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Und jetzt sind die andern gegangen. Joachim ist mit Eva allein. Sie sitzen eine Weile stumm. In die zärtlich zagende Erwartung zuckt ein Feindliches hinein. Es ist nun einmal der Kampf zwischen ihnen entbrannt, das Sichwehren. Ein heimliches Sichmustern, wie ein Ausspähen nach den Schwächen des andern. Eine fiebernde Anspannung, wie sie in Schicksalsstunden schwirrt. Und wieder ein Ermatten und ein Ausruhen in Träumen.

Draußen ist Stille geworden. Der Wind hat sich gelegt. Nun haben die Seenebel, die immer schon in den Nächten geträumt hatten, gewonnenes Spiel. Sie verzaubern die Welt wie in vorzeitliche Dämmerung. Zwei Seelen, die erst das Leben suchen, kauern die beiden. Und sie gewinnen dies Zagende, Unerwachte, Erwartungsvolle lieb und halten sich fest in dem zitternden Morgengrau.

Einen stärkeren Bund als das Wort schließt das Schweigen.

Schmerzlich erschreckt fuhren sie auf, als eine Tür hart ins Schloß fiel. Und jetzt stürmte Benno ins Zimmer. Mit einer leidenschaftlichen, ganz unbekümmerten Zärtlichkeit umschlang er die Mutter. Jetzt war er ganz Kind, ein großes Gefühl lebte und leuchtete in ihm. Und eben so flammte das Mutterherz.

Fast beschämt war Joachim von diesem elementaren Ausbruch, der nur von sich selber wußte und alles um sich vergaß. Und auch ein Neidgefühl stieß durch ihn hin, da er selber hier so abgetan und beiseite geworfen war.

Und dann zauste sich der Menschenkenner und Ergründer der Kinderseele. Hättest du den beiden diese Innigkeit und Macht des Fühlens zugetraut? Dieses Unmittelbare, dieses einfach Große in ihnen, die dir in so viel gebrochenen Reflexen schillerten?

Er sann nach über die Frau und ihren Jungen und über sich selbst. Und wieder kam all das Spröde und Bittere in ihm oben auf, und um ihn war harte Einsamkeit und Verschlossenheit.

Bis Benno an solches Verlies pochte mit dem Sprunghaften seines Wesens. Er löste sich aus den Armen seiner Mutter. Alles Kindliche war aus dem Gesicht wie fortgewischt, dem jetzt der kühle, frühreife, altkluge, rechnende Zug die Linie gab.

»Darf ich einmal an den Fernsprecher? Ich möchte das mit der Bank jetzt in Ordnung bringen,« sagte er und ging ins Nebenzimmer.

Eva las in Joachims Zügen. Ich Hansnarr! stand deutlich da geschrieben. Baue ein lebendes Bild von Schmelz und Innigkeit mir hin und gerate in Rührseligkeiten! Und dabei ist dies letzte, dies üble, dies schlau spekulierende, mir in den Tod verhaßte des Bengels wahres Gesicht.

»Ich weiß, was Sie denken!« sagte Eva.

»Nun?«

»Sie glauben, solche Zärtlichkeitsausbrüche sind nicht echt bei ihm.«

»Ja.«

»Sie glauben, er will etwas von mir.«

»Ja.«

»Das ist sehr schade. Der Junge hat ja ganz gewiß seine kaufmännischen Neigungen. Aber mit seinen Gefühlen macht er keine Geschäfte.« Diese letzten Worte hatten ihren starken, fast bewegten Ton, der tief in Joachim hineinklang.

»Anständig ist er nun schon.« Beschämend für ihn und quälend das Wort. »Der Pädagog in Ihnen mag sich dagegen auflehnen – aber Benno ist es, nicht ich, der die Finanzen des Hauses wahrnimmt. Mit glücklicher Hand. Ich selbst bin hier ziemlich hilflos und wüßte ganz einfach nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte. Höchstens also – könnte meine Zärtlichkeit zu ihm den Verdacht einer Absichtlichkeit erwecken.«

Welche Welt ist dies! so ging es Joachim durch den aufgestörten Sinn. Ihr dich entgegenstemmen ist deines Amtes. Versuchen, sie wieder einzurenken in ihre Fugen! Aber gerecht und klar muß sein, unbeirrbar durch Vorliebe und Abneigung, wer hier walten und führen will. Du aber fällst vorschnelles Urteil, ein ungerechter Richter.

Der Junge kam zurück. »Ich hab' mit Vogelsang gesprochen. Er hat uns die Otavi noch beschaffen können. Zum vorgestrigen Kurs von 250. Gestern standen sie schon 290.«

Joachim wand sich gepeinigt. In Dreiteufelsnamen – wer kann gegen seinen natürlichen Ekel! Widerwärtig ist mir dieser Dunstkreis. Daß der Schuljunge für seine Mutter Geldgeschäfte macht – wie gut fügt sich das in diese ganze lasche und laxe, ethisch und ästhetisch aufgeweichte Welt. Aber ich gehör' nicht da hinein! Nein, nein und nein! Und eben noch hab' ich als armer Sünder vor dieser Frau, die in diesem Kreise lebt und webt, den Kopf gesenkt. Und dem reizvoll smarten Allerweltsjungen Abbitte geleistet.

Soll das unsere deutsche Zukunft sein? Wie elend ungesund diese Atmosphäre! Nicht zum Atmen für mich! Und die Frau, der diese Luft in den Kleidern hängt – o ja, zu kleiden versteht sie sich, ein Bild in den feinsten Pastellfarben – Kultur, alles Kultur – und Musik, sehr viel nervöse Musik – zum Teufel mit all dieser feinfingerigen Ästhetik! Fäuste will unsere Zeit.

Ehrlicher Abscheu, ich danke dir! Ein Warner sollst du mir sein, der ich schon im Narrenseile mich verstricken ließ. Ich gehöre nicht hierher – gehöre nicht in dies ungesunde Sumpfklima – ja, lacht über mich, ihr Höhengeister! Sumpfklima nenne ich dies! Doch wie aus der Ferne hallt ein großes, hohes Wort: Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, aber die Kranken.

Den Jungen heilen – und mit dem Jungen die Mutter! Fühlt sie selbst sich denn wohl in ihrer Haut? Woher sonst dieser stille, leidende Zug? Ja, sie leidet, leidet an einer Irrfahrt des Lebens. Sie braucht Hilfe, braucht die harte, feste männliche Hand. Und lohnt es nicht, sie zu halten?

Benno tritt jetzt auf ihn zu. »Ich höre, Herr Professor, daß Sie morgen früh nach der Stadt zurückwollen. Darf ich mit Ihnen gehen?« Darin ist die ganze vertrauensvolle Offenheit. Bezwungen und freudig antwortet Joachim sein »natürlich«.

Dann sagt der Junge: »Ich will noch einmal zu Gottfried. Ich hab' noch ein paar Briefmarken für ihn.«

Gottfried ist der gelähmte Sohn des Dorfschullehrers. Bei diesem zarten, versonnenen, unbeweglich in ein Traumleben gebannten, in Verzicht und Wunschlosigkeit wie verklärten Knaben, der recht eigentlich in allem sein Gegenstück ist, kann Benno stundenlang sitzen. Er ist sein Freund, es macht ihn glücklich, mit Liebesgaben »das Lager ihm zu polstern«.

Benno ging. »Ist der Junge nun nicht doch zum Liebhaben?« sprach die Mutter zärtlich ihm nach. »Seine herrliche Briefmarkensammlung hat er dem armen, kleinen gefesselten Prometheus geschenkt. Schenken ist überhaupt seine Lust.«

Sie rückte Joachim näher zu vertraulichem Bekenntnis.

»Dieses Briefmarkensammeln! Sein Vater hatte es ihm verboten, als ›stumpfsinnig und verblödend‹. Da hatte der kleine Junge eine feine Antwort, die mir gefiel: ›Oh, man kann doch dabei so weite Reisen machen.‹ Aber der Mann ohne Phantasie verstand das nicht. Ich schlug mich hier ganz auf die Seite des Jungen – und nun begannen die schlimmen Heimlichkeiten.«

Sie beichtete mit Bedacht. Einmal fuhr es ihm durch den Sinn: weiß sie, wie unbeschreiblich gut sie das kleidet – wie wunderbar sich in weicher Hingebung die Augen vertiefen, wie dieser unsagbare, bittersüße, schmerzlich-wonnige Zug um ihren weichen Mund die Sinne betört – weiß sie es?

Aber daß er, er nun wieder und wieder ihr Beichtiger sein durfte, daß sie ihm sich so ergab, schlug ihn völlig in Bande, glückhaft gedankenlos. Sie war sich wohl dieser Macht bewußt, es war ein leises Schauern, da sie immer mehr Hüllen von ihrem Leben und ihrem Wesen fallen ließ.

»So ist alles eigentlich durch den Jungen gekommen, durch das Komplott, das ich mit ihm schloß. Und durch die Angst, die wir beide hatten. Damit war die Unwahrheit in unserem Haus. Und wie leicht werden aus einer Lüge viele. Ein Betrug ist immer der Freund jedes andern. Auf diese Weise gerät man bald in eine große ungebunden leichtsinnige Gesellschaft. Und wenn man nicht fest verankert ist – und in sich selbst nicht die rechte Heimat hat –«

Etwas wie Klage bebte in diesen Worten, wie ein Ruf klang es aus ihnen hervor. Und Joachim trank ihn mit dem Ohr und tat die ganze Seele ihm auf.

Warum sagt sie mir dies alles? Gib du mir die Heimat! – was kann es anders heißen als dies!

Soll er sie fragen nach ihrem Leben? Offenbart sie sich ihm nicht mit einer eigenen Lust? Die ihn fast verstört und irremacht. Ob es sie nicht prickelt und reizt, ihm aus ihrer Ehe zu erzählen – alles, was er wissen will? So viel, mit einer Art grübelnder Gier sprach sie von Betrug und vom Betrügen – hat sie – hat sie dem Mann die Treue gehalten?

Hier fährt er zusammen, gequält. Und fürchtet sich vor der Antwort, als sei sie sein eigener Schicksalsspruch. Und stößt dann all diese Gedanken mit Heftigkeit von sich, als Irrlichter seiner Vorstellungen, als Schmähungen und Entehrungen einer edlen Frau!

Alles Leuchtende ihrer Art ruft er zu Hilfe und brennt sie sich rein in ihren eigenen Strahlen. Und so glänzt sie vor ihm in Glorienschein, demütig und sieghaft zugleich.

Dies ist ihr Sieg, damit bezwingt sie ihn, daß sie seiner bedarf, daß sie ihn braucht!

Sie aber mit ihrem fein witternden Fraueninstinkt bleibt seinen Empfindungen auf den Fersen.

Sie genießt es, wie die Herbheit, das Unbeholfene, das Verschlossene und Bewachte in ihm sich löst. Mehr aber als alles wirkt seine sittliche Sauberkeit auf sie ein, bezwingend, überwältigend und seltsam entflammend. Daß ihre Phantasie scheu und fast beschämt innehält.

Und wieder klammern sich ihre Gedanken an seine aufrecht starke Haltung, an seinen klaren, festen Willen, an das Leitende seines Geistes, seiner Hand. Einer, der Schutz und Heim und Sicherheit verspricht. ›Du bist die Ruh‹, singt es durch sie hin. Und sie ist oft so müde.

Weiter spinnen und weben die Nebel, das Abendrot haucht einen eigenen blutwarmen Dämmer hinein. Es ist ein Umfangen, ein Einhüllen, ein Bergen, ein Verstecken in weltferne Einsamkeit. So legt es sich um sie und verzaubert sie beide in ihrer beider Nähe. Er weiß es kaum – wie von selbst sitzt er an ihrer Seite – hat ihre Hand genommen – seine Lippen suchen ihre Finger.

Da, wie ein Blitz schlägt es in ihn ein – taumelnd reißt er sich in die Höhe. Zu einem Abschied macht er gewaltsam, was ein Beginnen war.

»Ich darf jetzt Lebewohl sagen. Und nicht wahr, ich darf wiederkommen?«

»Immer. Sie sind so gut für mich.«

Darin war die ganze lebendige Macht der Stunde, ihre innige Kraft und Weihe – bleiben, bleiben ruft aus ihr eine Stimme – es braust ihm in Herz und Hirn, er knirscht auf gegen die Betäubung und wirft den Kopf und stößt und rudert mit den Armen in Ecken und Kanten, verbeugt sich und geht.

Durch ihre großen Augen wandert es von Licht und Wolken: ein Erstaunen, ein Verstehen, ein Sichzufriedengeben mit dem Gewinn, eine Enttäuschung, eine Genugtuung über die Flucht, die ihr Sieg war und sein Sieg zugleich – und immer der Schein eines Erlebnisses, eines neuen Geschenkes, eines neuen Glücks.

Ein großer Junge ist er! So zittert es um ihren weichen, zärtlichen Mund.

 

Im Frühschein wanderte Joachim mit Benno der Stadt zu. Sie hatten sich beide ein wenig verschlafen und mußten gehörig ausschreiten.

Der Tag lag noch im Tau, noch kämpfte das Morgenrot mit den Nebeln der Nacht. Aber sie teilten sich schon in Schwaden und ließen ihren Saum betupfen von dem rosigen Morgenlicht.

Krähen, zerzaust, ruppig und wie geduckt schwebten schweigend dem Forste zu – gleich Nachtschwärmern, die mit schlechtem Gewissen erst jetzt nach Hause kamen.

Stille ringsum. Nur aus der Ferne hörte man den Bussard schreien. Unwillig – der Morgendampf war ihm bei des Frühstücks Bereitung sehr im Wege.

Benno in seiner unbefangenen, ungezwungenen Weise schüttete sein Herz aus. Auch darin der Mutter so ähnlich, mußte Joachim denken, den in den feinen Profillinien die geistige Anmut Evas grüßte.

Der Junge erzählte, daß er das Boot von dem alten Elvers gekauft habe. »Nun soll mich der Himmel bewahren, daß ich nicht schon vor den großen Ferien zum Argonauten werde.«

Joachim stutzte, immer noch ein wenig unfrei und gestört. Neu war ja auf alle Fälle für ihn diese Verkehrsart zwischen Lehrer und Schüler. Aber war hier nicht schließlich ein Mehr, eine Freundschaft, eine Zusammengehörigkeit? Und er fand sich in den Ton.

»Ja, ja, Benno – das goldene Vlies!«

»Was soll man anders machen!« erklärte der Junge und sang sein altes Lied. »Etwas zum Abenteuern und zum Riskieren muß man haben – das ist nun mal das einzige Schlachtfeld, das uns bleibt.«

Und wieder erschrak Joachim, und die Trauer zog durch ihn in schweren Schatten. Ist das unsere Jugend! Läßt sich willfährig den Untergang des Abendlandes predigen und »orientiert« sich nun so! Zur Börse! Ex oriente lux, ex oriente Kux!

Es packte ihn an – und er packte zu. Hier ist nun dein Amt – noch besser, wenn hier nicht die zündenden Funken springen sollten! Wenn hier nicht die Feuer entbrannt würden der neuen Zeit – meiner neuen Zeit! Nur daß es mit dem Predigen, mit Worten nicht getan ist! Nur mit dem Tun wird es geschafft. Und nicht tragisch dabei werden und wuchtig versinken – oben bleiben, den Humor behalten, lachend verstehen und erkennen, und lachend heilen! Als Beispiel leuchten, durch eigenes Leben wirken, durch den eigenen Herzschlag!

Nicht sich hineinwirbeln lassen in den Taumel der Sinne! Aufrecht bleiben und standhaft. Ordnung, Disziplin auch im Gefühlsleben, Selbstzucht und sei es bis zur Askese!

Ganz gewiß ein Spott den einen – aber eben nur denen, an denen ganz und gar nichts gelegen ist. Den andern aber ein Bild, eine Mahnung und ein Wertbegriff.

Der Junge sprach, vielleicht mit angelernten Worten, was er im Grunde doch selber empfand. »Natürlich ist das Geld was Ekelhaftes. Aber um es richtig verachten zu können, muß man es haben.« Es war kaum etwas von Frivolität in diesem Wort, mehr eine bedauernswerte Müdigkeit.

Der Lehrer regte sich nun doch. »Als in dem alten Rom alles käuflich war, gab es denn doch noch Leute, die sich selbst zu wahren und die mit einem › non dolet‹ zu sterben wußten. Dieser Geist wird auch bei uns die Herrschaft behalten. Das › non dolet‹ wird das infame › non olet‹ unterkriegen. Diese elende Gier nach Geld und Wohlleben, diese Verweichlichung in allen Lüsten, für die es nichts Schlimmeres und Furchtbareres gibt als den Schmerz – lächerlich, wenn wir mit solchem Jammergeist nicht fertig würden!«

Die ausgekühlten Augen des Jungen leuchteten nun doch zu ihm empor. Und dann kam in dem Gesicht etwas sehr Nachdenkliches auf, ein Reuevolles, ein schmerzlich Mattes und Welkes. Ein Leidendes und Bedürftiges, das Stütze und Halt suchte. Und auch ein Zorn gegen sich selbst. Erst zauderte er noch, noch hielt ihn eine Scheu, dann aber, wie bei einem, der vorm Arzt keine Geheimnisse hat und haben darf, kam es frei von seinen Lippen: »Ja, es ist ein Skandal, wie wir Jungen mit unserer Jugendkraft umgehen! Wer einmal das Laster geschmeckt hat, für den gibt es kaum noch ein Halten. Man kämpft immer wieder dagegen an – und erliegt immer wieder. Schließlich – kämpft man eben nicht mehr.«

»Wie? Das wäre noch besser! Was ist denn in diesem Kampf? Unser Wille doch! Im Innersten wollen wir es nicht! Und dieser innerste Wille, der etwas Tüchtiges und unser Freund ist, den läßt man eben nicht im Stich. Tut man nicht! Und mit ihm zusammen gibt es dann die rechte Kraft. Und Kraft – das ist es! Auf Kraft kommt es an. Hier und überall.«

Benno hörte hingegeben zu. »Und dieses Versteckte,« so rief Joachim ihm weiter ins Bewußtsein, »dieses Heimliche – daß man sich damit versteckt, beweist doch, wie man sich dessen schämt! Sie aber, diese innere Stimme – die gilt, die ist das Bessere. Und darum muß sie auch recht behalten.«

Seine gesunde und starke Zuversicht überströmte den Jungen. »Ja,« gab der ihm zu, »es ist etwas, was man ursprünglich verbirgt! Aber –« und es wuchs sein Unmut – »die Gemeinheit braucht ja wohl die Gemeinschaft und die Schamlosigkeit –« er stieß es hervor – »man bleibt damit nicht mehr in der Einsamkeit, es werden gemeinsame Orgien gefeiert. Und was man sich selbst verbietet, die andern und die Öffentlichkeit erlauben es einem, ermuntern einen und reizen einen auf. Und der Weg der Rettung von diesen gefährlichen Anfangsgründen führt nur zu der zweiten Stufe, zu den käuflichen Weibern. Man geht in die Badstübergasse.«

Schweigend hörte Joachim zu. Jedes Wort konnte hier dies offene Bekenntnis stören und verwischen. Schon daß der Junge sprach, frei von der Leber, war ein Gewinn. Darauf sich das Weitere ohne beirrenden Eingriff von selber aufbauen mußte.

»Auch hier die Käuflichkeit« – Benno war noch nicht zu Ende – »man hat dabei natürlich seine eigenen Gedanken über das Geld. Und auch, so jung man ist, über die Frau. Und wenn man dann mit reinen jungen Mädchen in Berührung kommt, bewahrt einen auch ihre Reinheit nicht. Man denkt schließlich doch wieder – auch hier – an das eine.«

Hingenommen war Joachim, bewegt von dem, was man immerhin die Tragik der Pubertät nennen darf. Und er dachte: ›Es ist so gut, daß dies alles jetzt die Offenheit sucht. Daß es nicht mehr wie früher in das Lichtscheue eines Verbrechertums sich verkriecht.‹

Benno fühlte diesen Widerhall, und er sprach weiter. Sagte, daß sein Wetten, sein Spekulieren, seine Börsengeschäfte ihn auf andere Gedanken brächten, eine Art Zuflucht für ihn wären, eine heilsame Ablenkung. Ob er aber so nicht den Teufel mit Beelzebub austreibe? Denn Spielen und Liederlichkeit wären doch nun mal nahe Verwandte. Und jagten sich dann doch wieder gegenseitig ihre Beute zu.

In Joachim schrie es auf. Das ist es, was schließlich für unsere Jugend bei den neuen Offenbarungen, dem freien Menschentum, dem großen Menschheitsdusel-fusel herauskommt! Spiel und Laster und Laster und Spiel! Menschheit hin, Menschheit her, das Vaterland brauchen wir! Das Vaterland – ja und die Waffen! Wir kommen nicht drum herum mit all den herrlichen, freien, weltbeglückenden Ideen. Der Herd und das Schwert! Das ist und das bleibt! Und das allein kann die Nöte und Süchte unserer Zeit, unserer Jugend beschwören.

Traf ihn nicht selbst ein Vorwurf! War er ein richtiger, ein verläßlicher Führer! Hatte er sich selbst nicht lässig und träge beiseite gestellt! Sich immer mehr in seine eigensüchtige Einsamkeit geborgen!

Da war das Turnen, das an dem Gymnasium ganz im argen lag. Gymnasium – Stätte der Gymnastik! Oft genug hatte er mit Papa Kornelius darüber gesprochen – aber eben gesprochen nur. Der Turnlehrer, ein bierbauchiger, herzverfetteter Phlegmatiker. Durch seine Seelenruhe geheiligt. Das Ruhige nicht bewegen! O welch ein faul-bequemes, verrottetes, gottverdammtes Wort ist dies! Hätte hier nicht längst die schüttelnde, die schmeißende, die schmetternde Faust hineinfahren und Wandel schaffen müssen! War er, Joachim, nicht der gegebene Gymnast! Ein Meister in allen körperlichen Übungen. Ein trefflicher Turner, Schwimmer, Fechter. Und so, gerade so wird er gebraucht, heute mehr als je.

Da ruft es, da schreit es nach ihm in so viel gequälten, geängstigten, verwüsteten und verzweifelten Jungenseelen. Die sich gerne befreiten, sich gerne hart und schmerzlich herausrissen aus der Erschlaffung, der Verwahrlosung, der Schwächung und Betäubung. Nur, daß die starke, feste, harte, packende Hand sich ihnen ehrlich und freudig bieten mußte!

Wie war es nur möglich, daß er so lange hatte schlafen können! Verdiente er es, daß noch so viel Jungenaugen ihm täglich so viel Anhänglichkeit, Treue, Vertrauen entgegenstrahlten! Jetzt aber, wenn je, hieß es kräftig wuchern mit diesem Pfunde!

Keinen neuen Bund wollte er gründen zu den vielen alten. In denen nur immer die ewig alte Politik, die ebenso ewig alten Weltanschauungen, so neu sie sich auch gebärdeten, wieder aufgekocht wurden. Du lieber Gott – vor lauter Weltanschauung war von der Welt schon nichts mehr zu sehen. Nicht mehr als eine freiwillige Turnriege sollte es sein – schlicht und schlecht und recht. Turnen, schwimmen, fechten sollten die Jungen. Eine eigene Schutz- und Trutzwehr sollen sie sich selber sein gegen schwüle Begehrlichkeiten und lasche Lust. Sind wir erst so weit, wird ganz von selbst der Geist sich einstellen – der Geist, den wir haben müssen und haben werden, ganz von selbst.

Eine Riege, eine Reihe. Reihe, das ist der Name, der sagt etwas. Darin ist die harte, treue Gerade. Darin ist das Standhalten und Vorwärtsstürmen zugleich.

Joachim erzählte dem Jungen von seinem Plan. Alles, was in dem gesund ist, stimmt begeistert zu. Es gibt einen Handschlag – die Reihe ist gegründet. Das Werk ist begonnen, es wird wachsen und sich vollenden.

Wie aber muß der rechte Beschützer sein für diese jungen Schützlinge? Das › sera juvenum Venus‹ – nicht vorsprechen und vorpredigen, vorleben muß er es ihnen. Auch er muß sich in Zucht halten. Auch für ihn muß die Frau über dem Sinnenkult stehen. Nicht die Phantasie der Begierde ausliefern. Hat nicht eine moderne Wissenschaft, selbst neurasthenisch, das Psychische glattweg mit dem Geschlechtlichen verwechseln dürfen!

Wieder der Frau Altäre bauen! Wie die alten Germanen im Weibe – lest nur öfter den Tacitus! – schlechthin ein Göttliches verehrten. Die Frau braucht unsere Verehrung – und unsere Verehrung braucht die Frau. Nur so kann sie wachsen und blühen! Nur so kann sie Herrin sein.

Keusche Gedanken – wie unmodern! Ich sehe grinsende Grimassen. Und auch du bist darunter, du mein geliebter Feind und Vorgesetzter, Falkner, Schulrat, schöner Mann und schöner Geist, du gesalbter Sendbote der Aufklärung und des Fortschritts.

Aber das laßt euch sagen und daran könnt ihr nichts ändern: ganz gewiß nicht in dem, was Mode ist, eben in dem, was ihr Modegecken unmodern scheltet, ist der Geist der Ewigkeit.

Du aber insonderheit, verehrter Fackelträger in meines Berufes Land, der du auch in dem Kreise meines ganz eigenen Empfindungslebens dich bewegst, das eine bitte ich dich, dir hinter die Ohren zu schreiben: du magst den Freigeist leuchten lassen so viel du willst, du magst meine Wertbegriffe und Urteile als Vorurteile belächeln – wenn du das, was mir verehrungsvoll ist, wenn du die – die, der ich mich neige, auch nur im leisesten anzutasten wagst – dann – dann schreib' ich dir was hinter die Ohren!

 

Falkner war ganz der Mann, sich ohne Säumen und kräftiglich ins Zeug zu legen, und er tat's.

Eine Konferenz war einberufen. Er entwickelte seine Grundsätze. Sprach Gutes über die Arbeit als Inbegriff, als Inhalt, als Wert unseres Lebens. Freude muß die Arbeit sein, nicht Qual. Freiheit, nicht Zwang. Frohheit statt des Frons. Die frohe, die freie Arbeit. Die ewige Frage der Weltbeglückung, so nur ist sie zu lösen. Das Ideal der Tugend, nur so ist es zu erreichen. Wo anders aber als in der Schule ist damit zu beginnen? Die zu allem den Grund legt. So haben wir sie, so ergibt sie sich von selbst, die freie Schule. Trägheit und Gedankenlosigkeit entwerfen schreckhafte Zerrbilder von ihr und tun sie in den Bann. Die erleuchtete Pädagogik aber, die da weiß, daß das immer fragende, immer suchende, nie müßige, stets beschäftigungsfrohe Kind das aktive Moment seiner eigenen Erziehung ist, daß wir in der Kindesseele selbst das große pädagogische Genie haben, und ist keines außer und neben ihm – die erleuchtete Pädagogik begrüßt in ihr jubelnd das Licht und Heil der Zukunft!

»Schnetterengtengteng!« knirschte Joachim vor sich hin zu dieser Fanfarei. Der Kampfruf aber des erleuchteten Pädagogen, die tödliche Nichtachtung all dessen, was bisher im Schulwesen geleistet war, rief den, der hier die Verantwortung trug, rief Kornelius nun doch zum Waffengang in die Schranken.

Er begann leise – er war nun mal ganz und gar kein Klopffechter – und das Kampfaustragen war für ihn nicht das leichte Klingenführen. Kämpfte er, war er bis ins Innerste bewegt, und um Sein oder Nichtsein ging es ihm. Aber bald gewann die bebende Stimme Kraft an dem Geist der Worte.

Er rückte nun schon dieser neuen Heilslehre gehörig zu Leibe, historisch und kritisch. Brachte den Nachweis, daß das Heilsame in ihr nicht neu, vielmehr als ewiges Gut wahrer Erziehungswissenschaft immer bestanden habe, freilich oft genug wieder getrübt und verschüttet worden sei. Gerade diese alte und unsterbliche Heilswahrheit aber hat niemals den Geist der Ordnung verleugnet, hat immer die Schule als ein Gemeinwesen, als einen Staat vorausgesetzt. Von Sokrates an, dessen Methode schon den fragenden Zögling in den Mittelpunkt der Erziehung und des Unterrichts stellt, bis zu Rousseau, den Philanthropen, zu Pestalozzi und Herbart, die alle dasselbe und nichts anderes wollen. »Das Fragen des Schülers, darin ist die Willkür – das Antworten des Lehrers aber ist ganz auf Willen, auf das Ziel, den Geist, auf – ich fürchte mich nicht vor den verketzerten Worten – auf Methode und geordnetes System gestellt. Ordnung – Ordnung überall das A und das O. Ordnung – Satzung – Gesetz. Und das Ganze: die sittliche Welt. Und seht ihr in Ordnung nur den Zwang – gut, so sag' ich: eine Schule ist so wenig wie irgendein anderes Gemeinwesen ohne Zwang auch nur denkbar. Wird dieser Zwang aber anerkannt – und ganz gewiß erkennen die Schüler ihn an, keiner fühlt im Grunde des Herzens besser als sie, daß sie nur so von den Lehrern beraten, geführt, beschenkt werden können – dieser anerkannte Zwang, der und nichts anderes ist eben die Freiheit. Keine andere Freiheit ist uns zugemessen. Eine freie Schule in diesem Sinne lasse ich gelten – eine andere nicht!«

Zu einer unverhohlen scharfen Absage hatte der Ton sich gestaltet. Noch suchte Falkner zu vermitteln. Obwohl er sich abgekanzelt fühlte und fühlen mußte. »Wenn ich nicht an die Möglichkeit eines Ausgleichs dächte und immer die Sache im Auge behielte, würde ich Ihnen, Herr Direktor, nicht das große, beispiellose Zugeständnis machen, das ich Ihnen jetzt biete.«

Der Ton war plötzlich kühl und amtlich geworden – alles horchte gespannt auf. »Ich bin bereit, zunächst einmal unter Ihrem Direktoriat, als Lehrer einer Ihrer Klassen praktische Arbeit in unserm Geiste vorzuführen. Eine rein theoretische Abfertigung – mit oder ohne Zuflucht zu Hegelschen Staatsideen – ehe von unserer praktischen Arbeit auch nur die ersten Anfänge wahrgenommen sind, halte ich nicht nur sachlich für vorschnell, sie ist auch rein geschäftsmäßig betrachtet nicht statthaft, da die oberste Behörde die praktische Erprobung, um nicht zu sagen Durchführung dieser Bestrebungen wünscht.«

Das war nun doch – über jenes förmliche Entgegenkommen hinaus – die Kriegserklärung in aller Form. Hier ging es jetzt hart auf hart, hier hieß es nichts weiter als schwarz oder weiß. Kornelius Boldewiek stand da, erhobenen Hauptes. »Mit Ihrem letzten Worte, Herr Ministerialrat, ist die Lage restlos geklärt. Die ›Durchführung‹ Ihrer Bestrebungen ist die Losung. Heißt also: der Hebel wird herumgeworfen, ein ganz neuer Kurs soll aufgenommen werden. Ich steuere ihn nicht. Und teilnahmslos auf der Kommandobrücke stehe ich nicht. Das würde ich aber müssen, wollte ich Ihnen das Zugeständnis machen, von dem Sie sprachen. Damit würde vielleicht der Tatbestand verschleiert. Bestehen aber bliebe, daß ich damit aufhörte, Herr im eigenen Hause zu sein. Der Herr wären Sie, der Beauftragte der obersten Behörde. Wie grundverschiedenen Geistes wir sind, hat mir zur Genüge Ihr öffentlicher Vortrag bewiesen. Was Sie wollen, mag gut sein – ja, Sie mögen dasselbe erstreben, was wir zu erreichen uns bemühen. Ihr ›Wie‹ aber legt für mich alles in Trümmer. Dies ›Wie‹ ist die Vernichtung. Vernichtet aber ist grade genug bei uns. Fängt man nicht – Gott sei Dank! – schon wieder an, unter dem Schutt nach den alten Grundmauern zu suchen? Dabei zu helfen ist meines Amtes. Der fortschreitenden, bewußten Auflösung in meinem Hause – oder in dem von mir verwalteten Hause – eine Stätte zu bereiten darf man mir nicht zumuten. Ich lege also die Verwaltung nieder.«

Eine Bewegung ging durch das Kollegium. Forschend wandelten Falkners Augen über die Gesichter. Länger verweilten sie auf Joachims Zügen, die wie in Erz gegossen waren. Dann sprach er hart und hell: »Also Reaktion um jeden Preis.«

»Nennen Sie es wie Sie wollen.« Etwas Herablassendes hatte Kornelius Boldewieks Handbewegung. Falkner fühlte sie als Backenstreich. Und jetzt geschliffen und schneidend: »Soll ich offiziell Ihre letzte Erklärung als Entlassungsgesuch zur Kenntnis nehmen?«

»Ich bitte darum.«

»Diese Wendung der Dinge bedauere ich. Aber Halbheiten sind so wenig in meinem Sinne wie in Ihrem.« Dann mehr zu dem Kollegium gewandt: »Die Behörde steht allerdings jetzt vor der Frage, ob sie das Sommerhalbjahr noch als vorbereitendes Interimistikum verstreichen lassen will, ob dann zum Herbst volle Arbeit getan werden soll, oder ob wir sofort in die neue Bahn einlenken. Ich persönlich bin nicht für Interimistika.« Er verkündete es mit Haltung. »Aber ich muß zunächst einmal im Ministerium berichten. Durch den Draht natürlich. Morgen schon kann die Entscheidung hier sein. Bis dahin darf ich mich empfehlen. Ich denke, die Herren bedürfen heute meiner nicht mehr.«

Sein Ton hatte die ganze Verbindlichkeit wieder gewonnen. Er gab erst dem Direktor, dann jedem einzelnen der Herren die Hand und ging.

Wie eine Betäubung lag es zunächst auf den Zurückgebliebenen. Nur Kornelius stand frei und gehoben da, und Joachim war längst dabei, seine Gegenmine zu legen.

Er sprach denn auch gleich. »Solidarität, meine Herren – das Wort ist übel geworden und hängt einem längst zum Halse heraus. Aber der Sinn bleibt gut. Und wenn irgendwo, hat es hier Sinn. Sinn und die Kraft und den Sieg! Aber bitte um des Himmels willen keine von diesen faulen papiernen Vertrauensvoten für unsern verehrten Herrn Direktor! Ein geschlossenes Zusammengehen mit ihm auf Gedeih und Verderb! Auf Gedeih natürlich! Was glauben Sie, was das für eine Wirkung tut, wenn wir hier in corpore erklären: für uferlose Experimente geben wir uns nicht her! Gegen eine Zerrüttung dessen, woran wir schaffen, lehnen wir uns auf! Sie sollen sehen, was die Welt dann aufhorcht! Und vor nichts hat die Behörde mehr Angst, als vor aufhorchenden Ohren! Hängende Ohren sind ihr Element. Wir aber – was Kollegen? – wir lassen die Ohren nicht hängen! Aufrecht! Und aufrecht, in Reih und Glied mit unserm Direktor Kornelius Boldewiek! So sind wir die Geister los, die wir nicht riefen, und das Feld bleibt unser!«

Der alte Herr sah ihm ins Gesicht mit feuchten Augen. Dann forschten sie über die Lehrerschaft hin. Sie fanden, was sie vermutet hatten: hier wohl tapfere Augen und gestraffte Nacken, da aber gesenkte Blicke, abgewandte Köpfe, geduckte Rücken. Haben über diese nun doch die »neuen Ideen« Macht gewonnen? Oder ist es nur das alte Weltenbild? Ja, ja – Mensch bleibt Mensch, und überall die arme geängstigte Kreatur, armselig und zum Liebhaben, so spricht seine Güte.

Milde winkte er ab. »Ich danke meinem Freunde Joachim Braß für seine Gesinnung. Aber Sie alle wissen, wie Kundgebungen – welcher Art sie auch seien, mir im Innersten widerstreben –«

»Keine Kundgebung,« rief Joachim dazwischen, »eine Schlachtordnung zum Kampf und zum Sieg! Die Sache will es.«

Nun legte der Alte doch die Finger in die Wunde. »Aber ich – ich will keine Gewissenskämpfe, keinerlei Opfer, keinerlei Märtyrertum – und es würde selbstverständlich ohne das nicht abgehen.«

Joachims Ungestüm hatte nun auch innegehalten, er hatte blitzschnell das Gehabe der Gefährten gemustert und sagte sich selbst, daß eine frohe Einheitsfront hier schwerlich zustande kommen würde. Noch glaubte er an die fortreißende Macht eigener Sturmkraft – während Kornelius entscheidend sich so vernehmen ließ: »Nein, meine Herren, wir müssen die Sache anders anfassen. Der Sieg, an den Herr Professor Braß denkt, würde, auch wenn er wirklich uns zufiele, nur ein äußeres Zurückschrecken der Gegner sein, nicht ein inneres Überwinden ihrer Maßregeln – seien sie auch ohne Regel und Maß. Und darauf kommt es doch an. So weit sich aus ihnen nicht doch diese oder jene Anregung gewinnen läßt. Eben dafür aber sollen Sie alle auf der Wacht bleiben. Und – wie man sagt – getrost die Sache an sich herankommen lassen. Gerade weil es um die Sache geht. Und weil es hier ein Gut zu wahren gilt. Wahren Sie es, jeder nach bestem Wissen und Gewissen. Sie alle haben noch kein Recht, müde zu sein, ich aber habe es.«

Nun wandte er es so, und entlastete vollends die flauen, die laschen, die kläglichen Seelen unter ihnen. In Joachim und den Starken wallte es auf. Schon aber schloß der Direktor die Konferenz. Und erleichtert, mit der Miene des Mannes, der seinen Todesmut wohlverwahrt im Busen trägt, ging manch einer von dannen, den Joachims »Drauf!« in peinliche Bedrängnis gebracht hatte.

Kornelius und Joachim sitzen noch zusammen. Joachim schilt: »Sie haben den Feigen eine Brücke gebaut.«

»Tat ich das, so geschah das nebenher. Das Wesentliche ist, daß ich Ihre Kampfmethode nicht billigen kann, lieber Braß. Natürlich hätte ich lieber zum Abschied – nicht so manches lange Gesicht gesehen. Aber wäre das Gegenteil schließlich nicht doch rein dekorativ gewesen? Im Grunde haben diese Bedenklichen recht.«

»Recht – ja, sie haben ihr Amt und darum haben sie keine Meinung!«

»Lieber Joachim – betrachten Sie einmal nüchtern die Folgen. Falkner sieht uns doch nicht darnach aus, als ob er mit sich spaßen ließe. Auf Unbotmäßigkeit aber steht Dienstentlassung. Wären Sie, damit das große Aufsehen vermieden würde, nicht allesamt geflogen, man hätte Sie einzeln vielleicht versetzt und dann abgehalftert. Unser altes Gymnasium von St. Jürgen aber wäre auf alle Fälle verwaist und verweht! Lassen Sie hier in Gottes Namen den neuen Geist einziehen – und sich selbst ad absurdum führen. Aber vielleicht führt er uns ad absurdum –«

»Glauben Sie das?«

»Nein. Doch trag' ich ja die bekannten ›Scheuklappen der Reaktion‹. Vielleicht auch sind meine alten Augen in der Tat zu schwachsichtig, um das Kanaan zu sehen.«

»Und beim Abschied bleibt es?«

»Ja.«

 

Betti Huswädel war auf dem Kirchgang. Den erlaubte ihr der Vater, von dessen romantischen Verführungsreizen ahnte seine nüchterne Protestantenseele nichts. Das Gesangbuch in der Hand seines Kindes galt ihm als sicherer Talisman.

Jawohl! Sie ging die Marienstraße nicht zu Ende, nahm den Weg nach dem alten Tor und bog dann in die Anlagen ein. Dort an der Teufelskuhl, einem kleinen, geheimnisvollen, von den buschigen, alten Wallgräben umhegten See setzte sie sich auf eine Bank. Und wartete.

Nicht lange, da kommt Benno mit seinem lässigen Schritt um den leuchtenden, blütenstrotzenden Fliederbusch auf sie zugegangen, bricht einen Zweig – ganz nahe steht die große Warnungstafel: »Das Abbrechen von Blüten und Blumen in den Wallanlagen ist strenge verboten und wird unnachsichtig bestraft« – und deckt zum Gruß ihr das Gesicht mit dem süßbetäubenden Frühlingsduft.

Dann küßt er sie. Und dann – so hart nebeneinander wohnen Poesie und Geschäftssinn in seiner Brust – holt er seine Brieftasche hervor und gibt ihr zwei Banknoten. Mit großen Augen starrt sie auf die Scheine. »Dollars!«

»Nun ja.« Sie hat ihm neulich gesagt, daß sie noch niemals einen Dollar in der Hand gehabt habe. »Dein Gewinn.«

Ihr schlägt das Herz immer höher. Er aber singt recht lasterhaft vor sich hin:

»Die Lotten, Liesen und Luisen,
Sie alle lieben die Devisen.«

Es gärt in seinem Blut. Der nahe Stadtwald lockt herüber mit seinen dunklen Tannen. »Ich gehe jetzt nach Seedorf,« sagt er und wehrt sich.

»Jetzt?«

»Ja. Fortinbras mit seiner Reihe wirkt da heute herum. Wettrudern. Vielleicht auch Wettsegeln. Seit unsere Zukunft im Wasser liegt, müssen wir sie eben da wieder herausholen.«

Sie weiß wieder nicht, was bei ihm oben auf ist, Spott oder Ernst. Noch hofft sie über Fortinbras zu siegen. »Wer weiß, wann ich wieder einmal Zeit habe.«

»Das kann ich dir sagen, dein Vater Huswädel mit seinem Klosterverlies und sonstigem finstern Mittelalter – unter Kornelius, der selbst noch weiter zurück im höchsten Altertum hauste, ging ja so etwas. Aber jetzt, wo Falkners Adalbert hier Licht in die Bude bringt –«

»Vater sagt, der will jetzt selbst hier Direktor sein.«

»Will er. Der Welt soll was gezeigt werden. Mir kann es ja recht sein, daß es mit der alten Penne jetzt ein Ende hat. Mit all der Schusterei und Schufterei. Herrgott, könnte ich's gut haben. Der Mann ist Freund in unserm Hause. Aber das eine muß ich ja sagen – mein Herz hat nichts mit ihm zu schaffen, das ist nun mal mehr für Fortinbras. Und das Herz ist ein Muskel, mit dem sich nicht spaßen läßt. Was, Bettina?«

Er küßt sie. Aber mehr von oben herab, mit der Miene des Mannes von Welt. Und in dieser Überlegenheit findet er seine Haltung. »Ich hab's versprochen – Fortinbras ruft, die Reihe, der Tugendbund!«

Aufspringt er, winkt seinen Gruß, eilt von hinnen und läßt sie sitzen – den Fliederbusch, den Frühlingsduft in der einen Hand, in der andern die Dollarnoten. Zornig wirft sie den Duft von sich, dem » non olet« wendet ihre Zärtlichkeit sich zu. Dies ist was bleibt. Dies bleibt was ist. Dies ist Macht, dies ist die Weisheit des Lebens.

Sie dachte an die Herrlichkeiten der Welt und der Kaufhäuser, die ihr jetzt untertan waren. Und lüstern spielte sie mit dem Grauen: wenn Vater von ihrem Reichtum wüßte! Von ihrer geschäftstüchtigen Freundschaft und Liebschaft mit Benno. Sie schauerte, eine Verbrecherin. Und durch ihr aufgewühltes Blut flammte die Sehnsucht nach dem Freund.

Benno indessen ging auch nicht so ganz gleichmütig seines Weges. Mehr als einmal war er im Begriff umzukehren. Auch durch seine Phantasie wehte die Dollarnote.

Was war das für ein Flimmern und Glimmern in ihren Augen gewesen, grünlich und grell, das auf die zauberhaften Geldscheine sprühte. War das nicht Gier – nichts anderes, nichts besseres, als was in den Weibern der Badstüberstraße rumorte!

Und der junge Wüstling in ihm ward rege und zog herab und fand in der Gemeinheit seine Reizungen.

Ist Weib nicht Weib! Was macht er denn lange Federlesens! Was dalbert er sich in solch eine Schwärmerei für dieses kleine Bürgermädel hinein! Was putzt er diese Liebschaft platonisch sich auf! Wer weiß, ob das kleine Frauenzimmer ihn nicht auslacht!

Das gab ihm einen Zuck und Ruck – an einem Haar hing es, und Fortinbras war vergessen. Aber das Haar hielt. Ein Sauberes, Festes und Kraftvolles in ihm gewann den Sieg. Er schritt den Feldweg weiter durch wogendes Korn. Über ihm war Lerchengesang. Er freute sich auf die See, freute sich auf die Frische, auf gespannte Kraft und wagemutiges Tun! Zum Henker mit der schwülen Laschheit und müden Süße!

Vor ihm eine Gruppe von Jungen strebte demselben Ziele entgegen. Bernhard, Dibrand, Fritz Prüter, Hans Weinhold und ein paar andere. Sie debattierten natürlich.

Jetzt hatte Hans das Wort, er war hier nur mit halbem Herzen dabei, eigentlich hatte ihn nur die Neugierde seines spitznäsigen Busenfreundes Prüter der Reihe zugeführt. Er fühlte schon, daß seines Bleibens nicht sein würde. Seinen Hedonismus predigte er. Sein Überschwang suchte vielmehr bei Falkner das Seelenheil.

»Eigentlich habe ich ja mit Fortinbras ganz und gar nichts gemein. Und was soll diese plumpe Athletik.«

»Warum bleibst du denn nicht zu Hause!« rief Dibrand kurz.

»Wenn es nicht Fortinbras wäre –«

»Ach!«

»Er hat nun mal was!«

»Wirklich!«

»Und dann hofft man doch immer, daß er selbst endlich da mal herauskriecht – aus der Philisterei, aus dem alten Ehgestern.«

»Ihr großartig Zeitgemäßen!« rief Bernhard dazwischen. »Bildet euch bloß nicht zu viel ein.« Und er deklamierte:

Ihr Leute
von heute,
was ist eure Beute?
Aus Restern
von gestern
das Morgen
zu borgen!«

»Daran könnt ihr nun nichts ändern, Falkner ist Trumpf. Und ich begreif' euch nicht! Was habt ihr, gerade ihr immer gegen die Fuchtel räsoniert! Aber jetzt, wo ihr sie noch nicht einmal los seid, rutscht ihr schon wieder betend vor ihr auf dem Bauch.«

Jetzt gesellte sich Benno zu ihnen. Dem Klassenbewußtsein der Primaner, das ihn, den Tertianer, ablehnen wollte, hatte seine thronende Gelassenheit sich längst gewachsen gezeigt. Jetzt nahm ihn mit mancherlei Fragen die Neugierde in Anspruch: er sollte von Falkner, mit dem er so gut bekannt war, Näheres erzählen.

Mit seiner kühlen Welterfahrung sah er auf die andern herab, die alle viel mehr Schuljungen waren als er. Er war erhaben über ihre Sorgen und konnte die Gefährten von oben abkanzeln.

»Ich weiß nicht, was ihr euch so aufregt. Schule bleibt immer Schule. Und Schulmeister bleibt Schulmeister. Ob Adalbert Falkner oder Kornelius Boldewiek. Wenn es den neuen Onkels wirklich ernst ist mit dem, was sie reden – von Freiheit des Kindes und so weiter – dann beanspruche ich zunächst einmal für mich die Freiheit der Wahl, ob ich überhaupt zur Schule gehen will oder nicht. Sonst ist das alles doch bloß Geschwafel.«

Zu diesem erhabenen Nihilismus machte sogar Hans Weinhold, der schrankenlose Hedonist, seine größten Augen.

»Wenn ich schon von freier Arbeitsschule reden höre!« ließ Benno sich weiter vernehmen, er war in der Geberlaune. »Frei und Arbeit – als ob irgendein Mensch auf der Welt freiwillig arbeitete! Frei und Schule – schulfrei kann man wohl sein. Aber freie Schule ist doch derselbe Schwindel wie freier Zwang.«

Nun stieß auch Hans in sein Horn, und er blies es mit Macht. In Zuckungen läge die Zeit – aber Freiheit und Freude würde sie gebären. Das Glück, sein Leben voll auszuleben, jedem Gefühl und jedem Gedanken Wesen zu verleihen – unserm Geschlecht würde es beschieden! So würden wir noch hinauswachsen über das hellenische Ideal! Endlich würden wir aufhören, uns vor uns selbst, vor unsern eigenen Empfindungen zu fürchten. »Die große Offenbarung lautet, daß jedes unterdrückte Gefühl, das in unserm Innern schwären, das unsern Geist vergiften muß, Sünde ist!«

»Hoch genug gehst du ja in die Luft –« bemerkte Benno, er lachte ihn innerlich aus und freute sich des Dämpfers, den er draufsetzte. »Aber wenn du glaubst, daß Adalbert mit dir fliegen wird –! Pauker, und wenn sie auch noch so ausgelassen tun, Pauker fliegen nicht. Und dann hast du doch wohl gehört oder gelesen – belesen bist du ja wie einer, aber ich kann dir auch eine Pille drehen: die wildesten Freiheitsmänner sind noch immer die größten Tyrannen gewesen!«

Für all solche Klugschnakerei der Gelbschnäbel war dann, als sie erst bei Joachim waren, kein Platz. Knochen und Muskeln wurden herangenommen. Die roten Blutkörper fraßen das blasse Spintisieren. Hier war alles Sache und Sachlichkeit, Entschlossenheit, Handeln und Wagen.

Gleich ging es ans Werk. Ein Wettrudern sollte das erste sein. Nicht auf spitzen, nadelfeinen Rennbooten – die hatten sie nicht und die brauchten sie auch nicht. Die schweren, plumpen Fischerkuffen taten es auch, ja sie taten mehr, denn sie machten mehr Mühe. Geschwindigkeit aber ist etwas Relatives. Und der erste ist Sieger in Stunden so gut wie in Sekunden.

Hier vor Joachims Vaterhaus ist der Start. Dort drüben die Landzunge ist das Ziel. Fortinbras kann Starter und Zielrichter zugleich sein. Es ist guter Wind für sein kleines Segelboot, er kann noch unterwegs die Kämpfenden überwachen und lange vor ihnen das Ziel erreichen.

Joachim war schroff und kurz angebunden, Hans Weinhold und Gesinnungsbrüder mit ihren Lustbegriffen vom Leben sträubten mehrfach ihr Gefieder. Die »Reihe« war ziemlich dünn geblieben, das war dem Führer eine Enttäuschung. War es noch das Rechte mit seinen Jungen, mit der deutschen Jugend? Ließen sie nicht jetzt von der Nähe des neuen Scholarchen wie von einem erschlaffenden Schirokko willig sich anwehen?

Und wieder schwirrte über seines Sinns gespannte Saiten das Wort des Bruders: Was gehen dich fremder Leute Kinder an! Und hier, wie wob um ihn die Heimat ihre alte Macht, wie zog und lockte die See. Und den Männern hier fehlte der Leiter.

Es wird ja doch nichts mit den Jungen – nicht das, was er will. Er hat auf eine begeisterte Schar gerechnet – nun kommen sie mit langweiliger Geschäftsmäßigkeit, aus trockenem Pflichtgefühl die einen, aus Neugierde die andern –

Herrgott, er selbst ist doch auch ein Kind dieser dürftigen, spröden Zone, und wie flammt es in ihm! Eigentlich nur in Dibrands Augen ist die Freude entzündet. Bei Benno, auf dessen Züge sich seine Blicke suchend, beinahe bittend legen, ist wieder diese niederträchtige Gleichgültigkeit obenauf, von der man nicht weiß, ob sie nicht als Blasiertheit mit sich selber kokettiert. Und Fritz Prüters, des greisenhaften, schnüffelnde Nase – hat sie nicht alle Anwartschaft, mit einer deftigen Faust in Berührung gesetzt zu werden!

Schon aber spürt er, wie seine eigene Unlust, sein Übelwollen, das Verdrossene, Verbohrte und Abgekehrte auf den Sinn der Jungen sich wälzt und sie selber einriegelt in ein Mißtrauen, eine Verstecktheit. Was hat er doch damals auf dem Vortragsabend vom Lebensrhythmus zwischen Erzieher und Zöglingen für schöne Dinge zu reden gewußt! Und jetzt ist er wieder dabei, die eigene Losung, den eigenen Wappenspruch, das eigene Bekenntnis zu verleugnen.

Er richtet sich auf, steckt den Kopf heraus aus dem Dunst. Und an den aufleuchtenden eigenen Augen entzündet er den Jugendmut seiner Gefolgschaft.

Die Glieder gerührt, heißt es. Die Jungen sitzen in den Booten. Kraft und Geschicklichkeit ist, so gut es geht, verteilt. Fünf Fahrzeuge sind es mit fünf Insassen – vier rudern, einer steuert. Der Wind, ein leichter Südwest, fällt ihnen in die Flanken, übermütig stoßen die kleinen kurzen Wellen. Arbeit gibt es schon.

Nun los! Mit federnder Kraft legen die jungen, geschmeidigen Körper sich in die Riemen.

Joachim und Dibrand, den er als Gehilfen sich erkoren, bringen das Segelboot in Fahrt. Bald überholen sie die Rudernden, kreuzen noch ein paarmal vor ihnen auf und erwarten sie dann am Ziel.

Das Boot, das Benno steuert, ist das erste. Herzlich froh ist er seines Sieges. Wie aber freut sich Joachim des rotbäckigen Jungenglücks auf diesen Zügen! Wie viel näher rückt ihm der Junge so, mit dem starken Bewußtsein eigener Kraft und eigenen Könnens. Wie durchdringt es ihn, daß er ihn so richtig an die Hand genommen hat, daß er so mit ihm auf dem guten Wege ist.

Und dann wurde eingehend Kritik geübt, nicht von ihm allein, auch von den Jungen unter sich. Die Boote wurden an Land gezogen. Darauf ging es zur Rast und zu kurzem Frühstück nach der andern Seite der Landzunge, die bewaldet war.

Ein nordischer Urwald. Riesen vom Windbruch geschlagen, vom Blitz getroffen und doch nicht gefällt. Trotzig recken die Stämme mit den verharschten Wunden, den wulstigen Auswüchsen ihre Kronen himmelan. Felsen kauern zu ihren Füßen. Um Steine klammern sich ihre Wurzeln. Unter den niedrigen Vorposten nach dem Wasser zu, den Weißdorn- und Schlehdornbüschen, den Birnbäumen ragen als hohe Führer wettergefurchte, sturmzerzauste Eichen. Sie fürchten das Meer nicht, ob es ihre Füße umbrandet, ihr Wurzelwerk unterwäscht. Dahinter mächtige silbergraue Weißbuchen, domartig gewölbt. Und geschützt im Innern Rüstern, Ahorne, Vogelkirschen. Auf dem Waldboden aber, die bemoosten Findlinge umsäumend, weite Farngründe, menschenhoch.

Joachim erzählte den Lagernden von einzelnen Bäumen, den Vertrauten seiner Kindheit. Den Adlerbaum zeigte er ihnen, auf dem er selbst noch den Seeadler, den jetzt fortgewanderten, hatte horsten sehen. Auf eine Seltenheit wies er. Zwei zärtliche Schwestern unter den Buchen, die eine hat den Arm um die andere so innig gelegt, daß allmählich dieses Glied ganz mit ihr verwachsen ist, von seinem Stamme sich gelöst hat und auf dem neuen weiter grünt.

Dies alles ohne Lehrhaftigkeit. Er wollte hier nicht geistig werden. Natur und Körperlichkeit hatten ganz das Wort.

Die Sonne fing an, es gut zu meinen. Die See war noch kalt, treibendes Eis im Norden trotzte noch immer dem Frühling. Aber Joachim erhob sich. »Jungens, wollen wir baden?«

Ein laut einstimmiges »Ja!« Niemand hat Badezeug bei sich. Was tut's? Sonne und Wind müssen trocknen. Freiluftmenschen sind sie. Sonnenkinder.

Gleich sind sie entkleidet. Über die weiße Seide der leuchtenden jungen Körper knistert die Sonne. Sie stürzen sich in die Flut, schlagend, spritzend, sprühend.

Die blauen und grünen Tinten des Wassers fliegen auf in Schaum und ziehen flatternde Regenbogenschleier durch die Luft. Es ist ein Mittagsjubel des Lichts und der Farben. Die Schwimmer streben hinaus in die Flut. An den weißen Schultern zerstieben jauchzend die leuchtenden Wellen.

Bitterkalt ist das Wasser. Das Schaudern und Zähneklappern befreit sich in frohem Kreischen und Brüllen und Schreien. Deutsche Jungenkehlen – die Nereiden entfleuchen. Poseidon hält sich die Ohren zu.

Und dann zur Sonne, der guten, liebenden! Im Sande liegen die glitzernden Körper, auf den warmen Felsblöcken hocken sie, zu Füßen der ungeschlachten, tappig und treu hütenden Eichbäume, der uralten Wächter des Strandes.

Die heroische Landschaft, belebt von jungen Heldenleibern. Deutsche Jugend, so will ich dich, so glaube ich an dich! Joachim atmet freudig und tief.

Der schläfernde Mittagsglast kost über sie hin. Wohlig strecken sich all die flimmernden, schlanken Glieder. Und alles blinzelt träumend in die lichtbebende Welt.

Lauschend hinter einer machtvollen Esche steht der große Pan. Er hat seine stille Freude – dann und wann spielt er halblaute Weisen auf seiner Hirtenflöte, die mit den Vogelstimmen sich mischen. Jetzt aber, da ihn offenbar die spitze Nase von Fritz Prüter wittert, der ihm zunächst lagert, und wie dann der Junge, gleichsam ihm zur Feier, homerische Verse, wenn auch halblaut und halbdrusend zu deklamieren anfängt, jetzt nimmt er Reißaus. In panikartiger Flucht tragen den großen Pan seine Bocksbeine über Stock und Stein, und er zerreißt die zarten Gespinste der Mittagsgöttin.

Die Schleier fallen von den Träumenden. Joachim, der sich wieder anzieht, bringt sie nun alle auf die Beine. Eine kurze Rast soll noch gehalten werden, dann wollen sie zurückfahren und im Dorf Mittag essen.

Ein Teil der Landzunge ist altes Braßsches Familiengut. Hier ist früher eine kleine Bootswerft in Betrieb gewesen, Joachim hat als Junge hier selbst die Hände gerührt und mit welcher Freude! Jetzt geht ihm etwas auf. Wie, wenn seine Jungen hier eine Arbeitsstätte sich schüfen!

Der lahme, lustlose Handfertigkeitsunterricht in der Anstalt – kaum aufgeblüht, ist er schon wieder verwelkt. Hier aber ist Freiluftwerk. Daß die Jungen handwerken, frei und freudig, wie eine Erlösung ist das! Und daß eine werktätige Gemeinschaft sie zusammenschließt – keine bessere Grundlage für die staatliche, die nationale Erziehung. Wahrlich, nichts Neues ist dies. Aber wahrlich was Gutes.

Er spricht mit Bernhard, der eines Schiffszimmermanns Sohn ist, der nicht daran denkt, seine Abstammung zu verstecken, und der hier gern Zusammenhänge gelten läßt. Mit ihm und den meisten der Schar macht er einen Weg über den alten Werftplatz.

Eine kleinere Gruppe, um Hans gelagert, ist ästhetisch aufgelegt. Auch Benno ist unter ihnen, den seine Neigung, an Weinholds schwärmender Schöngeistigkeit sich zu reiben, hier festgehalten hat.

Hans deklamierte ihnen sein neuestes Lied. Von einem Mädchen, rosenumgürtet. Rosenumgürtet – das war das Bild, das über allem thronte wie der leuchtende Glorienschein – rosenumgürtet, in jedem Rundreim sang und klang es so.

Sie hörten zu, verschiedenen Sinnes, bezwungen, hingegeben, gelangweilt, widerstrebend. Hans hätte das Publikum Publikum sein lassen sollen und nicht, wenn auch noch so leise tastend, an die Kritik rühren. Jetzt aber, da er das Urteil hervorzulocken, die Frage tat: »Ich hab' noch keinen Titel – wie soll ich dies Lied nennen?« – da funkelte in Bennos Schlingelaugen die Niedertracht auf. »Nenn es: das Mädchen mit der Gürtelrose. Hab' ich auch einmal gehabt. Böse neuralgische Schmerzen – hohes Fieber. Ekelhafte Packungen. Armes Kind.«

Der gekränkte Dichter, der sich schnaubend vor dem also Sprechenden aufgepflanzt hatte, fand erst allmählich die Worte, aber die waren dann auch danach: »Bist du überhaupt gefragt! Gehörst du überhaupt hierher! Du dummer Tertianer du! So dumm wie frech!«

Benno blieb noch auf der Höhe, wenn es in seinen Schläfen auch zu zucken begann. »Für die Gescheitheit eines Menschen geben dir also doch die Schulklassen den Maßstab. Wie reimt sich aber das mit dem, was du, gerade du immer predigst von unserm ganzen Schulsystem –«

»Glaubst du, ich lass' mich mit dir auf Erörterungen ein?« Er schäumte, da er sich unterlegen fühlte. Und er hob den Arm. »Dies ist das Sprachrohr für dich und deinesgleichen.«

Benno war auf die Füße gesprungen. Die feinen Nüstern standen gebläht, in den Augen war ein grausamer Glanz, in der rechten Schläfe hob sich die blaue Ader wie ein Strang. Auf der geschürzten Oberlippe war unsägliche Verachtung. Er wollte nicht schimpfen, aber die gehobene Hand brachte ihn um die Fassung. Und von seinen Lippen kam es, ohne jeden Stimmaufwand, hart und hell: »Das Sprachrohr des Proleten!« In dem Tone war etwas von einer Klinge, der weiche Phantasiemensch in Hans bebte zusammen.

Schon aber hatten sich die Verständigen ins Mittel gelegt. Und Fritz Prüter sprach mit seiner dünnen, geistigen, geschlechtlosen Stimme: »Keine Katzbalgereien im eigenen Heerlager!« Und mit trockner Ironie: »Der Feind steht draußen.«

Die Bewegung indes hatte ihre Wellen zu Joachim und seiner Schar hinübergesandt. Sie standen nicht weit, nun kamen sie näher.

Joachim sah diesen fremden, geschärften wie geschliffenen, eigentümlich grausamen Ausdruck in Bennos Gesicht. »Was wird denn hier?« fragte er.

Scheu vor der Instanz, die er doch immer war, und die Angst vor jeglicher Angeberei hielten die Zungen im Bann. Dann sprach Fritz in seiner farblosen Art: »Eine Meinungsverschiedenheit.«

Joachim musterte die beiden. Er sah auf den ersten Blick, daß es ihnen an die Ehre gegangen war. Er wußte, daß es bei den Jungen nur eines gab, was dem drohenden Gift den Einlaß wehren konnte: ein schnelles, ehrliches Austragen der Feindschaft.

»Es wühlt sich da etwas in euch hinein – schafft euch das in redlichem Männerkampf vom Halse!«

Die beiden werfen wie auf Kommando die Oberkleider ab. Zum Ringkampf treten sie an. Der Kreis schließt sich, zu Richter und Unparteiischen sind Dibrand und Bernhard als anerkannt sachkundig bestellt.

Beide Kämpfer sind keine geschulten Ringer, aber sie wissen, worauf es ankommt. Kurz schärft Dibrand ihnen noch einmal die Regeln ein. Bernhard befiehlt: »Los!« Und die beiden suchen sich zu packen. Noch schlagen die Hände die Griffe zurück, dann halten die Körper sich umschlungen. Hans, der schwerere, wuchtigere, sucht Benno das Kreuz durchzudrücken. Er ist auch der Ältere – und fanatisch ist seine, des Phantasten, Eitelkeit.

Durch Benno braust es von ehrlichem Haß auf den Gegner, der es gewagt hat, die Hand gegen ihn zu erheben. Das Ringen genügt ihm nicht, die Waffen hätten sprechen, Blut hätte es geben müssen. Aber unter ihn, auf den Boden soll der Bursche. Knien will er auf ihm. So wild und zornig ist sein Wille.

Doch gesammelt und besonnen ist seine Kraft. Hans verpufft sich in allzu heftigen, nutzlosen, einseitigen Versuchen. ›Wenn du weiter nichts weißt, als dies eine!‹ denkt Benno, den nie sein Urteil, seine geistige Schnellkraft verläßt. ›Immer dasselbe, du Sturmbock, du Stumpfbock! Willst du mich müde kriegen? Dich machst du mürbe. Und dann sollst du sehen.‹

Er knirscht seine Besonnenheit in sich hinein. Und dann ist es soweit. Hans hat sich gründlich verausgabt. Das weiche Dichterherz ist im Erlahmen. Benno aber atmet schnittig, strittig und hart. ›Jetzt kriegen wir dich, jetzt haben wir dich – geliebter Hedonist du! Hedone heißt ja wohl das Vergnügen – dein Vergnügen sollst du haben!‹

Benno bekommt glücklich den Untergriff – der Feind liegt am Boden, seine rechte Schulter rührt den Rasen. Sieg!

Mit flüchtiger Noblesse bietet Benno dem Überwundenen die Hand. Dann dreht er ihm den Rücken. Die ganze Angelegenheit entfernt sich schon von ihm. Auf dem Triumph herumreiten, das liegt ihm nicht. Doch freut ihn immerhin der Erfolg.

Joachim aber blickt mit Genugtuung auf seinen besonderen Schützling und das, was er vor sich gebracht hat. Ganz in seinem Sinne wird so das Land gepflügt für gesunde Saat. Doch hütet er sich wohl vor Lobeserhebungen, nur ein fast selbstverständliches »Wacker!« steht in seinem Auge.

Und dann ist es beschlossene Sache, daß sie beide am Nachmittag die Mutter aufsuchen.

* * *

 


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