Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Der Doppelgänger
Fjodr Michailowitsch Dostojewski

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13. Kapitel

... Das Wetter schien sich bessern zu wollen. In der Tat begann der nasse Schnee, der bisher in dichten Massen gefallen war, allmählich spärlicher zu werden und hörte zuletzt fast ganz auf. Der Himmel wurde sichtbar, und hier und da glänzten an ihm die Sterne auf. Aber es war immer noch naß, schmutzig, feucht und drückend, namentlich für Herrn Goljadkin, der ohnehin schon nur mit Mühe Atem holen konnte. Sein durchnäßter, schwer gewordener Mantel teilte allen seinen Gliedern eine unangenehm-warme Feuchtigkeit mit und lähmte durch sein Gewicht seine sowieso schon recht schwach gewordenen Beine. Ein fieberhaftes Zittern lief ihm wie ein Gekribbel bissiger Ameisen über den ganzen Körper; die Ermattung ließ einen kalten, krankhaften Schweiß aus allen Poren heraustreten, so daß Herr Goljadkin sogar vergaß, bei dieser passenden Gelegenheit mit der ihm eigenen Festigkeit und Entschlossenheit seine Lieblingsredensart zu wiederholen, daß er dennoch vielleicht, möglicherweise, irgendwie, wahrscheinlich, unbedingt obsiegen und alles sich gut gestalten werde. »Übrigens macht das alles vorläufig noch nichts,« fügte unser starker, noch ungebeugter Held hinzu und wischte sich die kalten Wassertropfen vom Gesichte, die nach allen Seiten von der Krämpe seines runden Hutes herabflossen, der dermaßen durchnäßt war, daß er das Wasser nicht mehr festhalten konnte. Nachdem unser Held noch hinzugefügt hatte, daß das alles noch nichts zu bedeuten habe, versuchte er, sich auf einen ziemlich dicken Holzklotz zu setzen, der auf Olsufi Iwanowitschs Hofe neben einem Haufen Holz lag. Von spanischen Serenaden und seidenen Strickleitern konnte jetzt allerdings nicht die Rede sein; aber er konnte nicht umhin, an jenes bescheidene Winkelchen zurückzudenken, das zwar nicht sehr warm, aber dafür bequem und verborgen gewesen war. Denn jenes Winkelchen hatte, beiläufig bemerkt, jetzt viel Verlockendes für ihn, jenes Winkelchen auf dem Flur von Olsufi Iwanowitschs Wohnung, wo unser Held früher, beinah am Anfang dieser wahrhaften Geschichte, volle zwei Stunden lang zwischen einem Schranke und einem alten Wandschirm, zwischen allerlei unbrauchbarem Hausrat, Trödelkram und Gerümpel gestanden hatte. Die Sache war die, daß auch jetzt Herr Goljadkin bereits ganze zwei Stunden auf Olsufi Iwanowitschs Hofe stand und wartete. Aber was eine nochmalige Benutzung jenes früheren bescheidenen, bequemen Winkelchens anlangte, so gab es da jetzt mehrere Hindernisse, die es früher nicht gegeben hatte. Das erste Hindernis bestand darin, daß man dieses Plätzchen wahrscheinlich seinerzeit bemerkt und seit der Affäre auf dem letzten Balle bei Olsufi Iwanowitsch einige vorbeugende Maßregeln getroffen hatte; und zweitens mußte er doch auf das verabredete Zeichen von Klara Olsufjewna warten; denn irgendein solches verabredetes Zeichen mußte doch unbedingt dabei vorkommen. So war es immer zugegangen, und er sagte sich: »Wir sind nicht die ersten, die es so machen, und werden nicht die letzten sein.« Herr Goljadkin erinnerte sich hierbei sehr apropos flüchtig an einen Roman, den er schon vor langer Zeit einmal gelesen hatte, wo die Heldin ihrem Alfred in ganz ähnlicher Lage das verabredete Zeichen dadurch gab, daß sie ein rosa Band ans Fenster knüpfte. Aber ein rosa Band konnte jetzt zur Nachtzeit und bei dem durch seine Feuchtigkeit und Unzuverlässigkeit bekannten Petersburger Klima nicht zur Anwendung kommen; das war, kurz gesagt, völlig unmöglich. »Nein, seidene Strickleitern kommen hier nicht in Frage,« hatte unser Held gedacht, als er auf den Hof kam; »ich werde mich lieber hierher stellen, ganz allein, bescheiden und in der Stille... z. B. hier an diesen Platz,« und er hatte sich ein Plätzchen auf dem Hofe ausgesucht, den Fenstern gerade gegenüber, bei einem aufgeschichteten Holzhaufen. Allerdings gingen auf dem Hofe viele fremde Leute umher, Stallknechte, Kutscher; dazu rasselten die Räder, schnaubten die Pferde usw.; aber trotzdem war der Platz wohlgeeignet: ob man ihn nun bemerkte oder nicht, jetzt wenigstens war der Vorteil der, daß die Sache gewissermaßen im Schatten vor sich ging und niemand Herrn Goljadkin sah, während er selbst geradezu alles sehen konnte. Die Fenster waren hell erleuchtet; es war eine vornehme Gesellschaft bei Olsufi Iwanowitsch. Musik war übrigens noch nicht zu hören. »Also findet kein Ball statt, sondern es sind aus irgendwelchem andern Anlaß Gäste geladen,« dachte unser Held beklommenen Herzens. »Aber sollte es denn auch heute sein?« ging es ihm durch den Kopf; »liegt auch kein Irrtum im Datum vor? Es könnte doch sein; möglich ist alles ... Vielleicht war der Brief gestern geschrieben, gelangte aber gestern nicht in meine Hände, und zwar deswegen nicht, weil sich Petruschka da hineingemischt hat, dieser Halunke! Oder er war morgen geschrieben, d. h. es stand darin, daß ich ... daß ich erst morgen alles tun sollte, d. h. mit dem Wagen warten sollte ...« Hier überlief es unsern Helden ganz kalt, und er griff in die Tasche, um den Brief herauszuholen und die Sache festzustellen. Aber zu seiner Verwunderung fand sich der Brief in der Tasche nicht vor. »Wie geht das zu?« flüsterte Herr Goljadkin mehr tot als lebendig. »Wo habe ich ihn nur gelassen? Also habe ich ihn verloren? Das hat noch gefehlt!« stöhnte er schließlich. »Wenn er nun aber jetzt in schlechte Hände fällt? (Ja, vielleicht ist er schon in schlechte Hände gefallen!) Herr Gott! Was kann das für Folgen haben! Die Folge wird sein, daß ... O über mein unglückseliges Schicksal!« Hier begann Herr Goljadkin wie Espenlaub zu zittern bei dem Gedanken, daß vielleicht sein unehrenhafter Zwillingsbruder, als er ihm den Mantel auf den Kopf warf, dabei gerade die Absicht verfolgt habe, den Brief zu entwenden, von dessen Existenz er irgendwie durch Herrn Goljadkins Feinde Wind bekommen habe. »Er wird ihn als Beweisstück weggenommen haben,« dachte unser Held; »und was für ein schwerwiegendes Beweisstück ist er! ...« Nach dem ersten Anfall des Schreckens und der Erstarrung stieg Herrn Goljadkin das Blut in den Kopf. Stöhnend und zähneknirschend griff er sich an seine glühende Stirn, ließ sich auf seinen Holzklotz niedersinken und begann über etwas nachzudenken. Aber die Gedanken in seinem Kopfe vermochten nicht an einem Gegenstande haften zu bleiben. Irgendwelche Persönlichkeiten huschten vor seinem geistigen Auge vorüber; irgendwelche längst vergessenen Ereignisse kamen ihm bald undeutlich, bald klar ins Gedächtnis; irgendwelche Melodien dummer Lieder gingen ihm durch den Kopf... Es war eine Pein, eine unnatürliche Pein! »Mein Gott, mein Gott!« dachte unser Held, als er einigermaßen zur Besinnung kam, und suchte das dumpfe Schluchzen in seiner Brust zu ersticken, »gib mir festen Mut bei der unergründlichen Tiefe meines Unglücks! Daß ich verloren bin, ganz vernichtet bin, daran kann kein Zweifel mehr bestehen, und das liegt ganz im natürlichen Laufe der Dinge; es kann eben nicht anders sein. Erstens habe ich meine Stelle verloren, unbedingt verloren, ich mußte sie mit Notwendigkeit verlieren ... Nun, einigermaßen werde ich allerdings auch dann zurechtkommen. Mein Geld reicht fürs erste aus: ich nehme mir eine andere, kleine Wohnung ... Petruschka wird nicht mehr bei mir sein. Ich kann mich auch ohne diesen Halunken behelfen ... ich lebe dann eben als Chambregarnist; nun gut! Dann kann ich auch kommen und gehen, wann ich Lust habe, und kein Petruschka wird darüber brummen, daß ich zu spät nach Hause komme. Ja, so ist das; das ist ein Vorzug des Chambregarnistentums ... Nun, das ist ja allerdings alles ganz gut; aber warum rede ich gar nicht über das, worauf es ankommt?« Hier erhellte der Gedanke an die gegenwärtige Lage wieder Herrn Goljadkins Gedächtnis. Er blickte um sich. »Ach, Herr du mein Gott! Herr du mein Gott! Wovon rede ich denn da jetzt?« dachte er ganz verstört und griff sich an den glühenden Kopf ...

»Wollen Sie nicht bald fahren, Herr?« sagte eine Stimme über dem Kopfe des dasitzenden Herrn Goljadkin. Herr Goljadkin fuhr zusammen; vor ihm stand sein Kutscher, ebenfalls völlig durchnäßt und durchfroren; vor Ungeduld und Langerweile war er auf den Gedanken gekommen, sich einmal nach Herrn Goljadkin hinter dem Holzhaufen umzusehen.

»Ich weiß nicht, mein Freund ... ich werde bald fahren, mein Freund, sehr bald, sehr bald; warte noch ein bißchen! ...«

Der Kutscher ging, etwas vor sich hin brummend, wieder weg. »Was mag er da brummen?« dachte Herr Goljadkin, und die Tränen kamen ihm in die Augen. »Ich habe ihn doch für den ganzen Abend genommen; also kann ich ... hm ... ich bin jetzt in meinem Rechte ... so ist das! Ich habe ihn für den ganzen Abend genommen; also ist die Sache in Ordnung. Wenn er auch so dasteht, das ist ganz gleich. Das hängt alles von meinem Belieben ab. Wenn ich fahren will, kann ich fahren, und wenn ich nicht fahren will, kann ich es unterlassen. Und wenn ich hier hinter dem Holze stehe, so ist auch dagegen nichts einzuwenden ... und er darf sich nicht erdreisten, etwas darüber zu sagen; wenn der Herr Lust hat, hinter dem Holze zu stehen, nun, dann steht er eben hinter dem Holze ... und damit befleckt er niemandes Ehre; so ist das! Ja, so ist das, mein Fräulein, wenn Sie es wissen wollen. Und in einer Hütte, mein Fräulein, hm, in einer Hütte lebt in unserem Zeitalter niemand. So ist das! Und ohne Moralität kann man in unserem Zeitalter der Industrie nichts erreichen, mein Fräulein; dafür dienen Sie selbst jetzt als trauriges Beispiel ... Also Ihrer Meinung nach soll ich das Amt eines Tischvorstehers bekleiden und in einer Hütte am Gestade des Meeres leben. Erstens, mein Fräulein, gibt es am Gestade des Meeres keine Tischvorsteher, und zweitens können wir beide mir keine Stelle als Tischvorsteher verschaffen. Denn gesetzt z. B. ich reiche eine Bittschrift ein und sage darin: ›So und so, ich bitte, mich zum Tischvorsteher zu machen und mich vor meinem Feinde zu schützen ...‹, dann werden Sie merken, mein Fräulein, daß es viele Tischvorsteher gibt, und daß Sie hier nicht bei der Emigrantin Falbala sind, wo Sie Moralität gelernt haben, wofür Sie selbst als trauriges Beispiel dienen. Moralität, mein Fräulein, das bedeutet: zu Hause sitzen, seinen Vater ehren und nicht vorzeitig an Freier denken. Die Freier, mein Fräulein, werden sich zur rechten Zeit schon finden; so ist das! Gewiß, man muß unstreitig auch allerlei Fertigkeiten und Kenntnisse besitzen, als da sind: ein bißchen Klavierspielen, Französisch sprechen, Geschichte, Geographie, Religion und Rechnen, – so ist das! Aber mehr ist nicht vonnöten. Dazu kommt noch die Küche; zu dem Wissensgebiete eines jeden wohlgesitteten Mädchens gehört unbedingt auch die Küche! Aber was wird mit Ihnen werden? Erstens, mein schönes gnädiges Fräulein, wird man Sie nicht so einfach davonlassen, sondern eine Verfolgung veranstalten und Sie, wenn man Sie attrapiert hat, in ein Kloster stecken. Was dann, mein Fräulein? Was befehlen Sie mir dann zu tun? Befehlen Sie mir, mein Fräulein, nach Anweisung einiger dummer Romane auf einen nahegelegenen Hügel zu gehen und, nach den kalten Mauern Ihres Gefängnisses hinblickend, in Tränen zu zerfließen und schließlich so zu sterben, gemäß der Vorschrift einiger verdrehter deutscher Dichter und Romanschriftsteller? Ja, mein Fräulein? Aber gestatten Sie mir, Ihnen in aller Freundschaft zu sagen, erstens, daß die Dinge sich nicht in dieser Weise vollziehen, und zweitens, daß ich am liebsten Sie und Ihre Eltern gehörig dafür durchhauen möchte, daß sie Ihnen französische Bücher zu lesen gegeben haben; denn aus französischen Büchern kann man nichts Gutes lernen. In denen steckt Gift, verderbliches Gift, mein Fräulein! Oder denken Sie etwa (gestatten Sie die Frage!), oder denken Sie etwa, wir werden ungestraft entfliehen können und dann zusammen in einer Hütte am Meeresstrande wohnen? Und dann fangen wir an zu girren und zu schnäbeln und von allerlei Gefühlen zu sprechen und verbringen so unser ganzes Leben in Zufriedenheit und Glück? Und dann stellt sich ein Kleines ein, und wir sagen: ›So und so, Sie unser Vater Staatsrat Olsufi Iwanowitsch, da hat sich ein Kleines eingestellt; nehmen Sie also bei diesem passenden Anlaß Ihren Fluch zurück, und segnen Sie uns junges Paar!‹? Nein, mein Fräulein, da vollziehen sich die Dinge wieder nicht in dieser Weise, und der erste Punkt ist der, daß es kein Girren und Schnäbeln mehr gibt; hoffen Sie darauf nicht! Heutzutage, mein Fräulein, ist der Mann der Herr, und eine gute, wohlgesittete Frau muß ihm in allen Stücken zu Gefallen leben. Zärtlichkeiten aber, mein Fräulein, sind heutzutage in unserm Zeitalter der Industrie nicht mehr beliebt; die Zeiten Jean Jacques Rousseaus sind vorüber. Heutzutage kommt z. B. der Mann hungrig vom Dienste nach Hause; da sagt er dann: ›Mein Herzchen, hast du nicht vor dem Mittagessen ein bißchen was zu essen, ein Schnäpschen zu trinken, ein Stückchen Hering zu essen?‹ Da müssen Sie dann ein Schnäpschen und ein Stückchen Hering gleich in Bereitschaft haben. Der Mann ißt das mit gutem Appetit; aber Sie sieht er gar nicht an, sondern er sagt: ›Geh in die Küche, mein Kätzchen, und sieh nach dem Mittagessen!‹ und vielleicht gibt er Ihnen in der Woche nur ein einziges Mal einen Kuß, und auch das nur mit gleichgültigem Wesen ... So ist das jetzt bei uns, mein Fräulein! Und auch das nur mit gleichgültigem Wesen! ... So wird das sein, wenn man es recht überlegt, wenn es nun einmal dahin gekommen ist, daß man die Sache in dieser Weise zu betrachten anfängt ... Und was habe denn ich, ich damit zu schaffen? Warum haben Sie mich in Ihr launenhaftes Treiben hineingezogen, mein Fräulein? Sie schreiben: ›Edler, für mich leidender und meinem Herzen in jeder Hinsicht teurer Mann‹ usw. Ja, erstens, mein Fräulein, passe ich gar nicht für Sie; Sie wissen selbst, daß ich mich auf Komplimente nicht verstehe, es nicht liebe, den Damen allerlei parfümierten Unsinn vorzuschwatzen, das seladonhafte Wesen nicht ausstehen kann und auch, offen gestanden, kein schönes Äußeres besitze. Lügenhafte Prahlerei und Ziererei werden Sie bei mir nicht finden; das gestehe ich Ihnen jetzt mit aller Offenherzigkeit. So ist das; ich besitze nur einen geraden, offenen Charakter und einen gesunden Verstand; mit Intrigen gebe ich mich nicht ab. Ich bin kein Intrigant und bin stolz darauf; so ist das! ... Ich bewege mich unter guten Menschen ohne Maske, und um Ihnen alles zu sagen ...«

Auf einmal fuhr Herr Goljadkin zusammen. Der rötliche, völlig durchnäßte Bart seines Kutschers blickte wieder zu ihm hinter das Holz.

»Ich komme gleich, mein Freund; weißt du, mein Freund, sogleich; sofort komme ich, mein Freund!« antwortete Herr Goljadkin mit zitternder, gramvoller Stimme.

Der Kutscher kratzte sich im Nacken, strich sich dann den Bart glatt und trat einen Schritt vor. Hierauf blieb er stehen und blickte Herrn Goljadkin mißtrauisch an.

»Ich komme sofort, mein Freund; ich will nur ... siehst du, mein Freund ... ich will nur noch ein wenig ... siehst du, mein Freund, ich will nur noch eine Sekunde hier ... siehst du, mein Freund ...«

»Wollen Sie vielleicht überhaupt nicht mehr fahren?« sagte endlich der Kutscher, indem er entschlossen an Herrn Goljadkin herantrat.

»Doch, mein Freund; ich komme gleich. Siehst du, mein Freund, ich warte nur noch ...«

»Na, gut ...«

»Siehst du, mein Freund, ich ... Aus welchem Dorfe bist du denn, mein Lieber?«

»Wir sind Leibeigene ...«

»Hast du eine gute Herrschaft? ...«

»Es geht ...«

»Ja, mein Freund, bleib nur noch ein bißchen bei mir, mein Freund! Siehst du, mein Freund, bist du schon lange in Petersburg?«

»Ich fahre schon ein Jahr ...«

»Und geht es dir gut, mein Freund?«

»So ziemlich.«

»Ja, mein Freund, ja. Danke der Vorsehung, mein Freund! Einen guten Menschen kannst du jetzt lange suchen, mein Freund. Heutzutage sind gute Menschen selten geworden, mein Lieber; ein guter Mensch hält dich sauber, mein Lieber, und gibt dir zu essen und zu trinken. Aber siehst du, manchmal fließen Tränen auch auf das Gold, mein Freund ... siehst du, hier hast du ein bedauernswertes Beispiel vor dir; so ist das, mein Lieber ...«

Dem Kutscher schien Herr Goljadkin leid zu tun. »Na, wenn Sie wollen, werde ich noch warten. Wollen Sie denn noch lange hierbleiben?«

»Nein, mein Freund, nein; ich werde jetzt, weißt du, hm ... ich werde jetzt nicht mehr warten, mein Lieber ... Wie denkst du darüber, mein Freund? Ich schenke dir Vertrauen. Ich werde hier nicht mehr warten ...«

»Werden Sie vielleicht überhaupt nicht mehr fahren?«

»Nein, ich fahre nicht mehr, mein Freund, nein; aber ich danke dir, mein Lieber ... so ist das. Wieviel bekommst du denn, mein Lieber?«

»Was wir abgemacht haben, Herr, das müssen Sie mir auch geben. Ich habe lange gewartet, Herr; Sie werden ja einen armen Menschen nicht zu Schaden bringen wollen, Herr.«

»Nun, da hast du dein Geld, mein Lieber, da hast du es!« Damit gab Herr Goljadkin dem Kutscher die ganzen sechs Rubel. Er entschloß sich nun im Ernst, keine Zeit weiter zu verlieren, sondern sich davonzumachen, um so mehr da die Sache bereits endgültig entschieden und der Kutscher entlassen war und es folglich keinen Zweck mehr hatte, länger zu warten; so verließ er denn den Hof, ging durch den Torweg, wandte sich links und begann, ohne sich umzusehen, keuchend und froh davonzulaufen. »Vielleicht gestaltet sich noch alles gut,« dachte er, »und ich bin auf diese Art dem Unheil entronnen.« Wirklich war es Herrn Goljadkin auf einmal sehr leicht ums Herz geworden. »Ach, wenn sich doch alles gut gestalten wollte!« dachte unser Held, obwohl er selbst wenig daran glaubte. »Nun will ich, hm ...« dachte er. »Nein, ich will es lieber so machen; ich will die Sache von einer andern Seite angreifen ... Oder soll ich lieber so verfahren? ...« Während sich unser Held so mit seinen Zweifeln abmühte und zur Klarheit zu gelangen suchte, war er bis zur Semjonowski-Brücke gelaufen und faßte nun den verständigen, endgültigen Beschluß, wieder umzukehren. »Das wird das beste sein,« sagte er sich. »Ich will die Sache lieber von einer anderen Seite angreifen, d. h. folgendermaßen: ich werde ganz einfach unbeteiligter Beobachter sein, weiter nichts; ich bin nur ein Beobachter, eine unbeteiligte Person; dann mag sich dort begeben, was da will, ich trage keine Schuld daran. So ist das! So soll es jetzt sein!«

Nachdem unser Held beschlossen hatte umzukehren, führte er diesen Beschluß auch aus, um so mehr, da er seiner glücklichen Idee zufolge jetzt die Rolle einer ganz unbeteiligten Person übernommen hatte. »Das ist besser; einerseits bin ich für nichts verantwortlich, und andrerseits sehe ich alles Nötige mit an ... so ist das!« Also die Rechnung war durchaus richtig und die Sache damit erledigt. Beruhigt schlich er wieder in den friedlichen Schatten des ihn schützenden Holzstoßes und begann, aufmerksam nach den Fenstern hinzuschauen. Diesmal brauchte er nicht lange zu schauen und zu warten. Auf einmal machte sich an allen Fenstern gleichzeitig eine sonderbare Bewegung bemerklich, Gestalten wurden sichtbar, die Vorhänge zurückgeschlagen, ganze Gruppen von Menschen drängten sich an Olsufi Iwanowitschs Fenstern; alle blickten sie auf den Hof hinaus und suchten dort etwas. Durch seinen Holzstoß geschützt, begann unser Held seinerseits ebenfalls neugierig die allgemeine Bewegung zu verfolgen und streckte, lebhaft interessiert, seinen Kopf nach rechts und links vor, wenigstens soweit es ihm der kurze Schatten des ihn verbergenden Holzstoßes erlaubte. Auf einmal bekam er einen großen Schreck, fuhr zusammen und hätte sich vor Bestürzung beinahe auf dem Fleck, wo er stand, hingesetzt. Es schien ihm oder richtiger er erriet auf das bestimmteste, daß sie da nicht irgendetwas und irgendwen suchten, sondern ganz einfach ihn, Herrn Goljadkin. Alle blickten sie nach seiner Seite hin. Davonzulaufen war unmöglich; man hätte ihn gesehen ... Ängstlich drückte sich Herr Goljadkin so dicht wie möglich an das Holz und bemerkte jetzt erst, daß der verräterische Schatten ihm treulos geworden war und ihn nicht mehr ganz verbarg. Mit dem größten Vergnügen wäre unser Held jetzt in ein Mauseloch zwischen dem Holze gekrochen und hätte dort friedlich gesessen, wenn es nur möglich gewesen wäre. Aber es war entschieden unmöglich. In seiner Pein begann er schließlich, mit Entschlossenheit geradezu nach allen Fenstern hinzusehen, weil ihm das noch als das beste erschien. Und plötzlich wurde er glühend heiß vor Scham. Man hatte ihn deutlich bemerkt; alle zusammen hatten ihn bemerkt; alle winkten ihm mit den Händen; alle nickten ihm zu; alle riefen ihn; da klappten ein paar Luftscheiben und wurden geöffnet; einige Stimmen schrien ihm zugleich etwas zu ... »Ich wundere mich, warum man diesem dummen Mädchen nicht von klein auf die Rute gegeben hat,« murmelte unser Held ganz fassungslos vor sich hin. Auf einmal kam er (man weiß schon, wer) die Stufen vor der Haustür herabgelaufen, im bloßen Uniformrock, ohne Hut, atemlos, hastig, trippelnd und hüpfend, wahrscheinlich um seine gewaltige Freude darüber an den Tag zu legen, daß er Herrn Goljadkin endlich erblickt hatte.

»Jakow Petrowitsch,« schnatterte der durch seine Niederträchtigkeit bekannte Mensch. »Jakow Petrowitsch, Sie hier? Sie werden sich erkälten. Es ist hier kalt, Jakow Petrowitsch. Bitte, kommen Sie doch in die Wohnung!«

»Nein, Jakow Petrowitsch, nein, das tut mir nichts, Jakow Petrowitsch,« murmelte unser Held in demütigem Tone.

»Nein, das geht nicht, Jakow Petrowitsch; alle lassen Sie bitten, lassen Sie ganz ergebenst bitten; sie erwarten uns. ›Machen Sie uns die Freude,‹ haben sie zu mir gesagt, ›und bringen Sie Jakow Petrowitsch her!‹ So ist das!«

»Nein, Jakow Petrowitsch; sehen Sie, ich ... ich würde am besten tun, wenn ich ... Ich würde am besten nach Hause gehen, Jakow Petrowitsch,« sagte unser Held, der ein Gefühl hatte, als ob er auf gelindem Feuer geröstet würde, und ganz starr war vor Scham und Angst.

»Nein, nein, nein, nein!« schnatterte der widerwärtige Mensch. »Nein, nein, nein, unter keinen Umständen! Kommen Sie!« sagte er energisch und zog Herrn Goljadkin den älteren zur Haustür hin. Herr Goljadkin der ältere wollte ganz und gar nicht mitgehen; aber da alle nach ihm hinsahen und es dumm herausgekommen wäre, wenn er sich widersetzt und sich gesträubt hätte, so ging unser Held doch mit; übrigens kann man eigentlich nicht sagen, daß er ging, da er schlechterdings selbst nicht wußte, was mit ihm geschah. Aber es war ja nun doch schon alles egal!

Ehe unser Held noch einigermaßen zur Besinnung kommen und sich zurechtmachen konnte, befand er sich schon im Saale. Er war blaß, zerzaust, sein Anzug in Unordnung; seine trüben Augen irrten über die ganze Menge hin, – o weh: der Saal und alle Zimmer, alles, alles, war dicht gedrängt voll! Es war eine Unmasse von Menschen da, ein ganzer Flor von Damen. Alle Anwesenden strebten zu Herrn Goljadkin hin; alle umdrängten ihn; alle schoben Herrn Goljadkin vorwärts, der sehr wohl merkte, daß sie ihn in einer bestimmten Richtung fortschoben. »Doch nicht zur Tür?« ging es ihm durch den Kopf. In der Tat schoben sie ihn nicht zur Tür hin, sondern geradeswegs zu Olsufi Iwanowitschs bequemem Lehnstuhl. Neben dem Lehnstuhl stand auf der einen Seite Klara Olsufjewna, blaß, matt, traurig, aber in prachtvoller Toilette. Besonders fielen Herrn Goljadkin die kleinen weißen Blümchen in ihrem schwarzen Haar in die Augen, was einen ganz außerordentlichen Effekt machte. Auf der andern Seite des Lehnstuhles stand Wladimir Semjonowitsch, im schwarzen Frack, mit seinem neuen Orden im Knopfloch. Zwei von den Gästen hatten Herrn Goljadkin untergefaßt und führten ihn, wie schon oben gesagt ist, geradeswegs zu Olsufi Iwanowitsch, und zwar auf der einen Seite Herr Goljadkin der jüngere, der eine höchst wohlanständige, wohlwollende Miene angenommen hatte, worüber unser Held sich unsagbar freute, auf der andern Seite Andrei Filippowitsch mit sehr feierlichem Gesichtsausdruck. »Was soll das?« dachte Herr Goljadkin. Als er sah, daß man ihn zu Olsufi Iwanowitsch führte, da war es ihm, als ob ihm ein Blitz plötzlich alles erleuchtete. Der Gedanke an den entwendeten Brief fuhr ihm durch den Kopf. In namenloser Angst stand unser Held vor Olsufi Iwanowitschs Lehnstuhl. »Wie wird es mir jetzt gehen?« dachte er bei sich. »Selbstverständlich werde ich alles frei heraus sagen, mit einer Aufrichtigkeit, die von vornehmer Gesinnung zeugt; so und so, usw.« Aber was unser Held anscheinend fürchtete, trat nicht ein. Olsufi Iwanowitsch empfing Herrn Goljadkin, wie es schien, sehr gut; er streckte ihm zwar nicht die Hände entgegen; aber er wiegte, indem er ihn anblickte, sein graues, Ehrfurcht einflößendes Haupt mit ernst-trauriger und zugleich wohlwollender Miene hin und her. So schien es wenigstens Herrn Goljadkin. Es schien diesem sogar, als ob in Olsufi Iwanowitschs trüben Blicken eine Träne glänzte; er hob die Augen in die Höhe und sah, daß auch an den Wimpern der dicht daneben stehenden Klara Olsufjewna ein Tränchen glitzerte, daß mit Wladimir Semjonowitschs Augen etwas Ähnliches vorging, daß sogar Andrei Filippowitschs unerschütterliche, ruhige Würde sich von der allgemeinen, tränenreichen Anteilnahme nicht ausschloß, und daß endlich jener Jüngling, von dem wir früher einmal gesagt haben, daß er große Ähnlichkeit mit einem würdigen Rate hatte, den gegenwärtigen Augenblick schon dazu benutzte, bitterlich zu schluchzen ... Oder kam das vielleicht Herrn Goljadkin alles nur so vor, weil er selbst ausgiebig weinte und deutlich fühlte, wie ihm die heißen Tränen über die kalten Backen liefen? ... Schluchzend, mit den Menschen und dem Schicksal ausgesöhnt und im gegenwärtigen Augenblicke von Liebe erfüllt nicht nur zu Olsufi Iwanowitsch und allen Gästen zusammen, sondern sogar zu seinem so unheilbringenden Zwillingsbruder, der jetzt überhaupt nicht unheilbringend und nicht einmal wie Herrn Goljadkins Zwillingsbruder aussah, sondern wie ein ganz unbeteiligter und äußerst liebenswürdiger Mensch, wollte sich unser Held zu Olsufi Iwanowitsch wenden und ihm in rührender Weise sein Herz ausschütten; aber die Fülle der Gefühle, die sich in seinem Herzen angesammelt hatten, war zu groß: er konnte kein Wort herausbringen, sondern zeigte nur mit einer sehr ausdrucksvollen Handbewegung schweigend auf sein Herz ... Endlich führte Andrei Filippowitsch, wahrscheinlich um dem grauhaarigen alten Manne eine allzu große Aufregung zu ersparen, Herrn Goljadkin ein wenig beiseite und überließ ihn dort anscheinend völlig sich selbst. Lächelnd und etwas vor sich hinmurmelnd, ein wenig erstaunt, aber jedenfalls mit den Menschen und dem Schicksal fast ganz ausgesöhnt, begann unser Held in irgendwelcher Richtung sich durch die dichte Masse der Gäste fortzubewegen. Alle machten ihm Platz; alle sahen ihn mit einer sonderbaren Neugier und einer unerklärlichen, rätselhaften Teilnahme an. Unser Held ging in ein anderes Zimmer: überall wandte sich ihm dieselbe Aufmerksamkeit zu; er nahm undeutlich wahr, wie ein ganzer Schwarm sich hinter ihm her drängte, wie sie jeden seiner Schritte beobachteten, wie sie alle leise untereinander über irgendwelchen sehr interessanten Gegenstand sprachen, die Köpfe schüttelten und flüsternd disputierten. Herr Goljadkin hätte gern gewußt, worüber sie da stritten und flüsterten. Sich umblickend, bemerkte unser Held neben sich Herrn Goljadkin den jüngeren. Er fühlte sich gedrungen, ihn an der Hand zu fassen und beiseite zu führen, und bat hier den andern Jakow Petrowitsch inständig, ihm bei allen seinen künftigen Unternehmungen behilflich zu sein und ihn in kritischen Lagen nicht im Stich zu lassen. Herr Goljadkin der jüngere nickte würdevoll mit dem Kopfe und drückte Herrn Goljadkin dem älteren warm die Hand. Unserem Helden zitterte das Herz in der Brust von dem Überschwang seiner Gefühle. Er konnte kaum Atem holen; er hatte die Empfindung, daß ihn etwas furchtbar beengte, daß alle diese auf ihn gerichteten Augen ihn gewissermaßen niederdrückten und erstickten ... Herr Goljadkin sah im Vorbeigehen jenen Rat, der eine Perücke auf dem Kopfe trug. Der Rat schaute ihn mit einem ernsten, prüfenden Blick an, der sich durch die allgemeine Teilnahme nicht hatte milder stimmen lassen ... Unser Held faßte schon den Entschluß, gerade auf ihn zu zu gehen, um ihn anzulächeln und sich unverzüglich mit ihm auszusprechen; aber dieser Vorsatz kam nicht zur Ausführung. Für einen Augenblick vergaß Herr Goljadkin sich selbst und alles andere fast vollständig; er verlor sowohl das Gedächtnis als auch die Empfindung ... Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß er sich in einem weiten Kreise der ihn umgebenden Gäste herumdrehte. Auf einmal wurde Herr Goljadkin von dem andern Zimmer aus gerufen; dieser Ruf pflanzte sich schnell durch die ganze Menge fort. Alle gerieten in Aufregung, alle begannen geräuschvoll zu reden, alle stürzten zu der Tür hin, die in den ersten Saal führte; unsern Helden trugen sie beinah auf den Händen ebendorthin, wobei der hartherzige Rat mit der Perücke zufällig Seite an Seite mit Herrn Goljadkin ging. Endlich ergriff er ihn bei der Hand und veranlaßte ihn, sich neben ihn zu setzen, dem Sitze Olsufi Iwanowitschs gegenüber, jedoch in ziemlich beträchtlicher Entfernung von demselben. Alle, die in den Zimmern anwesend waren, setzten sich in mehreren Reihen um Herrn Goljadkin und Olsufi Iwanowitsch herum. Alles wurde still und ruhig; alle beobachteten ein feierliches Schweigen; alle blickten Olsufi Iwanowitsch an, offenbar in Erwartung von etwas sehr Ungewöhnlichem. Herr Goljadkin bemerkte, daß neben Olsufi Iwanowitschs Lehnstuhl und ebenfalls dem Rate gegenüber der andere Herr Goljadkin und Andrei Filippowitsch Platz genommen hatten. Das Schweigen dauerte ziemlich lange; man wartete tatsächlich auf etwas. »Genau so wie in einer Familie, bevor einer eine weite Reise antritt; man brauchte jetzt nur aufzustehen und zu beten,« dachte unser Held. Auf einmal entstand eine ungewöhnliche Bewegung und unterbrach alle seine Überlegungen. Etwas längst Erwartetes war eingetreten. »Er kommt, er kommt!« wurde in der Menge gerufen. »Wer kommt denn?« fuhr es Herrn Goljadkin durch den Kopf, und ein sonderbares Gefühl ließ ihn zusammenfahren. »Es ist Zeit!« sagte der Rat, indem er Andrei Filippowitsch bedeutsam ansah. Andrei Filippowitsch warf seinerseits dem alten Olsufi Iwanowitsch einen Blick zu. Olsufi Iwanowitsch nickte würdevoll und feierlich mit dem Kopfe. »Erheben wir uns!« sagte der Rat und veranlaßte Herrn Goljadkin zum Aufstehen. Alle erhoben sich. Darauf ergriff der Rat Herrn Goljadkin den älteren bei der Hand und Andrei Filippowitsch Herrn Goljadkin den jüngeren, und so führten sie die beiden vollkommenen Ebenbilder durch die Menge, die sie in gespannter Erwartung umgab, feierlich aufeinander zu. Unser Held blickte erstaunt um sich; aber man hielt ihn sogleich davon ab und wies ihn auf Herrn Goljadkin den jüngeren hin, der ihm die Hand entgegenstreckte. »Man will uns miteinander versöhnen,« dachte unser Held und hielt gerührt seine Hand Herrn Goljadkin dem jüngeren hin; dann, dann streckte er auch den Kopf zum Kusse vor. Dasselbe tat auch der andere Herr Goljadkin ... In diesem Momente schien es Herrn Goljadkin dem älteren, daß sein treuloser Freund lächelte und der ganzen umstehenden Menge schnell und listig zublinkte, daß ein boshafter Zug auf dem Gesichte des unedlen Herrn Goljadkin des jüngeren zum Ausdruck kam, und daß er sogar im Augenblicke seines Judaskusses eine Grimasse schnitt ... In Herrn Goljadkins Kopfe dröhnte es; vor den Augen wurde es ihm dunkel; es kam ihm vor, als ob eine Unmenge, eine ganze Reihe ganz ähnlicher Goljadkins lärmend durch alle Türen des Saales hereindränge; aber es war zu spät ... Der Verräter hatte ihm schon einen schallenden Kuß gegeben, und ...

Da begab sich etwas ganz Unerwartetes ... Die Saaltür wurde geräuschvoll geöffnet, und auf der Schwelle erschien ein Mensch, dessen bloßer Anblick Herrn Goljadkin zu Eis erstarren ließ. Seine Füße wuchsen am Boden fest. Ein Schrei erstarb in seiner beengten Brust. Übrigens hatte Herr Goljadkin alles vorher gewußt und schon längst etwas Ähnliches geahnt. Der Unbekannte näherte sich Herrn Goljadkin würdevoll und feierlich. Herr Goljadkin kannte diese Gestalt sehr gut. Er hatte sie schon gesehen, sehr oft gesehen, noch an diesem selben Tage gesehen ... Der Unbekannte war ein hochgewachsener, kräftig gebauter Mann, in schwarzem Frack, mit einem hohen Orden am Halse, mit dichtem, sehr schwarzem Backenbart; es fehlte nur die Zigarre im Munde, um die Ähnlichkeit vollständig zu machen. Der Blick des Unbekannten bewirkte, daß, wie schon oben gesagt, Herr Goljadkin vor Angst zu Eis erstarrte. Mit würdevoller, feierlicher Miene trat der furchtbare Mensch auf den bedauernswerten Helden unserer Erzählung zu ... Unser Held streckte ihm die Hand entgegen; der Unbekannte ergriff sie und zog ihn hinter sich her ... Verstört und niedergedrückt blickte unser Held rings um sich.

»Das ist Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz, Doktor der Medizin und Chirurgie, Ihr alter Bekannter, Jakow Petrowitsch!« schnatterte eine widerwärtige Stimme dicht an Herrn Goljadkins Ohr. Er sah sich um: es war der wegen seiner Nichtswürdigkeit hassenswerte Zwillingsbruder des Herrn Goljadkin. Eine unedle, boshafte Freude glänzte auf seinem Gesichte: entzückt rieb er sich die Hände; entzückt drehte er seinen Kopf nach allen Seiten; entzückt trippelte er um all und jeden herum; er schien Lust zu haben, gleich auf dem Flecke vor Entzücken loszutanzen; zuletzt sprang er vor, nahm einem der Diener eine Kerze aus der Hand und ging voran, um Herrn Goljadkin und Krestjan Iwanowitsch zu leuchten. Herr Goljadkin hörte deutlich, wie alle, die im Saale waren, hinter ihm herströmten, wie alle sich stießen und drängten und ihm einhellig immer dasselbe wiederholten: »Das hat nichts zu bedeuten; fürchten Sie sich nicht, Jakow Petrowitsch! Das ist ja Ihr alter Freund und Bekannter Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz ...« Endlich traten sie auf die hellerleuchtete Treppe hinaus; auch auf der Treppe standen eine Menge Leute. Geräuschvoll wurde die Haustür geöffnet, und nun stand Herr Goljadkin mit Krestjan Iwanowitsch auf den davor befindlichen Stufen. Vor der Tür stand eine Kutsche, mit vier Pferden bespannt, die vor Ungeduld schnaubten. Der schadenfrohe Herr Goljadkin der jüngere kam in großen Sätzen die Treppe herabgesprungen und öffnete selbst die Kutsche. Krestjan Iwanowitsch ersuchte durch eine einladende Handbewegung Herrn Goljadkin, einzusteigen. Übrigens bedurfte es einer solchen einladenden Handbewegung gar nicht; es waren genug Leute da, um ihm hineinzuhelfen ... Halbtot vor Angst blickte Herr Goljadkin zurück: die ganze hellerleuchtete Treppe war mit Menschen besetzt; von allen Seiten blickten neugierige Augen nach ihm hin; selbst Olsufi Iwanowitsch saß in seinem bequemen Lehnstuhl auf dem oberen Treppenflur und verfolgte aufmerksam mit lebhaftem Interesse den ganzen Vorgang. Alle warteten. Ein Gemurmel der Ungeduld lief durch die Menge, als Herr Goljadkin sich umwandte und zurückblickte.

»Ich hoffe, daß darin nichts ... nichts Anstößiges liegt ... nichts, was der Behörde zu strengem Verfahren gegen mich Anlaß geben ... oder die allgemeine Aufmerksamkeit mit Bezug auf meine amtliche Stellung erregen könnte?« sagte unser Held ganz fassungslos. Ringsum wurde lärmend darauf geantwortet; alle schüttelten verneinend die Köpfe. Die Tränen stürzten Herrn Goljadkin aus den Augen.

»In diesem Falle bin ich bereit ... ich vertraue mich ganz Krestjan Iwanowitsch an ... ich lege mein Schicksal in seine Hände ...«

Kaum hatte Herr Goljadkin gesagt, daß er sein Schicksal ganz in Krestjan Iwanowitschs Hände lege, als alle, die ihn umgaben, in ein furchtbares, betäubendes Freudengeschrei ausbrachen, das sich dann in unheilverkündendem Widerhall durch die ganze wartende Menge hinwälzte. Nun faßten Krestjan Iwanowitsch von der einen Seite, Andrei Filippowitsch von der andern Seite Herrn Goljadkin unter den Arm und machten Anstalt, ihn in den Wagen zu setzen; der Doppelgänger half nach seiner nichtswürdigen Gewohnheit von hinten nach. Der unglückliche Herr Goljadkin der ältere warf auf alle und alles einen letzten Blick und kroch zitternd wie ein Kätzchen, das man mit kaltem Wasser begossen hat, wenn dieser Vergleich gestattet ist, in den Wagen hinein; nach ihm stieg sogleich auch Krestjan Iwanowitsch ein. Die Wagentür wurde zugeschlagen; die Peitsche fiel klatschend auf die Rücken der Pferde; die Pferde zogen an ... alle stürzten hinter Herrn Goljadkin her. Gellendes, wütendes Geschrei aller seiner Feinde schallte ihm als Abschiedsgruß nach. Eine Zeitlang huschten noch einige Gestalten um den Wagen herum, der Herrn Goljadkin entführte; aber allmählich blieben sie zurück und verschwanden schließlich ganz. Am längsten von allen blieb Herrn Goljadkins unedler Zwillingsbruder. Die Hände in die Taschen seiner grünen Uniformhosen gesteckt, lief er mit zufriedener Miene einher, indem er bald von der einen, bald von der andern Seite an den Wagen heransprang; manchmal griff er auch nach dem Fensterrahmen, hängte sich daran, steckte den Kopf ins Fenster und warf Herrn Goljadkin zum Abschied Kußhändchen zu; aber auch er begann müde zu werden, zeigte sich immer seltener und seltener und verschwand schließlich vollständig. Herr Goljadkin fühlte einen dumpfen Schmerz im Herzen; das Blut pochte ihm wie eine heiße Quelle im Kopfe; es war ihm drückend heiß; er wollte sich gern die Kleider aufknöpfen, seine Brust entblößen, sie mit Schnee beschütten und mit kaltem Wasser begießen. Endlich versank er in Bewußtlosigkeit ... Als er wieder zu sich kam, sah er, daß der Wagen auf einem ihm unbekannten Wege dahinfuhr. Rechts und links lag schwarzer Wald; alles war öde und menschenleer. Auf einmal wurde er starr vor Schreck: zwei feurige Augen blickten ihn in der Dunkelheit an und funkelten in boshafter, teuflischer Freude. »Das ist nicht Krestjan Iwanowitsch!« dachte Herr Goljadkin. »Wer ist das? Oder ist er es doch? Er ist es! Es ist Krestjan Iwanowitsch; aber nicht der frühere, sondern ein anderer Krestjan Iwanowitsch! Das ist ein entsetzlicher Krestjan Iwanowitsch!...«

»Krestjan Iwanowitsch, ich... ich... ich glaube, es fehlt mir nichts, Krestjan Iwanowitsch,« begann unser Held zaghaft und zitternd, in dem Wunsche, durch Unterwürfigkeit und Demut den furchtbaren Krestjan Iwanowitsch ein wenig milder zu stimmen.

»Sie bekommen vom Staate freie Wohnung, Heizung, Beleuchtung und Bedienung; das ist mehr, als Sie verdienen,« antwortete Krestjan Iwanowitsch; die Antwort klang streng und furchtbar wie ein Urteilsspruch.

Unser Held schrie auf und griff sich nach dem Kopfe. O weh! Das hatte er schon längst geahnt.


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