Arthur Conan Doyle
Das Abenteuer des Roten Kreises
Arthur Conan Doyle

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Zwei

Als wir schnell die Howe Street hinuntergingen, warf ich einen flüchtigen Blick zurück auf das Haus, das wir verlassen hatten. Dort, am oberen Fenster, schemenhaft umrissen, konnte ich den Schatten eines Kopfes sehen, den Kopf einer Frau, angespannt und starr hinaus in die Nacht blickend, mit atemloser Spannung auf die Erneuerung der unterbrochenen Nachricht wartend. Am Eingang zur Wohnung in der Howe Street lehnte sich ein Mann gegen das Geländer, eingehüllt in Halstuch und Kapuzenmantel. Er machte sich auf, als das Licht im Eingang auf unsere Gesichter fiel.

»Holmes!« rief er.

»Wie das, Gregson!« sagte mein Begleiter, als er dem Detektiv von Scotland Yard die Hand schüttelte. »Der Tag endet mit der Zusammenkunft des Liebespaars. Was bringt Sie hierher?"

»Die selben Gründe, die Sie herbringen, schätze ich,« sagte Gregson. »Wie Sie darauf kamen kann ich mir allerdings nicht vorstellen.«

»Über verschiedene Fäden, die aber alle zu demselben Knäuel führen. Ich habe die Signale aufgenommen.«

»Signale?«

»Ja, von diesem Fenster. Sie brachen mittendrin ab. Wir kamen herüber um den Grund herauszufinden. Aber da die Sache ja sicher in Ihren Händen liegt, sehe ich keinen Grund, uns weiter in diese Angelegenheit einzumischen.«

»Warten Sie noch!« rief Gregson eifrig. »Ich muss gestehen, Herr Holmes, dass ich bisher noch bei keinem Fall einen so starken Wunsch hatte, Sie an meiner Seite zu haben. Es gibt nur den einen Ausgang für diese Wohnungen, deshalb ist er uns sicher.«

»Wer ist er?«

»So, dieses Mal haben wir Sie ausgestochen, Herr Holmes. Dieses Mal müssen Sie uns den Vortritt lassen.« Er schlug seinen Stock hart auf den Boden, worauf ein Droschkenkutscher, seine Peitsche in der Hand, von einem Landauer herüberschlenderte, der auf der gegenüber liegenden Seite der Strasse stand. »Darf ich Sie Herrn Sherlock Holmes vorstellen?« sagte er zu dem Kutscher. »Das ist Herr Leverton von Pinkerton's American Agency.«

»Der Held des Geheimnisses der Höhle von Long Island?« sagte Holmes. »Mein Herr, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Der Amerikaner, ein ruhiger, geschäftsmäßiger junger Mann mit einem sauber rasierten, ernsten Gesicht errötete bei den Lobesworten.

»Ich bin gerade dem Fall meines Lebens auf der Spur, Herr Holmes,« sagte er. »Wenn ich Gorgiano bekommen kann –«

»Was! Gorgiano vom Roten Kreis?«

»Oh, er ist tatsächlich auch in Europa berühmt? Nun, in Amerika haben wir alles über ihn herausgefunden. Wir WISSEN, dass er hinter fünfzig Morden steckt, und noch immer haben wir keine Möglichkeit gefunden, es mit ihm aufzunehmen. Ich verfolgte ihn von New York herüber, war ihm eine Woche lang in London auf den Fersen und wartete auf eine Gelegenheit, ihn am Schlafittchen zu packen. Herr Gregson und ich haben ihn in diesem großen Wohnblock in die Enge getrieben, es gibt nur eine Tür, er kann uns also nicht entwischen. Es sind nur drei Leute herausgekommen, seit er hineingegangen ist, aber ich schwöre, er war nicht dabei.«

»Herr Holmes spricht von Signalen,« sagte Gregson. »Ich nehme an, wie üblich weiss er eine Menge Fakten, die wir nicht kennen.«

In ein paar einfachen Worten erklärte Holmes die Situation, so wie sie uns erschienen war. Der Amerikaner rang seine Hände voller Verdruß.

»Er ist vor uns gewarnt worden!« rief er aus.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, das ist doch klar, oder nicht? Da sitzt er, schickt Nachrichten an seinen Komplizen – ein paar von seiner Gang sind hier in London. Dann, mit einem Mal, bricht er seine warnende Botschaft an sie ab, wie Sie selbst gesehen haben. Was könnte das anderes bedeuten, als dass er uns vom Fenster aus plötzlich auf der Strasse gesehen hat, oder auf andere Weise herausfand, wie nahe die Gefahr war, und dass er auf der Stelle handeln musste, wenn er ihr entkommen wollte. Was schlagen Sie vor, Herr Holmes?«

»Dass wir sofort hochgehen sollten und selbst nachsehen.«

»Aber wir haben keine Handhabe für seine Verhaftung.«

»Er befindet sich in unbewohnten Räumlichkeiten unter verdächtigen Umständen,« sagte Gregson. »Das ist gut genug für den Augenblick. Wenn wir ihn erwischt haben, können wir sehen, ob New York uns nicht helfen kann, ihn zu behalten. Ich übernehme die Verantwortung dafür, ihn jetzt festzunehmen.«

Unsere Polizei kann zwar bei Angelegenheiten, die Überlegung erfordern, Fehler machen, aber niemals fehlt es ihr an Mut. Um diesen gefährlichen Mörder zu verhaften kletterte Gregson mit dem gleichen, absolut ruhigen und geschäftsmässigen Gebaren die Stufen hinauf, mit dem er die Treppenstufen von Scotland Yard hinaufgestiegen wäre. Der Mann von Pinkerton hatte versucht, sich vor ihn zu drängen, aber Gregson hatte ihn fest mit den Ellbogen zurückgeschoben. Die Bekämpfung der Gefahren von London waren die Aufgabe der Londoner Polizeikräfte.

Die Tür der linken Wohnung im dritten Stockwerk stand halb offen. Gregson stieß sie auf; drinnen war es völlig ruhig und absolut dunkel. Ich rieb ein Streichholz an und entzündete die Laterne des Detektives. Im Lichte der aufleuchtenden Laterne bot sich uns ein überraschender Anblick: Auf den Dielen des nackten Fußbodens zeichnete sich eine Spur von frischem Blut ab. Die blutigen Fußabdrücke führten von einem weiteren Raum, dessen Tür geschlossen war, in unsere Richtung. Gregson stiess die Tür auf und leuchtete mit voll aufgeblendeter Laterne hinein, während wir gespannt über seine Schulter schauten.

Mitten auf dem Fußboden des leeren Zimmers lag die zusammengebrochene Gestalt eines riesigen Mannes, sein sauber rasiertes, dunkelhäutiges Gesicht schrecklich grotesk verzerrt und sein Kopf umgeben von einem gespenstisch dunkelroten Hof von Blut. Um ihn herum hatte sich ein grosser, feuchter Kreis auf dem weißen Fussboden gebildet. Seine Knie waren angezogen, seine Arme wie im Todeskampf ausgestreckt und aus der Kehle des breiten, braunen, freiliegenden Halses stach das weiße Heft eines Messers hervor, das bis zum Heft in seinen Körper getrieben war. Der riesige Mann mußte bei der entsetzlichen Attacke wie ein gefällter Stier zusammengebrochen sein. Auf dem Boden neben seiner rechten Hand lag ein erstklassiger, zweischneidiger Dolch mit Horngriff und daneben ein schwarzer Glacéhandschuh.

»Du meine Güte! Das ist der schwarze Gorgiano höchstpersönlich!« rief der amerikanische Detektiv aus. »Diesmal war jemand schneller als wir.«

»Hier ist die Kerze im Fenster, Herr Holmes,« sagte Gregson. »Aber, was tun Sie denn da?"

Holmes war hinübergegangen, hatte die Kerze angezündet und war dabei, sie vorwärts und rückwärts über die Fensterscheiben zu ziehen. Dann spähte er in die Dunkelheit hinaus, blies die Kerze aus und warf sie auf den Boden.

»Ich glaube, das wird uns nützen,« sagte er. Er kam herüber und stand gedankenverloren da, während die beiden Fachleute den Körper untersuchten. »Sie sagen, dass drei Personen aus der Wohnung kamen als Sie unten warteten,« sagte er dann. »Haben Sie sie aus der Nähe gesehen?"

»Ja, das habe ich.«

»War ein Bursche dabei, um die dreissig, schwarzer Bart, dunkel, von mittlerer Größe?«

»Ja, er war der letzte, der an mir vorbeikam.«

»Das ist Ihr Mann, glaube ich. Ich kann Ihnen seine Beschreibung geben und wir haben einen ausgezeichneten Fußabdruck von ihm. Das sollte Ihnen genügen.«

»Das ist nicht gerade viel, Herr Holmes, bei den Millionen von Menschen in London.«

»Vielleicht nicht. Deshalb dachte ich, das Beste sei, diese Dame zu Ihrer Hilfe herbeizurufen.«

Bei diesen Worten drehten wir uns alle herum. Dort, im Rahmen der Tür, stand eine große und schöne Frau – die mysteriöse Mieterin von Bloomsbury. Sie näherte sich langsam, ihr Gesicht bleich und von einer schrecklichen Befürchtung gezeichnet, ihr starrer, entsetzter Blick fixierte die dunkle Figur auf dem Boden.

»Sie haben ihn umgebracht!« murmelte sie. »Oh, Dio mio, Sie haben ihn umgebracht!«

Dann hörte ich eine plötzliches, scharfes Einatmen und sie sprang mit einem Freudenschrei in die Luft. Sie tanzte im Zimmer umher, klatschte in die Hände, ihre dunklen Augen glühten vor entzücktem Staunen und sie stieß lauter fröhliche, italienische Ausrufe aus. Es war erschreckend und merkwürdig, diese Frau bei einem derartigen Anblick vor Freude toll werden zu sehen. Plötzlich hörte sie auf und wandte sich mit einem fragenden Blick an uns.

»Doch Sie, Sie sind von der Polizei, oder? Sie haben Giuseppe Gorgiano umgebracht, nicht wahr?«

»Wir sind Polizisten, meine Dame.«

Sie sah sich in dem dunklen Raum um.

»Aber wo ist denn dann Gennaro?« sagte sie. »Er ist mein Ehemann, Gennaro Lucca. Ich bin Emilia Lucca und wir sind beide aus New York. Wo ist Gennaro? Er rief mich gerade von diesem Fenster aus zu sich und ich rannte so schnell ich konnte.«

»Ich war es, der Sie rief,« sagte Holmes.

»Sie! Wie konnten Sie mich rufen?«

»Ihren Code war nicht schwierig zu entschlüsseln, gnädige Frau. Ihre Anwesenheit ist uns wichtig. Ich wußte, dass ich nur ›vieni‹ blinken mußte, und Sie würden sicherlich kommen.«

Die schöne Italienerin sah meinen Begleiter ehrfürchtig an.

»Ich verstehe nicht, wie Sie diese Dinge wissen können,« sagte sie. »Giuseppe Gorgiano – wie kam es –.« Sie brach den Satz ab, und plötzlich erhellte sich ihr Gesicht vor Stolz und Vergnügen. »Jetzt verstehe ich! Mein Gennaro! Mein großartiger, schöner Gennaro, der mich vor allen Gefahren behütet hat, er tat es, mit seiner eigenen starken Hand brachte er das Monster um! Oh, Gennaro, wie wunderbar bist Du! Welche Frau könnte jemals eines solchen Mannes würdig sein?«

»Nun, Frau Lucca,« sagte der nüchterne Gregson und legte seine Hand auf den Ärmel der Dame mit so wenig Mitgefühl, als ob sie ein Straßenlümmel von Notting Hill wäre, »Es ist mir noch nicht ganz klar wer Sie sind oder was Sie sind; aber Sie haben genug gesagt, um deutlich zu machen, dass wir Sie auf dem Revier haben sollten.«

»Einen Moment, Gregson,« sagte Holmes. »Ich meine eher, dass diese Dame genauso daran interessiert ist, uns Information zu geben wie wir, sie von ihr zu erhalten. Verstehen Sie, Gnädige Frau, dass Ihr Gatte für den Tod des Mannes, der vor uns liegt, verhaftet und abgeurteilt wird? Was Sie sagen kann als Beweis verwendet werden. Aber wenn Sie denken, dass er aus Gründen gehandelt hat, aus Gründen, die nicht verbrecherisch sind und von denen er wünschen würde, dass sie bekannt sind, dann können Sie ihm keinen besseren Dienst erweisen, als uns die ganze Geschichte zu erzählen.«

»Jetzt wo Gorgiano tot ist, haben wir keine Angst mehr,« sagte die Dame. »Er war ein Teufel und ein Monster und kein Richter auf der Welt würde meinen Mann dafür bestrafen, ihn getötet zu haben.«

»Dann schlage ich vor«, sagte Holmes, »dass wir die Tür abschließen, hier alles so lassen, wie wir es vorgefunden haben, mit dieser Dame in ihre Wohnung gehen und uns erst eine Meinung bilden, nachdem wir gehört haben, was sie uns zu sagen hat.«

Eine halbe Stunde später saßen wir alle vier in dem kleinen Wohnzimmer von Signora Lucca und hörten ihrer bemerkenswerten Geschichte über die schlimmen Ereignisse zu, bei deren Ende wir zufälligerweise Zeugen geworden waren. Sie spach ein schnelles und flüssiges, aber sehr zwangloses Englisch, das ich, um der Verständlichkeit willen, richtigstellen will.

»Ich wurde in Posilippo bei Neapel geboren,« sagte sie »und war die Tochter von Augusto Barelli, der oberster Anwalt und einmal auch Abgeordneter für den Bezirk war. Gennaro war bei meinem Vater beschäftigt und ich verliebte mich in ihn, wie es jeder Frau geschehen würden. Er hatte weder Geld noch eine gute Stellung – nichts als seine Schönheit, seinen starken Willen und seine Tatkraft – also verbot mein Vater die Hochzeit. Wir brannten zusammen durch, wurden in Bari getraut und verkauften meine Juwelen, um das Geld zusammenzubekommen, das uns nach Amerika bringen sollte. Das war vor vier Jahren und wir haben seither in New York gelebt.

Zuerst hatten wir viel Glück. Gennaro konnte einem italienschen Gentleman einen Dienst erweisen – er rettete ihn vor einigen Raubeinen an einem Platz, der sich Bowery nennt, und gewann so einen mächtigen Freund. Sein Name war Tito Castalotte und er war der Seniorpartner der großen Firma Castalotte und Zamba, welche die größten Fruchtimporteure von New York sind. Signor Zamba ist Invalide und unser neuer Freund Castalotte hatte alle Vollmachten der Firma, die über dreihundert Angestellte hat. Er nahm meinen Mann in die Firma auf, machte ihn zum Abteilungsleiter und bezeigte seinen guten Willen ihm gegenüber auf jede erdenkliche Art und Weise. Signor Castalotte war Junggeselle und ich glaube, er hatte für Gennaro Gefühle wie für einen Sohn; und wir beide, mein Mann und ich liebten ihn, als ob er unser Vater wäre. Wir hatten Wohnung in einem kleinen Haus in Brooklyn genommen und es eingerichtet, unsere Zukunft schien gesichert, als diese düstere Wolke erschien, die schon bald unseren Himmel verdunkelte.

Eines Abends, als Gennaro von der Arbeit kam, brachte er einen Landsmann mit. Sein Name war Gorgiano und er kam auch aus Posilippo. Er war ein riesiger Mann, wie sie wissen, denn Sie haben seinen Körper gesehen. Nicht nur sein Körper war der eines Riesen, sondern alles an ihm war grotesk, gigantisch und furchterregend. Seine Stimme wirkte wie der Donner in unserem kleinen Haus. Es gab kaum noch Platz, wenn er beim Sprechen mit seinen langen Armen ruderte. Seine Gedanken, seine Gefühle, seine Leidenschaften – alles war übertrieben und monströs. Er sprach, oder besser gesagt röhrte, mit einer solchen Energie, dass man nicht anders konnte als dasitzen und zuzuhören, eingeschüchtert von seinem mächtigen Wortschwall. Seine Augen funkelten einen an und man war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er war ein schrecklicher und gleichzeitig ein erstaunlicher Mann. Gott sei Dank, dass er tot ist!

Er kam regelmässig immer wieder. Dennoch war mir klar, dass Gennaro in seiner Gegenwart genauso wenig glücklich war wie ich. Mein armer Mann pflegte bleich und teilnahmslos dazusitzen und dem endlosen Räsonieren über Politik und gesellschaftliche Fragen zuhören, die die einzigen Gesprächsthemen unseres Besuchers bildeten. Gennaro sagte nichts, aber ich, die so vertraut mit ihm war, konnte in seinem Gesicht eine Gemütsbewegung lesen, die ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Zuerst dachte ich, dass es Abscheu sei, aber allmählich verstand ich, dass es mehr war. Es war Angst – eine grosse, versteckte, schaudernde Angst. In dieser Nacht – die Nacht in der ich mir über seine Angst klar wurde – umarmte ich ihn und flehte ihn bei allen Heiligen und unserer Liebe an, sich mir zu offenbaren und mir zu sagen, warum dieser riesige Mann sein Leben so überschattete.

Er erzählte es mir, und mein eigenes Herz wurde eiskalt, als ich es erfuhr. Mein armer Gennaro: in seinen wilden und feurigen Tagen, als die ganze Welt gegen ihn zu sein schien und er an der Ungerechtigkeit des Lebens verzweifelte, war er einer neapolitanischen Geheimgesellschaft beigetreten, dem Roten Kreis, der mit den alten Carbonari verbündet war. Die Schwüre und Geheimnisse dieser Bruderschaft waren schrecklich; wer einmal unter ihre Herrschaft kam, für den gab es kein Entrinnen mehr. Als wir nach Amerika geflohen waren, dachte Gennaro, dass er für immer aller Fesseln ledig geworden wäre. Wie groß war sein Entsetzen, als er eines Abends auf der Strasse genau den Mann traf, der ihn in Neapel eingeweiht hatte, den Riesen Gorgiano, ein Mann, der sich im Süden Italiens den Namen ›Tod‹ erworben hatte, weil seine Hände bis zu den Ellenbogen blutrot vom morden waren! Er war nach New York gekommen, um der Polizei von Neapel zu entgehen und hatte in seiner neuen Heimat schon eine Niederlassung seiner furchtbaren Gesellschaft gegründet.

Das alles erzählte mir Gennaro und zeigte mir eine Vorladung, die er am selben Tag erhalten hatte; ein roter Kreis war auf den Briefkopf gezeichnet und man teilte ihm mit, dass zu einem bestimmten Datum eine Versammlung abgehalten werde und seine Anwesenheit dabei verlangt und befohlen wurde.

Das war schlimm genug, aber das Schlimmste kam noch. Ich hatte schon vor längere Zeit bemerkt, dass Gorgiano bei seinen ständigen abendlichen Besuchen meist zu mir sprach. Auch wenn seine Worte scheinbar an meinen Mann gerichtet waren: diese schrecklichen, leuchtenden, animalischen Augen fixierten mich. Eines Nachts wurde sein Geheimnis offenbar: ich hatte etwas in ihm erweckt, das er ›Liebe‹ nannte – die Leidenschaft eines Rohlings, eines Wilden. Gennaro war noch nicht zurück, als er kam. Er drängte sich herein, riss mich in seine mächtigen Arme, umarmte mich wie ein Bär, bedeckte mich mit Küssen und flehte mich an, mit ihm wegzugehen. Ich kämpfte und schrie, als Gennaro hereinkam und ihn angriff. Er schlug Gennaro bewußtlos und floh aus dem Haus, das er nie mehr betreten durfte. In dieser Nacht hatten wir uns einen Todfeind geschaffen.

Ein paar Tage später fand das Treffen statt. Als Gennaro zurückkehrte, konnte ich schon an seinem Gesicht ablesen, dass etwas Furchtbares geschehen war. Es war noch schlimmer, als wir befürchtet hatten. Die Gesellschaft trieb Geld ein, indem sie reiche Italiener erpresste und mit Gewalttaten bedrohten, wenn sie das Geld verweigerten. Es scheint, dass Castalotte, unser lieber Freund und Wohltäter, unter den Opfern war. Er hatte es abgelehnt, den Drohungen nachzugeben und die Angelegenheit der Polizei übergeben. Jetzt war beschlossen worden, dass ein Exempel statuiert werden sollte, ein Exempel, das jedes andere Opfer davon abhalten würde, sich aufzulehnen. Bei dem Treffen wurde beschlossen, dass er mit seinem Haus mit Dynamit in die Luft gesprengt werden sollten. Es wurde ausgelost, wer die Tat ausführen würde. Gennaro sah in das grausame, grinsende Gesicht unseres Feindes, als er seine Hand das Los zog. Zweifellos war es auf irgendeine Art präpariert worden, denn es war die fatale Scheibe mit dem roten Kreis darauf, der Mordauftrag, die in seiner Hand lag. Er mußte entweder seinen besten Freund ermorden, oder er setzte sich und mich der Rache seiner Genossen aus. Es war Teil ihres teuflischen Systems, nicht nur diejenigen zu bestrafen, die sie fürchteten oder hassten, indem sie ihnen Leid antaten, sondern auch denen, die diese liebten. Dieses Wissen und diese Drohung hingen wie ein Damoklesschwert über dem Kopf meines armen Gennaro und machten ihn vor Sorge fast verrückt.

Die ganze Nacht sassen wir zusammen, die Arme umeinander geschlungen, jeder den anderen bestärkend wegen der Gefahren, die vor uns lagen. Schon der nächste Abend war für das Attentat vereinbart. Um die Mittagszeit waren mein Mann und ich auf dem Weg nach London, aber nicht bevor wir unserem Wohltäter ausführliche Warnungen vor dieser Gefahr gegeben hatten und auch der Polizei entsprechende Hinweise hinterlassen hatten, damit sie sein Leben zukünftig zu schützen vermochte.

Den Rest der Geschichte, meine Herren, kennen Sie selbst. Wir waren sicher, dass unsere Feinde so dicht hinter uns waren wie unsere eigenen Schatten. Gorgiano hatte seine privaten Rachegründe, und wir wussten wie grausam, durchtrieben und unermüdlich er sein konnte. Italien und Amerika sind voll von Geschichten über seine schrecklichen Fähigkeiten. Wann immer er sie anwenden würde, es würde bekannt werden. Mein Liebster nutze die wenigen Tage Vorsprung, die wir hatten, um für mich eine Zuflucht zu arrangieren, damit ich ausserhalb jeder Gefahr war. Er selbst wollte sich frei bewegen können, damit er sich mit der amerikanischen und der italienischen Polizei in Verbindung setzen konnte. Alles, was ich in Erfahrung bringen konnte, kam über die Anzeigen einer Zeitung. Aber als ich einmal aus meinem Fenster schaute, sah ich zwei Italiener das Haus beobachten und ich verstand, dass Gorgiano unser Versteck auf irgeneine Weise ausfindig gemacht hatte. Endlich teilte mir Gennaro durch die Zeitung mit, dass er mir von einem bestimmten Fenster aus Signale geben würde, aber als die Signale kamen, waren sie nichts als Warnungen, die plötzlich abbrachen!

Jetzt ist mir klar, dass er Gorgiano dicht auf seinen Fersen wusste und dass er – Gott sei Dank! – bereit war, als er kam. Und jetzt, meine Herren, möchte ich Sie fragen, ob wir irgend etwas vom Gesetz zu befürchten haben oder ob irgendein Richter auf der Welt meinen Gennaro für das, was er getan hat, verurteilen würde?«

»Nun, Herr Gregson,« sagte der Amerikaner und schaute zu dem Beamten hinüber, »ich kenne den britischen Standpunkt nicht, aber ich nehme an, dass der Gatte dieser Dame in New York eine hübsche öffentliche Danksagung erhalten wird.«

»Sie muß mit mir gehen und mit dem Polizeichef sprechen,« antwortete Gregson. »Wenn ihre Aussage bestätigt wird, glaube ich nicht, dass sie oder ihr Ehemann viel zu befürchten haben. Aber worauf ich mir keinen Reim machen kann, ist, wie um Himmels willen SIE, Herr Holmes, in die Geschichte verwickelt wurden.«

»Bildung, Gregson, Bildung. Immer auf der Suche nach Wissen in der alten Universität. Nun, Watson, da haben Sie ein weiteres Beispiel des Tragischen und Merkwürdigen, das Sie in Ihre Sammlung aufnehmen können. Im Übrigen ist es noch nicht einmal acht Uhr und Wagnerabend im Covent Garden! Wenn wir uns beeilen, können wir rechtzeitig zum zweiten Akt dort sein.«


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