Baron», sprach Frau Kurzmichel.

«Nun ja», er vermied ihre Augen, «sagen Sie mir – genieren Sie sich nicht: Wer ist denn der Gegenstand, Sie wissen, den Ihre Nichte –.»

«Herr Baron, diese Frage –», stotterte Frau Kurzmichel, ganz erschrocken über die ihr rätselhafte Wichtigkeit, die Lina Äpelblühs Herzensangelegenheiten für den Freiherrn zu haben schienen.

Nach abermaliger Pause sagte Friedrich mit ganz ungewöhnlich sanfter Stimme: «Ich bitte Sie, genieren Sie sich nicht, vertrauen Sie es mir an, Frau Kurzmichel... Wer ist der Gegenstand – Sie wissen...»

«Herr Baron, Sie haben von Vertrauen gesprochen», entgegnete Frau Kurzmichel, beugte die Schultern etwas vor und legte so recht hilflos und jeden Widerstand aufgebend die Hände in den Schoß... «Wenn Sie von Vertrauen sprechen, Herr Baron, da ist es aus, da kann ich nur antworten, ganz schlicht und bündig: Es ist der Amtsschreiber...»

Es war ihm sonderbar zumute. Eigentlich freudig, aber eine getrübtere Freudigkeit kann sich niemand vorstellen. Er atmete tief auf, wie befreit von einer schweren Last, und warf dabei einen Blick voll schmerzlicher Zärtlichkeit nach der Tür, aus der Ludwig soeben getreten war.

«Frau Kurzmichel», sprach er, «wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?»

«O, Herr Baron, was irgend in der Macht eines redlichen Weibes...»

«An ein unredliches würde ich mich nicht wenden», fiel Friedrich ein, rückte seinen Stuhl näher zu dem ihren und blickte sie unbeschreiblich gütig und treuherzig an. «Der Gefallen, um den ich Sie bitte, ist: Wenn mein Bruder Sie fragen sollte: An wen hat denn Fräulein Lina ihr Herz verloren?, so antworten Sie: Das ist ein Geheimnis – und, Frau Kurzmichel, Sie sterben lieber, als daß Sie es ihm verraten. Schwören Sie mir das, Frau Kurzmichel?»

«Ich verspreche es», sagte die große Frau und erhob dabei das Haupt wie ein todesmutiger Soldat im Kugelregen: «Versprechen ist Schwur, Herr Baron.»

«Warum ich das von Ihnen verlange», versetzte er, «das muß ich Ihnen – nehmen Sie es nicht übel – jetzt und immer verschweigen.»

Die Verwalterin erwiderte einfach und edel: «Herr Baron, ich brauche es nicht zu wissen.»

Mit ungeheuchelter Bewunderung reichte ihr Friedrich die Hand: «Ich glaube Ihnen, Sie sind brav!» rief er, sich erhebend; «ich sage es immer, Sie haben so etwas – etwas Antikes, Frau Kurzmichel, etwas Römisches.»

Frau Kurzmichel verbeugte sich und verließ den Saal; in ihrer Brust wogten unendliche Gefühle.

Friedrich begab sich in die Allee hinter dem Schlosse, wo sein Bruder ohne Hut, heftig gestikulierend, auf und ab stürmte und ihn mit den Worten empfing:

«Alles hin! – und wer ist schuld? Du!... Um deinetwillen hab ich mein Glück versäumt, das meine und das Glück des Mädchens, das mich so ungeheuer geliebt hat...»

«Das dich geliebt hat – ja, ja», wiederholte Friedrich und dachte:

Armer Kerl!


 << zurück weiter >>