Arthur Conan Doyle
Mein Freund der Mörder
Arthur Conan Doyle

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Auch ein Kornhandel.

Robinson, der Alte verlangt nach Ihnen.

Zum Teufel auch! dachte ich; denn Herr Dickson, der Odessaer Agent von Bailey & Cie., Kornhändler, hatte ein gutes Stück von tartarischem Wesen an sich, wie ich zu meinem eigenen Schaden erfahren habe. Was zum Kuckuck will er denn von mir? fragte ich meinen Kollegen. Hat er am Ende Wind von unserer Extratour nach Nikolajew bekommen, oder was ist los?

Keine Ahnung, erwiderte Gregory. Der alte Knabe scheint gut aufgelegt zu sein; irgend was Geschäftliches wahrscheinlich. Aber lassen Sie ihn nicht warten!

Ich nahm eine Miene gekränkter Unschuld an, um für alle Fälle gewappnet zu sein, und betrat des Löwen Höhle.

Herr Dickson stand vor dem Kamin. Er schien es eilig zu haben und wies mir mit einer Handbewegung einen Stuhl an. Herr Robinson! sagte er. Ich habe ein großes Zutrauen zu Ihrer Verschwiegenheit und zu Ihrem gesunden Menschenverstand.

Ich verbeugte mich.

Ich glaube, fuhr er fort, Sie sprechen ziemlich fließend russisch.

Ich verbeugte mich von neuem.

Ich habe nun einen Auftrag von großer Wichtigkeit, den ich Ihnen erteilen möchte. Von dessen Erfolge wird Ihre Beförderung abhängen.

Sie können sich darauf verlassen, erwiderte ich, daß ich versuchen werde, zu tun, was in meinen Kräften steht.

Gut, Sir, ganz gut! Der erwähnte Auftrag ist in wenig Worten dieser. Die Eisenbahn ist eben bis Soltew eröffnet worden, das einige hundert Meilen landeinwärts liegt. Nun möchte ich mir, verstehen Sie, den Ernteertrag dieses Distrikts sichern und darin den anderen Odessaer Firmen zuvorkommen. Sie werden nach Soltew fahren und dort einen gewissen Herrn Dimidow sprechen, der der größte Gutsbesitzer in jener Stadt ist. Schließen Sie so günstig wie möglich ab! Herr Dimidow sowohl wie ich wünschen, daß das Geschäft so ruhig und geheim wie möglich zum Abschluß kommt, sodaß nichts davon ruchbar wird, bevor das Getreide hier in Odessa anlangt. Ich wünsche dies im Interesse unserer Firma, Herr Dimidow wegen der Vorurteile, welche seine Bauern gegen den Export hegen. Man wird Sie am Ziel Ihrer Reise erwarten, zu der Sie heute nacht aufbrechen. Das Geld für Ihre Ausgaben ist bereitgelegt. Adieu, Herr Robinson. Ich hoffe, Sie werden das Zutrauen, das ich auf Sie setze, in vollem Maß rechtfertigen.

Gregory! sagte ich, als ich wieder in das Bureau eintrat, ich muß fort, ich habe einen Auftrag, einen Geheimauftrag, mein Lieber, ein Geschäft von Tausenden von Rubeln. Leihen Sie mir Ihren kleinen Handkoffer – meiner ist zu groß –, und sagen Sie Iwan, er solle ihn packen! Ein russischer Millionär erwartet mich an meinem Ziele. Plaudern Sie mir ja keine Silbe davon aus!

Ich war so erfreut, eine so wichtige Rolle zu spielen, daß ich den ganzen Tag im Bureau herumstolzierte, Verantwortlichkeit und Gewissenhaftigkeit auf jedem Gesichtszuge; und als ich nach Einbruch der Nacht zum Bahnhofe hinabschlich, hätte ein unbefangener Beobachter aus meinem allgemeinen Aussehen schließen können, daß ich vor meinem Weggange den Inhalt des Kassenschranks in das kleine Kofferchen Gregorys geleert habe. Es war unvorsichtig von ihm, nebenbei bemerkt, daß er die englischen Etiketten nicht von demselben entfernt hatte. Ich dachte indes, die Namen »London« und »Birmingham« würden kein Aufsehen erregen, oder wenigstens keinem Konkurrenten erzählen, wer ich sei und was ich im Schilde führte.

Ich zahlte das Fahrgeld für mein Billett, lehnte mich behaglich in eine Ecke des bequemen Waggons und sann über den außerordentlichen Glücksfall nach, welchen für mich der Auftrag bedeutete. Dickson war schon alt, ohne Nachkommen; wenn mir dies Geschäft nach Wunsch gelang, würde es gute Folgen für meine Zukunft zeitigen. Ich verfiel in Träumereien über eine Beteiligung an der Firma und schlief darüber ein, als ich gerade Millionär wurde. Hätte ich gewußt, welches Schicksal meiner am Ende meiner Fahrt erwartete, ich hätte kaum so friedlich geschlummert.

Ich erwachte mit dem unbehaglichen Gefühl, daß mich jemand angelegentlich beobachtete. Es war keine Täuschung. Ein großer Mann hatte mir gegenüber Platz genommen, und seine schwarzen, finsteren Augen sahen mich forschend an. Dann sah ich, wie er einen Blick auf meinen Handkoffer warf.

Himmel, dachte ich, das ist sicherlich ein Agent der Konkurrenz! Den Gregory soll der Teufel holen, daß er die verflixten Etiketten auf dem Koffer ließ! Ich schloß für einen Moment wieder die Augen, aber als ich wieder nach ihm blickte, sah ich, daß er mich immer noch ernsthaft fixierte.

Von England, wie ich sehe, sagte er in russischer Sprache, indem er den Mund verzog, was jedenfalls ein liebenswürdiges Lächeln bedeuten sollte.

Jawohl! erwiderte ich, indem ich mir Mühe gab, unbefangen auszusehen, voller Aerger über die Unterlassungssünde.

Sie reisen wohl zu Ihrem Vergnügen? fragte er.

Jawohl! antwortete ich scharf. Natürlich zum Vergnügen.

Ja, ja! Freilich! sagte er mit etwas ironischer Stimme. Engländer reisen ja stets zum Vergnügen, nicht wahr? Jawohl, selbstverständlich!

Sein Betragen war mir rätselhaft, um den mildesten Ausdruck zu gebrauchen. Ich konnte es mir nur auf zwei Arten erklären: entweder war der Kerl verrückt, oder er war der Agent irgend welcher Firma, die dasselbe Ziel verfolgte wie ich, und er wollte mich merken lassen, daß er mein Spiel durchschaute. Das eine war mir ebenso unangenehm wie das andere. Schließlich wurde ich der Entscheidung enthoben, als der Zug bei dem halb zerfallenen Schuppen anhielt, welcher als Stationsgebäude für die aufblühende Stadt Soltew dient, dasselbe Soltew, dessen Hilfsquellen ich zu erschließen im Begriffe war.

Ich sollte an meinem Reiseziel erwartet werden, wie mir Herr Dickson gesagt hatte. Ich sah mich in der buntscheckigen Menge um, aber ich konnte keinen Herrn Dimidow finden. Plötzlich drängte sich ein schmutzig aussehender, unrasierter Mensch an mir vorbei und warf einen raschen Blick auf mich und dann auf meinen Handkoffer, diesen verfluchten Handkoffer, welcher die Ursache aller meiner Leiden werden sollte. Der Mann verschwand in der Menge; aber in kurzer Zeit kam er von hinten wieder auf mich zu geschlendert und flüsterte, als er nahe bei mir war, die Worte vor sich hin: Folgen Sie mir, aber in einiger Entfernung! indem er sofort das Gebäude verließ und die Straße hinabeilte. Das mußte Herr Dimidow sein. Ich lief ihm mit meinem schwarzen Handkoffer nach; an der nächsten Kreuzung stand eine einfache Droschke, die auf uns wartete. Mein unrasierter Freund öffnete den Schlag; ich stieg ein.

Ist Herr Dim – begann ich.

Pst! Still! fiel er ein. Keine Namen, keine Namen! Selbst die Wände haben hier Ohren. Sie werden alles heute nacht erfahren.

Mit diesen Worten schloß er den Schlag, ergriff die Zügel und in scharfem Trabe fuhren wir fort. Wie ich zufällig bemerkte, sah uns mein schwarzäugiger Bekannter aus der Eisenbahn mit dem größten Erstaunen nach, bis wir seinen Blicken entschwunden waren.

Ich machte mir meine Gedanken über die Geschichte, als wir in diesem abscheulichen Gefährt ohne Federn über das holprige Pflaster davonrasselten.

Man sagt, dachte ich, die besseren Leute in Rußland seien Tyrannen, aber es scheint mir, daß gerade das Umgekehrte der Fall ist: dieser arme Dimidow zum Beispiel hat offenbar Angst vor seinen Bauern und glaubt, daß sie ihn erschlagen wollen, wenn er die Getreidepreise durch den Export in die Höhe bringt. Es ist doch eigentümlich, wenn man zu solcher Geheimnistuerei greifen muß, um sein Eigentum verkaufen zu können. Hier ist es noch schrecklicher als in Irland. Es ist doch unglaublich. Uebrigens scheint der Herr nicht gerade in einem sehr aristokratischen Viertel zu wohnen, fuhr ich in meinem Selbstgespräch fort, als ich in die krummen und engen Gassen hinausblickte, in denen sich schmutzige und ungekämmte Moskowiter herumtrieben. Wär' nur der Gregory oder sonst einer bei mir! Das scheint ja die reinste Halsabschneiderhöhle zu sein! Bei Gott, er hält gerade hier; wir sind offenbar am Ziele!

Wir waren am Ziele; die Droschke hielt und meines Kutschers ruppiger Kopf erschien am Fenster.

Wir sind angekommen, Väterchen! sagte er, als er mir beim Aussteigen behilflich war.

Ist Herr Dimi – begann ich wieder, und wiederum unterbrach er mich.

Alles, nur keine Namen! flüsterte er. Alles, nur das nicht! Sie sind an ein Land gewöhnt, wo man frei reden darf. Vorsicht! Mit dieser Warnung geleitete er mich durch einen gepflasterten Durchgang und dann eine Treppe hinauf. Nehmen Sie einen Augenblick hier Platz! sagte er. Es wird Ihnen sogleich etwas zu essen gebracht werden. Mit diesen Worten ließ er mich mit meinen Gedanken allein.

Nanu, dachte ich, das Zimmer sieht ja nicht übel aus! Man könnte glauben, es sei eine Gefängniszelle!

Die Tür war aus Eisen, außerordentlich stark gebaut; das einzige Fenster war mit einem festen Gitter versehen. Der Fußboden war aus Holz und tönte hohl, als ich darüberging. Boden und Wände waren schmutzig, mit Kaffeeflecken bespritzt oder sonst einer dunklen Flüssigkeit. Im großen und ganzen schien es nicht ein Raum, dessen Aussehen geeignet war, einen in festliche Stimmung zu versetzen.

Kaum hatte ich mich soweit umgesehen, da hörte ich im Flur draußen Schritte, und mein alter Freund von der Droschke betrat wieder das Zimmer. Er kündigte mir an, daß mein Essen bereit sei und führte mich durch den Gang in einen ziemlich großen, prächtig eingerichteten Saal, in dessen Mitte ein Tisch für zwei Personen gedeckt war. Beim Ofen stand ein Mann, ungefähr in meinem Alter. Er wandte sich um, als ich eintrat, und eilte auf mich zu, um mich mit den Zeichen größter Achtung zu begrüßen.

So jung und doch schon so geehrt! rief er aus. Er sammelte sich schnell und fuhr fort: Bitte, nehmen Sie oben am Tisch Platz! Sie müssen müde sein von Ihrer langen Reise. Wir essen allein; aber die anderen werden sich nachher versammeln.

Herr Dimidow, wie ich annehme? sagte ich.

Nein, sagte er, indem er seine scharfen, grauen Augen auf mich richtete. Mein Name ist Petrokin; Sie verwechseln mich vielleicht mit einem der anderen. Aber jetzt, bitte, kein Wort über geschäftliche Angelegenheiten, bis man sich zur Beratung versammelt!

Wer Herr Petrokin und die »anderen« waren, konnte ich mir nicht recht denken. Verwalter von Herrn Dimidow jedenfalls, obgleich dieser Name meinem Genossen nicht bekannt zu sein schien. Da er indes für den Augenblick nichts Geschäftliches hören wollte, ging ich auf seinen Wunsch ein, und wir unterhielten uns über das soziale Leben in England, einen Stoff, den er offenbar völlig beherrschte. Seine Bemerkungen über Malthus und die Gesetze der Bevölkerung waren ausgezeichnet, wenn sie auch von extremem Radikalismus zeugten.

Nebenbei bemerkt, sagte er, als wir uns beim Wein eine Zigarre ansteckten, wir würden Sie niemals erkannt haben, hätten Sie nicht die englischen Etiketten auf Ihrem Handkoffer gehabt; es war ein großes Glück, daß Sie Alexander bemerkte. Wir hatten keine Beschreibung von Ihnen erhalten; wir hatten deshalb einen etwas älteren Mann erwartet. Es kommt selten vor, daß man einem noch so jungen Manne einen so wichtigen Auftrag erteilt.

Man hat eben Zutrauen zu mir, erwiderte ich; wir haben in unserem Handel gelernt, daß Jugend und Schlauheit nicht zu unterschätzen sind.

Ihre Bemerkung ist ja richtig, sehr richtig, bemerkte mein neuer Freund, aber ich bin erstaunt, zu hören, daß Sie unsere Gesellschaft einen Handel nennen. Solch eine Bezeichnung ist doch etwas grob für eine Gesellschaft von Männern, die sich zusammentun, um der Welt zu geben, nach was sie sich sehnt; ohne unsere Hilfe kann die Menschheit niemals dazu gelangen. Eine bessere Bezeichnung wäre schon »eine geistige Brüderschaft«.

Donnerwetter, dachte ich, würde das den Alten freuen, wenn er es hören könnte! Der Kerl hier muß im Geschäft tätig gewesen sein, mag er sein, wer er will.

Nunmehr ist es bald acht Uhr, sagte Herr Petrokin. Der Rat wird bereits versammelt sein. Wir wollen zusammen hinaufgehen; ich will Sie einführen. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß Sie auf denkbar größte Verschwiegenheit zählen können, und daß man Sie ängstlich erwartet.

Ich überlegte rasch noch einmal, als ich ihm folgte, wie ich meinen Auftrag am besten ausführen und die günstigsten Preise erzielen könnte.

Kaum war ich zu einem Entschlusse gelangt, da öffnete mein Führer eine große Tür am Ende eines Ganges und wir traten in einen noch größeren Raum ein, als der war, in welchem wir gegessen hatten. In der Mitte stand ein langer Tisch mit einer grünen Decke, auf welcher ganze Stöße von Papieren lagen; um ihn herum saßen vierzehn oder fünfzehn Männer, in ernster Unterhaltung begriffen.

Als wir eintraten, erhob sich die ganze Gesellschaft und verbeugte sich. Es fiel mir auf, daß mein Genosse fast gar nicht beachtet wurde, während aller Blicke auf mich gerichtet waren. Oben am Tische sah ein hagerer Mann, dessen auffallend blasse Gesichtsfarbe in einem eigentümlichen Gegensatz zu seinem blauschwarzen Haupthaar und Bart stand; er lud mich mit einer Handbewegung ein, auf einem leeren Sitze zu seiner Rechten Platz zu nehmen. Und so setzte ich mich.

Ich brauche wohl kaum zu sagen, begann Herr Petrokin, daß Gustav Berger, der englische Agent, uns mit seiner Gegenwart beehrt. Er ist allerdings noch jung, Alexis, fuhr er zu meinem blassen Nachbar gewandt fort, und doch kennt ihn bereits ganz Europa.

Na na, sachte, sachte! dachte ich und fuhr mit lauter Stimme fort: Wenn Sie mich meinten, so möchte ich dazu bemerken, daß ich allerdings ein englischer Agent bin, aber daß mein Name nicht Berger, sondern Robinson ist, Tom Robinson, wenn Sie gestatten.

Alle brachen auf diese Worte in ein Gelächter aus.

Na ja, na ja, sagte der Mann, den sie Alexis nannten. Ich verstehe Ihre Diskretion, mein verehrter Herr! Man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Behalten Sie auf jeden Fall Ihr englisches Pseudonym! Ich bedaure, fuhr er fort, daß wir diesen Abend noch eine peinliche Pflicht erfüllen müssen; aber die Gesetze unserer Gesellschaft müssen auf jeden Fall unseren Gefühlen vorangehen, und heute nacht hat unumgänglich eine Entlassung stattzufinden.

Was zum Henker hat denn der Kerl vor? dachte ich. Was geht das mich an, wenn er einen Angestellten zum Teufel jagt? Dieser Dimidow scheint eine Privatirrenanstalt zu besitzen.

Nimm den Knebel weg! Diese Worte schreckten mich plötzlich auf. Der Sprecher war Petrokin. Jetzt erst bemerkte ich, daß am anderen Ende des Tisches ein kleiner dicker Mann saß, der die Hände auf dem Rücken gefesselt trug, und dessen Mund durch ein umgebundenes Taschentuch verschlossen war. Ein schrecklicher Verdacht begann sich in meinem Inneren zu regen. Wo war ich? War ich bei Herrn Dimidow? Wer waren diese Männer mit ihren eigentümlichen Reden?

Nimm den Knebel weg! wiederholte Petrokin, und das Taschentuch wurde losgebunden.

Paul Iwanowitsch! sagte er. Was hast du zu deiner Rechtfertigung anzuführen, bevor du gehst?

Nur keine Entlassung, bat er, keine Entlassung! Alles nur das nicht! Ich will in irgend ein fernes Land gehen, mein Mund soll für immer versiegelt sein.

Du kennst unsere Gesetze, und du kennst dein Verbrechen, sagte Alexis in kaltem, hartem Tone. Wer vertrieb uns aus Odessa mit seiner falschen Zunge? Wer schrieb den anonymen Brief an den Gouverneur? Wer zerschnitt den Draht, der den Erztyrannen vernichtet hätte? Du warst es, Paul Iwanowitsch, und du mußt sterben!

Ich lehnte mich in meinen Stuhl zurück und schnappte nach Luft.

Fort mit ihm! rief Petrokin, und der Mann von der Droschke stieß ihn mit Hilfe von zwei anderen aus dem Saale hinaus.

Ich hörte ihre Schritte im Gange drunten verhallen, dann eine Tür zuschlagen. Hierauf ein Gepolter, wie von einem kurzen Kampfe herrührend, einen schweren, dumpfen Fall, und es war still . . .

So enden alle, die ihren Eid brechen, sagte Alexis feierlich, und ein rauhes Amen ertönte rings aus dem Munde der Genossen.

Der Tod allein kann uns aus unserer Gesellschaft lösen, sagte ein Mann weiter unten; aber Herr Berg – ich wollte sagen Robinson ist blaß. Die Szene war zuviel für seine Nerven nach der langen Reise von England hierher.

O Tom, dachte ich, wenn du je aus der Geschichte rauskommst, dann fängst du ein neues Leben an! Es schien mir nur zu klar, daß ich durch irgend ein eigentümliches Mißverständnis in die Gesellschaft einer kaltblütigen Nihilistenbande geraten war, die mich für einen der Ihrigen hielt. Ich hatte das Gefühl, daß ich, nach meinem bisherigen Verhalten einzig und allein dadurch würde mein Leben retten können, daß ich die Rolle, die mir derart aufgezwungen worden war, zu Ende zu spielen versuchte, bis sich irgend eine Gelegenheit zur Flucht von selbst böte.

Ich bin wirklich müde, erwiderte ich; doch ich fühle mich jetzt etwas besser. Entschuldigen Sie meine augenblickliche Schwäche!

Sie war sehr natürlich, sagte ein Mann mit einem starken Bart zu meiner Rechten. Und jetzt, Verehrtester, wie steht es mit unserer Sache in England?

Hervorragend gut, antwortete ich.

Hat das Oberkomitee eine Botschaft für den Soltewer Zweig bestimmt? fragte Petrokin.

Nichts Schriftliches, erwiderte ich.

Es war aber von einem Auftrag die Rede?

Jawohl; man beauftragte mich, zu bestätigen, daß man das Verhalten des Soltewer Zweiges mit der größten Befriedigung verfolgt habe.

Gut so! Gut so! hieß es rings um den Tisch.

Ich fühlte mich durch die Schwere meiner Lage niedergedrückt und unwohl. Jeden Augenblick konnte eine Frage fallen, die mich in die größte Verlegenheit versetzen mußte. Ich stand auf und bediente mich mit Wodki, von dem eine Flasche auf einem Tischchen an der Wand stand. Das anregende Getränk floß mir durch die Adern, und als ich mich wieder setzte, fühlte ich mich soweit gestärkt, daß mich meine Lage fast belustigte und ich geneigt war, mit meinen Peinigern zu spielen.

Sie sind in Birmingham gewesen? fragte der Mann mit dem Bart.

Oft, erwiderte ich.

Dann haben Sie sicherlich die geheime Werkstätte und das Arsenal gesehen?

Natürlich, mehr als einmal.

Bis jetzt hat die Polizei immer noch keine Ahnung davon? fuhr mein Ausfrager fort.

Keine blasse Ahnung, bestätigte ich.

Können Sie uns sagen, wie es möglich ist, daß man eine so große Anlage so vollständig geheim halten kann?

Das war ein schwieriger Punkt; aber meine angeborene Frechheit und der Schnaps schienen mir zu Hilfe zu kommen.

Dies ist eine Mitteilung, erwiderte ich, welche ich sogar hier unter Ihnen auszuplaudern mich nicht für berechtigt fühle.

Sie haben recht, völlig recht, sagte mein alter Freund Petrokin. Sie wollen, denke ich, zuerst Ihren Rapport beim Hauptkomitee in Moskau erstatten, bevor Sie sich in solche Einzelheiten einlassen dürfen.

Ganz richtig, erwiderte ich, nur zu glücklich, einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit gefunden zu haben.

Wir haben gehört, sagte Alexis, daß man Sie abgesandt hat, um die »Livadia« zu inspizieren. Können Sie uns darüber etwas mitteilen?

Wenn Sie mir diesbezügliche Fragen stellen wollen, so will ich sie zu beantworten suchen, so gut ich kann, erwiderte ich halb verzweifelt.

Hat man in Birmingham irgend welche Befehle in bezug darauf erteilt?

Nein, wenigstens nicht vor meiner Abreise aus England.

Gut, gut! Es ist ja noch eine lange Zeit bis dahin, sagte der Mann mit dem Bart, noch eine Reihe von Monaten. Wird der Boden aus Holz oder Eisen sein?

Aus Holz, antwortete ich aufs Geratewohl.

Wieviel Passagiere hält das Schiff? fragte ein bleichsüchtiger Jüngling unten am Tisch, der mir mehr in ein Schulzimmer als in diese Mörderspelunke zu gehören schien.

Etwa dreihundert, sagte ich.

Ein schwimmender Sarg, bemerkte der junge Nihilist mit Grabesstimme.

Sind die Gepäckräume auf derselben Höhe wie die Kabinen, oder darunter? fragte Petrokin.

Darunter, sagte ich mit entschiedener Betonung, obwohl ich kaum zu sagen brauche, daß ich nicht die geringste Idee davon hatte.

Und jetzt bitte ich Sie, uns mitzuteilen, sagte Alexis, was der Schweizer Führer auf Ravinskys Proklamation antwortete.

Dies war eine tödliche Falle. Ob meine Keckheit mich daraus gezogen hätte oder nicht, wurde nicht entschieden, da mich die Fügung von dem einen Dilemma in ein anderes trieb. Ich hörte daneben eine Tür gehen und rasche Schritte näher kommen. Sodann klopfte es einmal sehr laut an die Tür, zweimal darauf leiser.

Das Erkennungszeichen der Gesellschaft, sagte Petrokin. Wir sind doch alle versammelt! Wer kann es denn nur sein?

Die Tür flog auf und ein Mann trat ein, schmutzig und von einer langen Reise offenbar sehr erschöpft. Er hatte ein rechtes Herrschergesicht und überflog mit seinen kühnen Augen die Versammlung, indem er einen nach dem anderen scharf und eingehend ansah. Alles war höchlichst erstaunt. Er war offenbar keinem von ihnen bekannt.

Wie kommen Sie dazu, hier einzubrechen? sagte mein Nachbar mit dem Barte.

Wie, einbrechen? fragte der Fremde. Man ließ mich verstehen, daß ich erwartet würde; ich hatte auf einen wärmeren Empfang von seiten meiner Genossen gerechnet! Ich bin für Sie persönlich ein Unbekannter, aber ich denke, mein Name sollte mir Ihnen gegenüber als Empfehlung dienen: ich bin der englische Agent Gustav Berger und habe Briefe vom Oberkomitee an die Brüder in Soltew zu überbringen!

Wäre eine ihrer eigenen Bomben unter sie geschleudert worden, sie hätte kaum ein so großes Erstaunen unter ihnen erregt wie diese Worte. Einer nach dem anderen richtete seine Augen auf mich und den Neuangekommenen Agenten.

Wenn Sie tatsächlich Gustav Berger sind, sagte Petrokin, wer ist der Herr da?

Daß ich Gustav Berger bin, können Sie aus diesen Papieren ersehen, sagte der Fremde, indem er ein Paket auf den Tisch warf. Wer dieser Herr ist, weiß ich nicht; falls er sich jedoch auf Grund falscher Vorspiegelungen hier eingeschlichen hat, so ist es klar, daß er niemals ausplaudern darf, was er in diesem Saale erfahren hat.

Ich fühlte, daß meine Zeit gekommen war. Ich hatte meinen Revolver in der Tasche; aber was nützte mir der gegen so viele entschlossene Männer? Ich umklammerte seinen Griff, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm greift, und gab mir Mühe, meine Kaltblütigkeit zu bewahren.

Meine Herren! sagte ich endlich. Die Rolle, die ich heute abend gespielt, habe ich wenigstens nicht freiwillig angenommen. Ich bin kein Polizeispitzel, wie Sie zu vermuten scheinen, noch habe ich andererseits die Ehre, Mitglied Ihrer Gesellschaft zu sein. Ich bin ein unschuldiger Kornhändler, der durch ein außergewöhnliches Mißverständnis in diese unerfreuliche und peinliche Lage geraten ist.

Für einen Augenblick schwieg ich. War es eine Täuschung, oder war tatsächlich ein merkwürdiger Lärm auf der Straße, wie wenn viele Menschen sanft aufzutreten sich Mühe geben, aber doch nicht jedes Geräusch vermeiden können? Nein, ich hörte nichts mehr; es war nur mein eigener Herzschlag.

Ich brauche wohl nicht zu sagen, fuhr ich fort, daß ich keine Silbe von dem erzählen werde, was mir heute nacht begegnet ist. Ich verpfände feierlich mein Ehrenwort!

Die Sinne des Menschen werden bei großer Körpergefahr ganz außerordentlich scharf, oder spielt ihm seine Phantasie sonderbare Streiche? Ich hatte den Rücken der Tür zugewandt, aber ich hätte darauf schwören können, daß ich schwere Atemzüge dahinter hörte.

Ich sah wieder die Gesellschaft an. Immer noch dieselben unerbittlichen, grausamen Gesichter. Nicht ein teilnehmender Blick. Ich spannte den Hahn meines Revolvers in der Tasche.

Das peinliche Schweigen wurde endlich durch die Stimme Petrokins gebrochen.

Versprechen gibt man leicht, und ebenso leicht bricht man sie, sagte er. Es gibt nur einen Weg, um uns für immer Schweigen zu sichern. Es handelt sich um Ihr oder um unser Leben. Wir wollen den Höchsten unter uns sprechen lassen, fügte er mit einem Blick auf Berger hinzu.

Sie haben recht, sagte der englische Agent; es gibt nur einen einzigen Weg. Er muß entlassen werden.

Ich wußte, was dieser Ausdruck bedeutete und sprang auf.

Beim Himmel, schrie ich, indem ich mich gegen die Tür lehnte, ihr sollt einen freien Engländer nicht gleich einem Schafe abschlachten! Der erste von euch, der sich muckst, wird erschossen!

Einer sprang auf mich zu. Ueber dem Laufe meines Revolvers sah ich ein Messer blitzen. Ich gab Feuer; ein Schrei, und ein krachender Hieb von hinten schlug mich zu Boden. Halb bewußtlos, von einem schweren Gegenstand zu Boden gedrückt, hörte ich noch Schreie und Schläge über mir. Dann verlor ich das Bewußtsein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich unter den Trümmern der Tür, die hinter mir eingeschlagen worden war. Ein Dutzend von den Leuten, die kurz vorher über mich zu Gericht gesessen, stand auf der entgegengesetzten Seite, je zwei und zwei zusammengefesselt; eine Abteilung Soldaten bewachte sie. Neben mir lag der Leichnam des unglücklichen englischen Agenten, dem der Schuß das Gesicht förmlich zerrissen hatte. Alexis und Petrokin lagen gleich mir am Boden, beide schwer verwundet.

Na, junger Mann! Sie haben Glück gehabt, zu entkommen. Ich gratuliere, hörte ich eine herzliche Stimme sagen.

Ich sah auf und erkannte in dem Sprecher meinen schwarzäugigen Gefährten von der Eisenbahnfahrt.

Stehen Sie auf! fuhr er fort. Sie sind nur ein wenig geschürft; es ist nichts gebrochen. Es ist kein Wunder, daß ich Sie irrtümlich für den nihilistischen Agenten hielt, wenn der Herr Gastgeber selbst darauf hineinfiel. Kommen Sie hinunter mit mir! Ich weiß jetzt, wer Sie sind, und was Sie vorhaben. Ich will Sie zu Herrn Dimidow führen. Nein, gehen Sie nicht hier hinein! rief er, als ich auf die Tür der Zelle zuging, in die ich ursprünglich geführt worden war. Kommen Sie heraus aus dem Loch! Sie haben genügend Schlimmes für einen Tag gesehen. Kommen Sie, und trinken Sie ein Glas Wodki!

Er erklärte mir, als wir zum Hotel gingen, daß die Polizei von Soltew, deren Chef er war, Warnungen erhalten hatte und seit einiger Zeit sich nach dem nihilistischen Abgesandten umschaute. Meine Ankunft an einem so selten besuchten Platze, mein geheimnisvolles Verhalten und die englischen Etiketten auf dem verfluchten Handkoffer Gregorys hatten das Maß vollgemacht.

Ich habe wenig mehr zu berichten. Meine anarchistischen Bekannten wurden zum Teil zum Tode verurteilt, zum Teil nach Sibirien verbannt. Mein Auftrag wurde zur Zufriedenheit meines Chefs erledigt. Mein Betragen während des ganzen Geschäfts hat mir ein Avancement verschafft, und meine Aussichten für die Zukunft sind glänzend seit jener schrecklichen Nacht, die mich noch heute schaudern macht, wenn ich nur daran denke.

* * *

 


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