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Aus »Meine Kinderjahre«

Es war wieder Frühling geworden. Die Kastanienbäume im Prater standen im hellsten Flor, auf den Wiesen, die grünten und dufteten, fanden reiche und arme Kinder sich beim Blumenpflücken ein, die einen zum Vergnügen, die andern zum Erwerb. Es war hauptsächlich auf Veilchen abgesehen. Von denen banden die Mütter der armen Kinder einige Dutzend an einen kleinen Stab, legten ihnen ein Efeublatt als Stehkragen um und boten die Sträußchen zum Preise von drei Kreuzern Konventionsmünze in den Straßen der Stadt aus. Der aufmerksame Gatte brachte der Frau ein »Büscherl« heim, der Bräutigam legte es der Braut zu Füßen, das Kind den Eltern, und welche Freude bereitete das bescheidene Geschenk! – Ihren beliebtesten Standort hatten die Verkäuferinnen am Graben vor dem Trattnerhof und dieser Alte, mein Gegenüber, mit dem ich von meinem Fenster aus gern Zwiesprache pflege, versichert mir, die kleinen »Praterveigerln« hätten bis zu seinem zweiten Stock hinauf geduftet. Die großen »wällischen Veilchen« hingegen könnten haufenweise an ihm vorbeigetragen werden, er röche nichts davon.

Ich möchte das Körbchen einer Blumenfrau von einst gar zu gern neben dem tragbaren Blumenmagazin einer ihrer Kolleginnen von heute stehen sehen! In dem einen kleine dunkle Urbilder der Lieblichkeit, des Segens, den sie unbewußt ausströmen, in dem andern alle Farbenglut und Formenpracht südlicher Flora in Glanz und Reichtum prangend. Was hätten die einander zu sagen, die beiden! Kulturgeschichte würden sie reden.

Die Zeit verfloß, die Tage wuchsen und mit ihnen unsre Sehnsucht nach der Rückkehr auf das Land. Sie war für Mitte Mai festgesetzt und allmählich in so nahe Aussicht gekommen, daß man begann, die Koffer vom Boden herunterzuschaffen. Auch die unsern erschienen, und wir machten uns an die köstliche Arbeit des Einpackens und sangen dazu aus vollem Halse nach der Melodie des Volksliedes: »Da droben auf dem Bergerl« mein selbstverfaßtes Reiselied:

Adieu nun du Wien,
Wir fahren hinaus,
Nicht weit in die Fremde,
O nein, nach zu Haus.
Dort steht's auf dem Bergel
So traurig und denkt:
Wann werden die Kinder
Mir wieder geschenkt?
Sei froh jetzt, mein altes,
Sie sind schon ganz nah,
Gott grüß dich, sie kommen,
Die Kinder sind da!

Wohl hatte Fritzi gefunden, das Liedchen passe nicht mehr für uns, und so hatte ich eins für erwachsene Mädchen gedichtet. Das war aber ohne Schwung und sang sich nicht von selbst wie das erste. So blieben wir bei dem.

Unser Festjubel erfuhr eine jähe Störung, die Abreise mußte verschoben werden, denn Großmama war plötzlich erkrankt.

»Nichts von Bedeutung,« versicherte der Arzt, ein Homöopath, der damals in Wien großes Ansehen genoß. »Eine leichte Lungenentzündung; in vierzehn Tagen ist die alte Frau wieder gesund und dann fahren Sie mit ihr, je eher, je besser aufs Land!«

In vierzehn Tagen! in vierzehn Tagen erst? – das ist ja so lang, nicht auszudenken, wie lang, das ist ja nicht zu erleben, das Ende dieser vierzehn Tage. Wir waren über die Verzögerung unserer Abreise so unglücklich, daß wir ihre Veranlassung im ersten Augenblick kaum erwogen. Als aber zwei Tage vergingen, an denen wir die Großmama nicht sehen durften, als es noch am dritten hieß: »Sie hat Fieber, sie hustet und muß Ruhe haben,« begann uns angst zu werden. Auch Papa war besorgt und äußerte Zweifel an der Unfehlbarkeit des berühmten Arztes. Am vierten Tage hatten wir beim Nachhausekommen vom Spaziergang angeläutet an Großmamas Wohnungstür, waren, als sie geöffnet wurde, ins Vorzimmer gedrungen und bestürmten die Kammerjungfer mit Bitten, uns zu melden. Sie brauche nur zu sagen, daß wir da seien, sonst gar nichts. Vielleicht, man könne ja nicht wissen, vielleicht würden wir doch vorgelassen.

Die Kammerjungfer mahnte zur Geduld. Unsre Eltern und der Arzt, die sich schon eine Weile bei Großmama befänden, würden gleich kommen und dann bestimmen, was zu geschehen habe. Als sie eintraten und wir unser Anliegen vorbrachten, wies der Doktor uns barsch ab. Er war in schlechter Laune und fuhr ungeduldig heraus, als Papa Besorgnisse um die Kranke äußerte:

»Sehen Sie denn nicht? Es geht ja besser. Ganz gesund wird man in dem Alter doch nicht von einem Tag zum andern!«

Beide Eltern fragten noch: »Also wirklich keine Gefahr?«

»Wenn ich Ihnen sage: Nicht die geringste.«

Das war denn schön und beruhigend. Von den vierzehn Tagen, die überstanden werden sollten, bevor Großmama reisen durfte, waren vier vorbei. Zehn noch dazu, und wir sind wieder in unserm lieben alten Neste ... Die Lindenbäume wiegen ihre blühenden, duftenden Zweige und die Fichten ihre in die Wolken strebenden Wipfel; wie von einer unsichtbaren Riesenhand gestreichelt, wallen und schmiegen sich wohlig die Millionen Ähren auf den Feldern, die mütterliche Heimaterde qualmt, die Sonne leuchtet, freundliche Augen lachen und alle, alle sagen: »Grüß euch Gott!«

Nun war der fünfte Tag gekommen – ein Maitag mit Sommertemperatur, auf dem Lande wonnig, in der Stadt für mich ein Kopfschmerzenausbrüter. Sie hatten sich heftig eingestellt, und als die Eltern am Vormittage mit uns ausfahren wollten, bat ich, zu Hause bleiben zu dürfen.

Die Meinen waren kaum fort, als Madame Vaxelaire zu mir geeilt kam, um mir zu sagen, daß Großmama heraufgeschickt habe... Sie wollte Fritzi und mich sehen ... und schrecklich – schrecklich – jetzt sei Fritzi nicht da! –

Die Erregung, mit der die gute Frau sprach, entsetzte mich. Was hat das zu bedeuten? Was gab es denn? Ich war aufgesprungen, ich rannte auf den Gang. Dort stand der alte Josef, der gekommen war, uns abzuholen, uns beide, und jetzt mich allein über die Stiege geleitete.

» Nešt&#277;sti, Nešt&#277;sti!« Unglück, Unglück! war alles, was er auf meine hastigen und angstvollen Fragen erwiderte.

Die Kammerjungfer erwartete mich – tief bekümmert, von Zweifeln und Sorgen gequält. Sie wußte nicht, ob es recht von ihr sei, mich zur Großmama zu führen. In der Früh, als der Arzt dagewesen war, hatte er unsere Bitten um Einlaß grimmig abgewiesen. Aber die Frau Baronin wolle uns sehen, habe den Befehl, uns zu holen, so bestimmt gegeben – da müsse man ihr doch gehorchen.

Wir gingen in das Speisezimmer und leise auf den Fußspitzen zur Tür des Schlafzimmers. Sie war nur angelehnt und gab meinem zaghaften Drucke nach.

Ich blieb auf der Schwelle stehen.

Die zwei Fenster rechts, die in das Rotgäßchen sahen und zwischen denen am breiten Pfeiler das Bild meiner Mutter hing, waren ganz, das Fenster der Tür gegenüber war bis zur halben Höhe verhängt. So konnte die Kranke ein Stückchen Himmel sehen, von ihrem Bette aus, das die Mitte der Längswand zur Linken des Eingangs einnahm. Nie anders als eilig und freudig war ich in dieses stille Gemach getreten, und nun bannte eine schwere, beklemmende Bangigkeit mich auf meinen Platz. Von ihm aus sah ich die hochgetürmten Polster, deren Stickereien das Kopfende des Bettes überragten, sich ein wenig bewegen, und nun hörte ich die Stimme Großmamas. Sie fragte:

»Die Kinder – kommen sie?«

Da faßte ich mir ein Herz, da lief ich zu ihr und plötzlich und wonnig ergriff mich die Freude des Wiedersehens. Ganz ungetrübt. Großmama machte mir nicht den Eindruck einer Kranken. Sie saß fast aufrecht in ihrem Bette, an ihre Schultern schmiegte sich ihr weicher, feiner Schal mit den bunten Blümchen, den sie so gern hatte. Sie war auch frisiert wie gewöhnlich, trug eine reich garnierte weiße Haube und an jeder Seite der Stirn drei braune Seidenlocken.

Was liegt einem Kinde an der Schönheit alter Leute? Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob meine greise Großmutter schön sei oder nicht. Jetzt aber sagte ich mir und war sehr glücklich und stolz darüber: Sie ist ebenso schön, wie sie lieb ist und gut!

Sie hatte mir zugenickt. »Fritzi?« fragte sie, und ihre Stimme war arm und heiser.

Ich versicherte, daß Fritzi gleich kommen werde, und begann, ohne selbst zu wissen, warum, eine lebhafte Beredsamkeit zu entfalten. Genau entsinne ich mich, wie jeder Einzelheit dieser letzten mit meiner Großmutter verlebten Stunde, daß ich von Zdißlawitz erzählte und wie mich's freue, daß sie wieder fast gesund sei, weil wir jetzt bald abreisen könnten.

Sie lächelte – sehr traurig, kam mir vor – und machte mir ein Zeichen, mich auf einen Sessel zu setzen, der an ihrem Bette stand, mit der Lehne gegen das Fenster. Ich gehorchte, war aber durch Großmamas Schweigen und durch ihr trauriges Lächeln aus meiner zuversichtlichen Stimmung und in Verlegenheit geraten. So verhielt ich mich denn ganz ruhig und wagte nicht mehr mich zu rühren. Großmama hatte die Augen geschlossen, und ihrem schweren und hörbaren Atem glaubte ich zu entnehmen, daß sie schliefe.

Alles still rings um uns. Manchmal nur rollte ein Wagen durch das Gäßchen und über den Rabenplatz. Die Sonne mußte nun im Zenit stehen, der Himmel leuchtete in purpurner Bläue. Durch den unverhangen gebliebenen Teil der Fenster fiel goldiges Licht in das Zimmer und bildete einen breiten hellen Streifen an den Wänden. Sie waren glatt, mit grüner Farbe bemalt. Von meinem Platze aus sah ich grade auf die Stelle hin, an der, vor nun auch schon acht Jahren, mein Kinderbett durch längere Zeit gestanden hatte. Meine Schwester war an den Masern erkrankt, wir wurden getrennt, und Großmama nahm mich in ihre Obhut. Mein kleines Lager war in ihrem Schlafzimmer aufgeschlagen, und wenn ich früher als sie erwachte, stellte ich mich sachte auf und begann die Farbe von der Wand loszulösen. Eine angenehme Morgenbeschäftigung. Die Farbe, die sehr dick aufgetragen war, bildete hier und da Blasen, und wenn man sie eindrückte, sprangen sie ab wie Glas, und wie Glas ließ sich auch ihre nächste Umgebung vom lichten Grunde abheben. Ein wenig weiter kam dann wieder ein Bläschen, und wieder wurde es eingedrückt, und nach ein paar Wochen war mitten im Grün ein weißer, vielfach ausgebuchteter Fleck zu sehen, der sich wie ein Ozean auf einer Landkarte ausnahm. Die Kammerjungfer hatte zu dem Unfug länger geschwiegen, als ihr leicht wurde, und machte ihren Bedenklichkeiten endlich Luft. Sie stellte sich mit gerungenen Händen vor den Ozean und gab die bestimmtesten Versicherungen ab, daß sie nicht ahne, was jetzt mit der so übel zugerichteten Wand anzufangen sei. Großmama, die mir eben Unterricht im Häkeln gab, antwortete gleichmütig:

»Man wird sie frisch anstreichen lassen.«

Ich hatte nie wieder daran gedacht – jetzt fiel es mir ein und, dem leisen Anstoß folgend, stieg nach und nach ein Zeichen ihrer still waltenden Liebe ums andre vor mir auf, eine unendliche Reihe, die sich im Unbewußtsein der Kindheit verlor ... Und diese Liebe, die immer gab, sich nie erschöpfte, hatte ich besessen und hingenommen wie etwas ganz Selbstverständliches, das mir gebührte, mich nie besonnen, daß ich ein göttliches Geschenk genoß und noch weniger, daß es mir je genommen werden könnte ... Immer würde ich sie haben, die mir jede Freude bereitet hatte, die sie mir bereiten konnte, die immer eine Entschuldigung für mich gewußt, mir alles verziehen hatte, zuletzt sogar die Dichterei. Und wie wird es erst sein, wenn ich Großes geleistet haben werde und sie stolz auf mich sein wird? ... Als ich, diese stumme Frage auf dem Herzen, zu ihr emporsah, begegnete mein Blick ihren weitgeöffneten Augen, die mit unsagbarer Zärtlichkeit auf mir ruhten. Es glitt wie ein lichter Schein über ihr Gesicht, und sie wies nach einem Tische, den man in die Nähe ihres Bettes gerückt hatte. Dort standen allerlei Schächtelchen mit Hustenbonbons, die ich sonst sehr zu würdigen wußte.

»Nimm dir,« sagte sie.

Mir war aber auf einmal jäh und schrecklich die Ahnung einer grausamen Möglichkeit aufgegangen: Wenn sie stürbe! Wenn wir unsere Großmutter nicht mehr hätten! ... Ich sprang auf, ich stürzte mich über ihre Hand und küßte sie viel-, vielmals ... Sie zog diese liebe Hand zurück, legte sie auf meinen Kopf, als ich aufschluchzend mein Gesicht in die Decke preßte, und sprach:

»Nur gescheit! Nur gescheit!«


Am nächsten Tage knieten meine Schwester und ich am Bett der toten Großmutter mit tief gesenkten Häuptern. Wir wagten nicht empor zu sehen. Eine Leiche – das muß etwas furchtbar Trauriges sein. Man hätte uns sonst, als unser kleines Schwesterchen starb, nicht so ängstlich von ihm ferngehalten und es nicht so rasch fortgetragen. Nach langem Gebete stand Fritzi auf und ließ einen scheuen Blick über das Angesicht der Toten gleiten ... »O!« sagte sie plötzlich und faltete die Hände in frommer, freudiger Überraschung: »O – schau!« Nun stand auch ich auf, und meine Augen folgten der Richtung der ihren und auch meine Hände falteten sich ... Wie heilig war unsere Großmutter, wie herrlich und heilig! Der schwermütige Zug um den Mund, den wir an ihr gekannt hatten, war verschwunden, die stummen Lippen, deren Sprache ich immer verstanden hatte, sagten: »Jetzt ist alles gut.« Ein unaussprechlicher, unendlicher Frieden lag auf ihren stillen Zügen und wehte uns entgegen, eine himmlische Tröstung und Erhebung, ein letzter Gruß ihrer Liebe. Wir konnten uns von ihr nicht losreißen und – weinten nicht. Man soll nicht weinen in der Nähe von Toten, es tut ihnen weh. Ich weiß nicht, wieso wir zu dieser Überzeugung gelangt waren. Erst als Tante Helene und Vetter Moritz kamen, sie laut klagend, er von tiefstem Leid erfüllt, brach meine Schwester in Schluchzen aus und vermochte ihren Schmerz nicht mehr zu bemeistern. Am Abend fieberte sie, und nachdem man sie zu Bett gebracht hatte, schluchzte sie noch im Schlafe.


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