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Totgelacht

»Also wirklich mein lieber Junge?« Die alte Frau auf dem erhöhten Fenstersitz fragte es mit bewegter Stimme und blickte mit sanftem, tränenumflortem Blick zu dem schlanken Manne hin, der an den Fensterpfeiler gelehnt, unterhalb ihres Platzes stand.

Mit einem schönen freimütigen Lächeln sah er zu ihr auf.

»Freilich Mütterchen, und daß es die Rechte ist, darauf darfst du dich verlassen.«

Die Alte wischte mit dem Rücken der runzligen Hand leise über die leichtgeröteten Lider. Dann lächelte auch sie.

»In Gottes Namen denn. Und nun erzähl', mein lieber Junge. Im Bade, sagst du, hast du sie kennen gelernt?«

Der Mann hatte sich auf den Rand der Fenstererhöhung, zu Füßen der Mutter nieder gelassen. Schon als Knabe war das sein Lieblingsplatz gewesen.

»In Norderney – ja«, wiederholte er träumerisch, und ein sehnsüchtiges Licht leuchtete in seinen hellen Augen auf. »Es war eine schöne, herrliche Zeit.« Dann sprang er auf und in Gedanken verloren schritt er hin und her in dem kleinen behaglichen, mit altmodischen Möbeln vollgestellten Raum. Die alte Frau folgte ihm mit den Blicken, in denen ein Gemisch liebevoller Sorge und stiller Freude lag.

Nun blieb er plötzlich vor ihr stehen und lachte, ein helles jugendfrohes Lachen, das sein ernstes Gesicht seltsam verschönte und merkwürdig jung erscheinen ließ.

»Du wirst Augen machen, Mutter, wie lustig sie ist.« Die Alte streichelte ihm leicht mit der Hand über das volle schlichte Haar.

»Gut für dich, mein Junge, wenn sie einen heitern Sinn hat. Du nimmst das Leben viel zu schwer. Das kommt davon, weil du immer bei deiner alten Mutter gesteckt hast.«

Er beugte sich zu ihr herüber und drückte einen innigen Dankeskuß auf ihre Stirn. Dann saß er wieder auf seinem alten Platz nieder und fing lebhaft zu erzählen an. Wie jung sie sei und wie sonnenheiter, und wie hübsch, wie lieblich hübsch. Tiefbraun das krause Haar, dunkelgrau die lustigen Augen, ein Mund wie ein Kirschenpaar so frisch und rot und darüber ein liebes keckes Stumpfnäschen.

Und immer wärmer werdend sprach er von ihrer Liebe zu einander, die nur ein paar kurzer Sommertage bedurft hatte, um zu erblühen, wie gerade die Gegensätze in ihnen sich anzögen, die verschiedenen Temperamente und Gewöhnungen der frohmütigen, leichtlebigen Süddeutschen, des ernsten norddeutschen Gelehrten.

»Menn je zwei Menschen für einander bestimmt waren, dann sind wir beide es, Lilli und ich.«

»Gott geb's, mein lieber Junge.«

Und weiter erzählte er, jetzt in einem ruhigeren Ton, von den äußeren Verhältnissen, die auskömmlich und solide sind. Der Vater, ein wohlhabender Kaufmann im badischen, Lilli das einzige geliebte Kind. Aber die Eltern haben nichts dagegen gehabt sie ihm zu geben, wenn sie nur glücklich miteinander werden.

Die alte Frau ist aufgestanden. Mit ihren welken Händen streichelt sie das feine braune Haar des Sohnes.

»Sieh, sieh mein Johannes, da scheint es der liebe Gott ja besonders gut mit dir gemeint zu haben.« Und nach einer kleinen Pause. »Wann soll die Hochzeit sein?«

»In den Weihnachtsferien, Mutter. Worauf sollen wir warten?«

Und nun fing er an in lebhaften Farben die Zukunft ihr auszumalen, eine Zukunft, an der sie selbst nicht ohne Anteil war. Jeden Sonntag würden sie sich sehen, gerade so wie jetzt. Nein, sie brauche nicht ungläubig zu lächeln. Freilich würde er nicht jeden Sonntag zu ihr kommen können wie all die Jahre lang, sie müsse auch bei ihnen sein, bei ihren Kindern. Die eine Stunde Bahnfahrt könne sie recht gut vertragen, so rüstig wie sie sei, und wenn es zu viel mit dem Hin und Her für einen Tag würde, müsse sie die Nacht bleiben; sie würden eine hübsche große Wohnung mit einem Logirzimmer haben.

Dann blickte Johannes, die Mutter ihren Gedanken überlassend, in dem alten traulichen Zimmer um. Beinahe zärtlich hafteten seine Augen auf all den vertrauten Gegenständen, in deren Schutz er groß geworden war. Dort, das alte schwarze Roßhaarsofa hatte das Schiff vorgestellt, auf dem er mit dem Bruder hinausgefahren war über den Ozean zu fremden herrlichen Ländern. Bruder Martin hatte längst dieses Ziel seiner Knabenwünsche erreicht, aber er hatte den erfüllten Wunsch mit dem Leben bezahlen müssen. Das Schwarzwasserfieber hatte ihn vor fünf Jahren fortgerafft. Johannes konnte niemals ohne Wehmut auf das alte Roßhaarsofa blicken. Und dort in der Mitte der Stube unter der hängenden Lampe, die trotz aller Beleuchtungsfortschritte noch immer mit Öl gefüllt wurde, der große runde Mahagonitisch mit den geschweiften, weit ins Zimmer hineingestreckten Beinen.

Wie oft war er über diese Beine gestolpert und zum Schrecken der Mutter lang hingeschlagen, wie viel öfter noch hatte er mit dem Vater an der blankpolierten Platte gesessen. Dort hatte der Rektor die ersten Schulaufgaben des kleinen Hans durchgesehen, dort hatte der größer gewordene mit fieberndem Fleiß die ersten mathematischen Aufgaben gelöst, dort war manch ernstes und gutes Wort zwischen dem Vater und den Söhnen hin und hergegangen, dort auch hatte es manch lustige Unterhaltung, manch heiteres Scherzspiel mit guten Kameraden gegeben.

Und weiter schweifte sein Blick, drüben auf die blanke Kommode mit ihren alten Herrlichkeiten auf der gehäkelten Spitzendecke. In der Mitte das Prachtstück, ein Teller mit übereinandergetürmten Muscheln. Sobald man an den kunstvollen Bau rührte fingen die blanken Schalen zu rutschen an, und dann kamen die untersten, die braun und weiß gefleckten »Brummmuscheln,« in denen es so geheimnisvoll raunte und surrte, zum Vorschein. Das war eine Lust gewesen!

Dicht daneben der alte Porzellanchinese, der noch heut, wenn man ihn anstieß, genau so gravitätisch mit dem Kopf nickte, wie vor zwanzig Jahren; hinter ihm die nachgemachte Riesennuß, die ein altertümliches Flacon barg, dessen längst verdufteter Inhalt dem Manne noch in der Erinnerung als etwas Besonderes, Süßes, Wohliges umschwebte.

Lange hatten Johannes Augen an all den Kindheitsherrlichkeiten gehangen. Still, mit einem guten Lächeln hatte die Alte ihm zugesehn. Dann war er, wie es als Knabe seine Gewohnheit gewesen, hinter die Mutter getreten und hatte die Arme um ihren Hals gelegt. Und knabenhaft jung und frisch hatte seine Stimme geklungen, als er über ihren, an ihn gelehnten Kopf fort, ausgerufen:

»Ach Muttchen, wie schön wird es sein, wenn ich meine Lilli erst hier habe, wie wohl wird sie sich in Mutters liebem altem Nest fühlen!« –

Am zweiten Feiertag hatte die Hochzeit stattgefunden. Frau Rektor Mühling hatte zu dem Festtage ihres Johannes nicht kommen können. Der Dezember hatte sich ungewöhnlich rauh angelassen, die Reise ins Badische war weit, und eine geringfügige Erkältung ließ Vorsicht geboten sein.

Im Grunde nahm die alte Frau diese zusammentreffenden Zufälligkeiten, die sie von der Hochzeit des Sohnes fernhielten, nicht allzu schwer. Die große fremde Hochzeitsgesellschaft hätte sie bedrückt, ihr die Bekanntschaft mit derjenigen erschwert, die ihr fortab Tochter sein sollte, ihr das innige Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihrem lieben Jungen getrübt.

Zwei Tage vor Schulanfang hatte Dr. Mühling zu Haus sein wollen. Manches erwartete ihn, das den ganzen Menschen forderte, manches auch, was ihn nicht ohne Sorge an die Ausübung seines Berufes denken ließ. Mancherlei neue Verordnungen waren eingegangen, deren Folgen in der Praxis sich noch nicht übersehen ließen. Der Geist des Widerspruchs, der Hang nach größerer Selbständigkeit, nach freierem Ausleben des Persönlichen, der die gesamte Jugend erfaßt hatte, ging auch in den oberen Klassen seines Gymnasiums um, obwohl die Stadt weitab von der großen Heerstraße lag.

Mühling aber war kein Schablonenmensch. Er hatte ein starkes Mitempfinden für die Individualität des einzelnen Schülers. Er sagte sich, daß es im Grunde kein ungesunder Zug sei, der durch die Reihen der Schüler gehe, und daß, wenn auch nicht jeder von ihnen reif genug sei, sich mit Recht gegen den alten Zopf und Zwang aufzulehnen, es doch manch einem zu vergönnen sei, daß ihm freiere Luft geschafft wurde.

Er hatte es versucht, sich während der letzten Tage der Reise mit seiner jungen Frau über diese Dinge zu unterhalten und frei zu reden; aber Lilli hatte ganz und gar nichts davon hören wollen. Dies alles lag ihr fern; niemals war sie zum Denken über ernsthafte Fragen angeregt worden. In ihrer reizend kecken Art hatte sie ihn lachend geküßt und ihn, statt jeder eingehenden Antwort damit aufgezogen, daß er sich »Schulsorgen« mache. Nein, das verdienten die dummen Jungens gar nicht – wegen dieser Taugenichtse die himmlisch lustige Hochzeitsreise auch nur um eine Stunde abkürzen, nicht um die Welt!

So waren sie denn trotz Mühlings gegenteiliger Absicht, erst am Nachmittag vor Schulbeginn eingetroffen, und da Lilli sich sogleich daran gemacht hatte, die ganze Wohnung umzudrehn, weil ihr nichts »chic«, »fesch« und modern genug hergerichtet war, kam der Doktor kaum einen Augenblick zur Besinnung, ehe er in die erste Unterrichtsstunde ging. Mit knapper Not erreichte er pünktlich das Gymnasium. Die kleine Frau nahm Abschied von ihm, als ob es eine Trennung auf Wochen gälte. Immer wieder rief sie ihn zurück, ihm tausend nichtige Dinge ins Ohr flüsternd, bis er endlich fast mit Gewalt sich los machen mußte. Er freute sich ihrer jungen heißen Liebe, aber versuchen wollte er's doch, sie ein klein wenig Disziplin und Pflichtbewußtsein zu lehren.

Wenige Tage nach Schulbeginn erhielt Mühling den Besuch eines seiner liebsten und begabtesten Schüler, der ihn um eine Unterredung unter vier Augen gebeten hatte.

Am Schreibtisch nahmen sie Platz. Nebenan hantierte, ab und zu gehend, Lilli mit dem Mädchen.

Stundenlang währte die Unterredung, die Lehrer und Schüler gleichmäßig ergriff. Während der junge Mensch bleich und erregt dem Doktor eingestand, daß er nach reiflicher Erwägung zu dem schweren Entschluß gekommen sei, nach Ablauf des Schuljahres das Gymnasium zu verlassen, jeden Gedanken an das Studium aufzugeben, einen praktischen Beruf zu ergreifen, da er zu der Überzeugung gelangt sei, daß dem Vater das Studium zu schwere Opfer auferlege, er allzuspät zu selbständigem Verdienen komme, wurde im Nebenraum wieder und wieder Lillis helles Lachen laut. Es ging Johannes auf die Nerven, es schnitt ihm förmlich ins Herz dieses Lachen, wenn er in das bleiche, verwüstete Antlitz des jungen Menschen sah, das den heißen Kampf verriet, welcher dem ernsten Entschluß vorangegangen war. Feucht klebte das Haar an den Schläfen, müde und unstät war der Blick, eiskalt die Hand, die Mühling faßte, als er zum zweiten Male fragte: »Muß es wirklich sein, lieber Steiner?«

»Ja, es muß sein, Herr Doktor. Ich sehe keinen andern Ausweg. Was ich gelernt habe, wird ja vielleicht nicht ganz verloren sein.«

Und mitten hinein in diese Rede wieder das helle, grelle, verletzende Lachen! Der junge Mensch stutzte. Dann fiel ihm ein, daß der Herr Doktor ja geheiratet habe.

»Meine Glückwünsche, Herr Doktor.«

Aber Mühling hörte ihn nicht. Er war ins Nebenzimmer gegangen, das augenblicklich leer war, um es gegen den Flur hin zu verschließen. –

Als Mühling zum Abendessen ins Speisezimmer trat, sah er kaum weniger angegriffen aus als sein Schüler. Der Entschluß dieses ungewöhnlich veranlagten Menschen, den Seinen zu Liebe auf ein Studium zu verzichten, von dem er den Vollgehalt seines Lebens erwartet, hatte ihn tief getroffen. – Lilli lachte als sie ihn sah.

»Nein, wie du aussiehst, Hansl! Was ist dir denn über die Leber gekrochen?«

Er antwortete nicht.

»Hast du dich über den grünen Jungen geärgert, der dir zwei Stunden am Hals gesessen ist? Weißt', vielversprechend sieht der nicht aus mit seinen ausgefranzten Hosen und dem breitgetretenen Schuhzeug, und weißt', Schatz, fad ist er auch; als ich ihn im Hinausgehen angelacht habe, hat er kaum aufschaut – so ein Tschapperl. –«

»Du solltest so nicht über ihn sprechen. Er ist tief zu bedauern!«

»Was geht er mich an! Du gehst mich an, niemand sonst.«

»Aber ich leide mit ihm.«

»Schön dumm von dir,« und sie lachte und setzte sich auf seinen Schoß, um ihn zu küssen. Er aber wehrte sie ab. »Laß, laß.«

Sie zog einen Mund und meinte nicht allzu ernsthaft: »Wenn du nicht willst –«

Dann aß sie mit gutem Appetit.

Sie legten sich zeitig zur Ruh. Lilli schlief im Umsehen ein. Wie ein kleines Murmeltier lag sie zusammengekauert in ihren weißen Kissen da. Johannes konnte kein Auge schließen.

Immer wieder hörte er ihr Lachen, das mit so grellem, verletzendem Klang in den tiefen Seelenschmerz des jungen Menschen hineingeklungen war. War sie noch solch ein Kind, daß sie keiner ernsthaften Erwägung zugänglich war, daß alles sich ihr in Lachen und Scherzen löste? Oder war sie doch nicht so unreif mehr und ihre Natur überhaupt keiner ernsthafteren Auffassung fähig? Eins wie das andere erschien ihm schwer zu fassen. –

Nachdem er stundenlang ruhelos sich umhergewälzt ohne ihren Kinderschlaf zu stören, machte er Licht. Er beugte sich über sie und starrte ihr ins Gesicht, als ob er in ihren reizenden Zügen die Quelle dieser lauten, niemals zu ermüdenden Lachlust entdecken wolle. Ahnungsvoll seine Nähe fühlend, flüsterte sie im Schlaf zärtlich seinen Namen und reckte die Arme sehnsüchtig nach ihm aus. Und er drückte seine Lippen auf ihren schwellenden Mund und erstickte sein Grübeln in einem langen heißen Kuß.

Aber als es Tag wurde, waren sie wieder da die schweren Gedanken und ließen ihn nicht mehr los. Sie bemerkte nichts von seiner steten, angstdurchzitterten Beobachtung. Nur ein bischen langweilig und pedantisch fand sie ihn und allzuviel mit seinem »öden« Beruf beschäftigt. Aber sie lachte weiter und küßte ihn.

Ihr Haus sah aus wie ein Schmuckkästchen, zierlich und modisch wie sie selbst. Der Tisch war reizend und appetitlich hergerichtet, die Speisen sorgfältig zubereitet, es fehlte ihm an nichts und doch ging er hungernd und durstend neben ihr her und nur selten betäubten ihn ihre Liebkosungen.

Bei der Mutter waren sie noch nicht gewesen; auch hatte die Rektorin ihre Kinder noch nicht aufgesucht. Stets war irgend etwas hindernd zwischen Plan und Ausführung getreten. Die leichte Erkältung der alten Frau war noch nicht ganz vorüber, so daß sie die Bahnfahrt nicht wagen konnte und Johannes hatte gemeint die ersten Januarsonntage zum Nachholen versäumter Arbeit nicht entbehren zu können. Daß dies nichts als eine willkommene Ausrede vor sich selbst war, um Lilli der Mutter noch nicht bringen zu müssen, gestand er sich nicht ein.

Einmal war er allein auf ein paar Stunden drüben gewesen. Wie tief die alte Frau in sein verstörtes Innere gesehn, darüber war er sich nicht klar geworden. Nur eines wußte er, daß ihre liebe stille Art ihm wohlgetan hatte. –

Freudiger kehrte er nach Haus zurück. Vielleicht war alles nur ein Wahn! Vielleicht war Lillis nicht zu ermüdende Lachlust wirklich nur der Ausdruck jugendfrohen, heiteren Glücksempfindens und jene Leere, die er dahinter zu entdecken fürchtete, nur eine tückische Vorspiegelung seiner erregten Nerven!

Als sie ihm auf der Schwelle entgegentrat reizender denn je, und ihn so zärtlich begrüßte, als ob sie ihn durch Wochen nicht gesehn und schwer vermißt habe, fühlte er mit Entzücken, daß alle Zweifel schwiegen und der alte Zauber ihres Wesens wieder Herr über ihn war. – –

So kam die Mitte des Februar heran. Die wärmeren Tage lockten von Hause fort, und für den dritten Februarsonntag war der Besuch bei der Mutter angekündigt worden.

Die alte Frau saß ganz still in fast feierlicher Haltung auf ihrem Fenstersitz und wartete. In einer Viertelstunde konnten sie da sein. Sie hatte ihr bestes grauseidenes Kleid angezogen, das sie seit Vaters siebzigstem Geburtstag nicht aus der Truhe genommen hatte.

Sie strich mechanisch die Falten mit den Fingern glatt, und blickte vor sich hin. Sie mußte an Johannes' letzten Besuch denken. Er hatte etwas Müdes in seinem Wesen gehabt, für das sie keine rechte Erklärung zu finden vermocht. Förmlich aufgebracht hatte es ihn, als sie danach gefragt hatte, ob sein Frauchen auch immer recht heiter sei. Vielleicht gab es Berufssorgen! –

Mit ihren vortrefflich erhaltenen Augen sah die Rektorin in Zimmer umher. Sie durfte zufrieden sein. Nirgend ein Stäubchen, nirgend eine verschobene Decke.

Nebenan war der Mittagstisch gedeckt. Sie hatte die kleine Tafel vorher genau geprüft. Nichts fehlte, alles war sorgfältig vorbedacht. Die »Nähjule« von nebenan hatte das besorgt. Die verstand sich darauf. Sie kam viel in erste Häuser und galt für eine Autorität in Gesellschafts- und Etikettenfragen. –

Unten kreischte die Angel der Haustür. Ob das die Kinder schon waren? Das Herz klopfte ihr doch. Wie seltsam das war, plötzlich ein wildfremdes Wesen als eigenes Kind ans Herz ziehn zu sollen!

Jetzt hörte die Rektorin ein helles Lachen auf der schmalen Treppe, dann noch eins und dazwischen die mahnende Stimme des Sohns. Dann ging die Tür auf, und an der zierlichen Frau vorüber, die im Türrahmen stehen blieb, eilte ihr guter großer Junge auf sie zu und schloß sie zärtlich in die Arme. Da, als das Lachen der Frau zum dritten Mal ertönte, fühlte die Rektorin, daß ein Zucken durch den Körper ihres Sohnes ging. Rasch ließ er sie aus dem Arm, eilte vom Fensterplatz herunter und zog die junge Frau herbei. So standen sie vor ihr diese beiden: das lächelnde, blühende, junge Geschöpf, der ernste Mann mit dem schmalen bleichen Gesicht und den tiefen forschenden Augen. –

Die Alte wußte selbst nicht, weshalb ihr plötzlich eine Träne ins Auge trat. Um sie zu verbergen beugte sie sich tief zu der jungen Frau hinab und zog sie an ihre Brust. Die aber löste sich eilig wieder aus der Umarmung und sagte in einem heiteren weltgewandten Ton, so als ob sie gestern aus diesem Hause heraus- und heute wieder hineingegangen sei: »Gelt Mutter, da hast du uns nun, den Hansl und mich.«

Die Rektorin nickte und lächelte ein wenig beklommen. Johannes stand abgewandt da. Bei Tisch war Lilli von einer nicht zu bändigenden Heiterkeit. Alles gab ihr Stoff zum Lachen. Die altmodische Einrichtung der Zimmer, die Zubereitung der Speisen, die Art des Servierens. Man wußte nicht recht, erheiterte sie nur, was dem Gatten und der Mutter durch Erinnerungen geheiligt war, oder machte sie sich darüber lustig?

Die Rektorin versuchte es gutmütig ihre Schwiegertochter in ein verständiges Gespräch zu ziehen. Als es ihr nicht gelang, folgte sie dem Beispiel ihres Sohnes, der ruhig und scheinbar teilnahmslos am Tische saß. Nur als Lilli auf eine Bemerkung der alten Minna in lautes Lachen ausbrach, tadelte er sie scharf. Sie zog ein Mäulchen und meinte, daß der ostpreußische Dialekt des Mädchens unwiderstehlich komisch sei.

Mit dem Achtuhrzug fuhren sie zurück.

Johannes lehnte, trüben, schweren Gedanken nachhängend in seiner Ecke. Er konnte sich nicht länger belügen. Er mußte sich eingestehen, daß die bestrickende Heiterkeit seiner Frau, die jeden im ersten Ansturm eroberte, nichts war als eine reizende Hülle über einer Leere. Hatte er sich wieder und wieder gegen diese furchtbare Erkenntnis gebäumt und gesträubt, seit heute gab es keine Selbsttäuschung mehr. Die Art wie sie sein Heim betreten und betrachtet, die, jeden Gefühles bare Weise, mit der sie seiner geliebten alten Mutter begegnet war, hatten ihr das Urteil gesprochen. Was nun, was nun? Sie war sein Weib und er hatte aus Liebe um sie geworben!

Er sah nach ihr hin. Sie saß ihm schräg gegenüber, ziemlich in der Mitte der Bank. Sie lächelte und plauderte in ihrem weichen Dialekt, der hier im Norden schon genügte, alles wie im Fluge gefangen zu nehmen. Auch heut hingen die Zunächstsitzenden förmlich an ihren Lippen. Dann brach alles in lautes Lachen aus.

Er beugte sich weiter herüber, um etwas von dem zu erlauschen was sie sprach. Worte wie: Urväter Hausrat, abgestandener Kram, zum Schreien komische Allüren, trafen undeutlich sein Ohr.

Den Zusammenhang konnte er nicht fassen. Zu heftig rasselten Maschine und Räder, zu laut erschallte das Gelächter zwischen durch.

Nervös rückte er auf seinem Sitz immer weiter vor, bis er sein Gegenüber fast mit den Knieen berührte. Lilli sah gar nicht nach ihm hin, so ganz nahm der Erfolg, den ihre Erzählung hatte, sie in Anspruch.

»Und gar erst die Tracht der alten Frau! Bei uns würde man gar nicht verstehen wo man heut noch zu so etwas kommt. Bei uns ist jede Dame chic und fesch, auch die älteste. – Und dazu die viele, viele Rührung! – Gehn's, das ist nichts für mich. –«

Johannes war aufgesprungen und hatte seine Frau am Handgelenk gepackt. Eisern wie in einem Schraubstock hielt er sie. Er war seiner Sinne kaum mehr mächtig. »Schweig!« raunte er ihr zu.

Dann sank er wie betäubt auf seinen Platz zurück. Die Zunächstsitzenden sahen sich verwundert an. Dann bewiesen sie Takt genug, die beiden sich selbst zu überlassen.

Lilli hatte einen Augenblick Miene gemacht zu rebellieren. Aber sein Blick, der mit vernichtender Verachtung auf ihr ruhte, zwang sie zum Schweigen.

Ein verzerrtes künstliches Lächeln hatte sich um ihren Mund gelegt.

Johannes saß ganz still, weit zurückgelehnt in seiner Ecke, die eiskalten Hände krampfhaft ineinander geschlungen, und dachte nur das eine, und wieder das eine: Nicht nur leer, sondern roh, herzensroh!

Auf dem Heimweg vom Bahnhof sprach er kein Wort. Die Nacht verbrachte er eingeschlossen in seinem Arbeitszimmer.

Am nächsten Morgen stand sein Entschluß fest: sie mußten sich trennen. Er empfand kein Bedauern bei dem Gedanken, sie aufgeben zu müssen. Er hatte nur den einen Wunsch, sie nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu hören. Nichts in ihm sprach mehr für sie. Es führte kein Weg zu ihr zurück. Seine heiße, ihr ganz ergebene Liebe war gestorben. Sie hatte sie totgelacht.

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