Alexander Dumas d. Ä.
Die drei Musketiere – Band II
Alexander Dumas d. Ä.

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XXXV.

Ein Tropfen Wasser.

Kaum war Rochefort weggegangen, als Madame Bonacieux zurückkehrte; sie fand Mylady mit lachendem Gesichte.

»Nun,« sprach die junge Frau, »was Ihr befürchtet habt, ist eingetroffen. Diesen Abend oder Morgen läßt Euch der Kardinal holen.« – »Woher wißt Ihr es?« – »Ich habe es aus dem Munde des Boten vernommen.« – »Setzt Euch zu mir,« sprach Mylady. – »Hier bin ich.« – »Wartet, ich will mich überzeugen, ob uns Niemand belauscht.« – »Warum diese Vorsicht?« – »Ihr sollt es erfahren.«

Mylady stand auf, ging an die Thüre, öffnete sie, schaute in die Flur, kehrte zurück und setzte sich wieder neben Madame Bonacieux.

»Er hat also seine Rolle gut gespielt,« sprach sie. – »Wer?« – »Derjenige, welcher sich bei der Aebtissin als ein Abgesandter des Kardinals angestellt hat.« – »Er spielte also eine Rolle?« – »Ja, mein Kind.« – »Dieser Mensch ist kein« – . . . »Dieser Mensch,« erwiderte Mylady, ihre Stimme dämpfend, »dieser Mensch ist mein Bruder.« – »Euer Bruder!« rief Madame Bonacieux.

»Nur Ihr wißt dieses Geheimniß, mein Kind, und wenn Ihr es irgend Jemand in der Welt anvertraut, so bin ich verloren und Ihr vielleicht ebenfalls.« – »O mein Gott!«

»Hört, was vorgefallen ist: mein Bruder, der mir zu Hülfe eilte und mich im Falle der Noth mit Gewalt von hier wegbringen wollte, traf den Emissär des Kardinals, der mich abholen sollte. Er folgte ihm, und als sie auf einen einsamen, verborgenen Weg gelangt waren, zog er den Degen und forderte den Boten auf, ihm die Papiere zu übergeben, die er bei sich trug. Der Bote wollte sich vertheidigen, mein Bruder tödtete ihn.«

»O!« rief Madame Bonacieux schaudernd.

»Bedenkt wohl, es war das einzige Mittel. Mein Bruder beschloß nun, List an die Stelle der Gewalt zu setzen. Er nahm die Papiere, erschien hier als Abgeordneter des Kardinals, und in ein paar Stunden wird mich ein Wagen im Auftrag Seiner Eminenz abholen.«

»Ich begreife. Euer Bruder schickt Euch den Wagen.«

»Richtig, aber das ist noch nicht Alles. Der Brief, den Ihr empfangen habt, und von dem Ihr glaubt, er komme von Frau von Chevreuse . . .« – »Nun?« – »Er ist falsch.« – »Wie dies?« – »Ja falsch: es ist eine Falle, damit Ihr keinen Widerstand leistet, wenn man Euch holen will.« – »Aber d'Artagnan wird kommen und mich holen.«

»Ihr täuscht Euch, d'Artagnan und seine Freunde sind bei der Belagerung von La Rochelle.«

»Woher wißt Ihr dies?«

»Mein Bruder begegnete Emissären des Kardinals in Musketiertracht. Man würde Euch vor die Thür gerufen haben. Ihr würdet geglaubt haben, Eure Freunde seien erschienen, man hätte Euch ergriffen und nach Paris zurückgeführt.«

»O mein Gott! mein Kopf wird ganz irr in diesem Chaos von Niederträchtigkeiten. Ich fühle, daß ich wahnsinnig würde, wenn dies lange so fortdauerte,« sprach Madame Bonacieux und legte die Hände an ihre Stirne. – »Hört.« – »Was?«

»Ich höre den Tritt eines Pferdes. Mein Bruder reist wieder ab. Ich will ihm ein letztes Lebewohl sagen; kommt.«

Mylady öffnete das Fenster und bedeutete Madame Bonacieux durch ein Zeichen, sie möge zu ihr heran treten.

Rochefort ritt im Galopp vorüber.

»Adieu, Bruder!« rief Mylady.

Der Graf schaute empor, sah die zwei jungen Frauen und winkte Mylady freundschaftlich zu.

»Dieser gute George!« sagte sie, indem sie mit einem Ausdruck voll Zärtlichkeit und Schwermuth im Gesichte das Fenster schloß.

Und dann setzte sie sich wieder auf ihren Platz, als ob sie in rein persönliche Betrachtungen versunken wäre.

»Liebe Dame,« sprach Frau Bonacieux, »entschuldigt, daß ich Euch unterbreche, aber mein Gott! was rathet Ihr mir denn zu thun? Ihr habt mehr Erfahrung, als ich, sprecht, ich höre.«

»Vor allem kann ich mich täuschen,« erwiderte Mylady, »und es ist wohl möglich, daß Euch d'Artagnan und seine Freunde wirklich zu Hülfe kommen.«

»Oh! das wäre zu schön,« rief Madame Bonacieux, »aber so viel Glück gibt es nicht für mich auf der Welt.«

»Ihr begreift, daß es nur eine Zeitfrage, eine Art von Wettlauf wäre, wer zuerst ankäme; tragen Eure Freunde den Sieg in der Geschwindigkeit davon, so seid Ihr gerettet; gewinnen die Schergen des Kardinals einen Vorsprung, so seid Ihr verloren.«

»Ja! ja! ohne Barmherzigkeit verloren. Aber was soll ich thun? was soll ich beginnen?«

»Es gäbe ein einfaches, ganz natürliches Mittel.«

»Oh! nennt es, nennt es mir.«

»Es bestünde darin, daß Ihr in der Gegend verborgen warten und Euch überzeugen würdet, was für Menschen nach Euch fragen.« – »Aber wo warten?«

»Oh! das unterliegt keiner Schwierigkeit: ich selbst verweile und verberge mich einige Meilen von hier, bis mich mein Bruder abholt; wenn Ihr wollt, nehme ich Euch mit mir, wir verbergen uns miteinander und warten gemeinschaftlich auf Erlösung.«

»Man wird mich nicht ziehen lassen, ich bin gleichsam als Gefangene hier.«

»Da man meint, ich reise auf einen Befehl des Kardinals, so wird man nicht annehmen, daß Ihr große Lust habet, mir zu folgen.« – »Und dann?«

»Der Wagen ist vor der Thüre, Ihr sagt mir Lebewohl, Ihr steigt auf den Fußtritt, um mich zum letzten Mal in Eure Arme zu schließen, der Bediente meines Bruders, der mich fortführt, wird unterrichtet, er gibt dem Postillon ein Zeichen und wir eilen im Galopp davon.

»Aber d'Artagnan, wenn d'Artagnan kommt?«

»Werden wir es nicht erfahren?« – »Wie dies?«

»Nichts leichter, – wir schicken diesen Bedienten meines Bruders, auf den wir uns verlassen können, zurück; er nimmt unter einer Verkleidung sein Quartier dem Kloster gegenüber; kommen Emmissäre des Kardinals, so rührt er sich nicht, erscheinen aber Herr d'Artagnan und seine Freunde, so führt er sie an den Ort, wo wir uns aufhalten.«

»Er kennt sie also?«

»Allerdings; hat er nicht Herrn d'Artagnan bei mir gesehen?«

»Oh! ja, ja, Ihr habt Recht. So wird Alles gut gehen, so macht sich die Sache vortrefflich; aber brechen wir nicht bald auf?«

»Um sieben Uhr oder spätestens um acht Uhr sind wir an der Grenze, und bei dem ersten Lärmen verlassen wir Frankreich.«

»Und was soll ich bis dahin machen?«

»Warten.«

»Aber wenn sie kommen?«

»Der Wagen meines Bruders wird vor ihnen hier sein.«

»Wenn ich im Augenblicke, wo man Euch abholt, von Euch entfernt bin, beim Mittags- oder Abendessen zum Beispiel?«

»So hört, was Ihr thun könnt.«

»Was?«

»Sagt unserer guten Aebtissin, Ihr bittet sie, mein Mahl mit mir theilen zu dürfen, damit Ihr mich so wenig als möglich zu verlassen habt.«

»Wird sie es erlauben?«

»Was kann hiebei als ungeeignet erscheinen?«

»Oh! schön, schön! auf diese Art verlassen wir uns nicht einen Augenblick.«

»Nun so geht zu ihr hinab und tragt ihr Eure Bitte vor, mein Kopf ist mir so schwer und ich will einen Gang durch den Garten thun.«

»Geht, und wo treffe ich Euch wieder?«

»Hier, in einer Stunde!«

»Oh! ich danke Euch; wie gut seid Ihr doch!«

»Wie sollte ich nicht innige Theilnahme für Euch hegen, da Ihr so schön und liebenswürdig seid, und seid Ihr denn nicht auch die Freundin eines meiner besten Freunde?«

»Der theure d'Artagnan! oh! wie wird er Euch danken!«

»Ich hoffe es. Aber nun vorwärts; Alles ist verabredet; laßt uns hinabgehen.«

»Ihr geht in den Garten?«

»Ja.«

»Folgt der Flur; geht eine kleine Treppe hinab.«

»Gut; ich danke Euch.«

Und mit dem holdseligsten Lächeln verließen sich die zwei Frauen.

Mylady hatte die Wahrheit gesprochen: der Kopf war ihr schwer, denn ihre noch ungeordneten Pläne trieben sich wie in einem Chaos durcheinander. Sie bedurfte der Einsamkeit, um etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bringen; ihr Blick in die Zukunft war nicht klar und sie brauchte Ruhe und Stille, um allen ihren Ideen eine bestimmte Form, feste Anhaltspunkte zu geben.

Das Dringendste war, Madame Bonacieux zu entführen und an einen sichern Ort zu bringen, um sie erforderlichen Falls als Geißel zu gebrauchen. Mylady fing an, den Ausgang des furchtbaren Zweikampfes zu fürchten, bei welchem ihre Feinde eben so viel Hartnäckigkeit zeigten, als sie selbst Erbitterung bewies.

Ueberdies fühlte sie, wie man den Sturm kommen fühlt, daß dieser Ausgang nahe war und nothwendig furchtbar werden mußte.

Die Hauptsache schien ihr also zu sein, daß sie Madame Bonacieux in ihren Händen hielt. Mit Madame Bonacieux hatte sie das Leben d'Artagnans, ja noch mehr das Leben der Frau, die er liebte, in ihrer Gewalt. Im allerschlimmsten Fall besaß sie dadurch ein Mittel zu unterhandeln und auf sichere Weise gute Bedingungen zu erzielen.

Dieser Punkt war nun festgestellt. Madame Bonacieux folgte ihr ohne Mißtrauen; einmal mit ihr in Armentières verborgen, konnte man sie leicht glauben machen, d'Artagnan sei nicht nach Bethune gekommen. In spätestens vierzehn Tagen mußte Rochefort zurückkehren. Während dieser vierzehn Tage würde sie wohl einen Plan ersinnen, um sich an den vier Freunden zu rächen. Langweile könnte sie, Gott sei Dank! keine bekommen, denn sie hätte den süßesten Zeitvertreib zu erwarten, den die Ereignisse einer Frau ihres Charakters zu gewähren im Stande sind: sie hätte ein schönes Rachewerk zu vollführen.

Unter diesen Träumen schaute sie umher und ordnete in ihrem Kopfe die Topographie des Gartens; Mylady war ein guter Feldherr, der zugleich den Sieg und die Niederlage vorher berechnet und sich bereit hält, je nach den Chancen der Schlacht vorwärts zu marschiren oder sich fechtend zurückzuziehen.

Nach Verlauf einer Stunde hörte sie eine sanfte Stimme, welche sie rief: es war Madame Bonacieux. Die gute Aebtissin hatte natürlich zu allem ihre Einwilligung ertheilt, und um den Anfang zu machen, sollten sie miteinander ein Abendbrod nehmen.

Als sie in den Hof kamen, vernahmen sie das Geräusch eines Wagens, der vor dem Thore anhielt. Mylady horchte.

»Hört Ihr?« sprach sie. – »Ja, das Rollen eines Wagens.« – »Es ist der, welchen uns mein Bruder schickt.« – »Oh! mein Gott!« – »Auf! Muth gefaßt!«

Man läutete an der Klosterpforte, Mylady hatte sich nicht getäuscht.

»Geht in Euer Zimmer hinauf,« sagte sie zu Madame Bonacieux. »Ihr habt wohl einige Juwelen, die ihr mitzunehmen wünschen werdet.«

»Ich habe seine Briefe,« erwiderte sie.

»Nun wohl! so geht und holt sie! kommt dann sogleich zu mir, wir nehmen geschwind einige Nahrung zu uns; vielleicht reisen wir einen Theil der Nacht, wir bedürfen unserer Kräfte.«

»Großer Gott!« sprach Madame Bonacieux; »mein Herz droht zu zerspringen, ich kann nicht von der Stelle.«

»Muth gefaßt! meine Theure, Muth gefaßt! Bedenkt, daß Ihr in einer Viertelstunde gerettet seid, und daß Ihr das, was Ihr thut, für ihn thut.«

»Ja, ja! Alles, Alles für ihn. Ihr habt mir durch ein einziges Wort meinen Muth wieder gegeben.«

Mylady eilte in ihr Zimmer, sie fand hier den Bedienten Rocheforts und gab ihm seine Instruktionen.

Er sollte vor dem Thor warten; würden zufällig die Musketiere erscheinen, so sollte der Wagen im Galopp um das Kloster fahren und Mylady in einem Dörfchen erwarten, das auf der andern Seite des Gehölzes lag.

In diesem Fall würde Mylady durch den Garten gehen und das Dörfchen zu Fuß zu erreichen suchen; Mylady kannte diesen Theil Frankreichs erwähnter Maßen ganz vortrefflich.

Würden die Musketiere nicht erscheinen, so sollten die Dinge vor sich gehen, wie es verabredet war. Madame Bonacieux stieg in den Wagen, unter dem Vorwand, ihr Lebewohl zu sagen, und sie entführte Madame Bonacieux.

Madame Bonacieux trat ein, und um ihr jeden Argwohn zu benehmen, wenn sie einen solchen hätte, wiederholte sie dem Bedienten in ihrer Gegenwart den letzten Theil seiner Instruktion.

Mylady machte einige Fragen in Beziehung auf den Wagen; es war eine mit drei Pferden bespannte Chaise, geführt von einem Postillon. Der Lakai Rocheforts sollte als Courier vorausreiten.

Mylady hatte Unrecht, wenn sie einen Argwohn bei Madame Bonacieux befürchtete. Die arme junge Frau war zu rein, um bei einem andern weiblichen Wesen eine solche Treulosigkeit zu ahnen. Ueberdieß war ihr der Name der Gräfin Winter, den sie von der Aebtissin gehört hatte, völlig unbekannt, und sie wußte nicht einmal, daß eine Frau einen so großen und unseligen Antheil an den Unglücksfällen ihres Lebens gehabt hatte.

»Ihr seht,« sprach Mylady, nachdem der Lakai weggegangen war, »Alles ist bereit. Die Aebtissin hatte keine Ahnung und glaubt, man hole mich auf Befehl des Kardinals. Dieser Mensch ertheilt die letzten Befehle; nehmt ein wenig Speise, trinkt einen Tropfen Wein und dann vorwärts.«

»Ja,« sprach Madame Bonacieux mechanisch, »ja vorwärts!«

Mylady gab ihr ein Zeichen, sich ihr gegenüber zu setzen, schenkte ihr ein Glas spanischen Wein ein und legte ihr ein Stückchen Huhn vor.

»Seht,« sprach sie, »wie uns Alles begünstigt, es wird bereits Nacht. Mit Tagesanbruch sind wir an Ort und Stelle, und Niemand wird ahnen können, wo wir uns befinden. Muth gefaßt, nehmt etwas zu Euch!«

Madame Bonacieux aß mechanisch einige Bissen und benetzte ihre Lippen mit dem Weine.

»Auf, muthig!« sprach Mylady, indem sie ihr Glas an die Lippen setzte, »macht es, wie ich.«

Aber in dem Augenblick, wo sie zu trinken im Begriffe war, blieb ihre Hand schwebend. Sie hatte in der Ferne das Geräusch eines näher kommenden Galopps gehört, und beinahe zu gleicher Zeit kam es ihr vor, als vernähme sie das Gewieher von Pferden.

Dieses Geräusch entriß sie ihrer Freude, wie uns das Brausen des Sturmes mitten in einem schönen Traume erweckt; sie erbleichte und lief nach dem Fenster, während Madame Bonacieux, am ganzen Leibe zitternd, aufstand und sich, um nicht zu fallen, auf ihren Stuhl stützte.

Man sah noch nichts, man hörte nur den Galopp immer deutlicher.

»O mein Gott!« rief Madame Bonacieux, »was bedeutet dieses Geräusch?«

»Es rührt von unsern Freunden oder von unsern Feinden her,« antwortete Mylady mit furchtbarer Kaltblütigkeit. »Bleibt, wo Ihr seid, ich werde es Euch sagen.«

Madame Bonacieux blieb an ihrem Platze stehen, stumm, unbeweglich und bleich, wie eine Bildsäule.

Das Geräusch wurde indessen immer stärker. Die Pferde konnten nicht mehr über fünfhundert Schritte entfernt sein. Wenn man sie noch nicht sah, so kam dies davon her, daß die Straße eine Krümmung bildete. Aber das Getöse war so deutlich, daß man die Zahl der Pferde an ihrem Hufschlag hätte unterscheiden können.

Mylady schaute mit aller Macht der gespanntesten Aufmerksamkeit. Es war gerade noch hell genug, daß man die Ankommenden zu erkennen vermochte.

Plötzlich sah sie an der Wendung des Weges betreßt Hüte glänzen und Federn wogen. Sie zählte zwei, dann fünfe dann acht Reiter. Der eine von ihnen ritt den übrigen um zwei Pferdelängen voraus.

Mylady brüllte. In demjenigen, welcher sich an der Spitze befand, erkannte sie d'Artagnan.

»O mein Gott!« rief Madame Bonacieux, »was gibt es denn?«

»Es ist die Uniform der Leibwachen des Herrn Kardinals – kein Augenblick zu verlieren!« schrie Mylady, »laßt uns fliehen, eiligst fliehen.«

»Ja, ja, fliehen,« wiederholte Madame Bonacieux, aber ohne, durch den Schrecken auf den Platz gebannt, einen Schritt machen zu können.

Man hörte die Reiter unter dem Fenster vorüber ziehen.

»Kommt doch, kommt doch!« rief Mylady und suchte die junge Frau am Arme fortzuschleppen, »durch den Garten können wir noch entfliehen; ich habe den Schlüssel; aber eilen wir, in fünf Minuten ist es zu spät!«

Madame Bonacieux versuchte zu gehen, machte zwei Schritte und sank in die Kniee.

In diesem Moment hörte man das Rollen des Wagens, der bei dem Anblick der Musketiere im Galopp davon eilte. Dann erschollen drei oder vier Schüsse.

»Zum letzten Male, wollt Ihr kommen!« rief Mylady.

»O! mein Gott! mein Gott! Ihr seht wohl, daß es mir an Kraft gebricht, Ihr seht wohl, daß ich nicht gehen kann, flieht allein.«

»Allein fliehen? Euch hier lassen? Nein, nie, nie!« rief Mylady.

Plötzlich zuckte ein bleicher Blitz aus ihren Augen hervor. Sie lief nach dem Tische und goß in das Glas von Madame Bonacieux den Inhalt eines Ringkastens, den sie mit seltsamer Geschwindigkeit öffnete.

Es war ein röthliches Kügelchen, das sogleich schmolz.

Dann nahm sie das Glas mit fester Hand und sagte zu Madame Bonacieux:

»Trinkt, trinkt, dieser Wein wird Euch Kräfte geben, trinkt!«

Und sie näherte das Glas den Lippen der jungen Frau, die es mechanisch trank.

»Ah! ich wollte mich nicht auf diese Art rächen,« sprach Mylady, indem sie mit einem höllischen Lächeln das Glas auf den Tisch setzte; »aber meiner Treu, man thut nur, was man kann.«

Und sie stürzte aus dem Zimmer.

Madame Bonacieux sah sie fliehen, ohne ihr folgen zu können. Sie war, wie jene Menschen, welche träumen, man verfolge sie, und vergebens zu gehen versuchen. Einige Minuten gingen vorüber. Ein furchtbares Getöse erhob sich vor der Thüre. Jeden Augenblick erwartete Madame Bonacieux das Wiedererscheinen Myladys, welche jedoch nicht zurückkehrte. Mehrere Male drang, ohne Zweifel aus Schrecken, ein kalter Schweiß auf ihre glühende Stirne.

Endlich vernahm sie das Aechzen der Gitter, welche man öffnete. Der Lärm von Stiefeln und Sporen ertönte auf der Treppe; in einem gewaltigen Gemurmel von Stimmen, die sich näherten, glaubte sie ihren Namen aussprechen zu hören.

Plötzlich stieß sie ein mächtiges Freudengeschrei aus und stürzte nach der Thüre: sie hatte die Stimme d'Artagnans erkannt.

»D'Artagnan! d'Artagnan!« rief sie, »seid Ihr es? hieher!«

»Constance! Constance!« antwortete der junge Mann, »mein Gott, wo seid Ihr?«

In demselben Augenblicke wich die Thüre der Zelle vor einem kräftigen Stoße. Mehrere Männer traten in das Zimmer; Madame Bonacieux war in einen Lehnstuhl gesunken, ohne sich von der Stelle bewegen zu können.

D'Artagnan warf eine noch rauchende Pistole, die er in der Hand hielt, von sich und fiel vor seiner Geliebten auf die Kniee, Athos steckte die seinige in den Gürtel, Porthos und Aramis, welche ihre entblößten Degen in der Hand hielten, stießen sie in die Scheide.

»Oh! d'Artagnan, mein geliebter d'Artagnan, Du kommst endlich! Du hattest mich nicht getäuscht! Du bist es!«

»Ja, ja, Constance! endlich vereinigt!«

»Oh sie mochte immerhin sagen, Du würdest nicht kommen, ich hoffte dennoch und wollte nicht fliehen. Oh! wie wohl habe ich daran gethan! Wie glücklich bin ich!«

Bei dem Worte sie stand Athos, der sich ruhig niedergesetzt hatte, plötzlich auf.

»Sie? welche sie?« fragte d'Artagnan.

»Meine Gefährtin, diejenige, welche mich aus Freundschaft meinen Verfolgern entziehen wollte, diejenige, welche so eben entflohen ist, weil sie Euch für Leibwachen des Kardinals hielt.«

»Eure Gefährtin?« rief d'Artagnan und wurde so bleich, wie der weiße Schleier seiner Geliebten. »Von welcher Gefährtin sprecht Ihr?«

»Von derjenigen, deren Wagen vor der Thüre stand; von einer Frau, die sich Eure Freundin nennt, d'Artagnan; von einer Frau, der Ihr Alles erzählt habt.«

»Ihr Name?« rief d'Artagnan. »Mein Gott, wißt Ihr ihren Namen nicht?«

»Allerdings, man hat ihn in meiner Gegenwart ausgesprochen. Wartet, aber das ist seltsam . . . Ah! mein Gott! meine Sinne verwirren sich . . . ich sehe nicht mehr . . .«

»Hierher, meine Freunde, hierher, ihre Hände sind kalt, wie Eis!« rief d'Artagnan. »Großer Gott, sie verliert das Bewußtsein!«

Während Porthos mit aller Gewalt seiner Stimme um Hülfe rief, lief Aramis, um ein Glas Wasser zu holen, nach dem Tische. Aber er blieb plötzlich stehen, als er die furchtbare Verstörung in den Gesichtszügen von Athos wahrnahm, der an dem Tische stehend, die Haare starr, das Antlitz vor Bestürzung in Stein verwandelt, eines von den Gläsern betrachtete und der gräßlichsten Vermuthung preisgegeben zu sein schien.

»Oh!« sagte Athos, »oh! nein, das ist unmöglich! Gott würde ein solches Verbrechen nicht zugeben.«

»Wasser! Wasser!« rief d'Artagnan, »Wasser!«

»O! arme Frau, arme Frau,« murmelte Athos mit gebrochener Stimme.

Madame Bonacieux öffnete die Augen wieder unter d'Artagnans Küssen.

»Sie kommt zu sich!« rief der junge Mann. »Oh! mein Gott, mein Gott, ich danke Dir!«

»Madame,« sprach Athos, »Madame, im Namen des Himmels! wem gehört dieses leere Glas?«

»Mir, Herr,« antwortete die junge Frau mit sterbender Stimme.

»Doch wer hat den Wein eingeschenkt, der in diesem Glase war?«

»Sie!«

»Aber welche sie denn?«

»Ah, ich erinnere mich,« erwiderte Madame Bonacieux, »die Gräfin Winter.«

Die vier Freunde stießen einen einzigen, gleichzeitigen Schrei aus; aber die Stimme von Athos beherrschte die andern.

In diesem Augenblick wurde das Antlitz von Madame Bonacieux leichenblaß. Ein dumpfer Schmerz warf sie nieder. Sie fiel keuchend in die Arme von Porthos und Aramis.

D'Artagnan ergriff die Hände von Athos mit einer unbegreiflichen Seelenangst.

»Wie!« sagte er, »Du glaubst?«

Seine Stimme erlosch unter gewaltigem Schluchzen.

»Ich glaube Alles,« antwortete Athos, und biß sich in die Lippen, daß das Blut hervorquoll.

»D'Artagnan! d'Artagnan!« rief Madame Bonacieux, »wo bist Du? Verlaß mich nicht, Du siehst, daß ich sterbe.«

D'Artagnan ließ die Hände von Athos los, die er in seinen krampfhaft zusammengepreßten Fäusten hielt.

Ihr so schönes Gesicht war völlig verstört, ihre glasigen Augen hatten bereits keinen Blick mehr, ein krampfhaftes Zittern schüttelte ihren ganzen Leib und der Schweiß floß in Strömen von der Stirne herab.

»Ums Himmels willen lauft, ruft. Porthos, Aramis, fordert Hülfe!«

»Vergeblich,« sprach Athos, »vergeblich! Für ein Gift, das sie einflößt, gibt es kein Gegengift!«

»Ja, ja. Hülfe! Hülfe!« murmelte Madame Bonacieux, »zu Hülfe!«

Dann raffte sie alle ihre Kräfte zusammen, nahm den Kopf des jungen Mannes zwischen ihre zwei Hände, schaute ihn eine Sekunde an, als ob ihre ganze Seele in ihren Blick übergegangen wäre, und drückte mit einem jammervollen Schrei ihre Lippen auf die seinigen.

»Constance! Constance!« rief d'Artagnan.

Ein Seufzer drang aus dem Munde von Madame Bonacieux hervor, der d'Artagnans Lippen berührte. Dieser Seufzer war die so keusche, so liebevolle Seele, welche zum Himmel aufstieg.

D'Artagnan hielt nur noch eine Leiche in seinen Armen.

Der junge Mann stieß einen Schrei aus und stürzte neben seine Geliebte, so bleich, so starr wie sie, nieder.

Porthos weinte. Athos streckte die Faust zum Himmel empor. Aramis machte das Zeichen des Kreuzes.

In diesem Augenblick erschien ein Mann an der Thüre, beinahe so bleich wie diejenigen, welche sich im Zimmer befanden. Er schaute um sich her, sah Madame Bonacieux tot und d'Artagnan in Ohnmacht.

Er erschien gerade in jenem Augenblick der Erstarrung, welche stets auf große Katastrophen folgt.

»Ich hatte mich nicht getäuscht,« sagte er, »hier ist Herr d'Artagnan und Ihr seid seine drei Freunde, die Herren Athos, Porthos und Aramis.«

Die Männer, deren Namen genannt worden waren, schauten den Fremden mit Erstaunen an. Es kam ihnen Allen vor, als müßten sie ihn kennen.

»Meine Herren,« versetzte der Fremde, »Ihr sucht Alle, wie ich, eine Frau auf, die,« fügte er mit einem furchtbaren Lächeln bei, »hier durchgekommen sein muß, denn ich sehe dort eine Leiche.«

Die drei Freunde blieben stumm: nun erinnerte sie die Stimme, wie zuvor das Gesicht, an einen Mann, den sie bereits gesehen hatten; aber sie konnten sich nicht entsinnen, unter welchen Umständen.

»Meine Herren,« fuhr der Fremde fort, »da Ihr mich nicht als einen Mann wiedererkennen wollt, der Euch ohne Zweifel das Leben zu verdanken hat, so muß ich mich wohl nennen: ich bin Lord Winter, der Schwager jener Frau.«

Die drei Freunde gaben einen Schrei des Staunens von sich.

Athos stand auf, reichte ihm die Hand und sprach:

»Seid willkommen, Mylord, Ihr gehört zu uns.«

»Ich reiste fünf Stunden nach ihr von Portsmouth ab,« sprach Lord Winter; »ich kam drei Stunden nach ihr in Boulogne an, ich verfehlte sie um zwanzig Minuten in Saint-Omer; endlich verlor ich in Lilliers ihre Spur. Ich überließ mich dem Zufalle, erkundigte mich nach Euch, als ich Euch im Galopp vorüberreiten sah. Ich erkannte Herrn d'Artagnan, rief Euch, aber Ihr antwortetet mir nicht. Ich wollte Euch folgen, doch mein Pferd war zu müde, um mit den Eurigen gleichen Schritt halten zu können, und dennoch scheint es, Ihr seid bei allem Eurem Eifer zu spät gekommen.«

»Ihr seht es,« sprach Athos und zeigte Lord Winter die tote Madame Bonacieux und d'Artagnan, den Porthos und Aramis in das Leben zurückzurufen suchten.

»Sind alle Beide tot?« fragte Lord Winter kalt.

»Zum Glücke, nein,« antwortete Athos, »d'Artagnan ist nur ohnmächtig.«

»Desto besser!« sprach Lord Winter.

D'Artagnan öffnete in diesem Momente die Augen wieder. Er entriß sich den Armen von Porthos und Aramis und warf sich wie ein Wahnsinniger auf die Leiche seiner Geliebten.

Athos stand auf, ging mit langsamem, feierlichem Schritt auf seinen Freund zu und sagte, als dieser in ein Schluchzen ausbrach, mit seiner so edlen, so überzeugenden Stimme:

»Freund! sei ein Mann, die Weiber beweinen die Toten, die Männer rächen sie!«

»Oh! ja,« sprach d'Artagnan, »ja, wenn es geschehen soll, um sie zu rächen, so bin ich bereit, Dir zu folgen.«

Athos benützte diesen Augenblick der Kraft, welche die Hoffnung auf Rache seinem unglücklichen Freunde wieder verlieh, und machte Porthos und Aramis ein Zeichen, die Aebtissin zu holen.

Die Freunde trafen sie in der Flur völlig verwirrt von so vielen Ereignissen. Sie rief einige Nonnen, welche gegen alle klösterliche Gebräuche vor den fünf Männern erschienen.

»Madame,« sagte Athos, indem er d'Artagnan beim Arme nahm, »wir überlassen Eurer frommen Sorge den Leib dieser unglücklichen Frau. Sie war ein Engel auf Erden, ehe sie ein Engel im Himmel wurde. Behandelt sie wie eine von Euern Schwestern, wir werden eines Tages wiederkehren, um auf ihrem Grabe zu beten.«

D'Artagnan verbarg sein Antlitz an der Brust seines Freundes und brach abermals in ein Schluchzen aus.

»Weine,« sagte Athos, »weine, Herz voll Liebe, Jugend und Leben! Ach, ich wünschte wohl auch wie Du weinen zu können.«

Und er zog seinen Freund fort, zärtlich wie ein Vater, tröstend wie ein Priester, groß wie der Mann, der viel gelitten hat.

Alle fünf begaben sich nun, von ihren Bedienten gefolgt, die ihre Pferde am Zügel führten, nach der Stadt Bethune, und hielten vor der ersten Herberge an, die sie erblickten.

»Aber verfolgen wir denn diese Frau nicht?« fragte d'Artagnan.

»Später,« antwortete Athos, »ich habe Maßregeln zu nehmen.«

»Sie wird uns entkommen,« entgegnete der junge Mann, »sie wird uns entkommen, Athos, und das ist Deine Schuld.«

»Ich stehe für sie,« sprach Athos.

D'Artagnan hatte ein solches Zutrauen zu dem Worte seines Freundes, daß er das Haupt neigte und ohne eine weitere Silbe in die Herberge eintrat.

Porthos und Aramis schauten sich an und konnten die Sicherheit von Athos nicht begreifen.

Lord Winter glaubte, er spreche so, um d'Artagnans Schmerz zu betäuben.

»Nun, meine Herren,« sagte Athos, nachdem er sich überzeugt hatte, daß fünf Zimmer im Hause frei waren, »nun wollen wir uns jeder in sein Zimmer zurückziehen. Für d'Artagnan ist es Bedürfniß, allein zu weinen, und für Euch, zu schlafen. Ich übernehme Alles, seid unbesorgt.«

»Es scheint mir jedoch,« erwiderte Lord Winter, »daß es mich angeht, wenn Maßregeln gegen die Gräfin zu nehmen sind, denn es ist meine Schwägerin.«

»Und es ist meine Frau,« sprach Athos.

D'Artagnan bebte, denn er begriff, daß Athos seiner Rache sicher war, da er ein solches Geheimniß enthüllte; Porthos und Aramis schauten sich erbleichend an; Lord Winter glaubte, Athos sei verrückt.

»Zieht Euch nun zurück,« sagte Athos, »und laßt mich machen. Ihr seht wohl, daß die Sache mich als den Gatten betrifft. Nur gebt mir das Papier, d'Artagnan, wenn Ihr es nicht verloren habt, das aus dem Hute jenes Mannes gefallen ist, und worauf der Name der Stadt geschrieben steht.«

»Ah!« rief d'Artagnan, »ich begreife, der von ihrer Hand geschriebene Name . . .«

»Du siehst wohl,« sprach Athos, »daß es einen Gott im Himmel gibt!«



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