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Siehe Bildunterschrift

Ärztetrakt im Moskauer Marienhospital. Dostojewskis Geburtshaus.
(Jetzt Dostojewski-Museum). Aus dem Dostojewski-Museum in Moskau

 

Ach, diese Märchendichter! Gibt es denn gar nichts Nützliches, Angenehmes, Erquickendes, worüber man schreiben kann, statt die nichtigsten Dinge der Welt hervorzukramen? ... Am besten wäre es überhaupt, ihnen das Schreiben zu verbieten! Was soll das etwa heißen: da liest man ... denkt unwillkürlich doch nach und allerlei Unsinn geht einem durch den Kopf. Wirklich: am besten, ihnen überhaupt das Schreiben zu verbieten – einfach verbieten, basta!

Fürst W. F. Odojewsky.

 

8. April.

 

Meine teure Warwara Alexejewna!

Gestern war ich glücklich, über alles glücklich, man kann gar nicht mehr glücklicher sein! Ach, Sie Eigensinnige! Haben Sie also wenigstens ein einziges Mal in Ihrem Leben auf mich gehört. Abends, um acht Uhr, als ich erwachte (Sie wissen, meine Teure, daß ich so meine zwei Stunden trauten Schlafes nach dem Dienste auszuruhen pflege), hole ich mir die Kerze, bereite Papier vor, spitze die Feder, erhebe meinen Blick – und wahrhaftig, mein Herz begann ganz furchtbar stark zu schlagen! Sie haben also doch erraten, was ich wollte, was mein armes Herz ersehnt hat! Ich sehe, daß ein kleines Eck Ihres Vorhanges zurückgeschlagen, an einem Balsaminentopf steckt, also genau so, wie ich es Ihnen damals angedeutet habe, übrigens schien es mir auch, als huschte Ihr kleines Gesichtchen im Fensterrahmen vorüber, als hätten Sie aus Ihrem Zimmerchen nach mir Ausschau gehalten, als hätten auch Sie an mich gedacht – wie ich an ... Und wie hat es mich verdrossen, mein Täubchen, daß ich dieses liebreizende Gesichtchen nicht genau betrachten konnte! Es war einmal – da haben auch wir noch gut gesehen, meine Teure! Das Alter ist wahrlich kein Vergnügen, meine Liebe! Eben wieder verspüre ich dieses Flimmern vor den Augen; kaum, daß man abends ein wenig arbeitet, jemandem schreibt – und schon hat man am nächsten Morgen entzündete Augen, man tränt, muß sich beinahe vor den Leuten schämen! Und trotzdem sah ich im Geiste Ihr Lächeln blinken, mein Engelchen, Ihr gutmütiges, freundliches Lächeln. Und in meinem Herzen hatte ich genau dieselben Gefühle, wie damals, als ich Sie küßte, Warinka – erinnern Sie sich, Engelchen? Wissen Sie, mein Täubchen, es schien mir sogar, als hätten Sie mir mit dem Fingerlein gedroht? Nicht wahr, Sie Wildfang? In Ihrem nächsten Brief müssen Sie mir das unbedingt genau beschreiben. Nun, und wie ist Ihre Ansicht über unseren zarten Einfall mit Ihrem Vorhang, Warinka? Sehr nett, nicht wahr? Ich mag nun bei der Arbeit sitzen, schlafen gehen, erwachen – und schon weiß ich, daß Sie da drüben an mich denken, sich meiner erinnern und ich weiß, daß Sie selbst gesund und heiter sind. Lassen Sie den Vorhang herab, heißt das: Gute Nacht, Makar Alexejewitsch, es ist Zeit, ins Bett zu gehen! Heben Sie ihn auf, heißt es: Guten Morgen, Makar Alexejewitsch, haben Sie gut geschlafen? Oder: Wie fühlen Sie sich gesundheitlich, Makar Alexejewitsch? Was mich betrifft, fühle ich mich, Dank meinem Schöpfer – gesund und wohlauf. Sehen Sie, meine zarte Seele, was für ein kluger Einfall das war! Und die Briefe sind gar nicht nötig. Listig, nicht wahr? Und der ganze Einfall – mein Werk! Nun, bin ich nicht wirklich erfinderisch, Warwara Alexejewna?

Ich muß Ihnen mitteilen, meine teuere Warwara Alexejewna, daß ich die ganze Nacht sehr gut geschlafen habe, entgegen meiner Erwartung, weshalb ich auch sehr zufrieden war; insbesondere, da man in neu bezogenen Wohnungen stets schlecht zu schlafen pflegt, ehe man sich gewöhnt hat. Es ist eben noch nicht das Richtige. Als ich heute aufstand, hatte ich im Herzen das Gefühl eines munteren Falken – heiter und sorglos! Was für ein herrlicher Morgen heute, meine Teuere! Bei uns hat man das Fenster geöffnet, die Sonne leuchtet, Vögel zwitschern, die Luft ist voller Frühlingsdüfte und alle Natur atmet auf – kurz, auch alles andere war der Stimmung gemäß, alles, wie es sich gehört – für eine echte Frühlingsstimmung. Ich habe heute sogar schon ganz gehörig geträumt, mit offenen Augen – und: nur von Ihnen, meine Warinka! Ich habe Sie mit den Vöglein im blauen Äther verglichen, geschaffen, um die Menschheit zu beglücken, Gottes Natur zu zieren. Da dachte ich auch, Warinka, daß wir Menschen, die in Angst und Sorge leben, die Vöglein im Äther beneiden müssen, die ihr unschuldiges Leben heiter, sorglos verbringen dürfen – und allerlei andere Dinge, in dieser Art. Das heißt, ich stellte derartige Vergleiche an. Ich habe da ein Buch, Warinka, dort ist's so ähnlich, alles ist genau so beschrieben. Ich erwähne dies bloß, weil ich meine, daß es eben verschiedene Auffassungen gibt, meine Teuerste. Und nun aber ist's Frühling und es kommen einem allerlei angenehme Gedanken, launig, schlau, und zarte Betrachtungen überkommen den Menschen. Alles erscheint in rosigem Licht. Und darum habe ich das alles niedergeschrieben. Übrigens habe ich das meiste davon tatsächlich dem erwähnten Buche entnommen. Dort kommt dem Verfasser derselbe Wunsch, bloß sagt er ihn in Versen:

»Warum bin ich kein Vogel, kein Raubvogel!«

Und so weiter. Dort werden auch noch verschiedene Gedanken ausgesprochen, aber – Gott mit ihnen. Nun, und wohin sind Sie diesen Morgen gegangen, Warwara Alexejewna? Ich war noch nicht einmal recht im Begriff, in den Dienst zu gehen, da sah ich Sie schon munter über den Hof trippeln, heiter wie ein Vöglein, das aus dem Zimmer flattert. Wie angenehm war es für mich, Sie zu betrachten! Ach, Warinka, Warinka! Seien Sie nicht traurig. Tränen helfen den Sorgen nichts; das weiß ich genau, meine Teuerste, aus Erfahrung weiß ich das! Sie haben es jetzt so ruhig, und mit der Gesundheit geht es auch besser. Nun, wie geht's mit Ihrer Feodora? Ach, was für ein gutes Wesen sie doch ist! Schreiben Sie mir, Warinka, wie Sie mit ihr leben und ob Sie mit ihr zufrieden sind! Feodora ist ein bißchen brummig. Aber das dürfen Sie nicht beachten, Warinka. Gott mit ihr – sie ist ja sonst so gutmütig.

Ich habe Ihnen bereits von unserer Therese geschrieben – auch sie ist ein gutes, treues Wesen. Ich war übrigens bezüglich unserer Briefe schon sehr beunruhigt. Wie wird man sie überbringen? Und da sendet uns Gott unsere Therese, zu unserem Glück. Sie ist eine gute Frau, bescheiden, still. Aber dafür ist unsere Hausfrau einfach rücksichtslos. Sie nützt sie bei der Arbeit aus, als wäre die arme Therese ein lebloser Lappen, mit dem man tun kann, was man will.

Wenn Sie wüßten, in was für eine Wildnis ich da geraten bin, Warwara Alexejewna! Und diese Wohnung! Ich habe doch früher in völliger Einsamkeit gelebt, das wissen Sie ja selbst: still, ganz in Ruhe, jede Fliege konnte man hören. Und hier: Lärm, Geschrei, Gewalt! Ja, Sie wissen noch gar nicht, wie's hier eigentlich zugeht! Stellen Sie sich vor: ein langer Gang, ganz finster und schmierig. Rechter Hand eine Feuermauer und links, Tür auf Tür, wie in einem Hotel, eine ganze Reihe von Türen nebeneinander. Nun, in diesem Hotel ist eben ein Zimmer neben dem andern, allesamt vermietet. Man lebt einzeln, zu zweien, zu dreien. Ordnung dürfen Sie nicht verlangen – das Ganze gleicht der Arche Noah! Trotzdem, glaube ich, sind es ganz gute Menschen, ziemlich gebildet, studierte Leute. Da gibt es z. B. einen Beamten (er beschäftigt sich irgendwo auf literarischem Gebiet), der ist ein belesener Mensch: er spricht von Homer, von Brambäus und allerhand anderen Schriftstellern – ein kluger Mann! Dann wohnen zwei Offiziere hier. Sie spielen ununterbrochen Karten. Ferner ein Seemann, ein Englisch-Lehrer. Warten Sie, ich will Sie belustigen, meine Liebe. Ich will diese Leute in meinem nächsten Brief satirisch beschreiben, das heißt, eigentlich bloß so, wie sie wirklich hier leben, ausführlich. Unsere Hausfrau ist eine sehr kleine, unreine Alte, den ganzen Tag in Pantoffeln und Schlafrock, schreit ständig mit Therese herum. Ich wohne in der Küche, oder viel genauer gesagt: neben der Küche gibt es da ein Zimmer (und unsere Küche, das muß ich bemerken, ist rein, hell, sehr sauber), ein kleines Zimmerchen, ein bescheidener Winkel ... oder, noch besser gesagt: die Küche ist groß, hat drei Fenster, parallel zur Querwand hat man nun für mich eine Scheidewand gezogen, es ergab sich also gewissermaßen noch ein Zimmer, eine Nummer über dem Normalbelag. Alles ist luftig, angenehm, es gibt sogar ein Fenster und alles – mit einem Wort, alles ist angenehm. So also sieht mein Winkelchen aus. Aber Sie dürfen nicht am Ende denken, meine Teuere, daß darin irgendwelche verborgenen Gedanken sind – denn es ist allerdings wirklich bloß eine Küche. Denn tatsächlich lebe ich ja eigentlich in diesem Raum hinter der Scheidewand, aber das macht nichts. Von allen anderen getrennt, lebe ich hier vollkommen zurückgezogen. Habe Bett, Tisch, eine Kommode, zwei Stühle, mein Heiligenbild an die Wand gehängt. Sicherlich gibt es bessere Wohnungen, vielleicht sogar weitaus bessere, aber die Behaglichkeit ist schließlich das Wichtigste. Und da ich nun einmal vor allem für Behaglichkeit bin, dürfen Sie nicht glauben, ich wohne hier etwa aus einem anderen Grunde. Ihr kleines Fenster habe ich genau gegenüber, jenseits des Hofes. Und der Hof selbst ist schmal, ich sehe Sie vorbeihuschen, das ist für mich armen Kerl etwas Heiteres – und dazu billiger. Bei uns kostet das minderwertigste Zimmer mit Verpflegung 35 Rubel. Nichts für meine Tasche! Und meine Wohnung kostet mich sieben Rubel, Verpflegung fünf Rubel, während ich früher dreißig bezahlt habe und mir dabei manches absparen mußte. Ich konnte nicht immer Tee trinken, während es jetzt für Tee und Zucker durchaus reicht. Aber, es ist wirklich so, meine Teuere: man schämt sich förmlich, wenn man keinen Tee trinken kann. Es wohnen durchwegs Leute hier, die es sich leisten können und deshalb schämt man sich. Nur wegen der anderen Leute trinkt man ihn, Warinka, damit sie es sehen, wegen des guten Tones; meinetwegen wäre es mir ganz gleichgültig, ich bin nicht anspruchsvoll. Benötigt man nun noch ein wenig Taschengeld – man braucht doch immer wieder irgend etwas – nun, etwa Stiefel, Kleider – was bleibt da noch übrig? Mein ganzes Gehalt geht auf. Aber ich hadere nicht, ich bin ganz zufrieden. Es genügt mir. Schon ein paar Jahre komme ich damit aus. Auch Zulagen gibt es mitunter. Nun, leben Sie wohl, mein Engelchen. Ich habe da ein paar Blumen in Töpfen gekauft, mit Balsaminen und Geranien – ziemlich billig. Und Sie lieben vielleicht Reseda? Es gibt dort auch Reseda, schreiben Sie nur! Aber bitte alles so ausführlich wie möglich. Denken Sie bitte nicht, weiß Gott was, daß ich so ein Zimmer gemietet habe. Nein, es geschah nur wegen der Behaglichkeit, einzig und allein deshalb. Ich habe ja, meine Teuerste, schon Geld zur Seite gelegt, ich habe schon ein wenig beisammen ... Beachten Sie das nicht, daß ich so kleinlaut bin, daß es scheint, als könnte mich eine Fliege mit ihrem Flügel umwerfen. Nein, meine Liebe, ich bin nicht so schwerfällig, mein Charakter ist durchaus normal, wie es sich für einen anständigen, entschlossenen Menschen gebührt. Leben Sie wohl, mein Engelchen! Nun hätte ich Ihnen schon beinahe zwei ganze Bogen vollgeschrieben und es wird Zeit, in den Dienst zu gehen. Ich küsse Ihre Fingerchen, meine Teuerste und verbleibe

Ihr ergebenster Diener und aufrichtigster Freund
Makar Djewuschkin.

P. S. Ich bitte Sie um eins: Antworten Sie mir so ausführlich als möglich, mein Engelchen. Ich sende Ihnen gleichzeitig ein Pfund Konfekt, Warinka; lassen Sie sich's gut schmecken, aber machen Sie sich um Gottes willen meinetwegen nur gar keine Sorgen und nehmen Sie mir das nicht übel. Also, leben Sie wohl, meine Teuerste!

8. April.

 

Geehrter Herr Makar Alexejewitsch!

Wissen Sie, es wird nichts anderes übrig bleiben, als Ihnen ernstlich böse zu sein! Ich schwöre Ihnen, Sie guter Makar Alexejewitsch, daß es mir bereits wirklich schwer fällt, Ihre Geschenke anzunehmen. Ich weiß, was sie Sie kosten, wieviel Entbehrungen am Notwendigsten das für Sie bedeutet. Wie oft schon habe ich Ihnen gesagt, daß ich gar nichts brauche, absolut gar nichts. Daß ich nicht in der Lage bin, die Aufmerksamkeiten, mit denen Sie mich überhäufen, zu erwidern. Und wozu schicken Sie mir die Blumentöpfe? Die Balsaminen, gut, da will ich nichts dagegen einwenden, aber wozu auch noch Geranien? Ich brauche nur ein kleines Sterbenswörtchen über Geranien verlieren – und schon kaufen Sie sie mir! Sie waren bestimmt sehr teuer? Wie wunderbar sie blühen! Ein rotleuchtender Stern neben dem anderen! Wo haben Sie bloß diese wunderschönen Geranien her? Ich habe sie mitten ins Fenster gestellt, an den sichtbarsten Platz. Ich werde ein Bänkchen aufstellen und darauf ebenfalls Blumen geben. Lassen Sie mich nur erst reich werden! Fedora kann sich nicht sattsehen, wir haben das wahre Paradies im Zimmer, sauber und freundlich. Und wozu das Konfekt? Ich habe übrigens aus Ihrem Brief sofort erraten, daß da etwas nicht stimmt – Paradies, Frühling, Vogelgezwitscher, Wohlgerüche. Was soll das – dachte ich? Am Ende gar noch Verse?! Tatsächlich, es haben bloß noch Verse in Ihrem Brief gefehlt, Makar Alexejewitsch! Zarte Gefühle, Betrachtungen im rosigsten Licht – das alles gibt es in diesem Brief. An den Vorhang habe ich nicht gedacht. Er dürfte hängen geblieben sein, als ich die Blumentöpfe umstellte. So ist die Sache!

Ach, Makar Alexejewitsch! Was Sie da alles zusammenreden, Sie rechnen mir Ihre Ausgaben vor, um mich zu täuschen, um mir zu zeigen, daß Sie alles für sich allein verbrauchen, aber vor mir werden Sie nichts verheimlichen, nichts verbergen können! Es ist klar, daß Sie sich meinetwegen Notwendigstes vorenthalten. Wie konnten Sie es sich zum Beispiel einfallen lassen, so ein Zimmer zu nehmen? Man stört und belästigt Sie doch offenkundig; es ist unbequem, ungemütlich für Sie! Sie lieben die Einsamkeit – und dort, wo Sie jetzt wohnen ...?! Und Sie könnten viel besser leben, wenn man bedenkt, was für ein Gehalt Sie haben! Fedora sagt, daß Sie früher ganz unvergleichlich besser lebten als jetzt. Sie werden doch nicht Ihr ganzes Leben in solcher Einsamkeit verbracht haben, unter solchen Entbehrungen, freudlos, ohne ein mitfühlendes, liebes Wort zu vernehmen, in einem gemieteten Winkel, bei fremden Menschen? Ach, mein lieber Freund, wie leid Sie mir tun! Schonen Sie zumindest Ihre Gesundheit, Makar Alexejewitsch! Sie sagen, daß Ihre Augen schwächer werden, also schreiben Sie nicht bei Kerzenlicht! Wozu das? Ihr Vorgesetzter im Dienst wird ohnedies über Ihren Pflichteifer im klaren sein.

Ich flehe Sie nochmals an, für mich nicht so viel Geld zu vergeuden. Ich weiß, daß Sie mich lieben, aber Sie selbst sind doch auch nicht reich ... Heute bin auch ich munterer Stimmung erwacht. Es war mir so wohl. Fedora arbeitete schon eine ziemliche Weile und gab dann auch mir zu arbeiten. Ich war bei so guter Stimmung; ging bloß aus, um Seide zu kaufen, dann begann ich zu arbeiten. Den ganzen Morgen war mir so leicht ums Herz, war ich voll Munterkeit! Und jetzt kommen wieder die schwarzen Gedanken, voll Trauer. Mein Herz ist ganz schwach geworden.

Ach, was wird mit mir sein, was für ein Schicksal steht mir noch bevor! Es ist schwer, daß ich in solch ungewisser Lage bin, gar keine Zukunft vor mir habe, gar nicht raten kann, was mit mir werden soll. Und wenn ich zurückschaue, erschaudere ich. Dort ist alles so voll Leid, daß einem schier das Herz bricht – schon bei der bloßen Erinnerung. Eine Ewigkeit lang werde ich über die bösen Menschen weinen, die mich untergehen ließen!

Es wird dunkel. Ich muß an die Arbeit. Ich wollte Ihnen noch über Vieles schreiben, aber es geht sich nicht aus – die Arbeit wartet. Ich muß mich beeilen. Schreiben ist wohl eine schöne Sache – das ganze Leben erscheint einem dann nicht so langweilig. Und warum kommen Sie nie zu uns? Warum das, Makar Alexejewitsch? Und jetzt haben Sie es doch ganz nahe und mit der Zeit wird es sich manchmal wohl doch ausgehen? Also bitte, kommen Sie! Ich habe Ihre Therese gesehen. Sie ist, glaube ich, leidend. Sie tat mir leid; ich gab ihr 20 Kopeken ... Ja, jetzt hätte ich fast vergessen: Schreiben Sie sofort genau, wie Sie leben, aber ganz ausführlich! Was für Leute Sie dort um sich haben und ob Sie in gutem Einvernehmen mit ihnen leben. Ich möchte das alles sehr gerne wissen. Also schreiben Sie mir das nur ja genau! Heute werde ich absichtlich den Vorhang nicht zurückschlagen. Gehen Sie früher zu Bett; gestern sah ich bis Mitternacht Licht bei Ihnen. Nun, leben Sie wohl! Heute ist's mir traurig zumute, düster, wehmütig! Der Tag ist schon einmal danach! Leben Sie wohl!

Ihre
Warwara Dobroselowa.

8. April.

 

Sehr geehrte Warwara Alexejewna!

Ja, meine Liebe, Teuerste, der heutige Tag ist nun schon danach – wie ihn das Schicksal eben für mich bestimmt hat. Nun haben Sie sich gründlich über mich alten Mann lustig gemacht, Warwara Alexejewna! Übrigens bin ich selbst daran schuld, durchaus nur ich allein! In meinem Alter, mit meinen paar Haaren auf dem Kopfe, treibt man eben kein Liebesspiel mehr, schreibt nichts Zweideutiges ... Und noch etwas muß ich sagen, meine Liebste: mitunter ist der Mensch ganz wunderlich, und wie wunderlich! Ach, du mein Heiland, wovon allem er nicht spricht, wo hinaus er mitunter will! Und was geht daraus hervor, was wird aus all dem? Absolut gar nichts. So ein Schund wird daraus, daß Gott davor bewahre! Meine Teuere, ich grolle nicht, es ist nur so bedauerlich, sich an alles zu erinnern, so bedauerlich, daß ich Ihnen da alles so bildlich und dumm geschrieben habe. Und in den Dienst gegangen bin ich heute ganz hochnäsig und stutzerhaft. Ich hatte solch leuchtendes Gefühl im Herzen. Und auf der Seele war mir's, wie an einem rechten Feiertag. Frohen Mutes war ich, wahrhaftig! Ich stürzte mich förmlich auf die Arbeit – aber was ist daraus geworden? Ich sah mich dann ein wenig um und mußte bemerken, daß eigentlich alles war, wie sonst: grau, düster. Wie immer: Tintenkleckse, dieselben Tische und Stühle, dasselbe Papier und auch ich selbst war derselbe, wie immer. Ich war ganz und gar derselbe, der ich immer war – wozu also hatte ich es notwendig, den Pegasus zu reiten? Ja, wieso also ist das alles gekommen? Nur deshalb, weil die Sonne ein wenig zum Vorschein kam, weil der Himmel etwas heiterer war? Am Ende daher? Ja – und was sind das für Düfte, wenn man auf den Hof hinausblickt, wo's doch unter dem Fenster weiß Gott, was für Schmutz gibt! Fast glaube ich, daß mir dies alles nur in der Vorstellung so erscheint! Ich werde bloß manchmal etwas wirr im Kopfe, das kommt nun schon mitunter vor, der Mensch wird dann phantastisch und schwätzt allerhand dummes Zeug. Das kommt bloß davon, daß das Herz übervoll ist, dumm, daß es brennt. Ich ging nicht so nach Hause, wie andere Leute, ich schleppte mich dahin. Und dazu schmerzte mich noch der Kopf. Eins zum anderen: ich muß mir den Rücken verkühlt haben. Ich Dummkopf hatte mich zu sehr des Frühlings gefreut und hatte bloß den leichten Überrock genommen. Und was meine Gefühle anbelangt, haben Sie sich doch getäuscht, meine Teuere! Sie haben meine Suada falsch aufgefaßt. Ich habe für Sie bloß eine Art rein väterlicher Zuneigung, Warwara Alexejewna, ich nehme bei Ihnen den Platz Ihres Vaters ein – in all Ihrer bitteren Verwaistheit; das sage ich ganz von der Seele weg, aus reinem Herzen, als einer, der sich Ihnen verwandt fühlt. Wie immer es auch sein mag, ich bin ja doch ein entfernter Verwandter für Sie, wie's im Sprichwort heißt: das siebente Wasser in der Suppe – und trotzdem ein wirklicher Verwandter, jetzt aber Ihr allernächster Beschützer. Insbesondere, da Sie doch dort, wo es am naheliegendsten war, daß Sie Schutz und Zuflucht hätten finden sollen, Verrat und Kränkung trafen. Und was die Verse anbelangt, sage ich Ihnen, meine Liebste, daß es für meine alten Jahre nicht mehr schicklich ist, mich mit Versen zu befassen. Verse sind Unsinn! Schon Kinder werden in den Schulen verprügelt, wenn sie heutzutage Verse machen ... so steht die Sache, meine Teuerste.

Was schreiben Sie mir da von meiner Behaglichkeit, Warwara Alexejewna, über Ruhe und allerhand andere Dinge? Meine Liebste, ich bin weder wählerisch noch anspruchsvoll, habe niemals besser gelebt, als jetzt, warum sollte ich auf meine alten Tage anfangen, zu nörgeln? Ich bin satt, habe Kleider, Schuhe – was braucht man da noch? Ich bin nicht gräflicher Abstammung! – Meine Eltern waren nicht adelig und meine ganze Familie hatte weniger Einkommen als ich es jetzt habe. Ich bin nicht verzärtelt. Wenn ich übrigens aufrichtig sein soll, muß ich gestehen, daß in meiner früheren Wohnung alles unvergleichlich besser war; man war unabhängiger, meine Liebste. Natürlich, auch meine jetzige Wohnung ist angenehm, in einiger Hinsicht sogar freundlicher und, wenn Sie wollen, abwechslungsreicher. Es gibt dagegen keine Einwände – aber um die alte Wohnung ist mir leid. Wir alten Leute verhalten uns eben zu alten Sachen, wie zu etwas Verwandtem, man ist daran gewöhnt. Die Wohnung war klein, wissen Sie, behaglich! Die Wände waren ... aber, wozu damit wieder beginnen! – Die Wände waren – wie alle anderen Wände sind, aber darum handelt es sich eigentlich gar nicht, doch die Erinnerung an all das Vergangene stimmt mich ein bißchen traurig. Merkwürdige Sache – so etwas drückt auf die Stimmung und die Erinnerung ist irgendwie angenehm. Sogar das, was unangenehm, worüber man mitunter ungehalten war, wird in der Erinnerung unwillkürlich heller und ich sehe es im Geiste vor mir, als etwas Vertrautes. Wir haben ruhig dahingelebt, Warinka; ich und meine selige Hausfrau, eine gute alte Frau. Wie traurig werde ich, wenn ich mich ihrer heute erinnere! Sie war ein gutes Wesen und hat nicht viel für die Wohnung verlangt. Sie pflegte ständig aus alten, verschiedenen Reststücken Stoffes, die sie in Bänder schnitt, mit ellenlangen Nadeln Bettdecken zu stricken; damit war sie fast immer beschäftigt. Licht benützten wir gemeinsam, saßen an einem gemeinsamen Tisch, arbeiteten dort. Sie hatte ein Enkelkind, namens Mascha, – ich erinnere mich ihrer, als sie noch ganz klein war – das Mädchen dürfte jetzt schon etwa dreizehn Jahre alt sein. Sie war so übermütig, so lustig, hat uns ständig erheitert. So lebten wir zu dritt. An langen Winterabenden saßen wir um den runden Tisch, tranken Tee, dann taten wir wieder unsere Arbeit. Und die Alte begann, Mascha Märchen zu erzählen, damit das Kind nicht wieder auf neue Schelmereien sinne. Und was für Märchen das waren! Nicht nur Kinder, auch Erwachsene konnten da mit Freude lauschen! Und ob! Ich selbst habe mir oft die Pfeife angezündet und aufmerksam zugehört, fast meine Arbeit vergessend. Das Mädchen aber, unser Wildfang, wurde nachdenklich, stützte die rosigen kleinen Backen in die Händchen, hielt den kleinen Mund weit offen und wenn das Märchen Angst einjagte, dann schmiegte sie sich voll Furcht an die Alte. Für uns aber war es in solchen Augenblicken eine Freude, das Kind zu betrachten. Und im Nu ist die Kerze heruntergebrannt, man merkt gar nicht, daß im Hof draußen der Schneesturm tobt. Angenehm war dieses Leben, Warinka; und das ging beinahe zwanzig Jahre lang so. Aber ich verplaudere mich ja ganz. Vielleicht gefällt Ihnen dieses Thema gar nicht und für mich ist die Erinnerung auch nicht so leicht, überhaupt jetzt um die Dämmerung. Therese lärmt draußen mit irgend etwas, mich schmerzt der Kopf ein wenig, auch der Rücken, und ganz wunderliche Gedanken kommen mir, als wären auch sie kränklich; ich bin heute traurig, Warinka! Was schreiben Sie da, meine Teuerste? Wie soll ich denn zu Ihnen kommen? Mein Täubchen – was würden denn da die Leute sagen? Ich müßte über den Hof gehen, die Leute würden es bemerken, Fragen stellen, aufpassen, man würde zu klatschen beginnen, der Sache eine andere Auslegung geben. Nein, mein Engelchen, besser, ich sehe Sie morgen in der Abendmesse. Das wird klüger sein und für uns alle beide gefahrloser. Also, grollen Sie mir nicht, daß ich Ihnen solch einen Brief geschrieben habe, meine Teuere; lese ich ihn nach, sehe ich, daß alles zusammenhanglos ist. Ich, Warinka, bin alt, ungebildet; in der Jugend habe ich nicht ausstudiert, jetzt aber würde ich mir nichts mehr merken, wenn ich nochmals von Anfang an beginnen wollte. Ich weiß, meine Liebste, daß ich kein Meister der Feder bin, auch ohne daß andere Leute darauf hinweisen und es bespötteln, daß ich, selbst wenn ich einmal etwas Spitzfindiges schreiben will, nur Unsinn fasle. Heute sah ich Sie am Fenster und habe bemerkt, wie Sie den Vorhang heruntergelassen haben. Leben Sie wohl, Gott behüte Sie, meine Liebste! Leben Sie wohl, Warwara Alexejewna.

Ihr uneigennütziger Freund
Makar Djewuschkin.

P. S. Meine Liebste – ich werde über niemanden mehr Satiren schreiben. Ich bin zu alt geworden, Teuerste, meine Warwara Alexejewna, um unnütz Spässe zu treiben. Man würde mich höchstens auslachen, denn schon das russische Sprichwort sagt: Wer Andern eine Grube gräbt – fällt selbst hinein.

9. April.

 

Sehr geehrter Makar Alexejewitsch!

Nun, schämen Sie sich gar nicht, mein Freund und Wohltäter Makar Alexejewitsch, die Tatsachen so zu verdrehen und so halsstarrig zu sein? Sie werden doch nicht beleidigt sein? Ach, ich bin oft unvorsichtig, aber ich dachte wirklich nicht, Sie könnten meine Worte für beißenden Spott halten. Glauben Sie mir, ich würde es niemals wagen, über Ihr Alter oder Ihre Charaktereigenschaften zu spassen. Das ist nur aus Unbedachtsamkeit geschehen, vielleicht auch, weil es so schrecklich langweilig ist – und was tut man nicht alles aus Langeweile! Und ich habe angenommen, Sie selbst wollten sich in Ihrem Schreiben ein bißchen lustig machen. Mir wurde furchtbar traurig zumute, als ich sah, daß Sie mit mir unzufrieden sind. Nein, mein guter Freund und Wohltäter, Sie irren sich, wenn Sie mich der Gefühllosigkeit und Undankbarkeit zeihen. Ich weiß in meinem Herzen alles sehr gut zu würdigen, was Sie für mich getan haben, um mich gegen böse Menschen, ihren Haß und ihre Nachstellungen zu verteidigen. Ewig werde ich für Sie zu Gott beten und wenn mein Gebet zu Gott dringt und erhört wird, dann werden Sie glücklich sein.

Ich fühle mich gesundheitlich heute recht schlecht. Ich habe abwechselnd Fieber und Schüttelfrost. Fedora ist meinetwegen sehr beunruhigt. Es hat keinen Sinn, daß Sie sich schämen, uns zu besuchen, Makar Alexejewitsch. Was geht das die anderen Leute an? Sie sind unser Bekannter und damit – basta! ... Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch. Es hätte keinen Sinn, jetzt noch zu schreiben und außerdem kann ich es gar nicht: ich fühle mich sehr krank. Ich bitte Sie nochmals, zürnen Sie mir nicht und seien Sie meiner steten Verehrung und Verbundenheit gewiß,

womit ich die Ehre habe, zu verbleiben als
Ihre ergebene und dankschuldige
Warwara Dobroselowa.

12. April.

 

Sehr verehrte Warwara Alexejewna!

Ach, Sie Kind, was ist das wieder mit Ihnen? Nun erschrecken Sie mich aber schon jedesmal! Da schreibe ich Ihnen in jedem meiner Briefe, daß Sie auf sich achtgeben sollen, sich warm kleiden, bei schlechtem Wetter nicht ausgehen, in aller Hinsicht vorsichtig sein mögen – und Sie, mein Engelchen, achten gar nicht auf meine Worte. Ach, mein Täubchen, Sie sind eben wie ein kleines Kindlein. Sie sind schwach, wie ein Strohhalm, das weiß ich doch. Es genügt ein kleiner Wind und Sie kränkeln bereits. Darum muß man eben vorsichtig sein, auf sich selbst achtgeben, Gefahren ausweichen und seinen Freunden nicht Kummer und Sorgen machen.

Sie haben den Wunsch geäußert, meine Teuerste, Genaues über meine Lebensweise und alles rund um mich zu erfahren. Mit Vergnügen beeile ich mich, Ihren Wunsch zu erfüllen, meine Liebste. Ich beginne also mit dem Anfang: es wird so mehr einen geordneten Eindruck machen. Erstens: alle Treppen unseres Hauses sind mittelmäßig. Bloß die Paradetreppe ist sauber, hell, breit, alles aus Gußeisen und rotem Holz. Dafür darf man nach der Hintertreppe gar nicht fragen: sie ist feucht, schmierig, schraubt sich mit zerbrochenen Stufen in die Höhe, die Wände sind so fettig, daß die Hand daran kleben bleibt, wenn sie daran rührt. Auf jedem Treppenabsatz stehen Koffer, Stühle und zerbrochene Kästen, allerlei Lumpenwerk ist dort aufgehängt, die Fenster sind eingeschlagen. Schmutzkübel stehen herum, mit allerlei Unrat, Kehricht, Eierschalen und Fischmagen. Fürchterlicher Gestank ... mit einem Wort: nicht schön.

Die Anordnung der Zimmer habe ich Ihnen schon beschrieben. Sie ist ganz annehmbar. Angenehm, das muß man zugeben, aber sie haben etwas Dumpfes an sich, nicht, daß man sagen könnte, die Luft wäre schlecht, es ist bloß, wenn man sich so ausdrücken darf, ein etwas moderiger, scharf-süßlicher Geruch da. Der erste Eindruck ist nicht befriedigend, aber das hat nichts zu sagen. Man muß bloß zwei Minuten lang bei uns sein und das vergeht, man merkt es nicht einmal, wie – denn man beginnt, selbst irgendwie nicht recht zu riechen, Kleider, Hände, alles riecht danach, also: man gewöhnt sich eben daran. Bloß die Zeisige gehen alle ein, die wir haben. Nun hat sich der Seemann schon den fünften gekauft, aber in unserer Luft können sie nicht leben. Unsere Küche ist groß, geräumig, hell. Morgens allerdings ist es ein wenig dunstig, wenn Fische oder Rindfleisch gebraten werden, allerhand übergossen und auf den Boden verschüttet wird – dafür ist es abends paradiesisch. Bei uns hängt in der Küche meist Wäsche zum Trocknen und da mein Zimmer nicht weit entfernt ist, eigentlich fast an die Küche stoßt, stört mich dieser Wäschegeruch ein wenig; aber das ist erträglich. Man lebt eine Weile da und hat sich auch daran gewöhnt. Vom frühesten Morgen an, Warinka, beginnt bei uns der Lärm, man steht auf, geht, kommt, lärmt. Die einen stehen auf, um in den Dienst zu gehen, die anderen gehen sonst irgendwohin, oder einfach, weil man Lust dazu hat – und dann beginnt das allgemeine Teetrinken. Der größte Teil der Samoware gehört der Hausfrau, es gibt ihrer übrigens nicht viele, wir halten also eine gewisse Reihenfolge ein. Und wer mit seiner Teekanne sich dieser Reihenfolge nicht fügt, dem wird sofort gründlich der Kopf gewaschen. Mir ist das gleich am ersten Tage begegnet, ja ... übrigens, wozu davon schreiben?! Damals wurde ich gleich mit allen bekannt. Den Marineur lernte ich zuerst kennen; er ist ein sehr offener Mensch, hat mir alles erzählt: über seinen Vater, die Mutter, die Schwester, die mit einem Gerichtsbeisitzer aus Tula verheiratet ist, und von Kronstadt. Er versprach, mir in allem beizustehen, und lud mich sogleich zum Tee ein. Ich suchte ihn in seinem Zimmer auf – es war dasselbe, wo immer Karten gespielt wird. Dort gaben sie mir Tee und wollten unbedingt, ich möchte mit ihnen hasardieren. Ich weiß nicht, vielleicht wollten sie bloß Spaß mit mir treiben, sie selbst spielten aber die ganze Nacht lang ununterbrochen und als ich eintrat, spielten sie auch. Kreide, Karten, dazu Rauchschwaden im ganzen Zimmer, daß einen die Augen juckten. Ich spielte nicht mit, worauf sie sogleich meinten, ich beschäftige mich wohl mit Philosophie. Dann aber sprach überhaupt keiner mehr zu mir, worüber ich, offen gestanden, froh war. Jetzt gehe ich nicht mehr zu ihnen hinüber. Sie kennen ja überhaupt nichts, als Hasard! Bei dem Beamten, der sich mit Literatur beschäftigt, pflegt man abends auch zusammenzukommen. Aber dort ist's angenehm, harmlos, bescheiden, anständig. Alles ist fein abgestimmt.

Nun, Warinka, will ich Ihnen noch so beiläufig mitteilen, daß unsere Hausfrau eine bösartige Person ist, eine richtige Hexe. Sie haben doch Therese gesehen. Nun, was ist an ihr? Mager, wie ein abgezehrtes, gerupftes Huhn. Es sind ohnedies bloß zwei Dienstpersonen im Haus: Therese und Faldoni, der Diener der Hausfrau. Ich weiß nicht, vielleicht hat er noch einen anderen Namen, jedenfalls aber hört er nur auf diesen; alle rufen ihn so. Er ist rothaarig, irgendein Finnländer, falsch, hat eine Stumpfnase, ein recht grober Patron. Er nörgelt ununterbrochen an Therese herum, gerade, daß er sie noch nicht verprügelt hat. Im allgemeinen also könnte ich nicht behaupten, daß es für mich besonders angenehm ist, hier zu leben ... Daß sich etwa abends alle gleichzeitig zur Ruhe begeben würden, um einzuschlafen – das kommt überhaupt nie vor. Das ist schon Prinzip, daß irgendwo Karten gespielt wird, mitunter kommen Dinge vor, die zu erzählen man sich überhaupt schämt. Und trotzdem habe ich mich schon an all das gewöhnt, ich wundere mich bloß, wieso sogar verheiratete Leute in solch einem Sodom Wohnung nehmen können. So hat zum Beispiel eine ganze Familie, recht arme Leute, eines der Zimmer meiner Hausfrau inne, bloß nicht neben den anderen Zimmern, sondern auf der drüberen Seite, an der Ecke, abseits von allen. Ruhige Menschen! Man hört von ihnen überhaupt nichts. Sie leben alle in einem Zimmer, in dem sie eine einzige Scheidewand gezogen haben. Er ist irgendein arbeitsloser Beamter, wegen irgendeiner Sache vor sieben Jahren aus dem Dienst entlassen. Er heißt Gorschkow, ein kleiner, grauhaariger Mensch. Er trägt so schmierige, ganz abgetragene, alte Kleider, daß es schmerzt, ihn zu betrachten – noch schlechter als die meinen sind diese Kleider! Er sieht so bedauernswert, so kränklich aus (wir begegnen einander hie und da im Korridor); seine schwachen Knie zittern, die Hände zittern, der Kopf zittert, scheinbar stammt das von irgendeiner Krankheit her, weiß Gott; er ist verschüchtert, hat vor jedermann Angst, drückt sich abseits, wenn er an jemandem vorbeikommt; ich selbst bin manchmal schüchtern, er aber ist noch viel ärger. Seine Familie besteht aus Frau und drei Kindern. Der ältere Knabe, ganz der Vater, ist auch so ein schwächliches Menschlein. Die Frau muß irgendeinmal ganz hübsch gewesen sein, das merkt man noch heute; in was für ärmlichen Kleidern die Bedauernswerte gehen muß! Sie sind der Hausfrau, wie ich hörte, die Miete schuldig geblieben; sie ist mit ihnen gerade nicht besonders freundlich. Auch ist mir zu Ohren gekommen, daß Gorschkow irgendwelche Unannehmlichkeiten haben soll, im Zusammenhang mit seiner Entlassung aus dem Dienst ... egal, ob Prozeß oder sonst eine Sache mit dem Gericht, irgendeine Untersuchung gegen ihn, ich kann Ihnen nicht genau sagen, worum es sich da eigentlich handelt. Sie sind eben arm, recht arm – ach, du mein lieber Gott! In ihrer Stube ist es immer ruhig, so ruhig, als wohne überhaupt niemand darin. Selbst die Kinder sind nicht zu hören. Daß sie, wie andere Kinder, ein wenig ausgelassen wären, beim Spiel oder sonstwie – derlei kommt bei ihnen überhaupt nicht vor. Und das ist schon ein schlechtes Zeichen. Neulich kam ich abends an ihrer Tür vorbei, es war damals gerade im ganzen Hause still. Da hörte ich Schluchzen, dann Flüstern und – wieder Schluchzen, als würde jemand weinen, aber so leise, so bitterlich, daß es mir das Herz zerriß und ich die ganze Nacht lang die Gedanken an diese meine armen Leute nicht los wurde und kaum einschlafen konnte.

Nun, leben Sie wohl, meine unschätzbare Gefährtin, meine Warinka! Ich habe Ihnen alles beschrieben, so gut ich konnte. Heute denke ich den ganzen Tag lang nur an Sie. Um Sie habe ich mir, meine Teuerste, das Herz zerquält. Denn Sie müssen wissen, mein Seelchen, mir ist es bekannt, daß Sie keinen warmen Mantel besitzen. Und ich kenne diesen Petersburger Frühling, stürmisch, regnerisch, mitunter sogar noch von Schnee begleitet – das kränkt mich zu Tode, Warinka! Diese Witterungsumschläge sind so gefährlich, bei Gott! Grollen Sie mir nicht wegen dieser Zeilen, Warinka, mein Stil ist elend, ich kenne diesen unmöglichen Stil! Wenn er nur ein klein wenig besser wäre! Ich schreibe, wie es mir eben einfällt, nur um Sie mit irgend etwas ein wenig zu ermuntern. Wenn ich vielleicht etwas anderes gelernt hätte – aber was habe ich denn eigentlich gelernt? Für das wenige Geld, das dafür verwendet werden konnte!

Ihr ewiger und treuer Freund
Makar Djewuschkin.

25. April.

 

S. g. Makar Alexejewitsch!

Heute bin ich meiner Kusine Sascha begegnet. Entsetzlich! Auch sie geht zugrunde, die Arme! Auch habe ich auf Umwegen erfahren, daß sich Anna Feodorowna ständig nach mir erkundigt. Sie wird scheinbar überhaupt nie mehr aufhören, mich zu verfolgen. Sie sagt, sie wolle mir »verzeihen«, alles, was war, vergessen und mich so bald als möglich besuchen. Sie sagt, Sie seien durchaus kein Verwandter von mir, sie sei meine nächste Verwandte, Sie hätten überhaupt gar kein Recht, sich in unsere Familienangelegenheiten einzumengen, es sei beschämend für mich, von Ihnen Unterstützung anzunehmen und auf Ihre Kosten zu leben ... Sie sagt, ich hätte das Gnadenbrot vergessen, das sie mir und Mütterchen gegeben hat, sie habe uns vielleicht sogar vor dem Hungertod gerettet, fast zweieinhalb Jahre verpflegt und erhalten, eine Menge Geld für uns verbraucht und zu all dem noch eine Schuld nachgelassen. Und nicht einmal jetzt will sie Mütterchen in Ruhe lassen! Wenn meine arme Mutter wüßte, was sie mir angetan hat! Gott sieht es! ... Anna Feodorowna sagt, ich sei zu dumm gewesen, mein Glück festzuhalten, sie selbst habe mir das Glück zugeführt, an allem anderen aber sei sie unschuldig, ich selbst konnte – oder wollte – einfach für meine Ehre nicht entsprechend eintreten. Wer also ist denn schuldig, du großer Gott! Sie sagt, Herr Bykow sei durchaus im Recht, nicht jede Frau zu heiraten, die ... ach, wozu das schreiben!

Es ist hart, derartige Lügen hören zu müssen, Makar Alexejewitsch! Ich weiß nicht, was mit mir jetzt vorgeht. Ich bebe, weine, schluchze. Zwei Stunden lang schreibe ich schon an diesem Brief an Sie. Ich dachte schon, sie würde wenigstens mir gegenüber ihre Schuld einsehen; und nun spricht sie so! – Regen Sie sich meinetwegen um Gottes willen nur nicht auf, mein Freund, mein einziger, wohlmeinender Freund! Feodora übertreibt alles: ich bin gar nicht krank. Ich habe mich gestern bloß ein wenig verkühlt, als ich auf dem Wolkowfriedhof einer Seelenmesse für mein Mütterchen beiwohnte. Warum sind Sie nicht mitgekommen? Ich habe Sie so sehr darum gebeten. Ach, mein armes, armes Mütterchen, wenn du dich erheben könntest, wenn du wüßtest, wenn du sehen würdest, was sie mit mir getan haben! ...

W. D.

   

 

Warinka, mein Täubchen!

Ich sende Ihnen ein paar Weintrauben, mein Seelchen; für Genesende ist das gut, sagt man, auch hat sie der Arzt zum Durststillen empfohlen, also nehmen Sie sie bloß gegen den Durst. Sie wollten gerne ein Rosenstöckchen haben, Teuerste; nun sende ich Ihnen einige. Haben Sie auch Appetit, Seelchen? – Das ist die Hauptsache. Übrigens ist ja alles, Gott sei Dank, vorbei, überstanden, unser Unglück wird also auch bald überstanden sein. Danken wir Gott, dem Herrn! Und was die Bücher betrifft, kann ich sie einstweilen nirgendwo verschaffen. Da hat jemand ein sehr gutes Buch, wie verlautet, in sehr wertvollem Stil geschrieben; man sagt, es soll sehr schön sein, ich selbst habe es nicht gelesen, aber hier lobt man es sehr. Ich habe es für mich erbeten; man versprach, es mir zu verschaffen. Nur – werden Sie es tatsächlich lesen? Sie sind mir in dieser Hinsicht ein wenig gar zu wählerisch; es ist schwer, Ihrem Geschmack gerecht zu werden, ich kenne Sie schon, mein Täubchen; es verlangt Sie wahrscheinlich nur nach Poesie, von Sehnsucht, Liebe – aber auch Gedichte will ich verschaffen, alles werde ich verschaffen. Bei uns gibt es ein Heft mit abgeschriebenen Gedichten.

Mir selbst geht es gut. Meinetwegen, meine Teuerste, beunruhigen Sie sich bitte keinesfalls. Und was Ihnen Fedora wieder über mich erzählt hat, ist alles unwahr. Sie soll nicht immerfort lügen, sagen Sie ihr bitte, sagen Sie Ihr das unbedingt, dieser Klatschbase! ... Ich habe meinen neuen Uniformrock durchaus nicht verkauft. Warum, sagen Sie selbst, hätte ich ihn verkaufen sollen? Ich habe erst kürzlich erfahren, daß ich vierzig Rubel Gehaltszulage bekommen werde, also warum verkaufen? Beunruhigen Sie sich nicht, meine Teuere – sie ist mißtrauisch, diese Fedora, ganz bestimmt mißtrauisch. Es wird uns noch einmal besser gehen, mein Täubchen! Werden Sie mir bloß bald gesund, mein Engelchen, genesen Sie so rasch wie möglich, um Gottes willen, betrüben Sie mich alten Mann nicht! Wer hat Ihnen da wieder erzählt, daß ich abgemagert bin? Verleumdung – wieder eine Verleumdung! Ich bin ganz gesund, sogar dicker geworden, so daß ich mich mitunter dessen schäme. Ich bin satt, zufrieden, mir fehlt durchaus nichts, bloß, daß Sie mir gesund werden! Nun leben Sie wohl, mein Engelchen, ich küsse alle Ihre Fingerchen und verbleibe

Ihr ewiger, unwandelbarer Freund
Makar Djewuschkin.

P.S. Ach, mein Seelchen, was haben Sie denn da wieder geschrieben? ... Warum wieder so eigensinnig? Wieso kann ich so häufig zu Ihnen kommen, meine Teuerste. Das frage ich Sie. Die Dunkelheit der Nacht benützen? Es gibt ja jetzt fast überhaupt keine Nächte. Es ist schon so eine Zeit. Aber ich habe Sie ja ohnedies, meine Liebste, während Ihrer ganzen Krankheit fast überhaupt nicht allein gelassen, als Sie bewußtlos dalagen. Ich selbst kann mich kaum mehr erinnern, wie ich dazu Zeit gefunden habe. Und ich habe erst dann aufgehört, Sie zu besuchen, als die Leute neugierig wurden und begannen, Fragen zu stellen. Man klatscht hier ohnedies bereits. Ich stütze mich auf Therese; sie ist verschwiegen. Aber sagen Sie doch selbst, meine Teuerste, was wird sein, wenn die Leute das alles über uns beide erfahren? Was werden sie dann von uns denken, über uns sprechen? Darum bezwingen Sie ein wenig Ihr Herzchen, meine Liebste, und warten Sie bloß bis zu Ihrer Genesung; dann werden wir schon irgendwie für außer Haus ein Zusammentreffen vereinbaren.

1. Juni.

 

Liebster Makar Alexejewitsch!

Ich möchte Ihnen so sehr irgend etwas Angenehmes, etwas Liebes tun, für all Ihre Bemühungen und Sorgen um mich, für all Ihre Liebe, daß ich mich endlich entschlossen habe, in meiner Kommode herumzukramen und mein Heft zu suchen, das ich Ihnen hiemit übersende. Ich begann, darin zu schreiben, als ich noch glückliche Tage gesehen habe. Sie haben oft teilnahmsvoll nach meinem früheren Leben gefragt, nach Mütterchen, nach Pokrowsky, wollten von meinem Aufenthalt bei Anna Feodorowna wissen und schließlich von den jüngst erlebten unglücklichen Tagen und deshalb haben Sie so stark danach verlangt, dieses Heft durchzulesen, wo ich, weiß Gott, wozu, verschiedene Augenblicke meines Lebens festgehalten habe, daß ich nicht mehr zögern will, Ihnen, wie ich glaube, durch Übersendung dieses Heftes einige Freude zu bereiten. Mir selbst wurde recht traurig zumute, als ich es durchgelesen habe. Es scheint mir, als wäre ich zweimal so alt geworden, als ich damals war, seit ich die letzte Zeile dieser Notizen geschrieben habe. Zu verschiedenen Zeiten habe ich diese Aufzeichnungen gemacht. Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch! Mir ist's jetzt sehr langweilig und ich leide oft unter Schlaflosigkeit. Langweilig ist so eine Genesung!

W. D.

I.

Ich war erst vierzehn Jahre alt, als mein Väterchen starb. Die Kindheit war die glücklichste Zeit meines Lebens. Sie begann nicht hier, sondern weit in der Provinz, in einer ganz entlegenen Gegend. Mein Vater war Verwalter eines riesigen Gutes des Fürsten P – y, im Gouvernement T. Wir lebten auf einem der Landgüter des Fürsten, still, zurückgezogen, glücklich ... Als Kind war ich sehr ausgelassen. Oft tat ich nichts, als den ganzen Tag lang herumtummeln, in Feld und Wald, im Park, niemand kümmerte sich um mich. Mein Vater war ständig beschäftigt, die Mutter hatte mit dem Haushalt zu tun. Man ließ mir keinen Unterricht angedeihen, worüber ich besonders froh war. Es kam vor, daß ich vom frühen Morgen an umherstreifte oder zum Teich lief, in den Wald, zur Heumahd, zu den Schnittern; die Sonne, auch wenn sie noch so sehr brannte, war mir nicht im Weg, auch machte es mir nichts, wenn ich mich verirrte, im Dickicht zerkratzte oder meine Kleider im Busch zerriß; – man schalt mich zwar dafür zu Hause, aber das war mir gleichgültig.

Und es scheint mir, wären wir dort auf dem Lande geblieben, hätte ich mein ganzes Leben so glücklich verbracht. Aber ich mußte schon als Kind von dieser mir teuer gewordenen Gegend Abschied nehmen. Ich war erst zwölf Jahre alt, als wir nach Petersburg übersiedelten. Ach, wie traurig ist die Erinnerung an diesen Aufbruch. Wie ich weinte, als ich von allem Abschied nehmen mußte, was mir so lieb geworden war! Ich erinnere mich, daß ich mich meinem Vater an den Hals warf und ihn unter Tränen anflehte, wenn auch bloß kurze Zeit, aber doch noch eine Weile auf dem Landsitz zu bleiben. Väterchen schrie mich an, aber auch die Mutter weinte, sie meinte, es sei notwendig, aus geschäftlichen Gründen. Der alte Fürst P–y war gestorben und die Erben hatten meinem Vater den Dienst gekündigt. Mein Vater hatte verschiedenen Leuten in Petersburg Geld geliehen. Ich nehme an, er wollte auf diese Weise persönlich verschiedene materielle Fragen erledigen. Das erfuhr ich später alles von der Mutter. Wir nahmen auf der Petersburger Seite Wohnung (nordwestl. Stadtteil, Anm. d. Übers.) und wohnten dort bis zum Tode meines Vaters.

Wie schwer fiel es mir, mich an das neue Leben zu gewöhnen! Wir kamen im Herbst nach Petersburg. Als wir das Landgut verließen, war der Tag hell, warm, klar, die Landarbeiter strebten auf Feldwegen heimwärts, in den Scheunen war das Getreide schon mächtig angehäuft und riesige Scharen zwitschernder Vögel umflogen sie; das alles war so freundlich, so heiter. Hier aber regnete es bei unserer Ankunft, herbstlicher, dumpfer Nebel, das Wetter war unfreundlich, eine Unmenge düster dreinschauender Menschen, unfreundlich, unbekannt, unzufrieden, verärgert. Bis wir uns endlich zurechtgefunden hatten! Ich erinnere mich, wie wir alle geschäftig hin und her liefen, mit der Einrichtung des neuen Haushaltes beschäftigt. Der Vater war die ganze Zeit über nicht zu Hause, Mutter hatte keine ruhige Minute – und so vergaß man ganz auf mich. Traurig erwachte ich am Morgen nach unserer Übersiedlung. Von unseren Fenstern sah man irgendeinen gelben Zaun. Auf der Straße war es ständig schmutzig. Nur selten gingen Leute vorüber und alle waren sehr stark in Tücher und Kleider eingehüllt, derart fror sie.

Und bei uns zu Hause war es den ganzen Tag lang fürchterlich langweilig und traurig. Verwandte und nahe Bekannte hatten wir fast gar keine. Mit Anna Feodorowna lag Vater in Streit (er war ihr Geld schuldig). Es kamen genug oft Leute zu uns, aber in geschäftlichen Angelegenheiten. Gewöhnlich wurde dann gestritten, gelärmt, durcheinandergeschrien. Nach jedem dieser Zusammenstöße war Vater sehr unzufrieden, verärgert. Dann kam es vor, daß er oft stundenlang von einer Zimmerecke zur anderen lief, die Stirn in Falten legte, und mit niemandem auch nur ein einziges Wort sprach. Auch Mutter wagte in solchen Augenblicken nicht, das Wort an ihn zu richten, und sie schwieg. Ich selbst setzte mich mit einem Buch in irgendeinen Winkel und verharrte ruhig, still, wagte nicht, mich zu bewegen.

Drei Monate nach unserer Ankunft in Petersburg gab man mich in eine Pension. Wie traurig war mir da im Anfang zumute, mitten unter fremden Leuten! Es war alles so nüchtern, so ungastlich: die Gouvernanten schrien fortwährend, die Mädchen bespöttelten mich, ich selbst inmitten dieser Leute – wie ein kleiner Wildling. Es war strenge, peinlich genau! Alles genau zur bestimmten Zeit, gemeinsame Mahlzeiten, langweilige Lehrer – das alles quälte mich von allem Anfang an, machte mich förmlich hysterisch. Ich konnte dort nicht einmal schlafen. Manchmal weinte ich die ganze Nacht lang – diese langen, öden, kalten Nächte! Abends, wenn alle anderen ihre Aufgaben wiederholten oder sonst lernten, saß ich mit meinen Vokabeln da, wagte nicht, mich zu rühren, war aber in Gedanken in einer Ecke unseres Heims, zu Hause, bei Vater, bei Mutter, bei meiner alten Kinderfrau, bei ihren Märchen ... ach, wie traurig das stimmte! Selbst an die allergewöhnlichsten Dinge von zu Hause erinnerte ich mich mit größtem Vergnügen. Du denkst und denkst unablässig: ach, wie schön wäre es jetzt zu Hause: ich würde in unserem kleinen Zimmer sitzen, vor mir den Samowar, rings um mich die Meinen. Es wäre so warm, so angenehm, so altbekannt. Ach, wie würde ich mein Mütterchen umarmen, voll Ungestüm und heißer Liebe! – Du denkst und denkst und weinst vor Leid still vor dich hin, bewahrst so manche Träne in der Brust – und die Vokabeln gehen dir nicht in den Kopf! Du wirst morgen deine Lektion nicht beherrschen; die ganze Nacht lang sieht man die Lehrer im Traum vor sich, Madame – und die anderen Mädchen, die ganze Nacht lang paukt man die Aufgaben ein, von Traum zu Traum geht es so und am nächsten Tag weiß man nichts. Man muß knien, bekommt nur eine Speise zu essen. Ich war ja so unlustig, so schweigsam. Von Anfang an verlachten mich alle anderen Mädchen, spotteten meiner, verwirrten mich, wenn ich die Aufgaben vorsprechen mußte, zwickten mich, wenn wir in Reih und Glied zum Essen oder Teetrinken gingen, beklagten sich über mich wegen nichts und wieder nichts bei der Gouvernante. Wie herrlich dagegen, wenn mich mitunter die Kinderfrau an Samstagabenden heimholte! Ich fiel ihr gleich um den Hals: ach, meine liebe, gute, alte Kinderfrau – welche Freude! Sie kleidet mich an, hüllt mich mollig ein, kann unterwegs kaum mit mir Schritt halten und ich laufe, laufe, erzähle ihr. Ich komme munter, begeistert nach Hause, umarme die Meinen stürmisch, als hätten wir einander zehn Jahre lang nicht gesehen. Ein Fragen und Erzählen hebt an; mit allen feiert man Wiedersehen, unterhält sich, lacht, kichert, läuft herum, springt. Mit dem Vater beginnt ein ernstes Gespräch über den Unterricht, unsere Lehrer, über die französische Sprache, die Grammatik l'Homond's – und wir alle sind frohen Mutes, zufrieden. Selbst die Erinnerung an diese Minuten ist mir heute noch kostbar. Ich trachtete aus ganzer Kraft zur Zufriedenheit meines Vaters zu lernen. Ich sah, daß er sein Letztes für mich hingab, während er selbst schon kaum aus noch ein wußte. Er wurde von Tag zu Tag düsterer, unzufriedener, verärgerter; sein Charakter wurde ganz unerträglich. Seine Sachen standen schlecht, die Schulden wuchsen immer mehr an. Mutter fürchtete sich, zu weinen, wagte kein Wort zu sprechen, um den Vater nicht zu erregen. Sie wurde sehr leidend und magerte immer mehr ab. Sie begann furchtbar zu husten. Oft, wenn ich von der Pension nach Hause kam, sah ich nichts als ganz traurige Gesichter, die Mutter weint still vor sich hin, der Vater ärgert sich. Wieder Klagen, wieder Vorwürfe. Der Vater beginnt damit, daß er sagt, ich bereite ihm gar keine Freude, keinen Trost, sie hätten sich meinetwegen ihres Letzten beraubt und ich könnte bis jetzt noch immer nicht Französisch. Mit einem Wort, alle Fehlschläge, alles Unglück – für all das machte der Vater Mutter und mich verantwortlich. Wie konnte man aber die arme Mutter so sehr quälen? Man brauchte sie bloß anzusehen und es zerriß einem das Herz. Ihre Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief, das Gesicht hatte merkliche Zeichen von Schwindsucht.

Mich zog man am stärksten zur Verantwortung. Es begann stets mit Nichtigkeiten, die dann, weiß Gott, wie, aufgebauscht wurden. Manchmal wußte ich tatsächlich nicht einmal, worum es sich eigentlich handelte. Was da nicht alles ins Treffen geführt wurde! ... Bald die französische Sprache, dann daß ich ein großer Dummkopf, daß die Pensionsvorsteherin eine nachlässige, dumme Frau sei, sie kümmere sich nicht im mindesten um unsere Moral; daß der Vater bis dato noch immer keinen Dienst gefunden habe, daß die Grammatik von l'Homond sehr schlecht und die von Zapolski weitaus besser sei, daß man für mich eine Menge Geldes ganz vergebens zum Fenster hinausgeworfen habe, daß ich, was man ja sofort sehen könne, gefühllos und hart wie Stein sei – mit einem Wort, ich Arme, die ich aus ganzer Kraft trachtete, französische Vokabeln und Redewendungen zu studieren, war für alles verantwortlich, an allem schuld! Aber das alles war etwa nicht deswegen, daß der Vater mich nicht liebte. Er grollte weder mir noch der Mutter. Aber das war eben sein eigenartiger Charakter.

Sorgen, Fehlschläge, Enttäuschungen veränderten meinen armen Vater vollends – er wurde mißtrauisch, verbittert, war manchmal der Verzweiflung nahe, begann, seine Gesundheit zu vernachlässigen, erkältete sich, erkrankte plötzlich, litt nicht lange und starb so unerwartet, so plötzlich, daß wir alle ein paar Tage lang ganz fassungslos waren. Mutter war wie erstarrt, ich fürchtete sogar für ihren Verstand. Kaum war Vater gestorben, stürzten sich die Gläubiger auf uns, in ganzen Scharen, als wären sie aus dem Erdboden geschossen. Alles, was wir besaßen, wurde verkauft. Unser Häuschen auf der Petersburger Seite, das Vater etwa ein halbes Jahr nach unserer Ankunft in Petersburg gekauft hatte, mußte ebenfalls verkauft werden. Ich weiß nicht mehr, wie es mit den anderen Dingen war, aber tatsächlich blieben wir ohne alles, ohne Dach über dem Kopf, ohne Zuflucht, ohne Unterhalt. Mutter litt unter ihrer entkräftenden Krankheit, wir hatten nichts zu essen, wußten nicht, wovon leben – wir standen vor dem Untergang. Ich war kaum vierzehn Jahre alt. Damals besuchte uns Anna Feodorowna. Sie sagt immer, sie sei irgendeine Gutsbesitzerin und irgendwie nahe verwandt mit uns, Mutter sagt wohl, daß sie verwandt sei, aber nur sehr entfernt. Bei Vaters Lebzeiten war sie niemals zu uns gekommen. Sie erschien mit Tränen in den Augen und versicherte uns ihres lebhaften Anteils an unserem Unglück. Sie zeigte ihr Mitleid anläßlich unseres Verlustes, unserer bedauernswerten Lage und fügte hinzu, daß Vater selbst daran schuld sei. Er habe über seine Verhältnisse gelebt, hoch hinaus gewollt, zu sehr auf seine Fähigkeiten gebaut. Sie äußerte den Wunsch, mit uns in nahe Verbindung zu treten, was einst gewesen, zu vergessen und als Mutter erwiderte, daß sie ihr nie böse gewesen sei, war sie bis zu Tränen gerührt, führte Mutter in die Kirche und bestellte eine Seelenmesse für den ›Täuberich‹, wie sie Vater nannte. Hierauf versöhnte sie sich feierlich mit Mutter.

Nach langen Besprechungen und Bemerkungen, nachdem sie uns in ziemlich derben Farben unsere jämmerliche Lage vor Augen gehalten, auf unsere Vereinsamung, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit hingewiesen hatte, schlug sie uns vor – wie sie sich ausdrückte –, bei ihr Zuflucht zu nehmen. Mutter dankte ihr, konnte sich lange nicht entschließen: da aber kein anderer Ausweg blieb, eine andere Ordnung unserer Lage nicht zu erhoffen war, sagte sie schließlich zu Anna Feodorowna, daß sie ihr Anerbieten mit Dankbarkeit annehmen wolle. Ich erinnere mich noch heute sehr gut, wie wir eines Morgens von der Petersburger Seite nach der Wassily-Insel (anderer Stadtteil Petersburgs, Anm. d. Übers.) übersiedelten. Es war ein herbstlicher, klarer, trocken-kalter Morgen. Mutter weinte, mir war es furchtbar traurig zumute. Es schnürte mir die Brust zusammen, meine Seele verspürte eine Qual, die von einem unerklärlichen, schrecklichen Leid kam. Es war eine sehr schwere Zeit. – – – – – – – – – – – – – – – –

 

*

II.

Anfangs, als wir uns noch nicht eingewöhnt hatten, war es für uns beide, für Mutter und mich, so fremd, so bange bei Anna Feodorowna. Anna Feodorowna lebte in ihrem eigenen Hause, in der Sechsten Straße. Es gab im ganzen Hause nur fünf saubere Zimmer. Drei von ihnen bewohnt Anna Feodorowna und meine Kusine Sascha, die vater- und mutterlos, von ihr als armes Waisenkind erzogen wurde. Das eine Zimmer bewohnten wir und schließlich, im letzten, neben uns, wohnte ein armer Student, namens Pokrowsky, Anna Feodorownas Untermieter. Anna Feodorowna lebte sehr gut, reichlicher, als man hätte annehmen können, aber ihre materielle Situation war rätselhaft, ebenso ihr Beruf. Sie schoß fortwährend umher, tat immer beschäftigt, kam und ging ein paarmal des Tages, aber was sie da tat, womit und wozu sie sich eigentlich beschäftigte, das konnte ich durchaus nicht erraten. Sie hatte einen großen und ausgebreiteten Bekanntenkreis. Zu ihr kamen ununterbrochen Gäste und weiß Gott, was für Leute, stets in irgendwelchen geschäftlichen Angelegenheiten und oft nur für eine Minute. Da pflegte mich die Mutter immer in unser Zimmer zu führen, sogleich, wenn die Türglocke schrillte. Anna Feodorowna ärgerte sich schrecklich darüber und unaufhörlich machte sie Mutter Vorwürfe, wir wären bereits allzu stolz, als hätten wir ein Anrecht darauf! Stundenlang war sie imstande, derart zu schelten. In unserem Leid verstand ich damals gar nicht diese Vorwürfe: so viel ich aber jetzt weiß, besser gesagt, erraten habe, gab es Gründe, weshalb Mutter sich von Anfang an so schwer entschließen konnte, bei Anna Feodorowna zu leben.

Anna Feodorowna war eine böse Frau; unablässig quälte sie uns. Es bleibt mir bis heute Geheimnis, warum sie uns eigentlich eingeladen hat, bei ihr zu wohnen. Im Anfang war sie zu uns recht liebenswürdig, dann aber brach ihr wahrer Charakter durch, insbesondere, als sie sah, daß wir ganz hilflos waren und nicht gewußt hätten, wohin wir uns eigentlich wenden könnten.

Dann wieder wurde sie mit mir überaus freundlich, geradezu derb schmeichlerisch, aber anfangs hatten sowohl Mutter als auch ich sehr viel zu erdulden. Stets haderte sie mit uns; sie hielt uns ständig ihre Wohltaten vor, die sie an uns übte. Fremden Leuten stellte sie uns als ihre armen Verwandten vor, eine hilflose Witwe und Waise, die sie aus Erbarmen im Namen christlicher Nächstenliebe in ihre Obhut genommen hätte. Wenn wir bei Tisch saßen, verfolgte sie jeden Bissen, den wir nahmen, mit ihrem Blick und wenn wir nichts nahmen, begann wieder das Nörgeln, ob uns vielleicht ekle; wir mögen nicht bemängeln, was sie uns vorsetzt. Besseres könne sie eben nicht bieten, vielleicht wären wir in der Lage, uns Besseres zu leisten ... Ständig hatte sie etwas gegen Vater vorzubringen. Er habe stets höher hinaus wollen, als die anderen, aber das Gegenteil erreicht, nämlich Gattin und Tochter im Elend zurückgelassen und hätte sich nicht eine christliche Seele in Gestalt einer barmherzigen Verwandten gefunden, weiß Gott, wir wären vielleicht dazu verdammt gewesen, auf der Straße Hungers zu sterben. Was sie nicht noch alles zu sagen hatte! Es war nicht so bitter, wie anekelnd, ihre Reden mit anzuhören. Mutter weinte alle Augenblicke. Ihr Gesundheitszustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag, sie verfiel merklich, zu all dem arbeiteten wir von früh morgens bis abends, hatten uns Arbeit verschafft. Wir nähten – und das mißfiel Anna Feodorowna sehr, stets hielt sie uns vor, sie habe hier keinen Modesalon im Hause. Aber wir mußten doch Kleider haben; für unvorhergesehene Ausgaben Geld verdienen. Für alle Fälle sparten wir, in der Hoffnung, nach einiger Zeit irgendwohin übersiedeln zu können. Aber bei dieser Arbeit verlor Mutter ihre letzten Gesundheitskräfte: sie wurde von Tag zu Tag schwächer. Wie ein Wurm untergrub die Krankheit ihr Leben und brachte sie näher und näher ans Grab. Das alles sah ich mit an, fühlte es, litt mit ihr – ich hatte es vor meinen Augen, ohnmächtig!

So verstrich ein Tag nach dem anderen, und ein Tag glich dem anderen – in unserer Lebensweise. Wir lebten still, als wären wir gar nicht in einer Stadt. Mit der Zeit beruhigte sich Anna Feodorowna ein wenig, aber hauptsächlich deshalb, weil sie sich immer mehr ihrer unbeschränkten Vorherrschaft bewußt wurde. Wir dachten übrigens gar nicht mehr daran, ihr zu widersprechen. In unserem Zimmer waren wir von ihrem Trakt durch einen Korridor getrennt und neben uns wohnte, wie ich schon erwähnte, Pokrowsky. Er unterrichtete Sascha in Französisch und Deutsch, Geschichte, Geographie – kurz, in allen Wissenschaften, wie sich Anna Feodorowna auszudrücken pflegte. Dafür erhielt er von ihr freie Wohnung und Verpflegung; Sascha war ein begabtes Mädchen, obwohl sehr unartig und ausgelassen. Sie war damals dreizehn Jahre alt. Anna Feodorowna bedeutete meiner Mutter, es wäre sehr angezeigt, wenn auch ich mit ihr gemeinsam lernen wollte, da ich ja den Unterricht in der Pension unterbrechen mußte. Mutter war voll Freude einverstanden und ein ganzes Jahr lang lernte ich gemeinsam mit Sascha bei Pokrowsky.

Pokrowsky war ein sehr, sehr armer junger Mann; sein angegriffener Gesundheitszustand erlaubte ihm nicht einmal, ständig die Vorlesungen zu besuchen und mehr aus Gewohnheit nannte man ihn eigentlich bei uns den Studenten. Er lebte still, bescheiden und zurückgezogen in seinem Zimmer, wir nebenan hörten kaum etwas von ihm. Er sah ganz sonderbar aus; er hatte einen sehr unbeholfenen Gang, verneigte sich linkisch, führte eine seltsame Sprache – anfangs konnte ich ihn überhaupt kaum ansehen, ohne lachen zu müssen. Sascha heckte ständig gegen ihn Streiche aus, insbesondere, während er uns unterrichtete. Zum Überfluß war er ein sehr erregbarer Charakter, ärgerte sich ständig, geriet wegen jeder Albernheit förmlich außer sich, schrie uns an, beklagte sich oft über uns, ohne die laufende Lektion zu beenden und lief verstimmt in sein Zimmer. Dort saß er den ganzen Tag vor seinen Büchern. Er hatte ihrer viele; teuere, seltene Bücher. Er unterrichtete noch an anderen Stellen, erhielt alte Kleider, so daß er, wenn er bloß von irgendwo ein wenig Geld erhielt, dafür sofort wieder Bücher kaufte. Mit der Zeit lernte ich ihn besser kennen, genauer. Er war der gutmütigste, ehrenhafteste Mensch, den ich je im Leben kennenlernte. Auch Mutter schätzte ihn. Er wurde später mein bester Freund – natürlich nach Mutter.

Anfangs trieb ich gemeinsam mit Sascha – obwohl ich so ein erwachsenes Mädchen war – alle Ausgelassenheiten und oft zerbrachen wir uns stundenlang den Kopf, wie wir ihn necken und seine Geduld zum Platzen bringen sollten. Wenn er sich ärgerte, war er furchtbar komisch anzusehen, was uns besonderes Vergnügen bereitete. (Jetzt schäme ich mich sogar bei der bloßen Erinnerung.) ... Einmal brachten wir ihn so außer sich, daß er fast in Tränen ausgebrochen wäre und ich hörte genau, wie er zischte: »Boshafte Kinder!« Ich wurde im Nu verwirrt, schämte mich, er tat mir leid, ich hatte Reue. Ich erinnere mich, daß ich bis über die Ohren errötete und fast mit Tränen in den Augen bat ich ihn, sich zu beruhigen, sich wegen unserer dummen Spässe nicht zu kränken, aber er schlug das Buch zu, schloß den Unterricht und ging in sein Zimmer. Den ganzen Tag lang litt ich unter Reue. Der Gedanke, daß wir Kinder mit unseren Bosheiten ihn bis zu Tränen gereizt hatten, gab mir keine Ruhe. Es war, als hätten wir es geradezu darauf angelegt, seine Tränen zu sehen. Wir wollten das, es war uns gelungen, ihm seine letzte Geduld zu nehmen; wir hatten ihm, diesem unglücklichen, armen Menschen, sein ohnedies grausames Schicksal nur noch mehr erschwert. Die ganze Nacht konnte ich vor Selbstquälereien, Trauer und Reue nicht schlafen. Man sagt, daß Reue die Seele erleichtert – im Gegenteil. Ich weiß nicht wie – aber zu meiner Niedergeschlagenheit kam nun auch Ehrgeiz dazu. Ich wollte nicht, daß er mich für ein Kind halte. Ich war damals schon fünfzehn Jahre alt. Von diesem Tage an lebte ich tausend Plänen, Pokrowsky so weit zu bringen, seine Meinung über mich zu ändern. Aber dazu war ich damals zu zaghaft, zu schüchtern; ich konnte keinen rechten Entschluß fassen und so blieb es bloß bei Träumereien (und Gott weiß, bei was für Träumereien!). Ich unterließ es bloß, mit Sascha weitere Dummheiten gegen ihn auszuhecken; er ärgerte sich nicht mehr über uns; aber für meine Eigenliebe war dies noch zu wenig.

Nun will ich einige Worte über den seltsamsten, interessantesten und bedauernswertesten Menschen sagen, den ich je in meinem Leben kennenlernen sollte. Ich spreche von ihm schon jetzt, an dieser Stelle meiner Aufzeichnungen, weil ich diese ganze Zeit hindurch ihm fast gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, mich von da an aber alles, was auf Pokrowsky Bezug hatte, außerordentlich beschäftigte.

Hie und da erschien bei uns im Hause ein altes Männchen, verhutzelt, schlecht gekleidet, klein, grau, schwerfällig und linkisch in den Bewegungen, kurz: eine äußerst seltsame Erscheinung. Auf den ersten Blick mochte man von ihm glauben, er schäme sich wegen seiner selbst, er wolle gewissermaßen um Entschuldigung bitten, daß er überhaupt auf der Welt sei. Er duckte sich stets, verneigte sich, hatte so eigenartige Manieren und Grimassen, daß man nahe daran war, ihn geistig nicht für einwandfrei zu halten. Wenn er bei uns auftauchte, blieb er meist im Flur stehen, an der Glastür, und wagte nicht, einzutreten. Wer immer von uns nun erscheinen mochte, sei es Sascha, ich, irgendjemand von der Dienerschaft, von dem er wußte, daß er ihm gut gesinnt war – sofort begann er von seinem Platze aus den Betreffenden zu sich herbeizuwinken, mit allerhand Zeichen und Gebärden. Gab man nun ein Nicken des Kopfes zurück, sollte das bedeuten, daß niemand Fremder im Hause anwesend und sein Eintritt seinem Belieben überlassen bliebe – erst dann öffnete der Alte leise, leise die Tür, lächelte vor Zufriedenheit, rieb sich vergnügt die Hände und schlich auf den Zehenspitzen direkt in das Zimmer Pokrowskys. Er war sein Vater.

Später erfuhr ich genau die Geschichte dieses armen alten Mannes. Er war einmal irgendwo angestellt, hatte nie besondere Fähigkeiten entwickelt, weshalb er ganz untergeordnete Dienste tat. Als seine erste Frau starb (die Mutter des Studenten Pokrowsky), entschloß er sich, zum zweiten Male zu heiraten und nahm eine rechte Spießbürgerin zur Frau. In diesem neuen Haushalt ging alles ›drüber und drunter‹. Die neue Gattin gab niemand das bißchen Ruhe zum Leben. Sie wurde mit allen sogleich handgemein. Der Student Pokrowsky war damals noch ein Kind, etwa zehn Jahre alt. Seine Stiefmutter konnte ihn nicht vor sich sehen. Aber das Schicksal war dem kleinen Pokrowsky günstig. Der Gutsbesitzer Bykow, der den alten Pokrowsky von früher her kannte, ihm irgendeine Wohltat erwiesen hatte, nahm das Kind in seine Obhut und brachte es in irgendeiner Schule unter. Auch später kümmerte er sich um den Knaben, denn er hatte seine Mutter gekannt, von einer Zeit her, wo sie noch Wohltaten von Seiten Anna Feodorownas »genossen« hatte und von dieser an den Beamten Pokrowsky verheiratet worden war. Herr Bykow, ein Freund und naher Bekannter Anna Feodorownas, ein großzügiger, wohlhabender Mensch, schenkte der Braut fünftausend Rubel Mitgift. Wohin dieses Geld gekommen ist, bleibt unbekannt. So erzählte es mir Anna Feodorowna; der Student Pokrowsky seinerseits liebte es nicht, von seinen Familienverhältnissen zu erzählen. Man erzählt, daß seine Mutter eine sehr schöne Frau war und es erscheint mir seltsam, warum sie sich so unvorteilhaft verheiratet hat, indem sie einen so unbedeutenden Menschen zum Manne nahm ... Sie starb noch in jungen Jahren, etwa vier Jahre nach ihrer Hochzeit.

Von der Schule kam der junge Pokrowsky in irgendein Gymnasium und dann an die Universität. Herr Bykow, der oft nach Petersburg kam, war ihm auch dort ein gütiger Beschützer. Wegen seiner schadhaften Gesundheit war Pokrowsky nicht imstande, seine Universitätsstudien fortzusetzen. Herr Bykow machte ihn mit Anna Feodorowna bekannt, empfahl ihn ihr persönlich und so wurde der junge Pokrowsky für Verpflegung und Quartier dort untergebracht, mit der Verpflichtung, Sascha in allen notwendigen Unterrichtsgegenständen zu unterweisen.

Der alte Pokrowsky aber begann, aus Kummer über die Hartherzigkeit seiner Gattin, sich dem schlimmsten aller Laster zu ergeben und war fast überhaupt nie mehr nüchtern. Seine Frau zwang ihn, in der Küche zu leben, schlug ihn und brachte es so weit, daß er sich schließlich ohne Widerspruch in seine traurige Lage fand und gar nicht mehr klagte. Er war noch gar nicht so alt, aber wegen seines traurigen Hanges fast nicht mehr bei vollem Verstande. Der einzige Rest edleren Gefühls in ihm war seine grenzenlose Liebe zu seinem Sohne. Man sagte, der junge Pokrowsky gleiche seiner verstorbenen Mutter wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Oder war es die Erinnerung an die einstige, gütige Gattin, die in dem Alten eine so unermeßliche Liebe zu ihm geweckt hatte? Mit dem Alten konnte man überhaupt über nichts anderes sprechen, als über seinen Sohn und er erschien allwöchentlich genau zweimal bei ihm. Er wagte nämlich nicht, öfter zu kommen, denn der Sohn konnte diese Besuche des Vaters nicht ertragen. Von allen seinen Fehlern war diese Nichtachtung des Vaters zweifellos sein größter. Übrigens war der Alte mitunter wirklich der unerträglichste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Erstens war er ungeheuer neugierig, zweitens störte er unablässig seinen Sohn durch überflüssiges Geschwätz und Redereien während der Arbeit und schließlich tauchte er sehr oft in nicht mehr nüchternem Zustande auf. Langsam gelang es dem Sohne, dem Alten die Neugier, das ununterbrochene Reden und Fragen abzugewöhnen, ja er brachte es sogar so weit, daß ihm der Vater folgte, wie einem Orakel und es nicht einmal mehr wagte, den Mund ohne Erlaubnis des Sohnes aufzutun.

Den Alten konnte sein Petinka (so rief er seinen Sohn) nicht genug begeistern und wundernehmen. Wenn er bei ihm erschien, machte er stets einen sehr besorgten, gedrückten, ängstlichen Eindruck, wahrscheinlich aus der Ungewißheit heraus, wie ihn heute der Sohn aufnehmen würde; er konnte sich gewöhnlich lange nicht entschließen, einzutreten, fragte mich dann oft, wenn er mich bemerkte, wie es mit seinem Petinka heute stehe, ob er gesund sei, in was für einer Stimmung er sich befinde, ob er nicht eben mit einer sehr wichtigen Sache beschäftigt sei? Was er gerade jetzt zu tun habe, ob er schreibe oder mit irgendeiner Arbeit beschäftigt sei, die viel Nachdenken erfordert? Nachdem ich ihn entsprechend beruhigt und ermuntert hatte, entschloß sich der Alte endlich, einzutreten, und ganz, ganz ruhig, leise und vorsichtig öffnete er die Tür zum Zimmer seines Sohnes, steckte erst den Kopf ins Zimmer und wenn er sah, daß der Junge nicht verärgert war und mit dem Kopf nickte, erst dann trat er vorsichtig ein, legte seinen Mantel ab, den Hut, der ewig verdrückt, zerfetzt war und riesige Schmutzflecke hatte, hängte alles an den Haken, dies alles tat er leise, ohne jedes Geräusch; dann setzte er sich behutsam irgendwo in einen Sessel, ließ den Blick nicht von dem Sohne und verfolgte jede seiner Bewegungen, jeden Blick, bloß um die Stimmung seines Petinka zu erraten. War der Sohn nur ein ganz klein wenig schlechter Laune und der Alte bemerkte das, stand er sofort wieder von seinem Platze auf und meinte, er sei »nur so, für eine kleine Weile gekommen, mein Petinka, nur für eine kleine, kleine Weile. Ich habe ja einen weiten Weg hinter mir und da kam ich eben ein wenig herauf, auszuschnaufen«. Dann nahm er lautlos und ergeben sein Mäntelchen, den Hut, öffnete wieder ganz leise die Tür und ging seines Weges indem er sich zu einem Lächeln zwang, um in seinem Inneren den aufwallende Kummer zu unterdrücken und den Sohn nichts merken zu lassen. Aber wenn es vorkam, daß der Sohn den Vater freundlich empfing, dann war der Alte ganz außer sich vor Freude. Sein Gesicht leuchtete vor Zufriedenheit, seine Gebärden, seine Bewegungen, das alles zeigte, wie groß sein Glück war. Wenn der Sohn das Wort an ihn richtete, erhob sich der Alte stets ein wenig von seinem Sessel und gab ruhig, demütig, fast ehrerbietig Antwort und bemühte sich stets, sich aufs Gewählteste auszudrücken, was selbstverständlich sehr lächerlich wirkte. Aber diese Freude ließ ihn kaum ein zusammenhängendes Wort herausbringen: er verwickelte sich ständig, wurde zaghaft, wußte nicht, was er mit den Händen, was er mit sich selbst anfangen sollte, um nachher noch lange die Antwort vor sich hin zu murmeln, als wollte er alles noch einmal wiederholen. Wenn ihm aber die Antwort gelang, war er ganz begeistert, zog selbstbewußt an seiner Weste, seiner Krawatte, zupfte an seinen Rockschößen und war ganz Selbstbewußtsein. Mitunter war er so sehr in Schwung, daß er sich die Kühnheit herausnahm, sich leise vom Stuhl zu erheben, zum Bücherpult zu gehen, irgendein Buch hervorzukramen, dort sogar Einiges zu lesen, was ihm gerade unterkam. Das alles tat er mit einer Miene, die aussehen sollte wie Gleichgültigkeit und Kaltblütigkeit, als dürfe er immer mit dem Eigentum seines Sohnes derart willkürlich verfahren, als wäre sein Sohn ein außergewöhnlich zärtlicher Mensch. Einmal sah ich aber zufälligerweise, wie sehr der arme Alte erschrak, als Pokrowsky ihn bat, seine Bücher nicht anzurühren. Er wurde verwirrt, beeilte sich, wollte das Buch Hals über Kopf irgendwo hineinzwängen, dann wieder wollte er es ordentlicher machen, drehte es ein paarmal hin und her, steckte es verkehrt in das Regal; dazu lächelte er, errötete und wußte nicht, wie er sein Unrecht wieder gutmachen sollte. Durch wiederholte Ratschläge gelang es dem jungen Pokrowsky, seinem Vater die schlechten Gepflogenheiten ein wenig abzugewöhnen und wenn er ihn bloß dreimal hintereinander in nüchternem Zustande sah, gab er ihm beim nächstbesten Wiedersehen als Zeichen der Verzeihung einen Viertelrubel, manchmal auch einen halben oder noch mehr. Manchmal kaufte er ihm Stiefel, eine Krawatte oder Weste. Dann war der Alte stolz, wie ein Hahn. Mitunter kam er auch in unser Zimmer, brachte Sascha und mir Hähne aus Pfefferkuchen oder Äpfel und sprach mit uns immer wieder über seinen Petinka. Er bat uns, aufmerksam zu studieren, folgsam zu sein, erzählte, daß Petinka ein guter Sohn sei, ein Mustersohn, und noch dazu ein gelehrter Sohn. Dabei zwinkerte er uns derart komisch mit dem linken Auge zu, machte eine so wichtigtuerische Miene, daß wir das Kichern nicht mehr verbeißen konnten und vom Herzen über ihn lachen mußten. Auch Mutter mochte ihn gut leiden. Dagegen konnte er Anna Feodorowna nicht ausstehen, trotzdem er in ihrer Gegenwart stets mit einem Schlage »ganz klein« wurde.

Bald nahm mein Unterricht bei Pokrowsky ein Ende. Er hielt mich noch immer, wie bisher, für ein Kind, ein ausgelassenes Mädchen, ganz wie Sascha. Das schmerzte mich sehr, denn ich hatte ja alles getan, um die einstigen schlechten Eindrücke zu verwischen. Aber es war vergebens. Das verstimmte mich immer mehr und mehr. Ich sprach fast überhaupt nicht mit Pokrowsky, außer während des Unterrichts, ich konnte nicht, errötete, wurde verwirrt, und weinte dann meist in irgendeinem Winkel vor Verdruß vor mich hin.

Ich weiß nicht, womit das alles geendet hätte, hätte nicht ein seltsamer Umstand geholfen, uns einander näherzubringen. Eines Abends, als Mutter bei Anna Feodorowna saß, schlich ich leise in Pokrowskys Zimmer. Ich wußte, daß er nicht zu Hause war, eigentlich wußte ich aber nicht recht, warum es mich dorthin zog. Bis dahin hatte ich noch nie in sein Zimmer geblickt, obwohl wir bereits länger als ein Jahr Tür an Tür wohnten. Aber diesmal schlug mein Herz so ungestüm, daß es mir schien, als wollte es aus der Brust springen. Mit besonderer Neugier blickte ich mich um. Das Zimmer Pokrowskys war durchaus ärmlich eingerichtet; es herrschte wenig Ordnung. Auf Tisch und Sesseln lagen Papiere. Überall Bücher und Papiere! Ein seltener Gedanke kam mir und ein Gefühl peinlichen Ärgers bemächtigte sich meiner. Es schien mir, daß ihm meine Freundschaft, mein liebendes Herz wenig bedeuten würden. Er war gescheit, ich dumm, ich wußte nichts, hatte nichts gelesen, kein einziges Buch ... Neidvoll sah ich da die langen Regale, die unter der Last der Bücher fast zu brechen schienen. Da packte mich Ärger, Gram, Raserei. Ich wollte seine Bücher lesen, jetzt, sofort, eines nach dem anderen, so schnell als möglich. Ich stürzte mich gleich auf das erste Bücherbrett. Ohne zu überlegen, ohne zu denken, nahm ich das erstbeste Buch, das mir in die Hand kam, einen uralten, ganz verstaubten Band, und abwechselnd vor Erregung und Furcht bald errötend, bald erbleichend – mein ganzer Körper zitterte – trug ich das entwendete Buch in unsere Wohnung, um es bei Nacht, wenn Mutter schlief, unter dem Schein der Nachtlampe zu lesen.

Aber wie enttäuscht war ich, als ich, nachdem ich in unserem Zimmer angekommen war, eilends das Buch aufschlug und bemerkte, daß es ein alter, verdrückter, halb zerfressener Band mit lateinischem Text war. Ich machte kehrt, wollte keine Zeit verlieren. Aber eben, als ich das Buch auf das Regal zurückstellen wollte, hörte ich im Korridor Lärm und es schien mir, als ob Schritte näherkämen. Ich hastete, beeilte mich, wollte das unerwünschte Buch auf das Regal zurückstellen, aber es war derart eng zwischen die anderen Bücher gepreßt gewesen, daß es mir nicht gelingen wollte, es wieder auf seinen alten Platz zu bringen – seine Gefährten hatten sich breiter gemacht und wollten es nicht mehr in die Reihe herein lassen. Meine Kraft reichte nicht aus, das Buch hineinzuzwängen. Trotzdem preßte ich die Bücher auseinander, so kräftig ich konnte und ein rostiger Nagel, der das Ende des Regals zusammenhielt und der scheinbar absichtlich bloß auf diesen Augenblick gewartet hatte – brach. Mit dem einen Ende krachte das Bücherbrett zu Boden. Lärmend fielen die Bücher herunter. Die Tür wurde geöffnet und Pokrowsky trat ein.

Ich muß bemerken, daß er es nicht leiden konnte, wenn jemand in seinem Zimmer herumkramte. Wehe dem, der seine Bücher berührte! Man kann sich also sein Entsetzen vorstellen, als er sah, wie alle diese kleinen und großen Bücher verschiedenster Größe, verschiedenster Stärke vom Brett herabstürzten, durcheinanderflogen, unter Tisch und Stühlen, im ganzen Zimmer herumlagen. Ich wollte davonlaufen, aber es war zu spät. Jetzt ist alles aus, dachte ich, alles aus! Ich war erledigt, verloren! Ich hatte mich benommen wie ein zehnjähriges Kind; ich, ein erwachsenes Mädchen!! – Pokrowsky ärgerte sich furchtbar. »Na also, das hat gerade noch gefehlt!« schrie er. »Schämen Sie sich nicht, solchen Unsinn zu treiben? ... Werden Sie denn überhaupt nie Vernunft annehmen?« Und er schickte sich an, die Bücher aufzulesen. Ich bückte mich, um ihm zu helfen. »Nicht nötig, nicht nötig!« schrie er. »Es wäre vernünftiger gewesen, Sie gingen nicht dorthin, wohin man Sie nicht gerufen hat!« Aber durch meine ergebene Haltung, die ich angenommen hatte, unwillkürlich ein bißchen milder gestimmt, wurde er ruhiger und in dem mir von der Zeit des Unterrichts her noch wohlbekannten Ton, mit seiner Lehrerstimme, fuhr er fort: »Wann endlich werden Sie Vernunft annehmen, ernster werden? Sehen Sie sich selbst bloß einmal an, Sie sind doch kein Kind mehr, kein kleines Mädchen, Sie sind doch schon fünfzehn Jahre alt!« – Und da, wahrscheinlich, um sich selbst auch zu überzeugen, daß ich kein Kind mehr sei, blickte er mich an und wurde bis über die Ohren rot. Ich verstand nicht: ich stand vor ihm und blickte ihn mit großen Augen verwundert an. Er stand auf, kam mit verlegener Miene etwas näher heran, schämte sich furchtbar, sagte irgend etwas, ich glaube, er entschuldigte sich, vielleicht deshalb, daß er erst jetzt bemerkt hatte, was für ein großes Mädchen ich war. Endlich verstand ich. Ich weiß nicht mehr, wie mir damals wurde. Auch ich schämte mich, errötete noch mehr als Pokrowsky, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief aus dem Zimmer.

Ich wußte nicht, was ich tun, wohin ich laufen sollte, um meine Schande zu verbergen. Bloß die Tatsache, daß er mich in seinem Zimmer erwischt hatte! Drei ganze Tage lang konnte ich ihn nicht ansehen. Ich errötete bis zu Tränen. Die schrecklichsten und lächerlichsten Gedanken gingen mir durch den Kopf. Einer, der ungeheuerlichste, war der, zu ihm zu gehen, ihm alles zu erklären, ihm alles zu gestehen, alles offen zu erzählen, ihm zu versichern, daß ich nicht wie ein dummes Mädchen gehandelt, sondern in bester Absicht vorgegangen sei. Dazu war ich schon fest entschlossen, aber Gott sei Dank, der Mut fehlte mir. Ich kann mir ausmalen, was ich damit angerichtet hätte! Noch heute schäme ich mich, wenn ich an das alles denke.

Einige Tage später erkrankte Mutter plötzlich sehr ernst. Zwei Tage lag sie bereits ununterbrochen zu Bett, die dritte Nacht hatte sie hohes Fieber und phantasierte. Ich pflegte Mütterchen, hatte schon eine ganze Nacht lang nicht geschlafen, saß an ihrem Krankenlager, gab ihr zu trinken und verabreichte ihr zu vorgeschriebenen Zeiten eine verordnete Arznei. Während der nächsten Nacht war ich ganz verzweifelt. Zeitweise überwältigte mich der Schlaf, vor den Augen flunkerte es grün, im Kopf drehte sich alles und ich war jeden Augenblick nahe daran, vor Müdigkeit bewußtlos zu werden, aber das schwache Stöhnen Mütterchens riß mich immer wieder hoch, ich fuhr zusammen, wurde für eine Sekunde nüchtern, doch dann versank ich neuerdings in Schlummer. Es war sehr qualvoll. Ich weiß nicht – daran erinnere ich mich nicht mehr – was für ein Spuk es war, aber er war furchtbar, zermarterte mein Gehirn in den quälenden Minuten, wo ich immer wieder gegen den Schlaf ankämpfte. Ich erwachte vor Entsetzen. Im Zimmer war es finster, das Nachtlämpchen erlosch, hie und da zuckte es plötzlich noch einmal auf und Schatten zitterten die Wände entlang, dann wieder wurde es ganz finster. Es wurde mir furchtbar ängstlich zumute, Entsetzen bemächtigte sich meiner; meine Eindrücke standen noch unter dem Druck des fürchterlichen Traumes. Angst krampfte mir das Herz zusammen ... Ich sprang vom Sessel auf und schrie unwillkürlich leise auf, unter dem Druck eines schweren, ängstlichen Gefühles. Da öffnete sich die Tür und Pokrowsky trat in unser Zimmer.

Ich erinnere mich bloß, daß ich in seinen Armen wieder erwachte. Vorsichtig setzte er mich in einen Stuhl und überhäufte mich mit Fragen. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich ihm antwortete. – »Sie sind krank, Sie selbst sind ja sehr krank,« sagte er und nahm mich bei der Hand, »Sie haben Fieber, Sie richten sich zugrunde, spielen Sie nicht mit Ihrer Gesundheit; beruhigen Sie sich, legen Sie sich hin, schlafen Sie! Ich werde Sie in zwei Stunden wecken, ruhen Sie ein wenig aus! ... Legen Sie sich hin!« wiederholte er und erlaubte mir nicht, ein einziges Wort zu erwidern. Müdigkeit beraubte mich meiner letzten Kräfte, die Augen schlossen sich vor Schwäche. Ich legte mich in den Lehnstuhl, mit dem Entschluß, bloß für eine halbe Stunde einzuschlafen, schlief aber bis zum Morgen. Pokrowsky weckte mich erst, als es Zeit war, Mutter die Arznei zu geben.

Am nächsten Tag, als ich, ein wenig ausgeruht, mich wieder in den Lehnstuhl neben Mutters Bett setzte, fest entschlossen, diesmal nicht einzuschlafen und die Nachtwache durchzuhalten, klopfte Pokrowsky um elf Uhr nachts an unserem Zimmer. Ich öffnete die Tür. »Es wird Ihnen langweilig sein, allein zu sitzen«, sagte er zu mir. »Da, nehmen Sie dieses Buch; Sie werden alles leichter ertragen.« Ich nahm das Buch, erinnere mich übrigens nicht mehr, was für eines es war. Aber ich sah es nicht einmal an, obwohl ich die ganze Nacht nicht schlief. Eine seltsame innere Erregung hinderte mich am Einschlafen; ich konnte nicht auf einem und demselben Platze verharren, stand wiederholt vom Lehnstuhl auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Eine innere Zufriedenheit durchströmte mein ganzes Wesen. Ich freute mich so sehr über Pokrowskys Aufmerksamkeit. Ich war stolz auf seine Besorgnis und seine Mühe um mich. Die ganze Nacht war ich in Nachdenken und Betrachtung versunken. Pokrowsky kam nicht wieder; ich wußte, daß er heute nicht mehr kommen würde und dachte schon an den kommenden Abend.

Am nächsten Abend, als sich im Hause schon alle schlafen gelegt hatten, erschien Pokrowsky in seiner Tür und begann, mit mir zu sprechen, indem er an der Schwelle seines Zimmers stehen blieb. Ich erinnere mich keines einzigen Wortes mehr, weiß nicht, was wir einander damals sagten. Ich weiß bloß, daß ich verschüchtert war, verwirrt, mich über mich selbst furchtbar ärgerte und voll Ungeduld die Beendigung dieses Gesprächs herbeisehnte, trotzdem ich es aus ganzer Seele gewünscht, den ganzen Tag davon geträumt, Fragen und Antworten vorbereitet hatte ... Von diesem Abend an begannen sich die ersten Fäden unserer Freundschaft zu spinnen. Während der ganzen folgenden Zeit der Krankheit meiner Mutter verbrachten wir nun jede Nacht einige Stunden miteinander. Nach und nach überwand ich meine Schüchternheit, obwohl mir jedes Gespräch Anlaß bot, hinterher mit mir selbst unzufrieden zu sein. Übrigens konnte ich mit geheimer Freude und stolzer Zufriedenheit bemerken, wie er meinetwegen seine unerträglichen Bücher vergaß. Zufälligerweise, Spaßes halber kam einmal das Gespräch auf ihren Sturz vom Regal. Eine Minute lang herrschte etwas Beklemmung, ich war scheinbar zu sehr aufrichtig, zu offenherzig; seltsame Begeisterung, Hitze ergriff mich und ich gestand ihm alles ... daß ich lernbegierig war, daß es mich kränkte, immer für ein kleines Mädchen gehalten zu werden, für ein Kind ... Ich wiederhole, daß ich in einer seltsamen seelischen Verfassung war; mein Herz war milde gestimmt, in den Augen standen Tränen – ich verschwieg nichts, erzählte ihm alles, alles ... über meine Freundschaft zu ihm, den Wunsch, ihm gut zu sein, eines Sinnes, ihn zu stützen, zu beruhigen. Er sah mich so eigentümlich an, war seinerseits verwirrt, erstaunt – und sprach kein Wort. Das machte mich plötzlich sehr traurig, tat mir weh. Es schien mir, als verstehe er mich nicht, ja, als wollte er sich vielleicht über mich lustig machen. Ich begann sofort zu weinen wie ein kleines Kind, schluchzte, konnte mich nicht mehr beherrschen. Da nahm er meine Hände, bedeckte sie mit Küssen, preßte sie an seine Brust, redete mir zu, tröstete mich. Er war sehr gerührt. Ich erinnere mich nicht, was er mir sagte, aber ich weiß, daß ich bald lachte, bald weinte, errötete, vor Freude kein Wort über die Lippen brachte. Überdies, ungeachtet meiner Erregung, bemerkte ich, daß in Pokrowsky trotzdem eine gewisse Verwirrung und innere Unfreiheit zurückgeblieben war. Er konnte sich scheinbar über diese meine spontane Erklärung, meine Verzückung, meine heiße, flammende Freundschaft nicht recht fassen. Vielleicht war er von Anfang an bloß neugierig geworden. Dann aber ließ er seine Zurückhaltung fallen und nahm meine Neigung mit derselben offenen, schlichten Gefühlswärme entgegen, wie sie ihm dargebracht war ... Er hatte Verständnis für meine freundlichen Worte, meine Aufmerksamkeit, und erwiderte sie ebenso herzlich, ebenso aufmerksam und innig, als wäre er mein nächster Freund, mein eigener Bruder. Mir wurde so warm ums Herz, so wohl! ... Nicht das Geringste verbarg ich vor ihm. Und er sah das alles und fühlte sich von Tag zu Tag immer mehr zu mir hingezogen.

Und wahrhaftig, ich glaube, es gab überhaupt nichts, was wir nicht gemeinsam besprachen in diesen quälenden und doch so süßen Stunden, unter dem zitternden Licht des Nachtlämpchens vor dem Heiligenbilde, nachts, fast knapp neben dem Bette meiner armen, kranken Mutter ... Über alles sprachen wir, was uns in den Sinn kam, was das Herz beschwerte, was drängte, ausgesprochen zu werden – und wir waren beinahe glücklich ... Ach, was für eine traurige und dennoch freudvolle Zeit war das! Beides zusammen! Noch heute wird mir ebenso traurig wie froh zumute, wenn ich mich dieser Zeit erinnere. Mögen Erinnerungen nun freudvoll oder bitter sein, immer sind sie qualvoll. Zumindest bei mir. Aber selbst Qualen können süß sein. Und wenn es ums Herz schwer wird, schmerzhaft, quälend, dann wird es durch Erinnerung erleuchtet, neu belebt, wie kühler Tau an heißem Tag die arme welkende Blume netzt.

Mutter genas, aber ich mußte nachts noch immer an ihrem Lager Krankenwache halten. Pokrowsky gab mir oft Bücher; ich las sie, erst, um mich am Einschlafen zu hindern, dann aber mit Aufmerksamkeit, schließlich voll Gier. Vor mir eröffnete sich viel Neues, bis dahin völlig Unbekanntes. Neue Gedanken, neue Eindrücke stürmten in Überfluß gegen mein Herz. Und je mehr Aufregung, Arbeit und Bestürzung mir diese Eindrücke brachten, um so wertvoller, um so süßer erfüllten sie meine Seele. Urplötzlich klopften sie an mein Herz, ließen es nicht zur Ruhe kommen. Ein eigenartiges Wirrsal begann mein ganzes Wesen gefangen zu nehmen. Aber diese Gewalt an meiner Seele war nicht imstande, mich unterzukriegen. Ich war zu träumerisch veranlagt und das rettete mich.

Als Mutters Krankheit überstanden war, hörten unsere abendlichen gemeinsamen Stunden und Aussprachen auf; hie und da kam es wohl zu flüchtigem Gespräch, meist oberflächlicher, alltäglicher Natur, aber es gefiel mir, selbst nichtssagenden Worten ihre eigene Bedeutung, geheimen Sinn zu geben. Mein Leben war ausgefüllt, ich war glücklich, ruhig, geborgen. So vergingen einige Wochen ...

Einmal kam der alte Pokrowsky in unser Zimmer. Lange schwatzte er mit uns, war bei außerordentlich guter Stimmung, lustig, aufgeräumt, gesprächig; er scherzte auf seine ihm eigene Art und gab schließlich die Lösung dieses seines Rätsels, indem er uns ankündigte, daß genau in einer Woche der Geburtstag seines Sohnes gefeiert werden würde und daß er aus diesem Anlaß unbedingt zu seinem Petinka kommen müsse.

Er wolle seine neue Weste anziehen, zudem habe seine Frau versprochen, ihm neue Stiefel zu kaufen. Mit einem Wort, der Alte war überglücklich und scherzte so viel er bloß konnte.

Sein Geburtstag! Dieser Geburtstag gab mir weder Tag noch Nacht Ruhe. Ich beschloß sofort, ihm in Erinnerung an unsere Freundschaft unbedingt etwas zu schenken. Aber – was? Ich kam zu dem Entschluß, ein Buch zu wählen. Ich wußte, daß er eine Gesamtausgabe von Puschkins Werken besitzen wollte, letzter Auflage und so beschloß ich, ihm Puschkin zu kaufen. Ich besaß an eigenem Geld etwa dreißig Rubel, die ich mit Handarbeit verdient hatte. Dieses Geld hatte ich mir für ein neues Kleid zurückgelegt. Sogleich schickte ich unsere Köchin, die alte Matrjona nachfragen, was die Gesamtausgabe Puschkins koste. Aber, welche Enttäuschung! Alle elf Bände, als gebundene Ausgabe, kosteten beiläufig sechzig Rubel. Woher das Geld nehmen? Ich überlegte und überlegte, wußte nicht, wozu ich mich entschließen sollte. Mutter bitten, mir zu helfen, das wollte ich nicht. Sie wäre dazu selbstverständlich sofort bereit gewesen; aber dann hätten alle im Hause sogleich um unser Geschenk gewußt. Und dann wäre es auf solche Weise eine Art Gegengabe für alle Mühe gewesen, die er während des vergangenen Jahres im Unterricht für mich aufgewendet hatte, aber – kein Geschenk. Ich wollte allein, abseits von allen anderen schenken. Für seine Mühe aber wollte ich ihm für alle Zeit verpflichtet bleiben, ohne ihn dafür irgendwie zu »entlohnen« – es bestand doch eine wahre Freundschaft zwischen uns beiden. Endlich kam ich zu dem Entschluß, wie man einen Ausweg finden könnte. Ich wußte, daß man bei den Antiquaren im Gostinny Dwor (Verkaufshallen, Anm. d. Übers.) mitunter um die Hälfte billiger kaufen konnte, man mußte bloß verstehen, zu handeln. Es waren dies gewöhnlich ein wenig gebrauchte, aber fast neue Exemplare. Ich wollte sofort nach dem Gostinny Dwor gehen. Die Gelegenheit dazu ergab sich gleich am nächsten Tag, sowohl Mutter als auch Anna Feodorowna benötigten Verschiedenes, Mutter fühlte sich nicht gesund, Anna Feodorowna kam diese Besorgung ungelegen, so mußte ich alle diese Aufträge erledigen und ich machte mich mit Matrjona allein auf den Weg.

Zu meinem Glück fand ich bald diese Puschkinausgabe, noch dazu in sehr hübschen Einbänden. Ich begann zu handeln. Man verlangte zuerst mehr als in einer Buchhandlung, aber dann, nach und nach – ich tat stets, als wollte ich unverrichteter Dinge weiter meines Weges gehen – gelang es mit viel Mühe, den Buchhändler zu bewegen, um zehn Silberrubel vom festgelegten Preis herunterzugehen. Wie lustig war dieses Feilschen! ... Die arme Matrjona wußte nicht, was mit mir eigentlich los war und aus welchem Grunde ich mich entschlossen hätte, so viele Bücher zu kaufen. Aber, wie schrecklich! Ich besaß im ganzen dreißig Rubel und der Händler wollte von den verlangten fünfunddreißig nicht mehr heruntergehen. Schließlich verlegte ich mich aufs Bitten, flehte ihn an, bis er sich meiner erbarmte: er ließ noch zweieinhalb Rubel nach, aber nur mir zuliebe, wie er versicherte, weil ich ein so liebes Fräulein sei, niemand anderem wäre er derart entgegengekommen. Und so fehlten mir noch immer zweieinhalb Rubel! Ich war bereit, jeden Augenblick vor Verzweiflung in Tränen auszubrechen. Aber ein durchaus unerwarteter Zwischenfall sollte mir aus der Verlegenheit helfen.

Nicht weit von mir, an einem anderen Büchertisch stehend, bemerkte ich den alten Pokrowsky. Um ihn drängten sich vier, fünf Antiquare, sprachen durcheinander auf ihn ein, verwirrten ihn vollends. Jeder von ihnen pries seine Ware an, man schlug ihm dies und jenes zum Kaufe vor, er wußte gar nicht mehr, was er eigentlich kaufen sollte! Der arme Alte stand in ihrer Mitte, eingekeilt und wußte nicht, wofür er sich entscheiden sollte. Ich ging zu ihm hin und fragte, was er hier suche. Der Alte freute sich sehr über diese Begegnung; er liebte mich ja unendlich, vielleicht nicht weniger als seinen Petinka. »Ja, da kaufe ich nun Büchlein für Petinka, Warwara Alexejewna,« sagte er, »er hat ja bald Geburtstag und er liebt doch so sehr Bücher, da kaufe ich ihm eben welche ...« Der Alte drückte sich stets sehr komisch aus, wozu noch kam, daß er momentan in schrecklicher Verwirrung dastand. Was immer er auch kaufen wollte, alles kostete einen Rubel, zwei, drei Rubel; an die großen Bücher wagte er sich ohnedies nicht einmal heran, er blickte sie bloß von der Seite her schüchtern an, blätterte darin, drehte das eine oder andere Werk ein paarmal in der Hand herum, um es schließlich wieder auf den Platz zurückzustellen. »Nein, nein, das ist zu teuer,« sagte er halblaut, »vielleicht nehme ich von hier etwas!« Und er begann unter dünnen Heften, Liedern und Almanachen zu kramen – sie waren alle sehr billig. »Warum wollen Sie das alles kaufen?« fragte ich ihn, »das sind durchwegs minderwertige Hefte.« »Ach nein,« antwortete er, »nein, sehen Sie nur, was für schöne Büchlein es unter diesen hier gibt, sogar sehr, sehr schöne Büchlein!« Und die letzten Worte sprach er so wehmütig, so zaghaft, daß es mir schien, er wäre bereit, jeden Augenblick vor Kummer darüber, daß die schönen Bücher so teuer sind, in Tränen auszubrechen, und mir war tatsächlich, als rollte eine kleine Träne über die bleiche Wange auf seine rote Nase. Ich fragte ihn, ob er viel Geld habe. »O ja«, meinte er und kramte sein ganzes Geld aus, das er in Zeitungspapier gepackt in der Tasche hatte. »Da wäre ein halber Rubel, ein Zwanzigkopekenstück, Kupfer etwa zwanzig ...« Sofort zog ich ihn zu meinem Antiquar. »Da sehen Sie, alle diese elf Bände kosten zweiunddreißigeinhalb Rubel. Ich habe dreißig, geben Sie die zweiundhalb Rubel dazu und wir kaufen alle diese Bücher, schenken sie gemeinsam Ihrem Sohne.« Der Alte war ganz außer sich vor Freude, schüttelte sein ganzes Geld aus und der Antiquar lud ihm unsere ganze angekaufte Bibliothek auf. Mein guter Alter verstaute die Bücher in allen seinen Taschen, trug einige in den beiden Armen, unter den Achseln und brachte sie zu sich nach Hause, nachdem er mir sein Ehrenwort gegeben hatte, alle Bücher am kommenden Tage zu mir zu schaffen.

Er kam tatsächlich, zunächst zu seinem Sohne, saß dort ein Stündchen bei ihm, wie immer, dann kam er zu uns und setzte sich mit besonders geheimnisvoll-komischer Miene zu mir. Zunächst zeigte er händereibend und vergnügt lächelnd, daß er gewissermaßen mit mir ein gemeinsames Geheimnis habe, dann teilte er mir mit, daß er die Bücher bereits völlig unbemerkt zu uns geschafft und in der Küche versteckt habe, wo sie in einer heimlichen Ecke bei der verschwiegenen Matrjona untergebracht seien.

Dann kam das Gespräch selbstverständlich auf den bevorstehenden Festtag. Der Alte kam ganz von weit her darauf zu sprechen, wie wir das Geschenk überreichen sollten und je weiter er sich in seine Ausführungen vertiefte, je mehr er über die Angelegenheit sprach, um so deutlicher sah ich, daß er etwas auf dem Herzen hatte, wovon zu sprechen er weder wagte noch wollte. Ich wartete die ganze Zeit und schwieg. Seine geheime Freude, seine geheime Zufriedenheit, die ich bis jetzt so leicht in seinen seltsamen Gebärden, Grimassen und dem typischen Zwinkern seines linken Auges lesen konnte, verschwanden. Er wurde von Minute zu Minute unruhiger und trauriger; schließlich konnte er nicht mehr an sich halten:

»Hören Sie,« begann er schüchtern, mit halblauter Stimme, »hören Sie, Warwara Alexejewna ... wissen Sie was, Warwara Alexejewna? ...« – er war dabei in schrecklicher Verlegenheit – »also, sehen Sie: wenn sein Geburtstag kommt, dann nehmen Sie zehn von diesen Büchern und schenken sie ihm persönlich, das heißt, von sich aus, von Ihrer Seite; und ich wieder, ich nehme dann den einen, den elften Band und schenke ihn ebenfalls separat, von mir aus, also ganz allein, von meiner Seite. So, also sehen Sie – so haben Sie etwas zu schenken und so habe ich etwas zu schenken, und so haben wir also alle beide etwas zu schenken.« Hier stockte der Alte und schwieg. Ich betrachtete ihn; mit schüchterner Erwartung saß er da und harrte auf mein Urteil. »Schön. Warum aber wollen Sie nicht, daß wir gemeinsam schenken, Sachar Petrowitsch?« – »Tja, das ist so, Warwara Alexejewna! Das ist schon so ... ich, wissen Sie ... hm, ja, eben ... mit einem Wort,« der Alte wurde neuerdings verlegen, errötete, rannte sich in seinem angefangenen Satze fest und konnte weder vor noch zurück.

»Sehen Sie,« sagte er, endlich wieder in Fluß gekommen, »ich, Warwara Alexejewna, ich benehme mich mitunter nicht so, wie es sein sollte ... das heißt, ich will Ihnen gestehen, daß ich mich eigentlich überhaupt nie so benehme, wie es sein sollte ... ich kann mich eben schlecht beherrschen ... also, wissen Sie, wenn zum Beispiel draußen, im Freien so starker Frost ist – dazu hat man noch oft seine anderen Unannehmlichkeiten – oder, wenn man so recht bei elender Stimmung ist, etwas sehr Unangenehmes mitgemacht hat, kann man sich eben schwerer beherrschen, man vergißt sich, trinkt zu viel. Petruscha ist das sehr peinlich. Sehen Sie, Warwara Alexejewna, er ärgert sich darüber, schimpft, hält mir Moralpredigten. Und darum wollte ich ihm jetzt gerade durch mein Geschenk beweisen, daß ich mich bessere, daß ich beginne, mich gut zu benehmen. Und daß ich gespart habe – sogar sehr lange gespart habe – damit ich ihm ein Büchlein kaufen kann, denn ich habe ja fast nie Geld, außer, wenn Petruscha mir welches gibt. Das weiß er ganz genau. Folglich sieht er, was ich mit dem ersparten Gelde getan habe, daß ich dies alles nur für ihn allein tue.«

Der Alte tat mir furchtbar leid. Ich überlegte nicht lange. Unruhig betrachtete er mich indessen. »Also, hören Sie, Sachar Petrowitsch,« sagte ich, »Sie schenken ihm einfach alle Bücher!« – »Wieso alle? Sie meinen ... alle diese Bücher?« – »Nun ja, alle Bücher!« – »Alle – von meiner Seite allein?« – »Von Ihrer Seite, ganz allein!« – »Ganz allein von meiner Seite? Das heißt, nur in meinem Namen?« – »Nun ja, nur in Ihrem Namen!« ... Ich hatte mich, glaube ich, sehr deutlich ausgedrückt, aber der Alte konnte mich noch lange nicht verstehen.

»Nun ja«, begann er nachdenklich. »Ja, das wäre sehr schön, außerordentlich schön, aber, was tun denn dann Sie, Warwara Alexejewna?« – »Ich? Ich schenke ihm einfach – nichts!« – »Wie denn?« rief der Alte, fast erschrocken. »Sie wollen Petinka nichts schenken, ja, wie ist denn das möglich?« Er war ganz ängstlich geworden, es schien, als wollte er in diesem Augenblick meinen Vorschlag zurückweisen, bloß damit auch ich etwas seinem Sohne schenken könne. Wie gut war doch dieser alte Mann! Ich versicherte ihm, daß es mich wirklich gefreut hätte, auch etwas zu schenken, aber ihm das Vergnügen nicht verderben wolle. »Wenn Ihr Sohn zufrieden sein wird,« fügte ich hinzu, »und auch Sie Ihre Freude daran haben, dann werde auch ich mich mit Ihnen freuen, denn in meinem innersten Herzenswinkel werde ich ganz insgeheim das Gefühl haben, als hätte ich selbst auch geschenkt.« Daraufhin beruhigte sich der Alte vollkommen. Er verweilte bei uns noch etwa zwei Stunden, konnte aber die ganze Zeit lang nicht ruhig auf seinem Platze sitzen bleiben, er stand auf, ging auf und ab, lärmte, scherzte mit Sascha, küßte mich heimlich, zwickte mich in die Hand und schnitt hinter Anna Feodorowna Grimassen. Schließlich jagte ihn Anna Feodorowna davon. Mit einem Wort, der Alte war vor Freude derart außer sich geraten, wie er es vielleicht noch nie im Leben gewesen war.

An dem Festtag erschien er pünktlich um elf Uhr vormittags, direkt von der Frühmesse, in seinem geflickten Sonntagsrock und tatsächlich in neuer Weste und neuen Schuhen. Auf beiden Armen trug er, zu je einem Paket gebunden, die Bücher. Um diese Zeit saßen wir alle im großen Zimmer Anna Feodorownas und tranken Kaffee (es war Sonntag). Ich glaube, der Alte begann seine Rede damit, daß Puschkin seit jeher ein guter Dichter gewesen sei; dann stockte er, wurde verlegen und ging plötzlich dazu über, daß man sich gut aufführen müsse und wenn sich der Mensch nicht gut aufführe, dann heiße das mit anderen Worten, daß er allerhand Unfug aufführe; daß schlechte Gewohnheiten seit jeher den Menschen erniedrigen und verderben; er zählte sogar einige abschreckende Beispiele auf und schloß damit, daß er sich seit einiger Zeit durchaus gebessert habe und sich jetzt ganz mustergültig aufführe. Schon früher habe er erkannt, wie richtig die Belehrungen seines Sohnes seien, daß er das alles schon längst befolgt und sich zu Herzen genommen habe, nun aber sich tatsächlich all dieser schlechten Dinge enthalte. Als Beweis dessen er diese Bücher als Geschenk überreiche, die für Geld gekauft seien, das er sich im Laufe langer Zeit zusammengespart habe.

Ich konnte vor Lachen die Tränen nicht verbeißen, während ich dem armen Alten in seinen Ausführungen folgte; er hatte es also doch zuwege gebracht, zu lügen, wenn es darauf ankam! Die Bücher wurden in das Zimmer Pokrowskys gebracht und auf das Regal gestellt. Pokrowsky hatte sofort den wahren Sachverhalt erraten. Man lud den Alten zum Mittagessen ein. An diesem Tage waren wir alle sehr fröhlich. Nach dem Essen spielten wir Karten und Pfänderspiele. Sascha war derart ausgelassen, daß ich Mühe hatte, nicht hinter ihr zurückzubleiben. Pokrowsky war sehr aufmerksam gegen mich und versuchte ständig, Gelegenheit zu finden, mit mir unter vier Augen zu sprechen, doch ich tat nichts dergleichen. Das war der schönste Tag in allen diesen vier Jahren meines Lebens.

Nun kommen aber bloß traurige, schwere Erinnerungen; es beginnt die Geschichte meiner düsteren Tage. Vielleicht deshalb scheint es mir, schreibt meine Feder langsamer, als wollte sie sich weigern, mir weiter ihren Dienst zu tun. Und vielleicht auch deshalb habe ich so ausführlich und liebevoll alle Erinnerungen und kleinen heiteren Erlebnisse meiner damaligen glücklichen Tage beschrieben. Waren sie doch so kurz; bald gaben sie dem Kummer Platz, schwerem Kummer – Gott allein weiß, wann er ein Ende nehmen wird.

Mein Unglück begann mit der Krankheit und dem Tode Pokrowskys.

Ungefähr zwei Monate nach dem hier beschriebenen Geburtstagsfeste erkrankte er. In diesen zwei Monaten hatte er unermüdlich nach einer Anstellung gesucht, da er ja bis dahin noch immer keine rechte Beschäftigung hatte. Wie alle Schwindsüchtigen hatte er bis zum letzten Augenblick die Hoffnung nicht aufgegeben, noch sehr lange zu leben. Er sollte irgendwo Lehrer werden; aber er empfand Widerwillen gegen diese Beschäftigung. Wegen seiner Krankheit konnte er auch nicht in Staatsdienst treten. Zudem hätte er dort lange auf sein erstes Gehalt warten müssen. Kurz, Pokrowsky hatte auf allen Linien Mißerfolg; sein Charakter litt darunter. Seine Gesundheit wurde zerrüttet; er achtete nicht darauf. Es kam der Herbst. Täglich ging er in seinem dünnen Mäntelchen fort, um endlich doch irgendwo eine Anstellung zu erbitten, was ihn innerlich zermürbte; er bekam nasse Füße, wurde vom Regen oft überrascht und schließlich mußte er sich zu Bette legen, um nicht wieder aufzustehen ... Er starb im späten Herbst, Ende Oktober.

Während der ganzen Dauer seiner Krankheit verließ ich fast überhaupt nie sein Zimmer, pflegte ihn und diente ihm. Oft schlief ich die ganze Nacht nicht. Er war selten bei Bewußtsein; oft hatte er Fieberphantasien; weiß Gott, was er da alles redete, von seiner Anstellung, seinen Büchern, von mir, dem Vater ... und so erfuhr ich viel von seinen Verhältnissen, wovon ich bis dahin nichts gewußt, ja nicht einmal geahnt hatte. Während der ersten Zeit seiner Krankheit betrachteten mich alle die Unsrigen ein wenig sonderbar; Anna Feodorowna schüttelte den Kopf. Aber ich sah allen offen in die Augen und man verurteilte mich nicht mehr wegen meiner Anteilnahme an Pokrowskys Leid – zumindest Mutter tat es nicht.

Manchmal erkannte mich Pokrowsky, doch war dies selten der Fall. Er war fast die ganze Zeit besinnungslos. Es kam vor, daß er ganze Nächte lang mit irgend jemandem lange, lange in undeutlichen, dunklen Worten sprach und seine heisere Stimme klang düster in der Dunkelheit seines Zimmers, wie in einem Grabe; in solchen Augenblicken wurde mir ganz ängstlich zumute. Insbesondere während der letzten Nacht war er wie rasend; er litt schrecklich und stöhnte, daß es mir an der Seele weh tat. Im Hause waren alle wie vom Schreck geschüttelt. Anna Feodorowna betete die ganze Zeit, Gott möge ihn schneller erlösen. Man rief einen Arzt. Der sagte, der Kranke werde gegen Morgen zweifellos sterben.

Der alte Pokrowsky verbrachte die ganze Nacht im Korridor, knapp an der Tür zum Zimmer seines Sohnes; dort hatte man ihm irgendein Lager gerichtet. Jeden Augenblick lief er in das Zimmer; es war entsetzlich, ihn anzusehen. Er war vom Leid so gebrochen, daß es schien, als hätte er überhaupt alles Fühlen und Denken verloren. Sein Kopf zitterte vor Erregung, wie überhaupt der ganze Mensch, während er ständig irgend etwas vor sich hin zu murmeln schien, mit sich selbst Rat hielt. Es schien mir, als habe er vor Schmerz den Verstand verloren.

Vor Morgengrauen schlief der Alte, ermüdet von seinem maßlosen Leid, auf seinem Lager ein, wie tot. Gegen acht Uhr früh begann sein Sohn zu sterben; ich weckte den Vater. Pokrowsky war bei vollem Bewußtsein und nahm von uns allen Abschied. Wie wunderlich! Ich konnte nicht weinen; aber meine Seele riß entzwei.

Aber am qualvollsten und unerträglichsten waren mir seine letzten Minuten. Er bat lange, lange, ihm irgend etwas zu geben, mit seiner versiegenden Stimme. Seine Zunge hatte sich schon versteift und ich konnte aus seinen Worten nicht mehr klug werden. Vor Schmerz krampfte sich mein Herz zusammen. Diese Unruhe des Sterbenden dauerte über eine Stunde lang, er bat voll Gram, ihm irgend etwas zu tun, bemühte sich, mit der schon in Erstarrung begriffenen Hand Zeichen zu geben, um dann wieder voll Trauer mit heiserer, dumpfer Stimme um etwas zu bitten; aber seine Worte waren unzusammenhängende Laute und wieder konnte ich ihn nicht verstehen. Ich führte alle die Unseren an sein Lager, gab ihm zu trinken; aber er schüttelte bloß den Kopf. Endlich verstand ich, was er wollte. Er bat, den Vorhang aufzuziehen und das Fenster zu öffnen. Wahrscheinlich wollte er ein letztes Mal den Tag sehen, das Licht Gottes, die Sonne. Ich zog den Vorhang fort, aber der erwachende Tag war trübe und traurig, wie das verlöschende arme Leben des Sterbenden. Die Sonne war nicht zu sehen. Wolken verhüllten den Himmel mit einer dicken Schicht Nebel; es war regnerisch, düster, traurig. Feiner Regen rieselte die Fensterscheiben herab und bedeckte sie mit Strömen kalten, schmutzigen Wassers; es war trüb und dunkel. Leise, leise schlich das blasse Licht des neuen Tages in das Zimmer und verdrängte das zitternde Licht des Lämpchens vor dem Heiligenbilde. Der Sterbende sah mich unendlich traurig an und schüttelte den Kopf. Eine Minute später starb er.

Die Beerdigung veranlaßte Anna Feodorowna. Ein ganz, ganz einfacher Sarg wurde gekauft und ein gewöhnlicher Lastwagen gemietet. Zur Bezahlung der Kosten beschlagnahmte Anna Feodorowna sämtliche Bücher und sonstigen Wertsachen des Verstorbenen. Der Alte haderte mit ihr, schlug Lärm, nahm ihr die Bücher fort, stopfte sich die Taschen voll, ja sogar in den Hut, kurz, wo immer hin er nur konnte, steckte er die Bücher seines Sohnes, ging mit ihnen die ganzen drei Tage herum und trennte sich von ihnen nicht einmal, als er zur Kirche gehen mußte. Er war alle diese Tage wie geistesabwesend, wie verdummt und legte am Grabe eine seltsame Geschäftigkeit an den Tag; bald zupfte er an dem Kränzchen auf dem Sarge, bald zündete er die Kerzen an, um sie gleich darauf wieder auszulöschen. Es war klar, daß seine Gedanken in völliger Verwirrung waren. Weder Mutter noch Anna Feodorowna waren auf der Totenmesse. Mutter war krank und Anna Feodorowna, die schon ganz fertig zum Ausgehen war, hatte im letzten Augenblick mit dem alten Pokrowsky Zank und blieb zu Hause. Bloß ich und der Alte waren da. Während der heiligen Handlung befiel mich eine eigenartige Angst – kurz, eine Art Vorgefühl dessen, was kommen sollte. Ich konnte mich in der Kirche kaum auf den Füßen halten. – Endlich wurde der Sarg geschlossen, auf den Wagen gehoben und weggeführt. Ich folgte ihm bloß bis an das Ende der Straße. Dann fuhr der Kutscher im Trab davon. Der Alte lief hinterher und weinte bitter; sein Schluchzen zitterte und brach oft ab, da er ja lief. Der Arme verlor seinen Hut und hielt gar nicht inne, um ihn aufzuheben. Sein Kopf wurde vom Regen ganz naß; ein heftiger Wind erhob sich. Die feuchte Kälte schlug ihm ins Gesicht. Der Alte fühlte scheinbar überhaupt nichts von diesem Unwetter und lief weinend bald an der einen, bald an der anderen Seite des Wagens einher. Die Schöße seines alten, schäbigen Rockes flatterten wie Flügel im Winde. Aus allen seinen Taschen standen Bücher hervor; in seinen Händen trug er irgendeinen riesigen Band, den er krampfhaft umklammert hielt. Die Vorübergehenden nahmen die Mützen ab und bekreuzten sich. Manche blieben stehen und betrachteten verwundert den armen Alten. Alle Augenblicke fielen ihm Bücher aus den Taschen in den Schmutz. Man hielt ihn an, zeigte ihm, daß er etwas verloren habe; er hob es auf und lief weiter hinter dem Sarge her. An der Straßenecke schloß sich ihm irgendeine arme Bettlerin an, um ebenfalls dem Sarge zu folgen. Endlich bog der Wagen um die Ecke und entschwand meinen Blicken. Ich ging nach Hause und warf mich mit furchtbarem Schluchzen an die Brust meiner Mutter. Aus ganzer Kraft umschloß ich sie mit meinen Armen, küßte sie, brach in Tränen aus und schmiegte mich voll Furcht an sie, als wollte ich mit dieser Umarmung meinen letzten Freund vor dem Tode bewahren und festhalten ... Aber damals stand er schon dicht hinter meiner armen Mutter ...

11. Juni.

Wie dankbar bin ich Ihnen für den gestrigen Spaziergang nach den Inseln, Makar Alexejewitsch! Wie freundlich und schön es dort im Grünen war! Wie lange schon habe ich kein Grün gesehen; als ich krank war, schien es mir immer, als müßte ich sterben, ganz bestimmt sterben – nun können Sie selbst beurteilen, was alles ich gestern fühlen und empfinden mußte! Grollen Sie mir nicht, daß ich gestern so traurig war; ich fühlte mich sehr wohl, sehr leicht, aber ich bin immer in meinen glücklichsten Minuten irgendwie traurig. Und daß ich weinte, das ist Unsinn; ich selbst weiß ja nicht, warum ich so oft weine. Sicherlich bin ich infolge meiner Krankheit krankhaft in meinen Gefühlen überreizt. Der blasse wolkenlose Himmel, der Sonnenuntergang, die Stille dieses Abends, all das, ich weiß nicht mehr, aber ich war gestern in so einer Stimmung, alle Eindrücke irgendwie schwer und quälend zu fühlen, so daß das Herz übervoll wurde und die Seele nach Tränen verlangte. Aber warum schreibe ich Ihnen das alles? Das alles belastet bloß das Herz und man erzählt es ja noch schwerer. Und doch werden Sie mich vielleicht verstehen. Schmerz und Freude! Wie gut sind Sie doch, Makar Alexejewitsch! Gestern sahen Sie mir so in die Augen, als wollten Sie darin lesen, was ich empfinde, und Sie waren über meine Verzückung glücklich. Ob Strauch, Allee oder ein kleiner Wasserlauf – immer waren Sie bei mir; und so stehen Sie vor mir, verschönt und sehen mir immerfort in die Augen, genau, als würden Sie mir Ihren Besitz zeigen wollen. Das beweist, daß Sie ein gutes Herz haben, Makar Alexejewitsch! Und deshalb liebe ich Sie. Nun, leben Sie wohl. Ich fühle mich heute wieder krank: ich bekam gestern nasse Füße und habe mich deshalb erkältet; Feodora fühlt sich auch nicht recht wohl, so daß wir jetzt beide kränkeln. Vergessen Sie mich nicht, kommen Sie öfter.

Ihre
W. D.

12. Juni.

 

Mein Täubchen Warwara Alexejewna!

Ich dachte, meine Teuere, daß Sie mir alles Gestrige in Versen beschreiben würden, und von all dem kam bloß ein einziges beschriebenes Blättchen. Ich erwähne das, weil Sie mir so wenig schreiben und dennoch alles so unglaublich schön und lieblich zeichnen. Die Natur, die mannigfaltigen Bilder der Landschaft und alles andere, was Sie fühlten – kurz, das alles haben Sie wunderschön geschildert. Und sehen Sie, dazu habe ich nun einmal gar kein Talent. Selbst wenn ich zehn Seiten voll beschmiere, wird doch nichts Ordentliches daraus. Ich habe es schon versucht. – Sie schreiben mir, meine Teuerste, daß ich ein guter, sanfter Mensch sei, wohlwollend zu seinen Nächsten und Gott dankbar für die Schönheiten seiner Natur, daß ich verstehe, das alles zu schätzen, und überhäufen mich noch mit anderem Lob. Gewiß ist das wahr, meine Liebste, durchaus wahr; ich bin wirklich so, wie Sie schreiben, unwillkürlich freut es mich, erleichtert mir das Herz und dennoch kommen wieder trübe Gedanken. Und nun hören Sie mich an, meine Teuerste, ich will Ihnen etwas erzählen.

Ich beginne damit, daß ich berichte, wie ich erst siebzehn Jahre alt war, als ich in den Dienst trat, und nun werden es schon bald dreißig Jahre Dienstzeit, die ich auf dem Rücken mit mir herumtrage. Nun, das ist schon so, ich habe wohl genug Amtsröcke abgewetzt; wurde eine Mann, vernünftiger, lernte die Menschen kennen; auch gelebt habe ich, ich kann es ruhig sagen, ja, man hat mich sogar einmal zu einem Verdienstkreuz vorgeschlagen. Vielleicht werden Sie mir das gar nicht glauben, aber ich lüge Sie gewiß nicht an. Und was wurde daraus, meine Teuerste? Ich wurde von all diesen schlechten Menschen nur enttäuscht und ich sage Ihnen – obzwar ich ein simpler Mensch bin, vielleicht sogar dumm – mein Herz ist nicht anders als bei anderen Menschen. Wissen Sie, Warinka, was mir ein böser Mensch angetan hat? Und das alles bloß deshalb, weil ich ein aufrechter, bescheidener, ruhiger und guter Mensch bin! Das hat den Leuten scheinbar nicht gefallen und deshalb gingen sie gegen mich los. Anfangs hieß es »Tun Sie das da und jenes, Makar Alexejewitsch«, und dann »Ah, natürlich, das war wieder Makar Alexejewitsch!« Nun sehen Sie, meine Teuere, so war es; man schob einfach alles auf Makar Alexejewitsch. Sie verstanden nichts, als dieses »Makar Alexejewitsch« zu einer Art Schlagwort in unserer ganzen Abteilung zu machen. Dieses Schlagwort allein genügte ihnen nicht einmal mehr, ich wurde überhaupt zum Sündenbock, selbst an meinen Stiefeln, meiner Uniform, meiner Haartracht und Gestalt nörgelten sie herum; nichts war ihnen recht, alles sollte anders gemacht werden! ... Und nun wiederholt sich das seit, weiß Gott, wie langer Zeit alltäglich. Ich gewöhnte mich daran, wie ich mich überhaupt an alles gewöhne; bin ich doch ein stiller Mensch, ein unbedeutender, kleiner Mensch; aber schließlich, wofür sollte ich das alles ertragen? Wem habe ich Schlechtes getan? Habe ich irgend jemanden im Dienst überholen wollen? Oder bei den Vorgesetzten verklagt, um dafür Belohnung zu bekommen? Oder habe ich etwa Kabalen angestiftet? Es wäre wirklich sündhaft, so etwas von mir zu vermuten, nicht wahr, meine Teuerste? Was soll mir das alles? Sagen Sie doch selbst, meine Liebe, bin ich zu derlei Intrigen oder Strebereien fähig? Wozu also fallen diese Heimsuchungen Gottes auf mich? Sie kennen mich doch als anständigen Menschen und sind ja noch viel besser als alle anderen Leute! Welche ist die schönste Bürgertugend? Zu dieser Frage sprach vor einigen Tagen Jewstafy Iwanowitsch. Die Fähigkeit, Geld zu schaffen. Man scherzte (ich weiß genau, daß alles nur Scherz war), die Moral der Sache aber war, man möge niemandem zur Last fallen. Ich habe mein tägliches Brot, allerdings wirklich nur ein simples Stück Brot, manchmal sogar hart; aber es ist da, erarbeitet, rechtmäßig und anständig erworben. Nun, was tun! Ich selbst weiß ja ganz gut, daß ich nicht für besondere Taten geschaffen bin, daß ich bloß abschreibe! Ist es etwa eine Sünde, daß ich abschreibe? »Nun, er ist eben ein einfacher Schreiber!« Was ist daran aber ehrenrührig? Ich habe eine gute Schrift, angenehm zu lesen und sehr deutlich. Ich habe die wichtigsten Schriftstücke abzuschreiben. Nun, ich weiß ja, daß ich einen schlechten Stil habe, damit ist es eine ganz verfluchte Sache und darum habe ich es auch zu nichts Ordentlichem gebracht, selbst an Sie, meine Teuerste schreibe ich zum Beispiel jetzt ganz einfach, ohne Feinheiten, so, wie mir die Gedanken vom Herzen kommen ... Das weiß ich alles; aber wenn alle Menschen nur Eigenes schreiben würden, wer sollte dann abschreiben? Ich werfe diese Frage auf und bitte Sie, mir darauf zu antworten, meine Liebste. Nun, jedenfalls sehe ich ein, daß ich notwendig bin, unentbehrlich, und daß sich der Mensch durch leere Schwätzereien niemals irremachen lassen soll. Nun, meinetwegen, soll ich eben eine Ratte sein, wenn sie Ähnlichkeiten herausfinden! Aber die Ratte ist notwendig, sie bringt Nutzen, man braucht sie, man wird ihr sogar eine Gratifikation ausbezahlen – sehen Sie, so eine Ratte ist das! – Nun aber genug von diesem Thema, meine Teuerste; ich wollte davon eigentlich gar nicht sprechen, habe mich aber ein wenig dabei überhitzt. Es tut aber trotzdem wohl, sich von Zeit zu Zeit selbst gerecht zu werden. Leben Sie wohl, meine Teuerste, mein Täubchen, Sie meine Stütze! Ich komme, ganz gewiß komme ich zu Ihnen, werde Sie ehestens besuchen, mein Sternchen. Kränken Sie sich nicht bis dahin. Ich bringe Ihnen ein Büchlein mit. Nun leben Sie wohl, Warinka.

Vom Herzen wünscht Ihnen alles Gute
Ihr Makar Djewuschkin.

20. Juni.

 

S. g. Makar Alexejewitsch!

Ich schreibe Ihnen in Eile, denn meine Arbeit muß zu bestimmter Frist fertig sein. Sehen Sie, es handelt sich um folgendes: man könnte einen guten Kauf machen. Feodora erzählt mir, daß einer ihrer Bekannten einen guten Uniformrock zu verkaufen hat, so gut wie neu, Hosen, eine Weste und Mütze, das alles, wie sie sagt, sehr billig; es wäre gut, wenn Sie sich das kaufen würden. Da Sie ja jetzt nicht knapp sind und Geld haben, wie Sie selbst sagen, knausern Sie bitte nicht, denn schließlich haben Sie diese Dinge nötig. Sehen Sie sich doch einmal selbst an, in was für alten Sachen Sie einhergehen. Es ist eine Schande! Alles geflickt. Sie haben überhaupt nichts Neues mehr; ich weiß das genau, trotzdem Sie es nicht zugeben wollen. Weiß Gott, wohin Ihr neuer Anzug gekommen ist. Also folgen Sie mir doch und kaufen Sie sich bitte diese Kleider. Tun Sie das für mich, tun Sie es, wenn Sie mich lieben.

Sie haben mir Wäsche geschenkt, aber hören Sie, Makar Alexejewitsch, hören Sie bitte damit doch auf. Es ist doch keine Kleinigkeit mehr, wieviel Sie schon für mich verschwendet haben – schrecklich, wieviel Geld! Ach, wenn Sie es nur nicht so sehr lieben würden, Geld zu vergeuden! Ich habe das nicht notwendig, das war alles überflüssig, ich weiß es, ich bin überzeugt davon, daß Sie mich lieben; es ist wirklich überflüssig, mich daran durch Ihre Geschenke zu erinnern; es fällt mir wirklich schwer, sie von Ihnen anzunehmen; ich weiß, womit das für Sie verbunden ist. Also ein für allemal: hören Sie mich? Ich bitte Sie, ich flehe Sie an. Sie bitten mich, Makar Alexejewitsch, Ihnen die Fortsetzung meiner Aufzeichnungen zu senden, Sie wünschen, daß ich sie zu Ende führe. Ich selbst weiß nicht, wie ich es zuwege gebracht habe, das alles so niederzuschreiben! Aber ich habe jetzt nicht mehr die Kraft, über meine Vergangenheit zu schreiben, wünsche nicht einmal mehr, daran zu denken; diese Erinnerungen sind zu fürchterlich. Am schwersten fällt es mir, von meiner armen Mutter zu sprechen, deren einziges Kind nach ihrem Tode allen diesen Ungeheuern ausgesetzt war. Bei der bloßen Erinnerung blutet mir das Herz. Alle Wunden scheinen noch offen zu sein: ich habe noch immer nicht Zeit gehabt, all das zu überdenken, noch mich zu beruhigen, obwohl bereits ein Jahr verstrichen ist. Aber Sie wissen ja alles. Ich habe Ihnen die jetzigen Ansichten Anna Feodorownas mitgeteilt; sie zeiht mich der Undankbarkeit und leugnet beharrlich, mit Herrn Bykow im Einverständnis gehandelt zu haben! Sie ruft mich zurück; sie sagt, ich lebe von Gnadengaben, ich sei auf Abwege geraten; wenn ich zu ihr zurückkehre, wolle sie die ganze Sache mit Herrn Bykow regeln und veranlassen, daß er seine Schuld wieder gutmache. Sie sagt ferner, Herr Bykow wolle mir eine Aussteuer geben. Gott mit ihnen, ich fühle mich hier in Ihrer Nähe sehr wohl, dazu habe ich noch meine gute Fedora, die mich durch ihre Anhänglichkeit an meine selige Kinderfrau erinnert. Obwohl Sie ein entfernter Verwandter von mir sind, treten Sie doch mit Ihrem Namen zu meinem Schutze ein. Und die anderen gehen mich nichts an; ich vergesse sie, wenn ich kann. Was wollen sie denn eigentlich noch von mir? Fedora sagt, das sei alles Tratsch, sie würden mich endlich ja doch in Ruhe lassen. Gott gebe es!

W. D.

21. Juni.

 

Mein Täubchen, meine Teuerste!

Ich will Ihnen schreiben, weiß aber nicht, womit beginnen. Wie seltsam ist es doch, dieses Leben, das wir beide jetzt hier führen! Ich sage das deshalb, weil ich niemals meine Tage so schön verbracht habe wie jetzt. Als hätte Gott mich mit einem Haus und Familie gesegnet. Sie mein Kindchen, meine Liebste! Warum reden Sie denn von den vier Hemdchen, die ich Ihnen geschickt habe. Sie brauchen sie ja, das weiß ich von Fedora. Und mir ist es ein besonderes Glück, Ihnen helfen zu können; das ist nun einmal schon mein schönstes Vergnügen und Sie müssen es mir lassen, meine Teuere; sagen Sie nichts mehr dagegen, widersprechen Sie nicht. Derlei habe ich noch nie erlebt. Jetzt bin ich erst zum Leben erwacht. Erstens lebe ich zu zweien, denn Sie leben doch ganz nahe bei mir, zu meinem größten Trost; und zweitens hat mich heute einer meiner Nachbarn, Ratasajew, eben derselbe Beamte, der die literarischen Abende veranstaltet, zum Tee eingeladen. Heute findet wieder eine Versammlung statt; wir werden Literatur treiben. Wir sind jetzt, meine Teuere – nun wie denn eigentlich? Leben Sie wohl. Ich habe das alles nur so hingeschrieben, ohne besonderen Zweck, einzig und allein nur deshalb, um Sie zu benachrichtigen, wie wohl ich mich befinde. Sie haben mir durch Therese sagen lassen, daß Sie für Ihre Stickerei farbige Seide brauchen: ich kaufe sie, meine Liebste, sofort kaufe ich sie. Schon morgen werde ich das Vergnügen haben, Ihren Wunsch zu befriedigen. Ich weiß sogar, wo ich sie kaufen werde. Indessen verbleibe ich innigst Ihr Freund

Makar Djewuschkin.

22. Juni.

 

Verehrte Warwara Alexejewna!

Ich teile Ihnen mit, meine Teuere, daß sich in unserem Hause ein sehr beklagenswerter, trauriger Vorfall ereignet hat, der das Mitleid aller wachrufen muß. Heute um fünf Uhr früh starb der kleine Sohn Gorschkows. Ich weiß nicht, woran, es war Scharlach oder etwas Ähnliches, weiß Gott! Und so habe ich den Gorschkows einen Besuch gemacht. Ach, meine Liebste, wenn Sie wüßten, was für eine Armut dort herrscht! Und welche Unordnung! Das ist übrigens kein Wunder: die ganze Familie lebt in einem Zimmer, anstandshalber bloß durch einen Wandschirm abgeteilt. Nun steht bei ihnen schon ein kleiner Sarg, einfach und doch ganz nett, sie haben ihn fertig gekauft, der Knabe war neun Jahre alt; wie man sagt, voll schöner Hoffnungen. Wie schmerzhaft ist es, diese Leute anzusehen, Warinka! Die Mutter weint nicht, ist bloß unendlich traurig, die Arme. Für sie ist es ja möglicherweise leichter, daß um eines weniger auf ihre Schultern drückt; es sind ihnen ohnedies noch zwei geblieben, ein Säugling und ein kleines Mädchen, etwa sechs Jahre alt, sehr zart. Eine bittere Annehmlichkeit, zusehen zu müssen, wie das eigene Kind leidet und ihm nicht helfen können! Der Vater sitzt im alten, schmierigen Rock auf einem gebrechlichen Stuhl. Ihm laufen Tränen über die Wangen, vielleicht nicht einmal aus Kummer, sondern einfach aus Gewohnheit, die Augen tränen einfach. Er ist so seltsam! Er wird ständig rot, wenn man mit ihm spricht, wird verlegen und weiß nicht, was er antworten soll. Das kleine Mädchen, die Tochter, steht an den Sarg gelehnt, so ganz arm, verlassen und nachdenklich! Und ich liebe es nicht, meine Teuerste, wenn ein Kind nachdenklich ist; es ist unangenehm, derlei zu beobachten. Irgendeine Puppe aus altem Zeug liegt neben ihr auf dem Boden – aber sie spielt nicht mit ihr; sie hält ihr Fingerchen an den Mund; steht ganz unbeweglich. Die Hausfrau gab ihr ein kleines Bonbon: sie nahm es und aß nicht. Traurig, Warinka – nicht wahr? ...

Makar Djewuschkin.

25. Juni.

 

Lieber Makar Alexejewitsch!

Ich sende Ihnen Ihr Buch zurück. Dieses unmögliche Büchlein – man kann es nicht einmal in die Hand nehmen. Woher haben Sie denn diesen kostbaren Schatz? Spaß beiseite, Sie werden doch nicht sagen, daß Ihnen derlei Bücher gefallen, Makar Alexejewitsch? Sie haben mir doch in diesen Tagen versprochen, mir etwas zum Lesen zu verschaffen. Ich kann mit Ihnen auch teilen, wenn Sie wollen. Und jetzt auf Wiedersehen. Ich habe wirklich keine Zeit mehr.

W. D.

26. Juni.

 

Liebe Warinka!

Die Sache ist so, daß ich eigentlich dieses Büchlein gar nicht gelesen habe. Wohl habe ich ein wenig darin geblättert, sah, daß es wohl Unsinn war, nur zum Lachen berechnet, damit die Leute Unterhaltung haben; nun, dachte ich, es wird eben lustig sein und vielleicht auch Warinka gefallen; so nahm ich es und sandte es Ihnen.

Nun hat mir Ratasajew versprochen, wirkliche Literatur zu besorgen und so werden Sie mit Büchern versorgt sein, meine Liebe. Ratasajew versteht sich darauf; er schreibt ja selbst, und wie er schreibt! Er hat einen Stil! In jedem Wort liegt etwas, so etwas Besonderes, selbst in den gewöhnlichsten, alltäglichsten Wörtern, wie ich sie etwa manchmal an Therese oder Faldoni richte, selbst in solchen Wörtern drückt er sich noch gewählt aus. Abends bin ich meist bei ihm. Wir rauchen, er liest uns vor, bis zu fünf Stunden, und wir lauschen ihm. Das ist eine Überfülle an Pracht, gar nicht mehr Literatur zu nennen! Wundervoll, Blumen, einfach Blumen, auf jeder Seite ein ganzer Strauß Blumen! Er ist dazu von ungewöhnlicher Freundlichkeit, gut und zartfühlend. Was bin schon ich gegen ihn? Ein Niemand. Er ist ein Mensch mit Reputation und ich? Gewöhnlich, kann überhaupt nicht neben ihm bestehen und trotzdem ist er auch gegen mich wohlwollend. Es kommt vor, daß ich für ihn dies oder jenes abschreibe. Sie dürfen nicht glauben, meine Teuerste, daß ich vielleicht dafür etwas nehme oder bekommen will! Nein, das tue ich ganz von selbst, aus freien Stücken, zu seinem Vergnügen, und daß er trotzdem wohlwollend gegen mich ist, das tut er eben wieder seinerseits zu meinem Vergnügen. Ich verstehe mich sehr gut auf Feinfühligkeit. Und er ist gut, ein sehr guter Mensch und ein unvergleichlich tüchtiger Schriftsteller.

Ja, die Literatur, Warinka, das ist eine schöne, eine sehr schöne Sache: seit drei Tagen weiß ich das. Eine tiefe Sache! Das Herz des Menschen wird unter ihrer Wirkung stark, bekommt Form, man wird belehrt und weiß Gott, was noch alles Gute in diesem Buche steht, aus dem vorgelesen wurde. Es ist sehr schön geschrieben. Die Literatur – das ist ein Bild, in gewissem Sinne Bild und Spiegel, Leidenschaften, Belehrungen, Kritiken, so fein, Dokumente wahrhafter Menschlichkeit. Das alles habe ich mir von ihnen sagen lassen. Ich sage Ihnen aufrichtig, meine Liebste, wenn man bei ihnen sitzt, lauscht (und dazu wie sie, seine Pfeife raucht) – und sie dann beginnen, sich über verschiedene Dinge auseinanderzusetzen, dann »passe« ich einfach, meine Liebste. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich müßte mich ja schämen, denn ich sitze wie ein Schafskopf da und wenn ich mir auch größte Mühe geben würde, mitunter ein Wort dreinzureden, ich wäre dazu gar nicht fähig. Es geht einfach nicht; kann bloß das alte Sprichwort auf mich anwenden: blöd geboren und nichts dazu gelernt. Was tue ich jetzt in meiner freien Zeit? Ich schlafe, wie ein rechter Dummkopf. Es wäre ja ganz schön, wollte man sich statt dessen mit etwas Vernünftigem beschäftigen, sich selbst hinsetzen und etwas schreiben. Man würde nur sich nützen und vielleicht auch für die anderen etwas Gutes tun. Überhaupt wenn man bedenkt, was die Leute für ihre Arbeiten bekommen. Gott verzeihe ihnen. Was zum Beispiel dieser Ratasajew verdient! Was bedeutet es schon für ihn, einen Bogen voll zu schreiben? Er schreibt im Tag fünf solcher Bogen voll und bekommt für einen, wie er behauptet, dreihundert Rubel. Da erzählt er irgendeine kleine Anekdote oder irgend etwas für die Neugierde der Leser – fünfhundert Rubel, ob Du willst oder nicht, Du mußt es ihm bezahlen. Wenn nicht, dann gibt eben ein anderer tausend dafür. Was sagen Sie dazu, Warwara Alexejewna? Da hat er ein kleines Heft Gedichte, durchwegs ganz kleine Gedichtchen – siebentausend verlangt er dafür, bedenken Sie nur, meine Liebste, was das heißt: siebentausend Rubel. Das ist ja ein Vermögen, der Kapitalswert eines ganzen Hauses. Er sagt, man habe ihm schon fünftausend geboten, er habe sich aber geweigert. Ich habe ihm zugeredet, nehmen Sie doch die fünftausend, und dann spucken Sie aus – fünftausend sind fünftausend – nein, sagt er, sie werden schon sieben geben, diese Schurken. – So ein verschlagener Kerl ist er!

Nun, meine Liebste, da ich schon einmal dabei bin, schreibe ich Ihnen hier eine Stelle aus seinen »Italienischen Leidenschaften« ab. So heißt nämlich eines seiner Werke. Lesen Sie das, Warinka, und urteilen Sie selbst.

 

… Wladimir schrak zusammen, Leidenschaft durchrüttelte ihn, sein Blut begann zu sieden ...

 

»Gräfin,« rief er, »Gräfin! Wissen Sie, wie furchtbar diese Leidenschaft ist, wie grenzenlos dieser Wahnsinn? Nein, meine Sinne täuschen mich nicht! Ich liebe, liebe voll Begeisterung, maßlos, wahnsinnig! Alles Blut Deines Mannes würde nicht reichen, dieses Maß unendlicher Leidenschaften in meiner Seele zu ersticken! Diese kleinen Hindernisse sind nicht imstande, das alleszerstörende, höllische Feuer, das in meiner erschöpften Brust lodert, zu hemmen. O Sinaida, Sinaida! ...«

 

»Wladimir!« flüsterte die Gräfin außer sich und sank ihm an die Schulter ...

 

»Sinaida!« rief Smjelski voll Leidenschaft.

 

Seiner Brust entrang sich ein Seufzer. Auf dem Altar der Liebe loderte hell die Flamme der Liebe auf und umfaßte die beiden unglücklichen Liebenden.

 

»Wladimir«, flüsterte die Gräfin berauscht. Ihre Brust wogte, ihre Wangen erröteten, ihre Augen glühten ...

 

Der neue, schreckliche Bund war geschlossen!

 

*

 

Eine halbe Stunde später trat der alte Graf in das Boudoir seiner Gattin.

 

»Nun, mein Seelchen, sollen wir nicht für unseren teueren Gast den Samowar aufstellen lassen?« sagte er und fuhr seiner Gattin liebkosend über die Wange.

Nun, was sagen Sie, meine Liebste, nach dem, was ich hier geschrieben habe. Es ist wohl ein wenig zu frei, aber dafür gut geschrieben. Was gut ist, ist gut. Und nun erlauben Sie, daß ich Ihnen noch einen Abriß aus der Erzählung »Jermak und Suleika« abschreibe.

 

»Du liebst mich, Suleika! Oh, wiederhole es, wiederhole es ...«

 

»Ich liebe dich, Jermak!« flüsterte Suleika.

 

»Himmel und Erde, seid bedankt! Ich bin glücklich! ... Alles habt Ihr mir gegeben, alles, wonach mein ungezügelter Geist seit meinen jungen Jahren verlangt. Hierher also hast du mich geführt, mein Leitstern, deshalb also hast du mich hierhergeführt, über den Steinernen Gürtel! (Uralgebirge, Anm. d. Übers.) Nun zeige ich aller Welt meine Suleika, und die Menschen, diese tollen Ungeheuer werden es nicht wagen, mich anzuklagen! Oh, könnten sie doch die geheimen Leiden ihrer zarten Seele verstehen, wenn sie in einer Träne meiner Suleika eine ganze Fülle von Poesie erkennen wollten! Oh, laß mich diese Tränen wegküssen, gib mir diese himmlischen Tränen zu trinken, du Überirdische!«

 

»Jermak,« sagte Suleika, »die Welt ist schlecht, die Menschen ungerecht! Sie werden uns verfolgen, verurteilen, mein lieber Jermak! Was wird das arme Mädchen beginnen, das inmitten des heimatlichen Schnees Sibiriens, in der Jurte ihres Vaters aufgewachsen ist, wenn es in euere kalte, seelenlose, eigennützige Welt kommt? Die Menschen verstehen mich nicht, du mein Ersehnter, mein Allerliebster!«

 

»Dann werden eben Kosakensäbel auf sie niedersausen!« rief Jermak, wild die Augen rollend.

Und wie wird erst dieser Jermak, Warinka, als er erfährt, daß seine Suleika hingeschlachtet worden ist! Der blinde Greis Kutschum hat sich unter dem Schutz der nächtlichen Dunkelheit, während Jermak abwesend ist, in dessen Zelt geschlichen und seine Tochter erstochen, da er sich an Jermak rächen wollte, der ihn um Szepter und Krone gebracht hatte.

 

»Ha, wie liebe ich es, die Klinge zu schleifen!« rief Jermak mit wilder Gier und wetzte sein Messer am Schamanenstein. »Ich muß Blut sehen, Blut! Rächen muß ich sie, rächen, rächen!!!«

Und nach all dem ist Jermak nicht imstande, seine Suleika zu überleben, er stürzt sich in den Irtisch, womit alles zu Ende ist.

Nun noch ein Beispiel, eine kleine Probe, mehr humoristischen Genres, eigentlich nur zum Lachen geschrieben:

 

»Kennen Sie etwa Iwan Prokofjewitsch Scholtopusow? Nun, das ist doch derselbe, der Prokofy Iwanowitsch in das Bein gebissen hat. Iwan Prokofjewitsch ist ein derber Charakter, dafür aber sehr tugendhaft; demgegenüber liebt Prokofy Iwanowitsch besonders Rettig mit Honig. Aber als er noch mit Pelageja Antonowna bekannt war ... Sie kennen doch Pelageja Antonowna? Es ist doch dieselbe, die ihren Rock immer verkehrt anzieht.«

Das heiße ich Humor, Warinka, reinsten Humor! Wir haben uns vor Lachen geschüttelt, als er uns das vorgelesen hat. So ein Kerl, Gott verzeih ihm! Übrigens, meine Liebste, das ist zwar sehr gelungen und komisch, aber eigentlich zu naiv, ohne die kleinste Freidenkerei oder liberale Gedanken. Es muß bemerkt werden, daß Ratasajew ausgezeichnete Umgangsformen hat und deshalb ist er vielleicht so ein ausgezeichneter Schriftsteller, ganz anders als die anderen Schriftsteller.

Aber, wie wäre es eigentlich, es kommen einem ja alle möglichen Gedanken in den Kopf ... nun, wie wäre es, wenn ich selbst einmal etwas schriebe? Was wird dann sein? Nun zum Beispiel, nehmen wir an, mir nichts dir nichts erscheint plötzlich ein Buch in der Welt, wo als Titel steht: »Gedichte von Makar Djewuschkin«! Nun, was würden Sie da sagen, mein Engelchen? Wie würde Ihnen das vorkommen, was würden Sie darüber denken? Ich meinerseits sage, meine Liebste, daß, sobald mein Büchlein erscheinen würde, ich mich kaum mehr auf dem Newski zu zeigen wagte. Wenn man bedenkt, wie alle Leute sagen könnten: »Aha, da geht der Dichter Djewuschkin«, und tatsächlich, ich selbst wäre dieser Djewuschkin! Nun, was zum Beispiel sollte ich dann nur mit meinen Stiefeln tun? Sie sind, ganz nebenbei gesagt, mein Kind, fast ständig geflickt und die Sohlen, um die Wahrheit zu sagen, stets weit entfernt von einer annehmbaren Verfassung. Nun, was wäre da, wenn alle Leute wüßten, daß der Dichter Djewuschkin geflickte Stiefel hat! Oder wenn irgendeine Komtesse oder Duchesse es bemerken würde, was, mein Seelchen, würde die sagen? Vielleicht würde sie es gar nicht bemerken: so viel ich weiß, beschäftigen sich Komtessen nicht mit Stiefelfragen, und schon gar nicht mit Beamtenstiefeln (wozu zu bemerken ist, daß aber Stiefel ja doch Stiefel bleibt), ja, man würde es ihr erzählen, vielleicht täten dies am Ende gar meine Freunde. Ratasajew zum Beispiel wäre der erste; er verkehrt bei der Gräfin W.; er sagt, daß er dort völlig zwanglos aus und ein geht. Auch erzählt er, daß sie ein sehr gutes Wesen sei, literaturbeflissen, eine richtige Dame. Ein schlauer Fuchs, dieser Ratasajew!

Ja, übrigens genug von dieser Sache; ich habe Ihnen das alles trotzdem geschrieben, um ein wenig zu scherzen, um Sie aufzumuntern. Leben Sie wohl, mein Täubchen, ich habe Ihnen ja gerade genug zusammengeschrieben, aber eigentlich nur deshalb, weil ich heute in besonders heiterer Seelenstimmung bin. Wir haben heute alle gemeinsam bei Ratasajew zu Mittag gegessen und (oh, dieser Schlingel!) da haben sie von irgendwoher so einen Schnaps hervorgezogen ... Nun, was soll ich Ihnen da noch viel schreiben! Bloß, denken Sie bitte nicht, weiß Gott was von mir, Warinka. Es war nicht so arg. Ich sende Ihnen Büchlein, ehebaldigst sende ich sie ... Hier geht ein Roman von Paul de Kock von Hand zu Hand, aber Paul de Kock ist nichts für Sie, meine Liebste ... Nein, nein, Paul de Kock gehört nicht für Sie. Man sagt, er habe die offene Entrüstung aller Petersburger Kritiker hervorgerufen. Ich sende Ihnen ein kleines Pfund Konfekt – eigens für Sie gekauft. Essen Sie es, mein Seelchen, und denken Sie bei jedem einzelnen Konfekt an mich. Aber Sie dürfen daran nicht zu stark beißen, bloß lutschen sollen Sie, sonst werden Sie die Zähne schmerzen. Lieben Sie vielleicht kandierte Früchte? Dann schreiben Sie es mir. Nun leben Sie wohl, Gott mit Ihnen, mein Täubchen. Ich aber bleibe stets Ihr aufrichtigster Freund

Makar Djewuschkin.

27. Juni.

 

Geehrter Herr Makar Alexejewitsch!

Fedora sagt, wenn ich will, sie weiß Leute, die unter herzlicher Anteilnahme an meiner Lage mir eine sehr gute Stelle in einem Hause als Erzieherin verschaffen wollten. Was denken Sie darüber, mein Freund – annehmen oder nicht annehmen? Dann würde ich Ihnen selbstverständlich nicht mehr zur Last fallen und diese Stelle ist scheinbar gut; anderseits aber ist es doch ein wenig unheimlich, in ein fremdes Haus zu gehen. Es sind irgendwelche Gutsbesitzer. Sie werden sich über mich erkundigen, mich ausfragen, allerhand Neugierde an den Tag legen – was soll ich da sagen? Außerdem bin ich ja so menschenscheu; ich liebe es, in meine gewohnte Ecke verkrochen zu bleiben. Es ist immer dort am besten, wo man eingewöhnt ist, auch wenn man sein Dasein sorgenvoll fristet, ist es trotzdem besser so. Zu dem kommt noch das Reisen; und weiß Gott, was ich alles tun müßte; vielleicht bloß Kinder warten. Außerdem sind das so Leute ... sie wechseln innerhalb von zwei Jahren schon zum dritten Male die Erzieherin. Also geben Sie mir um Gottes willen Rat, Makar Alexejewitsch, soll ich annehmen oder nicht? – Warum kommen Sie denn gar nicht zu mir? Sie machen sich so selten. Wir sehen uns ja beinahe überhaupt nur mehr Sonntags bei der Mittagsmesse. Sie sind auch sehr menschenscheu! Ganz wie ich! Dafür sind wir ja auch fast verwandt. Oder lieben Sie mich vielleicht nicht mehr, Makar Alexejewitsch, mir ist manchmal allein so furchtbar traurig. Insbesondere während der Dämmerung sitze ich ganz einsam da. Fedora geht irgendwohin. Und da sitze ich, denke, denke – es kommt die Erinnerung an alles Alte, an Freud und Leid – alles streicht an den Augen vorbei, alles steigt auf, wie aus dem Nebel. Bekannte Gesichter erscheinen (es scheint mir, als träumte ich mit offenen Augen) – am häufigsten sehe ich mein Mütterchen ... Und was für Träume ich habe! Ich fühle, daß meine Gesundheit untergraben ist; ich bin so schwach; heute, als ich mich morgens vom Bette erhob, wurde mir ganz schlecht, dazu habe ich noch so einen bösen Husten! Ich fühle, ich weiß es, daß ich bald sterben werde. Wer wird mich begraben? Wer wird hinter meinem Sarg hergehen? Wer wird mich beklagen? ... Und so müßte ich am Ende an einem fremden Orte sterben, in fremdem Hause, in einer fremden Ecke! ... Mein Gott, wie traurig ist doch dieses Leben, Makar Alexejewitsch! – Warum überhäufen Sie mich denn so sehr mit Konfekt, mein Freund? Ich weiß wahrhaftig nicht, woher Sie so viel Geld nehmen? Ach, mein Freund, sparen Sie doch mit dem Gelde um Gottes willen! – Fedora wird den Teppich verkaufen, den ich genäht habe. Ich werde fünfzehn Rubel dafür bekommen. Sehr gut bezahlt. Ich dachte nicht, so viel dafür zu bekommen. Fedora will ich drei Rubel geben, für mich selbst ein Kleid nähen, ganz einfach, bloß aus warmem Stoff. Ihnen aber werde ich eine Weste machen und dazu einen sehr guten Stoff aussuchen. Fedora hat mir ein Buch gebracht: »Bjelkins Erzählungen«; ich sende es Ihnen, vielleicht wollen Sie es lesen. Nur, bitte, verknittern Sie es nicht und behalten Sie es nicht zu lange bei sich: es gehört nicht mir. Es ist ein Werk Puschkins. Noch vor zwei Jahren habe ich diese Erzählungen mit Mutter gelesen und nun wird mir so traurig, wenn ich sie wieder lese. Wenn Sie irgendwelche Bücher haben, dann senden Sie sie mir, aber nur dann, wenn sie nicht von Ratasajew sind. Sonst gibt er vielleicht eines seiner Werke, wenn man schon etwas gedruckt hat. Wie können Ihnen nur seine Arbeiten gefallen, Makar Alexejewitsch? Sie sind ja so dumm ... – Nun, leben Sie wohl. Wie viel ich wieder geplaudert habe! Aber das tut mir wohl, insbesondere wenn ich traurig bin. Es ist wie Arznei: man fühlt sich sofort leichter, insbesondere wenn man so alles sagt, was einem auf dem Herzen liegt. Leben Sie wohl, leben Sie wohl, mein Freund!

Ihre
W. D.

28. Juni.

 

Liebe Warwara Alexejewna!

Nun aber genug des Kummers! Schämen Sie sich denn gar nicht? Hören Sie doch damit auf, mein Engelchen; wie können Ihnen bloß solche Gedanken kommen? Sie sind ja nicht krank, mein Seelchen, durchaus nicht krank. Sie blühen ja, wahrhaftig, Sie blühen! Sie sind ein wenig blaß, aber dennoch blühen Sie. Und was für Träume und Gespenster sehen Sie da! Schämen Sie sich, mein Täubchen! Pfeifen Sie auf diese Träume, kümmern Sie sich nicht darum. Warum schlafe denn ich gut? Warum fehlt mir nichts? Sehen Sie mich nur an, meine Liebste! Ich lebe gut, schlafe ruhig, bin gesund, ein Mordskerl; es muß eine Freude sein, mich anzusehen. Also genug davon, mein Seelchen, schämen Sie sich. Bessern Sie sich. Ich weiß ja, was für ein Köpfchen Sie haben, meine Liebste; kaum hat sich dort etwas eingeschlichen, beginnen Sie schon, traurig zu grübeln. Mir zuliebe, lassen Sie das, Seelchen. Zu anderen Leuten gehen? – Niemals! Nein, nein und abermals nein! Wie konnten Sie nur denken, daß so etwas überhaupt möglich wäre? Und noch dazu verreisen? Nein, meine Liebste, das erlaube ich nicht, mit allen meinen Kräften widersetze ich mich einem solchen Plan. Eher verkaufe ich meinen alten Rock und gehe im bloßen Hemd durch die Straßen, aber Not leiden werde ich Sie niemals lassen. Nein, Warinka, nein; ich kenne Sie doch! Das wäre ja albern, einfach albern! Tatsache bleibt, daß eigentlich Fedora allein schuldtragend ist: man sieht, daß sie ein dummes Weib ist, da sie Ihnen solche Gedanken aufgedrängt hat. Glauben Sie ihr nicht, meine Liebste. Sie wissen das alles wahrscheinlich noch gar nicht, mein Seelchen? ... Sie ist ein dummes Frauenzimmer, geschwätzig und zänkisch. Sie hat schon ihrem Manne hienieden keine Ruhe gegönnt. Hat sie Sie denn nicht irgendwie gekränkt? Nein, nein, meine Liebste, nicht um Alles! Was sollte denn dann mit mir geschehen, was sollte ich denn beginnen? Nein, mein Seelchen Warinka, das müssen Sie sich aus dem Kopfe schlagen. Was gefällt Ihnen denn nicht bei uns? Wir freuen uns doch so sehr, Sie hier zu haben, Sie lieben uns – und so bleiben Sie eben weiterhin hier. Lesen Sie oder nähen Sie, besser, nähen Sie nicht, – egal, nur bleiben Sie bei uns. Urteilen Sie doch selbst, was würde daraus werden? ... Ich werde Ihnen Bücher schicken und gelegentlich wollen wir wieder einen Spaziergang unternehmen. Bloß, schlagen Sie sich diese Gedanken aus dem Kopf, meine Liebste, werden Sie vernünftig und grämen Sie sich nicht wegen kleiner Albernheiten! Ich komme zu Ihnen, sehr bald, aber nehmen Sie mein offenes Bekenntnis entgegen: das ist gar nicht schön von Ihnen, mein Seelchen, durchaus nicht schön! Selbstverständlich bin ich ein ungebildeter Mensch und weiß selbst, daß ich so bin, aber davon ist jetzt nicht die Rede, das wollte ich auch gar nicht sagen, aber für Ratasajew muß ich wohl einstehen, wie immer Sie auch darüber denken mögen. Er ist mein Freund und deshalb stehe ich für ihn ein. Er schreibt sehr, sehr gut. Es ist mir ganz unmöglich, mit Ihnen in dieser Frage eines Sinnes zu sein. Er schreibt so blütenreich, so gewählt, entwirft lebendige Bilder, die verschiedensten Gedanken: er schreibt eben sehr schön! Sie haben seine Arbeiten vielleicht ohne Gefühl gelesen, Warinka, oder waren Sie nicht in Stimmung, haben sich vielleicht über Fedora oder andere Dinge geärgert, oder ist Ihnen sonst irgend etwas nicht gut ausgegangen. Nein, lesen Sie das bloß einmal mit Gefühl, aufmerksamer, wenn Sie zufriedener und heiterer Stimmung in ihrer Seele sind. Oder zum Beispiel, wenn Sie gerade ein Bonbon im Munde halten – dann müssen Sie es lesen. Ich will nicht behaupten (wer könnte dies?), daß es keinen besseren Schriftsteller gibt, als Ratasajew, es gibt bestimmt viel bessere, aber sie schreiben gut und Ratasajew auch. Außerdem schreibt er ja eigentlich nur für sich, aber das tut er sehr gut. Nun, leben Sie wohl, meine Liebste; ich kann nicht mehr schreiben; ich muß mich beeilen, habe noch etwas zu erledigen. Achten Sie auf sich, meine Liebste, meine Wunderbare, beruhigen Sie sich und Gott wird mit Ihnen sein. Ich aber bleibe

Ihr treuer Freund
Makar Djewuschkin.

P. S. Ich danke Ihnen für das Buch, meine Teuerste, nun lesen wir Puschkin. Heute abends aber komme ich ganz bestimmt zu Ihnen.

   

 

Mein teurer Makar Alexejewitsch!

Nein, mein Freund, nein, ich kann nicht länger hier bleiben. Ich habe alles überdacht und finde, daß es sehr schlecht von mir ist, eine so günstige Stelle abzuweisen. Zumindest werde ich dort mein Stück Brot verdienen. Ich werde mir Mühe nehmen, versuchen, die fremden Leute günstig zu stimmen, werde sogar versuchen, meinen Charakter zu ändern, wenn es notwendig sein sollte. Das ist natürlich traurig und schwer, so bei fremden Leuten zu leben, auf fremde Gnade anzustehen, sich zu verleugnen und in Abhängigkeit zu geraten, aber Gott wird mir helfen. Man kann schließlich nicht immer weltfremd leben. Ich habe schon solche Fälle erlebt. Ich erinnere mich, etwa, als ich noch klein war und die Pension besuchen mußte. Da ist es vorgekommen, daß ich den ganzen Sonntag zu Hause herumtollte, spielte, manchmal auch von Mutter Schelte bekam – aber das alles war mir nicht unangenehm, alles, alles tat dem Herzen wohl, erquickte die Seele. Dann aber kam der Abend, traurig und unglücklich brach er über mich herein: um neun Uhr mußte ich nach der Pension zurückkehren und dort war alles fremd, kalt, streng, die Erzieherinnen waren Montags immer so verärgert, das drückte so sehr auf die Seele, man wollte weinen; verkriecht sich in irgendeine ferne Ecke und die Tränen rinnen ohne Unterlaß – hinterher sagt man dann, ich sei faul; ich weinte aber gar nicht deshalb, weil ich lernen mußte. Nun, und dann? Ich habe mich daran gewöhnt und später, als ich die Pension verließ, weinte ich ebenfalls, als ich mich von meinen Freundinnen verabschiedete. Ja, es ist nicht schön von mir, daß ich Ihnen beiden hier zur Last falle. Dieser Gedanke quält mich. Ich sage Ihnen das alles ganz aufrichtig, denn ich habe mich daran gewöhnt, Ihnen nichts zu verhehlen. Oder sehe ich vielleicht nicht, wie Fedora allmorgendlich ganz zeitlich aufsteht, um Wäsche zu waschen und bis in die späte Nacht hinein arbeitet? – Und alte Knochen wollen Ruhe haben. Sehe ich etwa nicht, wie Sie sich für mich opfern, Ihre letzten Kopeken für mich ausgeben? Nein, mein lieber Freund, das weiß ich alles. Sie schreiben, Sie wollten Ihre letzten Sachen verkaufen, bloß um mich nicht in Not zu wissen. Ich glaube Ihnen, mein Freund, ich glaube an Ihr gutes Herz, aber das sagen Sie bloß jetzt so. Sie haben jetzt unerwartet Geld bekommen, Gratifikation erhalten; aber dann? Sie selbst wissen ja, daß ich immerwährend krank bin; ich kann nicht arbeiten wie Sie, obwohl es mir wohl täte und zudem gibt es nicht immer Arbeit. Wie also kann ich bleiben? Mich sorgen und quälen, während ich Sie beide sich um mich abmühen lassen soll? Was habe ich Ihnen schon Gutes getan und wozu bin ich Ihnen überhaupt, mein Freund? Ich bin Ihnen bloß von ganzer Seele zugetan, liebe Sie heiß, von ganzem Herzen. Aber – mein Los ist bitter! Ich verstehe zu lieben, ich kann lieben, aber all das Gute erwidern, all Ihre Wohltaten zurückzahlen, das kann ich nicht. Halten Sie mich nicht länger zurück, überlegen Sie nochmals und sagen Sie in dieser Sache ein letztes Wort. In dessen Erwartung verbleibe ich

Ihre Sie liebende
W. D.

1. Juli.

Unsinn, Unsinn, Warinka, glatter Unsinn! Was würden Sie alles tun, wollte man Ihrem Kopfe immer nachgeben! Bald dies, bald jenes! Und jetzt sehe ich, daß doch alles Unsinn ist. Warum wollen Sie denn nicht bei uns bleiben, meine Liebste. Sie sagen das doch bloß so! Wir lieben Sie, Sie lieben uns, wir alle sind zufrieden und glücklich – was noch? Nun, was sollten Sie denn bei den fremden Leuten beginnen? Oder sollten gerade Sie nicht wissen, was das bedeutet: ein fremder Mensch? ... Nein, mich müssen Sie fragen, dann werde ich Ihnen sagen, was ein fremder Mensch ist. Ich kenne das, meine Liebste; sehr gut kenne ich das. Ich habe sogar sein Brot gegessen. Schlecht ist er, Warinka, schlecht, so schlecht, daß das kleine Herz nicht stark genug ist, so sehr quält er mit seinen Vorwürfen, Zurechtweisungen und bösen Blicken. Bei uns haben Sie es warm, angenehm – kurz, Sie sind behütet wie in einem Nestchen. Ohne uns wären Sie ja ganz kopflos. Nun, was sollten wir ohne Sie tun; was werde ich alter Mann dann beginnen? Sie sind uns nicht notwendig? Nicht nützlich? Wieso nicht nützlich? Nein, meine Liebe, urteilen Sie einmal selbst und ernstlich, wie sollten Sie uns nicht notwendig sein? Sie sind mir ganz und gar unentbehrlich, Warinka. Sie tun mir so unendlich wohl ... Ich brauche zum Beispiel bloß an Sie zu denken und schon bin ich guten Mutes ... Ich schreibe Ihnen von Zeit zu Zeit einen Brief und lege alle meine Gefühle hinein, bekomme auf alles ausführlich Antwort. – Ich habe Ihnen Kleider und Hütchen gekauft, bekomme manchmal von Ihnen Aufträge zur Erledigung, besorge alles ... Nein, wie sollten Sie mir entbehrlich sein? Und was sollte ich auf meine alten Tage tun, wozu taugen? Sie haben sich das vielleicht gar nicht überlegt, Warinka; nein, gerade das müssen Sie genau überdenken – etwa so: wozu soll er noch taugen, wenn ich nicht mehr da bin? Ich habe mich so sehr an Sie gewöhnt, meine Teuerste. Und was sollte daraus werden? Ich würde einfach zur Newa gehen und ein Ende machen. Wahrhaftig, so würde es sein, Warinka; wozu sollte ich auch ohne Sie zurückbleiben. Ach, mein Seelchen Warinka! Ich sehe schon, Sie wollen, daß man mich mit einem Karren nach dem Wolkow-Friedhof führt; daß irgendeine alte, vagabundierende Bettlerin allein hinter meinem Sarge einherläuft, daß man mich dort verscharrt, ohne sich weiter um die Sache zu kümmern, um mich, mir selbst überlassen, dort der Einsamkeit preiszugeben. Sündhaft ist das, meine Liebste, wahrhaftig sündhaft, bei Gott! Ich sende Ihnen Ihr Büchlein zurück, meine Gefährtin Warinka, und wenn Sie, meine Teuerste, meine Meinung darüber wissen wollen, dann sage ich Ihnen, daß ich in meinem Leben noch niemals ein schöneres Buch gelesen habe. Nun frage ich mich selbst, meine Teuerste, wie ich denn bis auf den heutigen Tag so leben konnte, als rechter Dummkopf, du lieber Gott! Was habe ich denn getan? Aus welchen Wäldern komme ich? Gar nichts weiß ich von der Welt! Ich sage Ihnen offen, Warinka – ich bin ein ungebildeter Mensch. Bisher habe ich sehr wenig gelesen, wirklich wenig, fast gar nichts: das Bild des Menschen, ein kluges Buch, das habe ich gelesen. »Der Knabe, der mit Glöckchen verschiedene Stücke spielt«, auch das habe ich gelesen und »Die Kraniche des Ibykus« – das ist alles, was ich gelesen habe, sonst nichts und niemals. Nun habe ich den »Stationsaufseher« hier in Ihrem Büchlein gelesen. Nun, ich sage Ihnen, meine Liebste, es ereignet sich doch, daß man lebt und nicht weiß: neben dir liegt ein Buch, wo dein ganzes Leben dargestellt ist, wie an den Fingern abgezählt, ausgebreitet. Dazu noch Dinge von früher, auf die man gar nicht verfallen würde – man liest sie in so einem Büchlein und nach und nach fällt einem allerhand ein, langsam versteht man, sucht und findet. Und dann sehen Sie, warum ich Ihr Büchlein so lieb gewonnen habe; so manches Buch, was immer es auch sein möge, man liest es, weiß Gott, wie oft, aber es ist so verschmitzt geschrieben, man versteht es nicht. Ich zum Beispiel, ich bin ja dumm, von Natur dumm, also kann ich keine besonders hochtrabenden Werke lesen; dieses aber – es ist ja rein als hätte man es selber geschrieben; ich könnte es genau so schreiben, direkt vom Herzen weg, ja, es ist einfach gefangen, das Herz. Vor allen Menschen umgedreht, und ausführlich beschrieben – so ist die Sache! Und dazu so einfach, du lieber Gott. Ich könnte ja tatsächlich auch schreiben, warum nicht? Ich fühle ja ganz dasselbe, es ist durchaus so wie in dem Büchlein, habe ich mich doch selbst schon so oft in solchen Lagen befunden, wie etwa dieser Samson Wyrin, dieser arme Teufel; und wie viele solcher Samson Wyrins gibt es in unserer Mitte, solch armselige, gute Kerle! Und wie gut alles beschrieben ist! Mir sind fast die Tränen gekommen, meine Liebste, als ich gelesen habe, wie er sich wild dem Trunke ergibt, bis zur Besinnungslosigkeit, vom Schicksal heimgesucht wird und den ganzen Tag unter dem Schafspelz schläft, wie er versucht, mit einem kleinen Punsch seinen Kummer zu vertreiben, wobei er dennoch kläglich weinen muß, sich mit dem schmutzigen Pelzkragen die Tränen trocknet, wie er sich an sein verirrtes Schäfchen erinnert, an sein Töchterchen Dunjascha! Nein, das ist wahrhaftig naturgetreu! Lesen Sie es bloß, wirklich naturgetreu! Ich selbst habe derlei gesehen – das alles lebt rings um mich; da haben Sie gleich Therese – warum in die Ferne schweifen! – Und da haben Sie auch unseren armen Beamten, ist er nicht selbst auch so ein Samson Wyrin, er heißt bloß anders, nämlich Gorschkow. Das alles kann ja ebenso von Ihnen wie von mir erlebt worden sein. Und der Graf, der am Newski oder an der Uferlände lebt, auch er kann es erleben, bloß wird er sich anders benehmen, denn diese Leute haben ihre Eigenart, gewissermaßen in höherem Ton, aber ebenso kann es ihm ergehen – wie mir. Sehen Sie, meine Liebste, und da wollen Sie noch von uns fortgehen; wahrhaftig sündhaft, Warinka, wenn Sie mir das antun wollten. Sie würden ja doch nur mich und sich zugrunde richten, meine Teuerste. Ach, mein Vögelchen, schlagen Sie sich doch um Gottes willen diese Gedanken aus Ihrem Köpfchen und quälen Sie mich nicht unnütz. Und wie denn, Sie mein noch nicht flügge gewordenes Vöglein, wollen Sie sich auf eigene Faust ernähren, sich vor dem Untergang bewahren, vor Bösewichtern schützen! Geben Sie diese Dinge auf, Warinka, lassen Sie das. Überdenken Sie nur noch einmal diese dummen Ratschläge, lesen Sie noch einmal Ihr Büchlein: das wird Ihnen nützen. Ich habe mit Ratasajew über den »Stationsaufseher« gesprochen. Er sagte mir, das sei alles altes Zeug, jetzt erschienen alle Bücher illustriert mit verschiedenen solchen Beschreibungen; ich habe wahrhaftig nicht mehr recht verstanden, was er da alles gesagt hat. Er schloß damit, daß Puschkin gut sei, er habe auch das heilige Rußland gepriesen – und noch allerhand erzählte er mir über ihn. Ja, es ist sehr gut Warinka, sehr gut; lesen Sie dieses Büchlein nochmals mit Aufmerksamkeit, befolgen Sie meinen Rat und beherzigen Sie ihn, den ein alter Mann Ihnen erteilt. Dann wird Gott es Ihnen lohnen, meine Teuerste, zweifellos wird er es Ihnen lohnen.

Ihr bester Freund
Makar Djewuschkin.

   

 

Lieber Herr Makar Alexejewitsch!

Fedora hat mir heute fünfzehn Rubel gebracht. Wie hat sich die Arme gefreut, als ich ihr drei davon gab! Ich schreibe Ihnen in Eile. Ich schneide Ihnen eben die Weste zu – wie herrlich ist doch der Stoff – gelb mit Blümchen. Auch sende ich Ihnen ein Büchlein; verschiedene Erzählungen. Ich habe schon einige davon gelesen, Ihnen aber empfehle ich vor allem den »Mantel« (Meisternovelle von Gogol, Anm. d. Übers.). Sie haben mir zugeredet, gemeinsam mit Ihnen ins Theater zu gehen; wird das nicht zu teuer werden? Vielleicht irgendwohin auf die Galerie. Ich war schon sehr lange nicht im Theater, erinnere mich gar nicht mehr daran. Ich fürchte stets bloß eines, ob dieses Vergnügen nicht zu teuer sein wird. Fedora schüttelt bloß den Kopf. Sie sagt, Sie hätten begonnen, über Ihre Verhältnisse zu leben; ja, das sehe ich selbst, schon daran, wie viel Sie für mich allein verschwenden! Sehen Sie zu, mein Freund, daß kein Unglück geschieht. Fedora hat mir da von Gerüchten gesprochen, daß Sie mit Ihrer Hausfrau wegen nichtbezahlter Rechnungen Streit gehabt hätten; ich bin sehr in Sorge um Sie. Nun leben Sie wohl, ich bin in Eile. Eigentlich eine kleine Arbeit: ich ändere das Band meines Hutes.

P. S. Wissen Sie, wenn wir ins Theater gehen, werde ich meinen neuen Hut anziehen und die schwarze Mantille umhängen. Das wird schön sein?

9. Juli.

 

Meine liebste Warwara Alexejewna!

… Ich komme noch immer auf das Gestrige zurück – ja, meine Liebste, man hat eben seinerzeit auch Dummheiten begangen. Ich habe mich einmal in eine Schauspielerin verliebt, bis über die Ohren, aber das wäre noch nichts, das Verwunderlichste daran ist, daß ich sie fast nie gesehen habe, bloß ein einziges Mal im Theater, und trotzdem habe ich mich in sie verliebt. Damals wohnten wir Wand an Wand, fünf junge Leute, übermütiges Volk. Ich geriet in ihre Gesellschaft, eigentlich ohne etwas dazuzutun, trotzdem ich bis dahin ganz zurückgezogen gelebt hatte. Nun, um ihnen in nichts nachzugeben, tat ich überall mit. Da erzählten sie mir von dieser Schauspielerin! Und jeden Abend, wenn Theater gespielt wurde, lief die ganze Gesellschaft – für das Allernotwendigste hatten sie kaum einen Groschen übrig – also da lief die ganze Gesellschaft ins Theater auf die Galerie, klatschte wie besessen und rief immer wieder nur diese eine Schauspielerin hervor – einfach wie besessen! Und dann ließen sie mich nicht einschlafen; die ganze Nacht sprachen sie von ihr, jeder nannte sie seine Glascha, alle zusammen waren in sie verliebt, ihnen allen saß nur der eine Kanarienvogel am Herzen. Auch mich regten sie auf, ganz gehörig; damals war ich noch sehr jung. Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich eigentlich mit ihnen ins Theater kam. Auf die vierte Galerie. Ich konnte bloß ein kleines Eck des Vorhanges sehen, dafür aber hörte ich alles. Die Schauspielerin hatte ein sehr hübsches Stimmchen – helltönend wie eine Nachtigall. Wir klatschten uns förmlich die Hände wund und schrien darauf los – mit einem Wort, man hätte uns beinahe an die Luft gesetzt, was einem von uns tatsächlich passierte. Ich komme nach Hause, wie benebelt. In meiner Tasche war ein einziger Rubel verblieben und bis zur nächsten Gehaltsauszahlung war es noch gute zehn Tage. Was glauben Sie meine Liebste? Am nächsten Tag, bevor ich an meine Arbeit ging, trat ich in ein französisches Parfümeriewarengeschäft, kaufte verschiedene Parfüms und Seifen für ein ganzes Kapital, ich weiß selbst nicht mehr, warum ich das damals alles kaufte. Ich aß nicht zu Hause, sondern spazierte die ganze Zeit unter ihren Fenstern auf und ab. Sie wohnte am Newski im dritten Stock. Dann ging ich nach Hause, ruhte etwa eine Stunde lang und wieder zurück zum Newski, bloß, um immerfort unter ihrem Fenster auf und ab zu spazieren; das betrieb ich etwa anderthalb Monate lang, lief ihr ununterbrochen nach, nahm bei jeder Gelegenheit elegante Droschken, bloß um stets unter ihren Fenstern zu sein. Ich machte Schulden, geriet überhaupt ganz aus dem Geleise, bis ich endlich diese dumme Liebe aufgab: sie war mir langweilig geworden! Nun sehen Sie, was eine Schauspielerin aus einem anständigen Menschen machen kann, meine Liebste! Allerdings, damals war ich sehr jung, wirklich sehr jung! ...

M. D.

8. Juli.

 

Meine liebste Warwara Alexejewna!

Ihr Büchlein, das ich am sechsten dieses Monats erhalten habe, beeile ich mich Ihnen rückzusenden und gleichzeitig Ihnen durch diesen Brief eine Verständigung zukommen zu lassen. Es ist sehr unrecht, meine Liebste, wirklich unrecht, daß Sie mich so zum Äußersten treiben. Gestatten Sie, meine Liebste: jedem Menschen ist seine Lage vom Allmächtigen beschieden. Dem einen ist es beschieden, in Generalsepauletten herumzugehen, mit Ratstiteln versehen, dem anderen wieder, ohne Murren in Leid seine Tage zu verbringen. Das ist eben schon so, je nach den Fähigkeiten des Menschen. Der eine eignet sich zu dem, der zweite zu anderem, über die Fähigkeiten aber herrscht Gott selbst. Nun tue ich schon an die dreißig Jahre Dienst; ich erfülle meine Pflicht gewissenhaft, peinlich, bei mir gibt es niemals Unregelmäßigkeiten. Als Bürger benehme ich mich, nach meiner Meinung, durchaus ordentlich, ich habe wohl Fehler, aber dazu auch Vorzüge. Meine Vorgesetzten achten mich und sogar seine Exzellenz sind mit mir zufrieden; auch wenn sie mir bisher noch kein Zeichen ihrer Zufriedenheit gegeben haben, weiß ich doch, daß sie mit mir zufrieden sind. Meine Schrift ist durchaus gefällig, schön, nicht zu groß, nicht zu klein, eine rechte Kursivschrift, aber sie tut das ihre; äußerstenfalls schreibt höchstens noch Iwan Prokofjewitsch so wie ich. Ich bin im Dienst ergraut; kann mich nicht erinnern, mir einer schweren Schuld bewußt zu sein. Natürlich, wer begeht im Leben nicht kleine Verfehlungen? Jedermann, selbst Sie, meine Liebste! Aber in großen Dingen habe ich mich nie vergangen, habe ein reines Gewissen, niemals die Ordnung gestört, das ist wirklich nie vorgekommen. Ich habe sogar eine kleine Auszeichnung bekommen – aber reden wir nicht davon! Das müssen Sie ja alles ohnedies wissen, meine Liebste, und auch er müßte es wissen, wie konnte er das so beschreiben? Nein, das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, meine Liebste, nein, gerade von Ihnen nicht, Warinka. (Djewuschkin hat den »Mantel« Gogols gelesen und findet sich in der Hauptperson karikiert. Er vermeint, Gogol habe ihn als Vorwurf für seine Erzählung genommen. Anm. d. Übers.)

Wie denn! Nach solchen Dingen wagt man ja kaum, in seiner stillen Ecke zu leben – wo immer dies auch sein möge – ruhig, ohne das Wasser zu trüben, wie es im Sprichwort heißt, ohne jemanden zu berühren, Gott ergeben, ganz für sich, bloß, damit man von den anderen auch nicht berührt wird, daß sie ihre Nasen nicht in deine Dinge stecken, dich nicht beschnüffeln – wie lebst du denn da hinter deinen vier Wänden, woher zum Beispiel hast du deine schöne Weste, hast du gute Unterwäsche, gute Stiefel? Wie sind die Sohlen? Was ißt du, was trinkst du, was schreibst du ab? Ja, was ist schließlich dabei, meine Liebste, daß ich, wo das Pflaster schlecht ist, auf den Fußspitzen gehe, um meine Stiefel zu schonen? Wozu denn über den anderen schreiben, daß er manchmal Not leidet, keinen Tee trinkt? Als ob es unbedingt notwendig wäre, Tee zu trinken! Sehe etwa ich jedem in den Mund, um zu kontrollieren, an was für einem Bissen er gerade kaut? Wen habe ich solcherart beleidigt? Nein, meine Liebste, warum die anderen Leute kränken, die dir nichts Schlechtes getan haben! Nun, da haben Sie ein Beispiel, Warwara Alexejewna, was das heißt: dienen, dienen, gewissenhaft, eifrig, selbst deine Vorgesetzten achten dich (was immer auch vorkommen mag, sie achten dich ja doch) und plötzlich setzt sich jemand dicht vor deine Nase, ohne jeden weiteren Grund und mir nichts dir nichts beschmutzt er dich mit dem, was er schreibt. Natürlich, es ist richtig, mitunter, wenn man sich etwas Neues anschafft, freut man sich, schläft länger, um die Freude mehr auszukosten, neue Stiefel zum Beispiel: man sieht sie mit solcher Freude an – das ist alles richtig. Ich habe es schon empfunden, wie angenehm das ist, seine Füße in feine, elegante Stiefel zu stecken – das ist sehr richtig beschrieben! Und trotzdem wundert es mich wirklich, wie dieser Fedor Fedorowitsch das Buch so hat durchgehen lassen und nicht für sich eingetreten ist. Allerdings, er ist ja noch ein junger Oberbeamter und liebt es, mitunter seine Leute grob anzuschreien; warum sollte er nicht schreien dürfen? Warum nicht Skandal schlagen, wenn es notwendig ist, mit Unsereinem so zu verkehren? Nun gut, nehmen wir das alles an, sagen wir, es gehört zum Ton, es ist notwendig; man muß die Leute straff halten, die Zügel anziehen, denn sonst – das sage ich unter uns, Warinka – tut unsereiner ja doch nichts Rechtes, jeder will bloß angestellt sein, um sagen zu können: dort und dort bin ich angestellt, von der Arbeit drückt man sich aber, so gut es geht. Und da es verschiedene Rangstufen gibt und jede einzelne, ihrer Höhe entsprechend, verdienten Tadel in entsprechendem Tone fordert, gibt es natürlich verschiedene solcher Tonarten, insbesondere, wenn der Vorgesetzte alle der Reihe nach hernimmt – so ist nun schon einmal die Ordnung der Dinge! Ja, darauf beruht die ganze Weltordnung, meine Liebste, daß wir alle einer den anderen beherrschen, in Schach halten, in entsprechendem Ton miteinander verkehren. Ohne diese Vorsichtsmaßregeln könnte die Welt nicht bestehen, gäbe es keine Ordnung. Ich wundere mich tatsächlich, wie Fedor Fedorowitsch eine derartige Beleidigung achtlos durchgehen lassen konnte!

Und wozu so etwas schreiben? Wozu soll das gut sein? Daß mir irgendein Leser einen Mantel machen läßt? Oder neue Stiefel kaufen wird? Nein, Warinka, er liest es einfach und verlangt sogar noch nach einer Fortsetzung. Mitunter verbirgt man sich ja ohnehin, verkriecht sich, fürchtet sich förmlich, die Nase zu zeigen, denn man hat Angst, man zittert gewissermaßen davor, zum Spott zu werden, da man sehr gut weiß, daß alles in der Welt zu einem Pasquille verarbeitet wird. Und schon siehst du dein ganzes bürgerliches und häusliches Leben in die Literatur eingesponnen, alles gedruckt, gelesen, bespöttelt, belacht! Man wagt es nicht mehr, sich auf der Straße zu zeigen, es ist alles so genau beschrieben, daß man glaubt, schon an der Gangart erkannt zu werden. Wenn wenigstens der Schluß geändert wäre, irgend etwas abgeschwächt, verändert, zum Beispiel nach der Stelle, wo ihm die Papierschnitzel auf den Kopf gestreut werden, sagen wir, daß er trotzdem ein ehrenhafter guter Bürger wäre, der eine solche Behandlung von Seiten seiner Kollegen nicht verdient hätte, er, der stets gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten war (hier hätte irgendein Beispiel eingefügt werden können), niemandem etwas Schlechtes gewünscht, an Gott geglaubt und bei seinem Tode (wenn es ihm darauf ankommt, ihn unbedingt sterben zu lassen) allgemein beweint würde. Am besten aber wäre es gewesen, den armen Teufel überhaupt nicht sterben zu lassen, sondern die Sache so zu ordnen, daß sein Mantel wiedergefunden, daß Fedor Fedorowitsch, ach, was sage ich da! – Daß dieser General Genaueres über seine Vorzüge erfahren, ihn in seine Kanzlei aufgenommen, auf einen höheren Posten gestellt und ihm eine schöne Zulage zum Gehalt gegeben hätte, so daß, sehen Sie, wie die Sache ausgegangen wäre: daß das Böse bestraft wird und das Edle triumphierte, während die Kollegen Kanzlisten durch die Finger schauen müßten. Ich zum Beispiel hätte es so gemacht, während bei ihm – was ist da schon Besonderes oder Schönes? Nichts als ein einfaches Beispiel aus dem alltäglichen, minderen Leben. Wie konnten Sie sich bloß entschließen, mir so ein Büchlein zu senden, meine Teuerste. Es ist ein ausgesprochen bösartiges Buch, Warinka; nicht wahrheitsgetreu, denn so etwas kann sich gar nicht zutragen, so einen Beamten gibt es gar nicht. Nein, ich beklage mich wirklich, Warinka, ganz im Ernst. Ihr ergebenster Diener

Makar Djewuschkin.

27. Juli.

 

Lieber Herr Makar Alexejewitsch!

Die letzten Ereignisse und Ihr Brief haben mich erschreckt und betroffen; dies um so mehr, da ich vieles nicht verstand, bis ich durch Fedoras Erzählungen Erklärung bekam. Warum denn gleich verzweifeln und in einen solchen Abgrund stürzen, wie Sie, Makar Alexejewitsch? Ihre Erklärungen haben mich durchaus nicht befriedigt. Sehen Sie, wie recht ich hatte, als ich darauf bestand, jene aussichtsreiche Stelle anzunehmen, die man mir vorgeschlagen hat? Zudem bin ich durch mein letztes Abenteuer durchaus nicht zu Scherzen aufgelegt. Sie sagen, Ihre Liebe zu mir habe Sie veranlaßt, mir Verschiedenes zu verheimlichen, das habe ich schon lange gesehen. Ich weiß, daß ich Ihnen sehr verpflichtet bin, schon seit damals, als Sie mir versicherten, daß Sie für mich bloß erspartes Geld ausgäben, das, wie Sie sagten, für alle Fälle in der Sparkasse lag. Nun aber, da ich weiß, daß Sie gar kein erspartes Geld hatten, zufälligerweise von meiner ärmlichen Lage erfuhren und aus Mitleid beschlossen haben, Ihr Gehalt, das Sie außerdem noch im voraus nahmen, für mich zu verwenden, sogar Ihre Kleider verkauften, als ich krank war – jetzt, nach Eröffnung all dessen bin ich in einer so quälenden Lage, daß ich bis jetzt noch immer nicht weiß, wie ich mich dazu verhalten, was ich darüber denken soll. Ach! Makar Alexejewitsch! Sie hätten es bei der notwendigsten Hilfe lassen sollen, die Sie mir schon aus Mitleid und verwandtschaftlicher Liebe zugewendet haben, statt ohne Unterlaß für ganz überflüssige Dinge Ihr letztes Geld hinzugeben. Sie haben unsere Freundschaft getrübt, Makar Alexejewitsch, denn Sie waren mit mir nicht offen und jetzt, wo ich sehe, daß Sie Ihr Letztes für mich hingeben, für Konfekt, Spaziergänge, Theater, Kleider und Bücher, jetzt muß ich das alles sehr teuer mit Selbstvorwürfen bezahlen (da ich doch alles angenommen habe, ohne mich weiter um Sie selbst zu kümmern); und so wird alles, womit Sie mir Freude bereitet haben, zu Schmerz und bedeutet für mich eine schwere Last. Ich habe während der letzten Zeit sehr gut Ihre gedrückte Stimmung bemerkt und, obwohl ich selbst Unheil ahnte, konnte ich trotzdem das, was jetzt vorgefallen ist, nicht recht erfassen. Wie! So sehr also haben Sie schon den Mut verloren, Makar Alexejewitsch. Was werden jetzt die Leute von Ihnen denken, was werden alle sagen, die Sie kennen? Sie, den ich wie alle anderen Leute für seine Seelengüte, Bescheidenheit und Anständigkeit verehrte, Sie sind plötzlich einem so widerlichen Laster verfallen, dem Sie, wie es scheint, früher niemals etwas abgewinnen konnten. Wie wurde mir, als Fedora mir erzählte, daß man Sie in betrunkenem Zustande auf der Straße gefunden und durch Polizei in die Wohnung geschafft hat! Ich erstarrte vor Bestürzung, obwohl ich auf Außerordentliches gefaßt war, da Sie ja schon vier Tage lang verschwunden waren. Aber haben Sie daran gedacht, Makar Alexejewitsch, was Ihre Vorgesetzten sagen werden, wenn sie den wahren Grund Ihres Fernbleibens erfahren? Sie sagen, daß alle Leute über Sie lachen, von unseren Beziehungen erfahren haben und daß Ihre Nachbarn mich in ihren Reden bespötteln. Beachten Sie das nicht, Makar Alexejewitsch, und beruhigen Sie sich um Gottes willen. Dann beunruhigt mich noch Ihre Geschichte mit diesen Offizieren, ich habe nur dunkel davon gehört. Erklären Sie mir doch, was da los war? Sie schreiben, daß Sie sich gefürchtet haben, sich mir zu eröffnen, weil Sie Angst hatten, meine Freundschaft zu verlieren, daß Sie während meiner Krankheit verzweifelt waren, nicht wußten, wie Sie mir helfen sollten und alles verkauften, bloß um mich zu erhalten und auf diese Weise zu verhindern, daß man mich in das Krankenhaus geführt hätte, daß Sie so viel Schulden machten, als nur möglich und alltäglich Szenen mit Ihrer Wirtin hätten – aber da Sie dies alles vor mir verheimlichten, haben Sie die Sache bloß schlechter gemacht. Nun habe ich ja doch alles erfahren. Sie wollten es mir ersparen, zur Kenntnis zu kommen, daß ich an Ihrer unglücklichen Lage Schuld trage, aber durch Ihr Benehmen haben Sie mir bloß doppeltes Leid bereitet. Das alles hat mich schwer gekränkt, Makar Alexejewitsch. Ach, mein Freund! Das Unglück ist eine, ansteckende Krankheit. Unglückliche und arme Leute sollten sich voneinander fern halten, um einander nicht noch mehr anzustecken. Ich habe Ihnen so viel Unglück gebracht, wie Sie es in Ihrem früheren bescheidenen und stillen Leben bestimmt nie gehabt haben. Das alles quält und schlägt mich förmlich nieder.

Schreiben Sie mir jetzt alles aufrichtig, was mit Ihnen ist und wieso Sie sich so hinreißen lassen konnten. Beruhigen Sie mich, wenn dies möglich ist. Es ist nicht Eigenliebe, die mich veranlaßt, von meiner Ruhe zu schreiben, sondern meine Freundschaft und Liebe zu Ihnen, die ich nicht um alles aus meinem Herzen reißen könnte. Sie haben schlecht von mir gedacht, Makar Alexejewitsch.

Ihre, Sie vom Herzen liebende
Warwara Dobroselow.

28. Juli.

 

Meine unschätzbare Warwara Alexejewna!

Nun, da alles vorüber ist und langsam wieder in das frühere Geleise kommt, nun sage ich Ihnen, meine Liebste: Sie beunruhigen sich darüber, was man von mir denken wird und deshalb beeile ich mich, Ihnen mitzuteilen, daß mein Ehrgeiz mir über alles geht. Infolgedessen teile ich Ihnen mit, daß, nachdem ich Ihnen von allen diesen Unregelmäßigkeiten und Unglücksfällen berichtet habe, von meinen Vorgesetzten noch niemand etwas darüber weiß, und auch nichts erfahren wird, so daß sie wie bisher ihre alte Achtung vor mir haben werden. Ich fürchte bloß eines: Tratscherei. Bei uns zu Hause schreit die Hausfrau, aber jetzt, da ich mit Ihrer Hilfe ihr durch die zehn Rubel einen Teil meiner Schuld bezahlt habe, brummt sie bloß, und das läßt sich ertragen; die Leute sind ganz annehmbar, solange man bei ihnen Geld borgt. Und zum Abschluß meiner Erklärungen sage ich Ihnen, meine Liebste, daß ich Ihre Achtung vor mir höher als alles auf der Welt schätze und mich nur damit in dieser zeitweiligen unruhigen Gemütsstimmung trösten kann. Gott sei Dank, daß der erste Schlag und die ersten Unannehmlichkeiten vorbei sind und Sie das alles so milde aufgefaßt haben, daß Sie mich deswegen nicht für einen treulosen Freund und selbstsüchtigen Menschen halten, weil ich Sie hier zurückhielt und enttäuscht habe, nicht die Kraft hatte, mich in meiner Liebe von Ihnen zu trennen, die Sie ja doch mein Engelchen sind. Voll Ehrgeiz habe ich mich wieder der Arbeit zugewandt und auf das Gewissenhafteste erfülle ich nunmehr meine Pflicht. Jewstafi Iwanowitsch sagte kein Wort, als ich an ihnen gestern vorüberging. Ich verheimliche Ihnen nicht, daß mich meine Schulden förmlich erschlagen und der schlechte Zustand meiner Kleider ist ebenfalls schwer zu ertragen, aber das macht wieder nichts aus, ich flehe Sie sogar an, grämen Sie sich deswegen nicht, meine Teuerste. Sie senden mir noch einen halben Rubel, Warinka, er hat mir das Herz durchbohrt. So weit also ist es gekommen, so weit also! Statt, daß ich Ihnen, mein Engelchen, helfe, senden Sie mir, meine arme kleine Waise, Geld, mir altem Dummkopf! Fedora hat gut daran getan, Geld zu verschaffen. Einstweilen habe ich keine Hoffnung, meine Teuerste, welches zu bekommen, aber wenn nur irgendeine Möglichkeit besteht, werde ich Ihnen genau darüber Mitteilung zukommen lassen. Bloß der Klatsch, der Klatsch beunruhigt mich am meisten. Leben Sie wohl, mein Engelchen. Ich küsse Ihre Hand und flehe Sie an, recht bald zu gesunden. Ich schreibe deshalb so wenig, weil ich mich beeile, in mein Amt zu gehen, um durch Fleiß und Gewissenhaftigkeit alles Versäumte nachzuholen, auf welche Art ich hoffe, wieder ein reines Gewissen zu bekommen; die genaue Erzählung aller Ereignisse und Vorfälle, wie auch die Sache mit den Offizieren verschiebe ich bis Abend.

Ihr Sie verehrender und herzlich liebender
Makar Djewuschkin.

28. Juni.

 

Meine liebste Warinka!

Ach Warinka, Warinka! Nun ist die Schuld doch auf Ihrer Seite und Ihr Gewissen ist belastet. Mit Ihren Briefen haben Sie mich derart niedergedrückt, verzweifelt gemacht, daß ich erst jetzt, nachdem ich in Ruhe darüber nachgedacht und mir selbst bis in den innersten Herzenswinkel geblickt habe, zur Einsicht komme, daß ich im Recht war, durchaus im Recht. Ich rede selbstverständlich nicht über meine Ausschweifung (lassen wir das, meine Liebste), sondern davon, daß ich Sie liebe und daß es durchaus nicht unvernünftig von mir war, Sie zu lieben, durchaus nicht unvernünftig. Sie, meine Liebste, wissen gar nichts; wenn Sie bloß eine Ahnung davon hätten, wie es kam, daß ich Sie so lieben muß, hätten Sie das nicht gesagt. Sie raisonnieren ja bloß und sagen alles mögliche, während ich überzeugt bin, daß es in Ihrem Herzen ganz anders aussieht. Meine Liebste, ich selbst weiß nicht mehr und erinnere mich nicht genau, was ich eigentlich mit den Offizieren hatte. Ich muß Ihnen gestehen, mein Engelchen, daß ich bis dahin in einer ganz fürchterlichen Lage war. Stellen Sie sich vor, daß ich mich schon einen ganzen Monat lang sozusagen an einem Faden hielt. Meine Lage war verzweifelt. Ich habe mich vor Ihnen verborgen, ebenso hier im Hause, aber meine Hausfrau schrie trotzdem. Das wäre aber noch nicht das Ärgste gewesen. Sollte sie schreien, diese unerträgliche Alte, aber es kam eins zum anderen, die Schande, dann, daß sie, weiß Gott, wie von unserer Freundschaft erfahren hatte und im ganzen Hause über uns derartige Dinge schrie, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Nun aber hielten sich die anderen Leute nicht die Ohren zu, sondern im Gegenteil, sie rissen sie auf. Und ich weiß noch immer nicht, meine Liebste, wohin ich flüchten soll ... Sehen Sie, mein Engelchen, dies alles, dieser ganze Sturm von Jammer aller Art hat mich ganz und gar niedergeschlagen. Und da höre ich von Fedora merkwürdige Kunde: daß in Ihr Haus irgendein Nichtsnutz gekommen ist und Sie mit unwürdigen Anträgen beleidigt hat; daß er Sie schwer und grausam beleidigt hat, meine Liebste, das fühlte ich selbst sehr genau, denn auch mir war es, als hätte mich jemand schwer beleidigt. Und da war es, mein Engelchen, daß ich meinen Verstand verlor und gänzlich kopflos wurde. Meine teuere Gefährtin Warinka, ich lief in maßloser Wut auf und davon, wollte zu dem nichtswürdigen Verführer eilen; ich wußte selbst nicht, was ich eigentlich zuerst wollte, vor allem jedenfalls wollte ich nicht dulden, daß man Sie, mein Engelchen, beleidigt. Ach, wie traurig war das! Und draußen Regen, Schmutz – dazu der schreckliche Kummer ... Ich wollte schon umkehren ... Da aber lief ich dem Schicksal in die Arme: ich traf Jemelj, Jemeljan Ilitsch, einen Beamten, das heißt er war einmal Beamter, jetzt ist er es nicht mehr, denn er wurde von uns entlassen. Ich weiß nicht mehr, womit er sich beschäftigt, irgendwie vegetiert er jedenfalls; nun ging ich mit ihm. Dann, ja, wozu viel Worte machen, Warinka, es wird Sie gewiß nicht freuen, die Irrungen und Prüfungen Ihres unglücklichen Freundes zu lesen und die Erzählung des Unglücks zu erfahren, das ihm zugestoßen ist. Am dritten Tage schon hat mich dieser Jemelj so lange aufgehetzt, bis ich zu jenem Offizier ging. Dessen Adresse hatte ich bei unserem Hausbesorger erfragt. Wenn schon einmal von der Sache gesprochen wird: ich hatte diesen jungen Kerl schon längst aufs Korn genommen; ich hatte ihn beobachtet, als er noch bei uns im Hause wohnte. Nun sehe ich wohl, daß ich mich nicht anständig benommen habe, denn ich war ja nicht nüchtern, als ich bei ihm vorsprach. Wahrhaftig, Warinka, ich erinnere mich doch an gar nichts mehr, was dann geschah, bloß, daß sehr viele Offiziere bei ihm waren oder habe ich bloß alles doppelt gesehen – weiß Gott. Auch erinnere ich mich nicht, was ich sprach, ich weiß bloß, daß ich sehr viel sprach, voll aufrichtiger Entrüstung. Nun, dann hat man mich hinausgeworfen, die Treppe hinabgestoßen, eigentlich war es nicht so arg, aber immerhin hat man mich an die Luft gesetzt. Sie wissen ja bereits, Warinka, wie ich nach Hause kam. Das ist alles. Selbstverständlich habe ich mich durch diese Sache erniedrigt, meine Ehre hat gelitten, aber niemand weiß etwas davon, überhaupt kein Fremder – bloß Sie; in so einem Falle kann man also annehmen, es wäre überhaupt nicht geschehen. Vielleicht ist es wirklich so, wie denken Sie darüber, Warinka? Ganz genau aber weiß ich, daß vergangenes Jahr bei uns Aksenty Ossipowitsch sich ebenso an Pjotr Petrowitsch vergangen hat, allerdings im Geheimen, ganz abseits von den anderen. Er ließ ihn in die Wachtstube rufen; das habe ich alles durch eine Ritze gesehen; und dort hat er sich benommen, wie es ihm notwendig schien, aber in durchaus ehrenvoller Haltung, denn niemand, außer mir, hat es gesehen; nun, ich bedeute allerdings nichts, das heißt ich will sagen, daß ich niemandem etwas gesagt habe. Nach diesem Vorfall standen Pjotr Petrowitsch und Aksenty Ossipowitsch wieder ganz gut zueinander. Pjotr Petrowitsch, wissen Sie, das ist so ein ehrgeiziger Mensch, darum hat er auch niemandem etwas gesagt, so daß die beiden einander jetzt grüßen, sogar Händedrücke wechseln ... Ich will nicht streiten, Warinka, würde das gar nicht wagen, ich bin sehr gesunken und, was am schrecklichsten ist, in meiner Achtung vor mir selber, aber wahrscheinlich war mir dies vom Schicksal so bestimmt – und dem Schicksal vermag man ja doch nicht zu entrinnen, das wissen Sie selbst. Nun habe ich Ihnen ausführlich alles erzählt, alle meine Unglücksfälle und all mein Elend, Warinka, und es wäre besser, sich mit der Sache gar nicht mehr zu beschäftigen, Ich bin ein wenig unwohl, meine Liebste und fühle, daß alle meine Beweglichkeit schwindet. Ich schließe, indem ich Sie, liebste Warwara Alexejewna, meiner Anhänglichkeit, Liebe und Verehrung versichere und bleibe

Ihr ergebenster Diener
Makar Djewuschkin.

29. Juli.

 

Mein lieber Makar Alexejewitsch!

Ich habe Ihre beiden Briefe gelesen und dabei schwer aufgeseufzt. Hören Sie, mein Freund, entweder Sie verheimlichen etwas vor mir und haben mir nur einen Teil Ihrer Unannehmlichkeiten mitgeteilt, oder ... wahrhaftig, Makar Alexejewitsch, an Ihren Briefen sieht man förmlich eine gewisse Verstörtheit ... Kommen Sie zu mir, um Gottes willen, kommen Sie noch heute; hören Sie, Sie können ganz einfach zum Mittagessen zu uns kommen. Ich weiß ja gar nicht mehr, wie Sie dort leben und wie Sie sich mit Ihrer Hausfrau vertragen. Sie schreiben über alle diese Dinge kein einziges Wort und wie absichtlich verschweigen Sie allerhand. Nun auf Wiedersehen, mein Freund. Kommen Sie unbedingt noch heute zu uns; Sie täten überhaupt am besten, wenn Sie immer zu uns essen kämen. Fedora kocht sehr gut.

Leben Sie wohl!
Ihre Warwara Dobroselowa.

1. August.

 

Liebste Warwara Alexejewna!

Sie freuen sich, daß Gott Ihnen Gelegenheit bot, Gutes mit Gutem zu vergelten und mir Ihre Dankbarkeit zu zeigen. Ich glaube daran, Warinka, wie ich an die Güte Ihres engelsgleichen Herzchens glaube und mache Ihnen keinen Vorwurf – bloß werfen Sie mir nicht wieder wie damals vor, daß ich auf meine alten Tage verschwendungssüchtig geworden sei. Nun, wenn man schon so sündhaft ist – was ist dagegen zu tun! Wenn es Ihnen unbedingt darauf ankommt, darin eine Sünde zu sehen ... es schmerzt mich bloß, dies gerade von Ihnen, meiner teueren Gefährtin zu hören. Grollen Sie mir deshalb nicht, daß ich davon spreche; in meiner Brust, meine Liebste, liegt ja so viel Gram verborgen. Arme Leute sind eigensinnig. Das liegt schon so in ihrer Natur. Schon früher habe ich das empfunden. Der arme Teufel ist empfindlich, er sieht anders in diese Welt Gottes, betrachtet mißtrauisch jeden Vorübergehenden, blickt sich argwöhnisch und irrend nach allerlei um, lauscht jedem Wort – es könnte sein, daß man am Ende über ihn spricht? Wer weiß, was er vielleicht gerade denkt? Was er in diesem Augenblick eigentlich empfindet? Wie er, zum Beispiel, von dieser oder von der anderen Seite betrachtet, aussehen mag? Und es ist eine alte Geschichte, Warinka, daß ein armer Teufel schlechter ist, als ein Fetzen und von keinem einzigen Menschen Achtung verlangen kann, was immer man auch schreiben mag! Was diese Buchleute da schreiben – der arme Mensch bleibt dennoch, wie er eben ist. Und warum bleibt es so wie früher? Nun, weil beim armen Menschen alles auf seine eigene Art ist, gewissermaßen mit der verkehrten Seite nach außen; was immer er auch verborgen mit sich herumtragen mag, irgendeinen Ehrgeiz, einen heimlichen, – alles muß ans Tageslicht! Jemelja sagte neulich zu mir, daß man irgendwo für ihn eine Sammlung veranstaltet hat, dafür aber habe man ihn wegen jedes Zehnkopekenstückes von allen Seiten her einer offiziellen Besichtigung unterzogen. Die Leute wollten eben nicht umsonst ihre Spende hergeben – o nein: sie haben dafür bezahlt, daß man ihnen einen armen Teufel vorgeführt hat. In unseren Tagen, meine Liebste, werden Wohltaten wohl auch auf seltsame Weise erwiesen ... vielleicht war das übrigens nie anders, wer kann das sagen! Sei es, daß sie es nicht verstehen, oder schon zu große Meister darin geworden sind – eines von beiden. Sie haben das vielleicht nicht gewußt, nun sehen Sie, wie die Sache ist! Das bleibt einmal Tatsache. Und woher weiß der arme Mensch das Alles, warum denkt er darüber nach? Alles: Erfahrung! Und er weiß, daß dort hinter ihm ein gewisser Herr geht, der seine Schritte nach irgendeinem Restaurant lenkt, aber zu sich selbst sagt: hm, was wird zum Beispiel heute dieser hungrige Beamte zu Mittag essen? Ich für meine Person werde sauté aux papillottes essen, er aber vielleicht Brei ohne Butter. Was aber geht es ihn an, daß ich Brei ohne Butter essen werde? Es gibt solche Menschen, Warinka, ganz gewiß, die nichts anderes zu tun haben, als an derlei Dinge zu denken. Sie gehen frei herum, diese unanständigen Pasquillanten, stecken überall die Nase hinein, kümmern sich darum, wie man den Fuß aufs Pflaster setzt, ob mit der ganzen Sohle oder bloß mit der Spitze; ob dieser oder jener Beamte der einen oder anderen Abteilung irgendeines Titularrats aus seinen Stiefeln die Zehen hervorgucken läßt, ob seine Ellbogen durchgewetzt sind – dann schreiben sie sich das alles genau auf und drucken es, diese Taugenichtse ... Was geht es die Kerle an, daß meine Ellbogen durchgewetzt sind? Wenn Sie mir das derbe Wort verzeihen wollen, Warinka, dann sage ich Ihnen, daß ein armer Teufel in dieser Hinsicht dieselbe Scham empfindet, wie Sie zum Beispiel Ihre Scham als Jungfrau empfinden, Sie werden sich vor allen Leuten auch nicht entkleiden – Sie verzeihen den derben Ton; und ebenso liebt es der arme Mensch nicht, daß man in sein Hundeloch hineinschaut, um, sagen wir, herauszubekommen, wie seine Familienverhältnisse liegen. Was für ein Grund aber war es, Warinka, mich mit meinen Feinden zu beleidigen, die gegen die Ehre und das Ansehen eines anständigen Menschen intrigierten!

Und nun saß ich heute ganz still und zusammengekrümmt in meinem Amt, wie ein gerupfter Spatz – ich glaubte vor Schande fast zu vergehen. Ach, wie ich mich schämte, Warinka! Natürlich bekommt man es mit der Feigheit, wenn man weiß, daß durch die abgewetzten Ärmel die Ellbogen schauen und alle Knöpfe nur mehr an einem Faden hängen. Und wie absichtlich war bei mir tatsächlich alles in derartiger Unordnung! Ob man will oder nicht verfällt man in Mutlosigkeit. Ja ... sogar Stepan Karlowitsch begann heute über dienstliche Angelegenheiten mit mir zu sprechen; er redete und redete, bis er plötzlich unvermutet sagte: »Ach, Sie, Väterchen Makar Alexejewitsch!« – Er redete aber nicht weiter, sagte nicht, was er sich eigentlich dachte, doch ich erriet trotzdem alles und errötete so, daß sich sogar meine Glatze verfärbte. Es war ja weiter nichts und trotzdem hat es mich so beunruhigt, mir allerhand schwere Gedanken in den Kopf getrieben. Sie werden doch nicht am Ende etwas erfahren haben! Gott behüte, daß dem so sei! Offen gestanden, verdächtige ich einen Menschen sehr stark. Was liegt diesen Kerlen daran! Sie liefern einen aus! Dein ganzes privates Leben verkaufen sie für einen Groschen – nichts ist ihnen heilig.

Nun weiß ich, wer das angestellt hat: es war Ratasajew. Er kennt irgend jemanden aus unserer Abteilung und im Gespräch hat er diesem Menschen Verschiedenes erzählt, vielleicht noch dazugedichtet; oder in seiner Abteilung erzählt, von wo es zu uns herübergedrungen ist. In unserer Wohnung wissen alle die ganze Geschichte bis in die Einzelheiten und mit Fingern zeigen sie nach Ihrem Fenster; ich weiß schon, daß sie nach Ihrem Fenster weisen. Und als ich gestern zum Mittagessen zu Ihnen ging, reckten sie alle die Köpfe zum Fenster hinaus und die Hausfrau sagte so etwas Ähnliches wie: der Teufel hat sich mit einem Säugling zusammengetan, dann gab sie Ihnen noch irgendeinen unanständigen Namen. Das alles aber ist noch gar nichts gegen die schändlichen Absichten Ratasajews, der uns beide in seine Literatur hineinbringen und in einer anzüglichen Satire beschreiben will; er selbst hat es gesagt und gute Leute im Amt haben es weitererzählt. Ich kann nun an gar nichts anderes mehr denken, meine Liebste, und weiß nicht, was ich beschließen soll. Ich will nun nicht länger mehr meine Sünde verleugnen, aber wir scheinen Gott den Herrn herausgefordert zu haben, mein Engelchen! Um meine Langeweile zu vertreiben, wollten Sie, meine Liebste, mir ein Büchlein senden. Lassen Sie das, meine Teuerste, was soll mir dieses Büchlein? Es ist ja doch alles erfunden, was darin steht! Und ein Roman ist schließlich Unsinn und nur aus unsinnigen Gründen geschrieben, damit Leute ihn lesen, die nichts tun. Glauben Sie mir das, meine Liebste, glauben Sie meiner langjährigen Erfahrung. Was haben Sie schon davon, wenn man Sie in irgendein Gespräch über Shakespeare verwickelt, auch Shakespeare ist Unsinn, glatter Unsinn und alles nur für Pasquille verfaßt!

Ihr
Makar Djewuschkin.

2. August.

 

Lieber Makar Alexejewitsch!

Beunruhigen Sie sich in keiner Hinsicht; so Gott will, wird sich alles ebnen. Fedora hat für sich und mich sehr viel Arbeit verschafft und voll Vergnügen haben wir uns gleich darangemacht; vielleicht werden wir damit wieder alles gutmachen. Sie hat, den Verdacht ausgesprochen, daß Anna Fedorowna alles über meine letzten Unannehmlichkeiten erfahren hat; nun aber ist mir alles egal. Ich bin heute ganz außerordentlich fröhlich gestimmt. Sie wollen Geld borgen – Gott schütze Sie davor. Dann müßten Sie noch unglücklicher leben, denn Sie müßten es ja zurückzahlen. Leben wir lieber alle ein wenig eingeschränkt, kommen Sie öfter zu uns und achten Sie nicht auf Ihre Hausfrau. Was die übrigen Feinde betrifft, sowie alle anderen Leute, die Ihnen schlecht gesinnt sind, bin ich überzeugt, daß Sie sich vergeblich mit Befürchtungen quälen, Makar Alexejewitsch! Sehen Sie zu, ich sagte Ihnen schon neulich, Sie sollten mehr auf Ihren Stil achten. Er ist sehr ungleichmäßig. Nun leben Sie wohl, auf Wiedersehen. Ich erwarte Sie unbedingt bei mir.

Ihre
W. D.

3. August.

 

Mein Engelchen Warwara Alexejewna!

Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, meine liebe Gefährtin, daß ich neue Hoffnung geschöpft habe, gestatten Sie, mein Töchterchen: Sie schreiben, mein Engelchen, ich möge kein Geld aufnehmen? Das ist ausgeschlossen, mein Täubchen; geht es mir schon schlecht, was soll erst mit Ihnen geschehen, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte! Sie sind doch ohnehin so schwach; und darum schreibe ich auch, daß man unbedingt Geld aufnehmen muß. Nun und weiter: ich muß vorausschicken, daß ich im Dienste neben Jemeljan Iwanowitsch sitze. Das ist nicht derselbe Jemeljan, von dem ich Ihnen schon erzählt habe. Er ist ebenso wie ich Titularrat und wir beide haben unsere ganze Dienstzeit sozusagen gemeinsam abgesessen, sind Erbeingesessene in dieser Abteilung. Er ist ein guter Kerl, uneigennützig, aber sehr einsilbig und sieht immer brummig drein, wie ein Bär. Dafür ist er verwendbar, er hat eine richtiggehende englische Schrift und wenn ich aufrichtig sein soll, muß ich gestehen, daß er nicht schlechter schreibt als ich – ein ehrenhafter Mensch! Sehr vertraut waren wir eigentlich nie miteinander, es war mehr so ein »Leben Sie wohl« und »Guten Tag«; wenn ich aber etwa ein Taschenmesser brauchte, dann kam es vor, daß ich ihn darum bat – »Sie gestatten Ihr Messerchen, Jemeljan Iwanowitsch« – mit einem Wort, es war ein Zustand, wie ihn bloß das Zusammenleben erfordert. Nun sagt er heute zu mir: Makar Alexejewitsch, sagen Sie, warum sind Sie so nachdenklich? Ich sehe, daß der Mensch es gut mit mir meint und eröffne mich ihm – so und so, Jemeljan Iwanowitsch, das heißt, alles sagte ich ihm nicht, Gott bewahre mich davor, das würde ich niemals tun, ich hätte nie so viel Mut, aber dies und jenes habe ich ihm anvertraut, daß ich in Geldschwierigkeiten sei und Ähnliches. »Nun, so nehmen Sie doch Geld auf, Väterchen – sagt Jemeljan Iwanowitsch, etwa bei Pjotr Petrowitsch, er verleiht gegen Prozente; ich habe auch schon bei ihm geborgt und er nimmt sehr mäßige Prozente – durchaus anständig.« Nun, Warinka, begann mir das Herz im Leibe zu hüpfen. Ich denke und denke, vertraue auf Gott, der Pjotr Petrowitsch doch einen Fingerzeig gibt, mir Geld zu leihen. Ich begann schon nachzurechnen, wieviel ich meiner Hausfrau zahlen würde, mit welcher Summe ich Ihnen helfen und gleichzeitig mir selbst ein etwas besseres Aussehen verschaffen könnte, denn es ist ja wirklich schon beschämend, in solchem Aufzug auf seinem Platze zu sitzen, ganz abgesehen davon, daß sich die Leute schon lustig machen, Gott sei ihnen gnädig. Selbst Seine Exzellenz kommt mitunter an unserem Tische vorüber; Gott bewahre mich davor, daß er einen Blick auf mich zu werfen geruhe und meine mangelhafte Kleidung bemerken sollte! Bei ihm ist die Hauptsache Reinlichkeit und Ordnung. Er würde wahrscheinlich kein Wort sagen, aber ich müßte vor Schande sterben – ja, so wäre das. Und so verbarg ich meine Scheu in meinen löcherigen Taschen, raffte mich auf und ging zu Pjotr Petrowitsch, voll Hoffnung, anderseits halb tot, halb lebendig vor Erwartung – beides zusammen. Nun, was soll ich Ihnen erzählen, alles endete damit, daß ich nichts bekam! Er war irgendwie beschäftigt, sprach mit Fedossej Iwanowitsch. Ich näherte mich ihm von der Seite und zupfte ihn am Ärmel, Sie entschuldigen wohl, Piotr Petrowitsch! – Er drehte sich herum und ich setzte fort: Ja, also so und so ist die Sache, etwa dreißig Rubel und so weiter. – Anfangs verstand er mich scheinbar nicht, aber dann, als ich ihm alles erklärte, lachte er auf, sprach kein Wort, schwieg. Ich begann neuerdings. Er fragte: Haben Sie ein Pfand? Dann beugte er sich wieder ganz über seine Papiere, schrieb weiter, ohne sich um mich zu kümmern. Ich wurde ein wenig verlegen. Nein, sagte ich zu Pjotr Petrowitsch, ich habe kein Pfand, und erklärte ihm, so und so ist die Sache, wenn Gehaltsauszahlung ist, gebe ich es ihm zurück, unbedingt, betrachte dies als meine erste Pflicht. Da wurde er von irgend jemandem gerufen, ich wartete noch auf ihn, er kam zurück, begann seine Feder zu spitzen und tat, als sehe er mich überhaupt nicht. Ich aber versuchte noch immer, so und so ist die Sache, Pjotr Petrowitsch, wäre es nicht vielleicht noch irgendwie möglich? Er aber schweigt, scheint gar nicht zu hören. Ich stehe und stehe, denke, es ein letztes Mal zu versuchen und zupfte ihn am Ärmel. Er sagte nichts mehr, putzte seine Feder und begann wieder zu schreiben; da ging ich fort. Vielleicht sind das sehr ehrenhafte Leute, alle, bloß stolz, sehr stolz – was bin ich dagegen! Wie weit ist es von uns bis zu ihnen, Warinka! Nun habe ich Ihnen auch deshalb alles genau beschrieben – Jemeljan Iwanowitsch lächelte auch, schüttelte den Kopf, aber dennoch machte er mir Hoffnungen, der gute Mensch. Jemeljan Iwanowitsch ist wirklich ein ehrenhafter Mensch. Er versprach mir, mich einem gewissen Menschen zu empfehlen, der auf der Wiborger Seite lebt, ebenfalls gegen Prozente Geld verleiht, ein Mensch in der vierzehnten Rangsklasse. Jemeljan Iwanowitsch sagt, daß er es unbedingt geben wird. Morgen will ich zu ihm gehen, mein Engelchen – ja? Was halten Sie davon? Ohne Geld ist's ja doch eine Qual! Meine Hausfrau jagt mich schon fast aus der Wohnung und ist nicht mehr einverstanden, mir das Mittagessen zu geben. Und meine Stiefel sind ganz und gar schlecht, nirgends Knöpfe und weiß Gott, was mir noch alles fehlt! Wenn nun tatsächlich ein Vorgesetzter solche Mängel beanständet? Es ist eine Qual, Warinka, reinste Qual!

Makar Djewuschkin.

4. August.

 

Lieber Makar Alexejewitsch!

Verschaffen Sie um Gottes willen so schnell als möglich Geld, wie wenig immer es auch sei; unter den gegenwärtigen Umständen würde ich Sie nicht um alles um Hilfe bitten, aber wenn Sie wüßten, in welcher Lage ich mich befinde! Wir können unmöglich mehr in dieser Wohnung bleiben. Ich hatte die fürchterlichsten Unannehmlichkeiten. Wenn Sie wüßten, in welcher Verzweiflung und Aufregung ich mich befinde! Stellen Sie sich vor, mein Freund: heute morgens kommt ein unbekannter Mensch zu uns, ein älterer Herr, fast ein Greis, mit Orden geschmückt. Ich war erstaunt und verstand nicht, was er von uns wollte. Fedora war um diese Zeit nicht zu Hause, sie besorgte Einkäufe. Er begann, mich auszufragen, wie ich lebe, was ich tue und, ohne meine Antwort abzuwarten, erklärte er, er sei der Onkel jenes Offiziers, habe sich sehr über seinen Neffen geärgert, über dessen schlechte Führung und darüber, daß mich sein Neffe in schlechten Ruf gebracht habe; er sagte, sein Neffe sei ein leichtsinniger Bube, ein Windbeutel, nunmehr wolle er mich unter seinen Schutz stellen; auch rate er mir ab, auf die Reden junger Leute zu hören und fügte hinzu, er habe väterliches Mitleid mit mir und sei bereit, mir in jeder Hinsicht behilflich zu sein. Ich wurde ganz rot, wußte nicht, was ich denken sollte, aber ich beeilte mich durchaus nicht, ihm zu danken. Er nahm gewaltsam meine Hand, streichelte mir die Wange und sagte, ich sei sehr reizend und er finde es so lieb, daß ich Grübchen in den Wangen habe – weiß Gott, was er noch alles sagte! Schließlich wollte er mich küssen, wozu er meinte, er sei schon ein Greis (ach, wie eklig war er) – da kam Fedora. Er wurde etwas verlegen, dann begann er wieder davon zu sprechen, welche Achtung er vor meiner Bescheidenheit und guten Erziehung habe und daß er lebhaft wünsche, ich möge meine Scheu vor ihm verlieren. Dann rief er Fedora zur Seite und wollte ihr unter irgendeinem seltsamen Vorwand Geld geben. Fedora verstand und nahm nichts. Schließlich ging er fort, wiederholte nochmals alle seine Beteuerungen, sagte, er werde nochmals zu mir kommen, mir Ohrringe bringen (er war scheinbar selbst sehr verlegen); auch riet er mir, die Wohnung zu wechseln und empfahl mir eine wunderschöne, die er an der Hand habe und die mich nichts kosten würde; dann sagte er noch, er habe mich vor allem deshalb so liebgewonnen, weil ich ein anständiges und kluges Mädchen sei, riet, mich vor der schlechten Jugend zu hüten und schließlich erklärte er, Anna Fedorowna zu kennen, die ihm gesagt habe, sie wolle mich ehebaldigst besuchen. Da verstand ich alles. Ich wußte nicht, wie mir geschah; zum ersten Male in meinem Leben befand ich mich in einer derartigen Lage; ich war ganz außer mir; aber ich habe ihn genügend beschämt. Fedora half mir dabei und wir haben ihn fast hinausgeworfen. Es war uns klar, daß dies alles Anna Fedorowna angestiftet hatte; woher hätte er sonst etwa von uns wissen können?

Nun aber wende ich mich an Sie, Makar Alexejewitsch, und flehe Sie um Hilfe an. Lassen Sie mich, um Gottes willen, nicht in so einer Lage! Verschaffen Sie bitte Geld, wie wenig immer es auch sei, wir müssen unbedingt übersiedeln, es ist unmöglich, länger hier zu bleiben: Fedora rät dasselbe. Wir brauchen mindestens fünfundzwanzig Rubel. Ich werde Ihnen dieses Geld zurückgeben, ich werde es verdienen; Fedora wird mir in diesen Tagen noch Arbeit verschaffen, so daß Sie sich einverstanden erklären können, auch wenn man Ihnen hohe Prozente anrechnen will. Ich gebe Ihnen alles zurück, bloß lassen Sie mich nicht ohne Ihre Hilfe, um Gottes willen! Es wird mir schwer, Sie jetzt mit derlei zu belästigen, wo Sie solche Unannehmlichkeiten haben, aber Sie sind meine einzige Hoffnung! Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch, denken Sie an mich und Gott gebe Ihnen Erfolg.

W. D.

4. August.

 

Mein Täubchen Warwara Alexejewna!

Wie erschüttern mich alle diese unerwarteten Schläge! Diese schrecklichen Qualen töten mich förmlich! Abgesehen davon, daß dieses Gesindel von elenden Schmarotzern und nichtswürdigen Greisen fast mein Engelchen auf das Krankenlager strecken, wollen diese Elenden auch mich niederringen. Und sie werden es noch so weit bringen, ich schwöre es Ihnen. Ich wäre doch jetzt eher bereit zu sterben, als Ihnen nicht zu helfen! Und wenn es mir nicht gelingt, Ihnen zu helfen, bedeutet es ohnedies meinen Tod, Warinka, ganz und gar meinen Tod, gelingt es mir aber, dann fliegen Sie davon, wie ein Vöglein aus dem Nestchen, ein Vöglein, das diese Raubvögel und Nachteulen hervorlocken wollen. Ach, wie mich das quält, meine Liebste. Und warum sind Sie so grausam, Warinka? Warum denn? Man quält Sie, beleidigt Sie, mein Vögelchen, Sie leiden darunter, und da machen Sie sich Sorgen darüber, daß Sie mich belästigen müssen? Versprechen mir noch dazu, die Schuld abzuarbeiten, also, wollen Sie sich denn bei Ihrer schwachen Gesundheit zu Tode arbeiten, um mir das Geld zur Frist rückzuerstatten? Bedenken Sie doch, Warinka, was Sie da tun! Wozu nähen, wozu arbeiten, Ihr armes Köpfchen mit Sorgen quälen, Ihre lieben Äuglein schwächen und Ihre Gesundheit vernichten? Ach Warinka, Warinka! Sehen Sie, mein Täubchen, ich tauge ja eigentlich nichts, das weiß ich selbst sehr gut, aber ich werde es so machen, daß ich etwas tauge! Ich werde alles überwinden, Heimarbeit annehmen, werde für verschiedene Literaten allerhand abschreiben, zu ihnen gehen, persönlich, ihnen meine Dienste aufdrängen, denn sie suchen ja gute Abschreiber, das weiß ich ganz genau, meine Liebste, aber ich werde nie zulassen, daß Sie sich durch Arbeit krank machen. Ich werde sofort Geld borgen, mein Engelchen, eher sterbe ich, als daß ich es nicht tue. Sie schreiben mir, mein Täubchen, ich möge mich vor hohen Prozenten nicht fürchten – ich fürchte mich nicht, meine Liebste, durchaus nicht, jetzt fürchte ich überhaupt nichts mehr. Ich werde vierzig Rubel ansprechen, das ist nicht viel, Warinka, was glauben Sie? Kann man mir auf das erste Wort vierzig Rubel anvertrauen? Das heißt, ich meine, halten Sie mich für fähig, auf den ersten Blick vertrauenswürdig und glaubhaft zu erscheinen? Nach dem Gesichtsausdruck, dem ersten Eindruck – kann man mir da anständigen Charakter zumuten? Denken Sie bloß nach, mein Engelchen, sehe ich vertrauenerweckend aus? Wie finden Sie? Wissen Sie, man hat derart Angst – krankhaft, wahrhaftig krankhaft! Von den vierzig Rubeln lege ich sogleich fünfundzwanzig für Sie zur Seite, Warinka; zwei bekommt meine Hausfrau und den Rest bestimme ich für meine eigenen Ausgaben. Wissen Sie, der Hausfrau müßte ich eigentlich mehr geben, unbedingt sogar; aber überlegen Sie nur die ganze Sache, meine Liebste, bedenken Sie, was alles ich unbedingt brauche und Sie werden sehen, daß ich ihr unmöglich mehr geben kann. Folglich steht es gar nicht dafür, über diese Sache weiter zu sprechen und es ist nicht notwendig, dies zu erwähnen. Für einige Rubel kaufe ich mir Stiefel; ich weiß ohnedies nicht, ob ich mit meinen alten morgen überhaupt in das Amt gehen kann. Ein Halstuch wäre ebenfalls unerläßlich, das alte trage ich nun schon ein Jahr lang; da Sie mir aber versprachen, aus einer alten Schürze nicht bloß ein Halstuch, sondern auch ein Vorhemd zu nähen, will ich an das Halstuch gar nicht mehr denken. Also, somit hätten wir Stiefel und ein Halstuch, nun kommen die Knöpfe, meine Gefährtin! Sie werden doch einsehen, daß ich ohne Knöpfe nicht sein kann; und ich habe schon fast die Hälfte verloren. Ich bebe, wenn ich denke, Seine Exzellenz könnte so eine Unordentlichkeit bemerken – was würde der wohl sagen! Ich könnte das gar nicht mehr hören, meine Liebste, denn ich stürbe sofort, gleich, sofort, auf der Stelle würde ich sterben, vor Schande, beim bloßen Gedanken! Ach meine Teuerste! Somit bleibt nach allen unbedingt notwendigen Anschaffungen bloß ein Dreirubelschein; nun, der wäre für das Leben, und für ein halbes Pfund Tabak, denn ohne Tabak, mein Engelchen, kann ich nicht leben, ich habe schon neun Tage lang keine Pfeife im Mund gehabt. Ich hätte mir, aufrichtig gesagt, wohl Tabak gekauft, ohne es Ihnen zu sagen, aber das wäre ehrlos. Sie leben dort kummervoll, entbehren das Notwendigste, während ich mir hier die verschiedenartigsten Genüsse leiste; also darum sage ich Ihnen das alles, denn ich will nicht die Qualen von Gewissensbissen haben. Ich gestehe Ihnen offen, Warinka, daß ich in einer wahrhaft jämmerlichen Lage bin, das heißt, derartiges habe ich bisher noch nicht erlebt. Die Hausfrau verachtet mich, überhaupt niemand achtet mich; auf allen Seiten fehlt mir etwas, dann die Schulden; und im Amt, wo ich von meinen Kollegen schon seit jeher nicht behandelt werde, als sei die Butterwoche (russische Redewendung, entspricht etwa dem deutschen: auf Rosen gebettet, Anm. d. Übers.) – also dort im Amt, ach, sprechen wir nicht davon, meine Liebste. Ich verberge auf das sorgfältigste alles vor allen, verkrieche mich selbst, und wenn ich in das Amt gehe, dann mache ich mich so wenig als möglich bemerkbar und schleiche an allen von der Seite vorüber. Ich habe bloß noch den Mut, Ihnen dies zu erzählen ... Was aber tun, wenn er nichts gibt? Nein, Warinka, es ist besser, daran gar nicht zu denken und nicht schon im vorhinein sich alles Mutes zu berauben. Ich schreibe dies bloß, um Sie zu warnen, damit Sie sich nicht mit derart bösen Gedanken quälen. Ach, du lieber Gott, was sollte denn dann mit Ihnen geschehen! Sie würden allerdings nicht übersiedeln und solcherart bliebe ich bei Ihnen – aber nein, dann käme ich überhaupt nicht zurück, ich würde einfach vergehen, zugrunde gehen, irgendwo verderben. Nun schreibe ich Ihnen so viel, während ich mich rasieren sollte, man sieht netter aus und Nettigkeit hilft immer, wenn man etwas erreichen will. Nun, Gott gebe es! Ich will beten und dann – los!

M. Djewuschkin.

5. August.

 

Liebster Makar Alexejewitsch!

Wenn Sie bloß nicht verzweifeln wollten! Wir haben ohnedies genug Kummer. Ich sende Ihnen dreißig Kopeken, mehr kann ich unmöglich. Kaufen Sie sich dafür, was Sie am notwendigsten brauchen, um irgendwie bis morgen durchzukommen. Wir selbst haben gar nichts mehr und ich weiß nicht, was morgen sein wird. Wie traurig, Makar Alexejewitsch! Übrigens, trösten Sie sich; es ist nicht gelungen, nun, was soll man da tun! Fedora sagt, das sei noch nicht so schlimm, wir könnten noch eine Zeitlang in dieser Wohnung verbleiben, auch wenn wir übersiedelt wären, hätte uns dies nicht viel geholfen, denn wer will, findet uns ja doch überall. Und trotzdem ist es irgendwie unangenehm, hier zu bleiben. Wäre es nicht so traurig, hätte ich Ihnen noch allerhand geschrieben.

Wie eigenartig doch Ihr Charakter ist, Makar Alexejewitsch! Sie nehmen alles viel zu ernst, darum werden Sie immer ein unglücklicher Mensch bleiben. Ich lese aufmerksam alle Ihre Briefe und sehe, daß Sie sich in jedem dieser Briefe so sehr um mich quälen und sorgen, wie Sie dies noch nie für sich selbst getan haben. Das alles sagt selbstverständlich, daß Sie ein gutes Herz haben, aber ich meine, es ist schon allzu gut. Ich will Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben, Makar Alexejewitsch. Ich bin Ihnen dankbar, sehr dankbar, für alles, was Sie für mich getan haben, das fühle ich sehr, sehr stark; nun urteilen Sie selbst, wie mir wird, wenn Sie sogar jetzt, nach all Ihrem Kummer, dessen unfreiwillige Ursache eigentlich ich selbst war – daß Sie sogar jetzt nur für mich leben: meinen Freuden, meinen Leiden, meinen Gefühlen! Wenn man sich das Leid der anderen so zu Herzen nimmt und für sie so viel Mitleid hat, dann muß man ja der unglücklichste Mensch werden. Heute, als Sie nach dem Amt zu mir kamen, erschrak ich, als ich Sie sah. Sie waren derart blaß, verschüchtert und abgehärmt, man konnte Sie kaum erkennen – und das alles, weil Sie sich fürchteten, mir von Ihrem Mißerfolg zu erzählen, mich zu grämen, zu erschrecken. Und als Sie sahen, daß ich beinahe lächelte, schien Ihnen alle Last vom Herzen zu fallen. Makar Alexejewitsch! Grämen Sie sich nicht, sorgen Sie sich nicht, werden Sie vernünftig – ich bitte Sie darum, ich flehe Sie an. Und Sie werden sehen, daß sich alles zum Guten wenden wird, sonst wird Ihnen das Leben zu schwer, da Sie sich ewig um das Leid anderer grämen. Leben Sie wohl, mein Freund; ich flehe Sie an, beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht zu sehr.

W. D.

5. August.

 

Mein Täubchen Warinka!

Nun gut, mein Engelchen, gut so! Sie fanden, daß das Unglück nicht so groß ist, daß ich kein Geld verschafft habe. Nun gut, ich bin ruhig. Ihretwegen fühle ich mich veranlaßt, mich glücklich zu fühlen. Ja, ich freue mich sogar, daß Sie mich alten Mann nicht verlassen und in dieser Wohnung verbleiben. Und wenn schon von allem die Rede ist, muß ich sagen, daß sich mein Herz mit Freude erfüllt hat, als ich sah, wie gut Sie in Ihrem ganzen Briefe über mich schrieben und wie sehr Sie meine Gefühle lobten. Das sage ich nicht aus Stolz, sondern deshalb, weil ich sehe, wie sehr Sie mich lieben, da Sie um mein Herz so besorgt sind. Nun, gut; wozu jetzt über mein Herz sprechen! Das Herz ist eine Angelegenheit für sich; – aber Sie sagen, meine Liebste, ich solle nicht kleinmütig sein. Ja, mein Engelchen, das sage ich ja selbst, daß man nicht kleinmütig sein soll; Nun aber sagen Sie mir, meine Liebste, in welchen Stiefeln soll ich eigentlich morgen in das Amt gehen? So ist die Sache; so ein Gedanke kann einen Menschen zugrunde richten, einfach zugrunde richten. Und die Hauptsache, meine Teuerste, das geschieht gar nicht um meinetwillen, nicht deshalb leide ich; mir ist es ganz gleichgültig, ich ginge auch in der größten Kälte ohne Mantel und Stiefel, ich würde das ohneweiteres ertragen, das macht mir gar nichts; ich bin ein einfacher, unbedeutender Mensch; – aber was sagen die Leute dazu? Meine Feinde, alle diese bösen Zungen würden es besprechen, bespötteln, wenn ich ohne Mantel käme. Nur um der Leute willen trägt man diesen Mantel, ebenso die Stiefel – nur für sie zieht man die Stiefel an. In so einem Falle, meine Liebste, Sie mein Seelchen, brauche ich die Stiefel zur Aufrechterhaltung meiner Ehre und meines guten Namens; aber in zerrissenen Stiefeln geht sowohl das eine als auch das andere verloren – glauben Sie mir das, meine Liebste, vertrauen Sie meiner langjährigen Erfahrung, mir, einem Greise, der die Welt und die Menschen kennt, können Sie glauben, aber nicht irgendwelchen Schmierfinken und Sudlern. Ich habe Ihnen noch gar nicht genau erzählt, meine Liebste, wie sich die Sache heute zugetragen hat. Ich habe so viel ausgestanden, so viel Seelenleid an einem einzigen Morgen ertragen müssen, wie irgend wer anderer in einem ganzen Jahre nicht durchmachen muß. Also so war es: zeitlich, zeitlich früh, ging ich von zu Hause fort, um ihn sicher zu treffen und beizeiten ins Amt zu kommen. Welch ein Regen und Schmutz! Ich wickelte mich fest in den Mantel, mein Vögelchen, ging und ging, dachte ununterbrochen: mein Gott! Verzeih mir alle meine Verfehlungen und schicke mir Erfüllung meines Wunsches. Als ich an der X-Kirche vorüberkam, habe ich mich bekreuzt, alle Sünden bereut, erinnerte mich aber, daß es ungebührlich von mir ist, mit Gott zu feilschen. Da ging ich in mich und wollte nirgendwo mehr hinsehen; so ging ich, ohne auf den Weg zu achten. Die Straßen waren leer, begegnete man jemandem, so war er in Eile, gehetzt, was schließlich kein Wunder war: wer sonst sollte so früh und bei solchem Wetter spazierengehen! Eine Gruppe schmieriger Arbeiter begegnete mir. Sie stießen mich an. Ich wurde schüchtern, ich bekam es mit der Furcht, wieder dachte ich an das Geld, um ehrlich zu sein, ich wollte gar nicht daran denken, es geschah eben alles aufs Geratewohl, rein nur aufs Geratewohl! Auf der Woskressenskybrücke verblieb eine meiner Schuhsohlen, so daß ich selbst nicht mehr weiß, auf was ich weiterging. Da traf ich unseren Schreiber Jermolajew, er blieb stehen, blickte mir nach, beinahe, als wollte er mich um Geld für Wodka bitten. Ach, Brüderchen, dachte ich, woher denn! Ich war schrecklich müde, blieb stehen, ruhte ein wenig aus, dann schleppte ich mich weiter. Nun blickte ich absichtlich ringsumher, wollte irgend etwas entdecken, sah aber nichts; es gab nichts, woran ich einen Gedanken knüpfen hätte können, zudem war ich schon ganz schmutzig, so daß ich mich vor mir selber schämte. Endlich bemerkte ich von weitem ein gelbes Holzhaus mit Giebel in Villenstil – nun, dachte ich, das ist es, so hat es mir Jemeljan Iwanowitsch beschrieben – das Haus Markows. (Er heißt Markow, meine Liebste, der Mann, der gegen Prozente verleiht.) Da erinnerte ich mich nicht mehr so genau und obwohl ich wußte, daß es Markows Haus war, fragte ich dennoch einen Polizisten – he, Brüderchen, ist dies Markows Haus? Der Polizist war ein Grobian, antwortete widerwillig, als ärgerte er sich über mich, brummte etwas zwischen den Zähnen – ja, das sei Markows Haus. – Diese Polizisten sind alle so gefühllos, aber was gehen sie mich an? – Und dennoch – das alles machte einen schlechten, unangenehmen Eindruck auf mich, mit einem Wort, eins kam zum andern; in allem findet man irgend etwas, das der eigenen Lage entspricht, das ist immer so. Dreimal ging ich von einem Ende des Hauses zum anderen, aber je länger ich dies tat, um so schlechter wurde es; – nein, denke ich, er gibt nichts, nicht um alles gibt er es! Ich bin schließlich für ihn ein Unbekannter, meine Sache ist sehr heikel, ich würde schließlich auch keinen besonderen Eindruck durch mein Äußeres machen, – nun, denke ich, soll das Schicksal entscheiden; ich wollte vor allem erreichen, mir nachher keine Vorwürfe machen zu müssen, es nicht versucht zu haben, man wird mir doch nicht den Kopf abreißen – und so öffnete ich leise das Pförtchen. Da kam schon ein anderes Unglück: ein ekelhafter, dummer Hofhund stürzte mir entgegen und verbellte mich aus Leibeskräften, ohrenzerreißend! Nun gibt es immer so kleine unangenehme, ekelhafte Zwischenfälle, die den Menschen in Wut bringen, einschüchtern und die ganze Entschlossenheit, zu der er sich aufgerafft hat, vernichten; so kam ich weder tot noch lebendig in das Haus und stieß auf ein neues Unglück – ich hatte nicht bemerkt, daß in der Dunkelheit des Flurs neben der Schwelle ein Weib hockte, das Milch aus einem Eimer in Kannen goß, stieß an sie und die ganze Milch wurde verschüttet. Das dumme Frauenzimmer begann zu schreien und keifte – hast du denn keine Augen, was willst du denn hier, wohin rennst du? Und so ging es weiter. Das erzähle ich Ihnen bloß deshalb, meine Liebste, weil es mir in derartigen Fällen immer so geht; es ist mir scheinbar schon so vorherbestimmt; ewig kommt mir irgend etwas Fremdes in die Quere. Auf diesen Lärm hin tauchte eine alte Hexe auf, eine Finnländerin, an die ich mich sogleich wandte: wohnt hier Herr Markow, nein, sagt sie, bleibt vor mir stehen und sieht mich prüfend an – was wollen Sie von ihm? Ich erkläre ihr, dies und jenes, Jemljan Iwanowitsch – und so weiter – sage, daß ich in geschäftlicher Angelegenheit hier sei. Die Alte rief nach ihrer Tochter – es kam die Tochter, ein erwachsenes, barfüßiges Mädchen – Rufe den Vater, er ist oben, bei den Parteien – bitte einzutreten! Ich trat ein. Das Zimmer war ganz nett, an den Wänden hingen Bilder, durchwegs Porträts von irgendwelchen Generalen, dann war ein Diwan da, ein runder Tisch, Reseda, Balsaminen – ich denke und denke, ob ich nicht lieber fortschleichen soll? Wirklich, meine Liebste, ich wollte davonlaufen! Ich komme lieber morgen wieder, dachte ich; auch das Wetter wird besser sein, ich will abwarten – heute ist ohnedies schon die Milch verschüttet und die Generale sehen alle so verärgert drein ... Ich war schon bei der Tür, da trat er ein – ein kleiner, grauhaariger Mensch mit hinterlistigen Äuglein, in schmierigem Schlafrock, mit einer Schnur um den Körper. Er fragte mich, wie und was, ich sagte: so und so, Jemeljan Iwanowitsch – vierzig Rubel, die Sache ist so – aber ich sprach nicht weiter; ich sah an seinen Augen, daß meine Sache erledigt war. Nein, sagte er, wieso denn? Ich habe ja kein Geld; haben Sie etwa ein Pfand, was denn? Ich wollte ihm erklären, daß ich wohl kein Pfand hätte, aber Jemeljan Iwanowitsch – kurz, ich erklärte alles, was ich für notwendig fand. Er hörte mich an. »Nein,« sagte er, »was soll mir Jemljan Iwanowitsch! Ich habe kein Geld.« – Nun, dachte ich, alles ist so gekommen, wie ich es vorausgefühlt hatte. Nun, Warinka, es wäre mir lieber gewesen, die Erde hätte sich unter mir geöffnet; mir war so kalt, die Füße erstarrt und ein Frösteln lief mir über den Rücken. Ich sah ihn an, er sah mich an, gerade, daß er nicht sagt: »Geh nur wieder, Bruder, hier hast du nichts verloren« – kurz, unter anderen Umständen wäre ich vor Scham ganz und gar vergangen. – »Wozu brauchen Sie eigentlich das Geld?« – (Tatsächlich hat er mich darum gefragt, meine Liebste). Ich öffnete bereits den Mund, bloß um nicht wortlos dazustehen, aber er hörte mich gar nicht an – »Nein« – sagte er, »ich habe kein Geld; andernfalls mit Vergnügen«. Ich machte ihm wieder Vorstellungen, stets von neuem, ich brauche ja nicht viel, wolle es gewissenhaft rückzahlen, vielleicht sogar vor dem vereinbarten Termin, er möge in Gottes Namen was immer für Prozente nehmen, die ich ebenfalls bei Gott rückzahlen würde. In diesem Augenblick, meine Teuerste, erinnerte ich mich an Sie, an all Ihr Unglück und Ihre Not, an Ihr Fünfzigkopekenstück – aber er meinte, was seien ihm die Prozente, wenn kein Pfand da wäre! Er habe bei Gott kein Geld; sonst mit Vergnügen – er rief sogar Gott als Zeugen an, dieser Räuber!

Nun und dann, meine Teuerste, weiß ich selbst nicht mehr, wie ich von dort weg ging, nach der Wiborger Seite kam, über die Woskressenskybrücke, ich war schrecklich müde, durchfroren und kalt kam ich erst um 10 Uhr ins Amt. Ich wollte mich vom Schmutz reinigen, aber der Diener Snjegirew sagte, das gehe nicht an, ich würde die Bürste verderben, die Bürste aber sei ärarisch. Nun sehen Sie, meine Liebste, wie minderwertig ich diesen Leuten erscheine, als wäre ich ein Lappen, an dem man die Füße abstreift. Was ist es eigentlich, Warinka, das mich so niederschlägt? – Nicht das Geld ist es, sondern alle diese Aufregungen des Lebens, all dies Geflüster, das spöttische Lächeln und diese Sticheleien. Seine Exzellenz kann sich unerwarteterweise an mich wenden – ach, meine Liebste, meine goldenen Zeiten sind vorüber! Heute habe ich alle Ihre Briefchen nochmals gelesen; ach, wie traurig sie sind! Leben Sie wohl, Teuerste, Gott schütze Sie!

M. Djewuschkin.

P. S. Ich wollte Ihnen, Warinka, mein Leid halb scherzhaft schildern, aber, wie ich sehe, will es mir nicht gelingen, das Scherzen. Ich wollte Sie zerstreuen – ich komme zu Ihnen, meine Liebste, unbedingt komme ich, schon morgen.

11. August.

Warwara Alexejewna! Mein Täubchen, meine Liebste! Ich bin verloren. Wir beide sind verloren, unrettbar verloren, mein Ansehen, meine Ehre – alles verloren. Ich bin zugrunde gerichtet und mit mir Sie, meine Teuerste, unrettbar verloren sind wir! Und ich bin es, der Sie ins Verderben geführt hat. Man verfolgt, schmäht und verlacht mich und meine Hausfrau beschimpft mich völlig hemmungslos. Heute schrie sie mit mir ohne Unterlaß, griff mich an, als wäre ich das minderwertigste Wesen auf der ganzen Welt. Und abends begann irgendwer bei Ratasajew das Konzept eines meiner Briefe an Sie vorzulesen, das ich nicht beendet und aus der Tasche verloren haben muß. Wenn Sie wüßten, meine Teuerste, was für ein Gelächter diese Leute angestimmt haben! Sie haben uns allerhand Titel gegeben und verhöhnt, diese Verräter! Ich ging zu ihnen und zieh Ratasajew des Treubruchs; ich sagte ihm, daß er ein Verräter sei. Und Ratasajew antwortete, ich selber sei ein Verräter, da ich auf allerhand Eroberungen aus sei, dann sagte er noch: »Sie haben uns alle getäuscht.« Und jetzt nennen sie mich alle nur mehr Lovelace, sie haben gar keinen anderen Namen mehr für mich. Hören Sie, mein Engelchen, hören Sie. – Nun wissen sie alles, alle Einzelheiten, auch von Ihnen, meine Teuerste, alles, alles ist ihnen bekannt, was sich auf Sie bezieht, meine Teuerste! Auch Faldoni ist da und mit ihnen eines Sinnes; heute habe ich ihn zum Selcher geschickt, damit er mir irgend etwas bringe; aber er hat sich nicht schicken lassen, er sei beschäftigt, sagte er. »Du bist doch dazu verpflichtet«, sage ich zu ihm. »Nein,« antwortet er, »ich bin nicht verpflichtet, Sie zahlen meiner Herrin kein Geld, folglich bin ich nicht verpflichtet.« Ich ertrug das nicht mehr, mich von diesem ungebildeten Bauer beleidigen zu lassen und nannte ihn einen Dummkopf, worauf er sagte: »Selbst einer.« Ich dachte zunächst, er habe diese Grobheit gesagt, weil er betrunken wäre und rief ihm zu: »Du bist ja betrunken, Kerl!« Darauf erwiderte er: »Haben Sie mir vielleicht etwas zu trinken gegeben? Oder haben Sie selbst etwas, womit Sie Ihren Katzenjammer vertreiben könnten? Wo Sie doch selbst um ein Zwanzigkopekenstück betteln – und das will noch Herr genannt werden!« So weit ist es also schon gekommen! Wie peinlich ist doch dieses Leben, Warinka! Wie verrufen kommt man sich vor! Noch schlechter als ein Vagabund. Welches Unglück! Ich bin verloren! Unrettbar verloren.

M. D.

13. August.

 

Liebster Makar Alexejewitsch!

Ein Unglück nach dem anderen, ich selbst weiß nicht mehr, was tun! Was soll mit Ihnen geschehen, ach, auf mich zu hoffen ist jetzt sehr schlecht; ich habe mir heute mit dem Bügeleisen die linke Hand verbrannt; ich ließ es unachtsam fallen, verletzte und verbrannte mich, beides zusammen. Nun kann ich unter keinen Umständen arbeiten und Fedora ist schon den dritten Tag krank. Ich bin in quälendster Unruhe. Ich sende Ihnen dreißig Kopeken; das ist fast alles, was wir noch haben und ich rufe Gott als Zeugen an, wie sehr ich wünschte, Ihnen jetzt in Ihrer Bedrängnis zu helfen. Es ist traurig, zum Weinen! Leben Sie wohl, mein Freund. Sie würden mich überaus beruhigen, wenn Sie heute zu uns kämen.

W. D.

14. August.

 

Makar Alexejewitsch!

Was ist mit Ihnen los? Sie fürchten wohl Gott nicht mehr! Sie machen mich ja ganz verrückt. Schämen Sie sich denn gar nicht? Sie richten sich zugrunde, denken Sie doch an Ihr Ansehen! Sie sind ein ehrenhafter, anständiger und strebsamer Mensch – was werden die Leute jetzt sagen! Sie müßten ja vor Schande vergehen! Tut es Ihnen um Ihre grauen Haare nicht mehr leid? Dann fürchten Sie wenigstens Gott! Fedora sagt, jetzt werde sie Ihnen nicht mehr helfen und auch ich werde Ihnen kein Geld mehr geben. – Was haben Sie mir angetan, Makar Alexejewitsch! Sie glauben wohl, daß es mir egal ist, wenn Sie sich so schlecht aufführen; Sie wissen ja noch gar nicht, was ich Ihretwegen erdulden muß! Ich wage es nicht einmal mehr, mich auf unserer Treppe zu zeigen: alle sehen mir nach, man zeigt mit Fingern nach mir und spricht so schändliche Dinge; man sagt nachgerade, daß ich »mit einem Säufer ein Verhältnis habe«. Das hört sich gut an! Wenn Sie nach Hause gebracht werden, dann sagen alle vor Verachtung: da bringt man wieder diesen Beamten. Indessen aber kränke ich mich zu Tode. Ich schwöre Ihnen, daß ich von hier übersiedeln werde. Ich gehe eher irgendwohin als Stubenmädchen oder Wäscherin, aber hier bleibe ich nicht. Ich habe Ihnen geschrieben, Sie mögen zu mir kommen, aber Sie kamen nicht. Also, Ihnen liegt nichts an meinen Tränen und Bitten, Makar Alexejewitsch! Und woher haben Sie das Geld verschafft? Um Himmelswillen, hüten Sie sich! Sonst verkommen Sie, ganz bestimmt werden Sie verkommen! Und welche Schande, welche Schmach! Gestern wollte Sie Ihre Hausfrau nicht mehr eintreten lassen und Sie haben im Hausflur übernachtet: ich weiß alles. Wenn Sie wüßten, wie mir zumute war, als ich dies alles erfuhr. Kommen Sie zu mir, Sie werden hier Heiterkeit finden: wir wollen gemeinsam lesen, werden alte Erinnerungen auffrischen. Fedora wird von ihren Wallfahrten erzählen. Mir zuliebe, mein Teuerster, richten Sie nicht sich und mich zugrunde. Ich lebe doch nur für Sie und nur Ihretwegen verbleibe ich. Und so benehmen Sie sich! Seien Sie ehrsam, willensstark in all diesem Unglück; bedenken Sie, daß Armut keine Schande ist. Warum verzweifeln? Das wird alles vorübergehn! So Gott will, wird alles wieder gut, bloß beherrschen müssen Sie sich jetzt! Ich sende Ihnen zwanzig Kopeken, kaufen Sie sich Tabak oder was immer Ihnen beliebt, bloß geben Sie dieses Geld um Gottes willen nicht für Schlechtes aus. Kommen Sie zu uns, unbedingt. Vielleicht werden Sie sich wie damals schämen, aber das ist nicht notwendig: es wäre falsche Scham. Wollten Sie bloß aufrichtig bereuen. Haben Sie Vertrauen zu Gott. Er wird alles zum besten wenden.

W. D.

19. August.

 

Warwara Alexejewna, meine Liebste!

Ich schäme mich, mein Sternchen, Warwara Alexejewna, ich vergehe vor Schande. Übrigens, was ist denn daran so Absonderliches, meine Teuerste? Warum sollte ich mir das Herz nicht erleichtern? Und so denke ich nicht mehr an meine Stiefelsohlen, denn eine Stiefelsohle ist und bleibt immer nichts als eine einfache, gewöhnliche schmierige Stiefelsohle. Und Stiefel sind ebenfalls Unsinn! – Und wenn die griechischen Weisen ohne Stiefel gehen konnten, warum soll ich mich also mit derart minderwertigem Zeug befassen? Warum beleidigt sein und warum mich in so einem Falle verachten? Ach, Warinka, meine Liebste, jetzt haben sie Stoff zum Schreiben gefunden! Und Fedora sagen Sie, daß sie ein nichtsnutziges Frauenzimmer ist, verrückt, unstet und dazu noch dumm! Was aber meinen Graukopf anbelangt, irren Sie sich gewaltig, meine Teuerste, denn ich bin durchaus noch nicht so ein Greis wie Sie glauben. Jemelja läßt Sie grüßen. Sie schreiben, daß Sie sich gekränkt und geweint haben; und ich schreibe Ihnen, daß auch ich mich gekränkt und geweint habe. Und so wünsche ich Ihnen zum Schluß beste Gesundheit und Wohlbefinden und was mich anbelangt, bin ich auch gesund und wohlbehalten und bleibe, mein Engelchen, Ihr Freund

Makar Djewuschkin.

21. August.

 

Liebstes Fräulein und beste Freundin Warwara Alexejewna!

Ich fühle meine Schuld, ich fühle, wie viel Sie mir verzeihen müssen, aber meiner Ansicht nach nützt es mir gar nichts, meine Liebste, daß ich das alles fühle, es nützt wirklich nichts. Schon früher habe ich das alles gefühlt und trotzdem bin ich bei vollem Bewußtsein zu Fall gekommen. Meine Liebste, ich bin weder gefühllos noch roh; um aber Ihr Herzchen zu zerreißen, mein Täubchen, müßte man nicht mehr und nicht weniger sein als ein blutrünstiger Tiger, nun habe ich aber das Herz eines Lammes und bin, wie Sie wissen, zur Blutrünstigkeit nicht veranlagt; folglich, mein Engelchen, bin ich nicht ganz an meinem Fehltritt schuldig, ebensowenig wie mein Herz und meine Gedanken; ich bin schon so und ich weiß auch nicht, wer eigentlich die Schuld trägt. Das ist schon so eine dunkle Angelegenheit, meine Liebste. Sie haben mir dreißig Kopeken geschickt, und dann noch zwanzig; mein Herz blutete, als ich Ihr Waisengeld betrachtete. Sie selbst haben sich das Händchen verbrannt, werden bald hungern, aber Sie schreiben, ich solle mir Tabak kaufen. Nun, was soll ich eigentlich tun? Soll ich etwa, ohne mir Gewissensbisse zu machen, wie ein richtiger Räuber, Sie, ein Waisenkindlein, auszurauben beginnen? Mein Mut ist gesunken, meine Liebste, das heißt, ich fühlte zunächst unwillkürlich, daß ich zu gar nichts tauge und selbst bloß um ganz weniges besser bin, als meine Stiefelsohle, war sogar der Ansicht, daß es unanständig ist, mich für irgend etwas von Bedeutung zu halten, im Gegenteil. Ich begann, mich als etwas Unanständiges, in verschiedener Hinsicht sogar Niedriges zu erkennen. Nun und da ich die eigentliche Achtung vor mir selbst begraben habe, und meine guten Eigenschaften verneinte, meine Menschenwürde verleugnete, war ja eigentlich ohnedies alles schon verloren und da kam dieser unvermeidliche Sturz! Das war mir schon so vom Schicksal bestimmt und daran bin ich nicht schuld. Zunächst ging ich aus, um mich ein wenig zu erfrischen, da kam aber eines zum anderen: auch die Natur war so tränenreich, das Wetter kalt, es regnete. Dazu begegnete mir noch Jemelja. Er hat schon alles versetzt, Warinka, was er besaß, nun stand er ohne alles da und als ich ihm begegnete, hatte er schon zwei Tage kein Körnchen Nahrung im Munde gehabt, so daß er bereits solche Dinge versetzen wollte, die man gar nicht mehr versetzen kann, da man derlei gar nicht als Pfand nimmt. Nun, Warinka, aus menschlichem Mitleid gab ich nach – mehr als aus eigenem Verlangen. So also ist es zu dieser Sünde gekommen, meine Teuerste, wir weinten gemeinsam, gedachten Ihrer. Er ist ein guter Kerl, ein sehr braver Mensch und durchaus gefühlswarm. Ich, meine Liebste, ich fühle das alles; und darum ist alles auch so gekommen, weil ich alles fühlte. Ich weiß, wie sehr ich Ihnen, mein Täubchen, verpflichtet bin! Da ich Sie kennen lernte, begann auch ich mich selbst besser zu erkennen und Sie zu lieben. Bis zu dieser Zeit, mein Engelchen, war ich einsam und schien zu schlafen, ich lebte gar nicht auf der Erde. Die bösen Leute aber, die meinten, selbst meine Erscheinung sei unwürdig, und die sich meiner schämten, ja, sie waren es, die mich wirklich so weit brachten, daß ich daran glaubte und als Sie sich mir zeigten, wurde mein Leben licht, das Dunkel schwand, in Herz und Seele zog helle Freude ein, ich lernte den inneren Frieden kennen und erkannte, daß auch ich nicht schlechter war als die anderen Menschen. Ich weiß trotzdem, daß ich durch nichts hervorrage, keine guten Manieren, keine gute Haltung habe, dennoch aber bin ich ein Mensch, mit meinem Herzen und allen meinen Gedanken. Nun und jetzt, da ich fühlte, wie mich das Schicksal verfolgte, erniedrigte, als ich es geschehen ließ, daß ich selbst mein Ansehen vernichtete, unter der Wucht meines Unglücks dahinsank, verlor ich allen Mut. Da Sie nun alles wissen, meine Liebste, flehe ich Sie unter Tränen an, mich nicht mehr über diese Sache zu befragen, da mein Herz ohnedies schon zerrissen und mir so bitter und weh zumute ist.

Seien Sie, meine Teuerste, meiner Hochachtung versichert und so verbleibe ich Ihr treuer

Makar Djewuschkin.

3. September.

Ich habe den letzten Brief nicht beendet, Makar Alexejewitsch, denn das Schreiben fiel mir schwer. Mitunter habe ich Minuten, wo es mir wohltut, allein zu sein, allein meiner Trauer nachzuhängen, mich allein zu quälen, ganz für mich, und diese Minuten kommen nunmehr immer öfter. In meinen Erinnerungen finde ich jetzt etwas Unerklärliches, etwas, das mich, ohne Widerstand zu dulden, gefangen nimmt, so stark, daß ich stundenlang stumpf bleibe gegen meine ganze Umgebung und so fühle ich, wie alle Gegenwart um mich herum versinkt. In meinem jetzigen Leben empfange ich keinerlei Eindrücke, mögen sie angenehm, schwer oder traurig sein, die mich nicht an irgendetwas Ähnliches aus meinem früheren Leben erinnern, meist aber gedenke ich dabei meiner Kindheit, meiner goldenen Kindheit! Aber mir wird dabei immer so schwer ums Herz, wenn solche Augenblicke kommen. Ich bin ja so geschwächt; meine Schwärmereien erschöpfen mich und meine Gesundheit wird ohnedies immer schlechter und schlechter.

Aber der heutige frische, helle, glänzende Morgen, ein ganz seltener Herbstmorgen, hat mich neu belebt und freudvoll habe ich ihn begrüßt. Nun haben wir also schon Herbst! Wie sehr liebte ich ihn auf dem Lande! Ich war wohl noch ein Kind und dennoch fühlte ich damals schon vieles sehr stark. Im Herbst liebte ich den Abend noch mehr als den Morgen. Ich erinnere mich, bloß ein paar Schritte von unserem Hause, am Fuße eines Berges, lag ein See. Dieser See (mir ist, als habe ich ihn jetzt vor Augen) war breit, so hell und rein, wie ein Kristall! War der Abend ruhig, dann lag der See friedlich da, kein Blättchen rührte sich an den Bäumen, die um das Ufer standen, das Wasser lag still, ein einziger Spiegel, frisch, kühl! Über den Gräsern lag der Tau, in den Bauernhäusern entlang des Ufers flammten die Lichter auf, die Herden kehrten heim – und da schlich ich heimlich aus dem Hause, um nach meinem See zu schauen. So stand ich und verharrte in Betrachtung. Fischer haben dicht am Ufer Reisig angezündet und weithin leuchtet das Feuer im Spiegel des Wassers. Der Himmel ist kühl, blau und am Horizont stehen rote Ränder, feurige Streifen, die immer mehr und mehr verblassen; der Mond steigt auf. Die Luft ist so klar und ruhig, ein erschreckter Vogel fliegt auf oder man hört das leise Rauschen des Schilfes, das sich unter dem Hauch des Windes schaukelt, ein Fisch plätschert im Wasser – alles hört man. Über dem blauen Wasser steht weißer Nebel, fein, durchsichtig. In der Ferne dunkelt es; alles versinkt irgendwie im Nebel, in der Nähe aber sieht man alles scharf umrissen – ein Boot, das Ufer und die Insel. – Ein altes Faß, das man ins Wasser geworfen hat, am Ufer vergessen, schaukelt leise auf der Oberfläche, eine Weidenrute, trocken und mit verwelkten Blättern, liegt im Schilf – eine späte Möwe steigt in die Lüfte, taucht in das kühle Wasser, um neuerdings aufzufliegen und im Nebel zu verschwinden – ich versinke in Betrachtung, horche – wie wundervoll war dies alles! Und ich war doch nur ein Kind ...

Ich liebte so sehr den Herbst, den Spätherbst, wo das Korn schon eingebracht, die Feldarbeiten zu Ende sind, wo man abends in den Bauernhäusern zusammenrückt und alle schon auf den Winter warten. Dann wird es immer dunkler, der Himmel bedeckt sich mit Wolken, das welke Laub fällt von den Bäumen, der Wald wird gelb, dunkel und kahl – insbesondere abends, wenn feuchter Nebel aus der Dunkelheit steigt, man glaubt dann Riesen, Gespenster und furchtbare Erscheinungen zu sehen, verspätet man sich während des Spazierganges und bleibt hinter den anderen zurück, dann beeilt man sich, sie einzuholen – es ist so angsterregend! Man zittert wie ein Blatt, glaubt, daß sich hinter jedem Baumstamm etwas Furchtbares verberge, um im nächsten Augenblick hervorzuspringen. Dazu fährt der Wind durch den Wald, es braust und rauscht, der Wald heult klagend auf, Blätter wirbeln durcheinander, mit pfeifendem Lärm, und da zieht plötzlich gellend laut mit wildem Geschrei ein Schwarm Vögel auf, der Himmel verdunkelt sich noch mehr, wird ganz bedeckt. Man bekommt Angst und es scheint, als höre man ganz genau irgend eine Stimme flüstern: »Flieh, flieh Kind, verspäte nicht, hier wird es gleich ganz schrecklich sein, flieh Kind!« – Das Herz wird voll Entsetzen und man läuft ohne Unterlaß atemlos bis nach Hause. Dort ist's munter und fröhlich; jedes Kind bekommt irgendeine Arbeit zugewiesen: Erbsen oder Mohn enthülsen. Das feuchte Holz prasselt im Ofen; lächelnd sieht uns Mutter bei der lustigen Arbeit zu; Uljana, die alte Kinderfrau, erzählt von alter Zeit und schaudervollen Märchen über Zauberer und Räuber. Wir Kinder rücken zitternd näher aneinander und doch ist Lächeln um unser aller Lippen. Und plötzlich schweigen wir alle ... Ha, was für ein Lärm? Als hätte jemand geklopft! – Aber es war nichts. Das Spinnrad der alten Frolowna surrt bloß; wie laut lachen wir da alle auf! Dann aber, nachts, schlafen wir alle vor Angst nicht, denn schreckliche Träume steigen auf. Morgens jedoch, beim Erwachen, wagt man kaum, sich zu rühren und liegt bis zum Morgengrauen zitternd unter der Decke. Frisch wie eine Blume erhebt man sich des Morgens. Man blickt durchs Fenster: Reif bedeckt das ganze Feld, wie dünnes Gras liegt Eis auf der Seeoberfläche und munter zwitschern die Vögel. Sonne leuchtet ringsum, hell, strahlend; mit ihrer Wärme bricht sie die Eisdecke wie dünnes Glas entzwei. Hell, klar und munter ist's draußen! Wieder prasselt das Feuer im Ofen; wir setzen uns alle um den Samowar und durch das Fenster äugt unser schwarzer Hund Polkan, freundlich mit dem Schweife wedelnd, ein Bäuerlein fährt mit einem munteren Pferde an unserem Fenster vorbei, nach dem Walde, um Holz zu holen. Alle sind so zufrieden, so munterer Stimmung ... In den Schobern häufen sich Berge von Korn und in der Sonne glänzt golden das Strohdach der großen Scheune; es ist eine Wonne, das alles zu betrachten! Und alle sind so friedlich, so froh: alle danken Gott für seinen Segen, alle wissen, daß für den Winter Brot unter dem Dache ist; der Bauer weiß, daß die Seinen und die Kinder zu essen haben werden und deshalb ertönen abends die Lieder der Mädchen, Reigentänze flattern durch den Raum und an den Feiertagen erhebt sich unter Freudentränen das Gebet zu Gott! ... Ach, wie unsäglich golden war doch meine Kindheit! ...

Nun habe ich sogar wie ein Kind geweint, da ich mich diesen Erinnerungen hingegeben habe. Ich habe mich so überaus lebendig dieser Betrachtung hingegeben, alles Vergangene ist so deutlich und lebendig vor mir gestanden und die Gegenwart – ist trübe und dunkel! ... Wie wird das enden, wie wird das alles enden? Wissen Sie, ich habe so ein Vorgefühl, ich bin so überzeugt davon, daß ich diesen Herbst sterben werde. Ich bin sehr, sehr krank. Ich denke oft daran, dennoch möchte ich nicht so sterben – in dieser Erde hier liegen. Vielleicht werde ich wieder bettlägerig, wie damals im Frühling, da ich mich ja noch nicht erholen konnte. Ich fühle mich jetzt sehr schlecht. Fedora ist irgendwohin gegangen, für den ganzen Tag, nun, so sitze ich allein da. Und seit einiger Zeit fürchte ich mich, allein zu bleiben; es scheint mir immer, als wäre noch jemand mit mir im Zimmer, der mit mir spricht, besonders, wenn ich mich in Gedanken verloren habe und plötzlich aus diesen Träumereien erwache. Dann wird mir ganz ängstlich. Darum auch habe ich Ihnen einen so langen Brief geschrieben; wenn ich schreibe, vergeht das. Leben Sie wohl, ich beende meinen Brief, da mir weder Papier noch Zeit geblieben ist. Von dem Gelde, das ich für meine verkauften Kleider und für den Hut bekommen habe, ist mir nur mehr ein Rubel geblieben. Sie haben Ihrer Hausfrau zwei Rubel gegeben; das war sehr gut; nun wird sie wenigstens eine Zeitlang schweigen. Bringen Sie irgendwie Ihre Kleider in Ordnung. Leben Sie wohl; ich bin so müde; ich verstehe nicht, wovon ich so schwach geworden bin. Die kleinste Beschäftigung ermattet mich. Wenn ich nun Arbeit bekomme! Wie soll ich arbeiten? Das schlägt mich ganz und gar nieder.

W. D.

5. September.

 

Mein Täubchen Warinka!

Heute habe ich sehr viele Eindrücke bekommen, mein Engelchen. Erstens hat mich den ganzen Tag lang der Kopf geschmerzt. Um mich irgendwie zu erfrischen, bin ich die Fontanka entlang gegangen. Der Abend war so finster, so feucht. Es dunkelt schon um sechs Uhr – so eine Zeit haben wir! Es hat nicht geregnet, dafür aber war es nebelig, nicht besser, als hätte es geregnet. In langen breiten Streifen zogen dunkle Wolken über den Himmel. Eine Unmasse von Menschen ging entlang der Uferanlagen, es schien als hätten alle absichtlich so schreckliche Gesichter geschnitten, als wollten sie mich schwermütig machen, betrunkene Männer, stumpfnasige finnische Weiber in Stiefeln und barhäuptig, Handwerker, Kutscher und allerlei herumtreibendes Volk, irgendein Schlosserlehrjunge in gestreiftem Arbeitsmantel, ein dünner, schwindsüchtiger Junge mit einem Gesicht, das in fetten Ruß getaucht schien, in der Hand ein Schloß, ein ausgedienter Soldat, riesengroß, der kleine Federmesser und bronzene Ringlein zum Verkauf darbietet – so war dieses Publikum. Um diese Zeit konnte sich wahrscheinlich gar niemand anderer zeigen. Wie breit ist doch dieser Kanal Fontanka! Die Schiffe aber sind so groß, daß ich gar nicht verstehen kann, wie so viele von ihnen hier durchfahren können. Auf den Brücken sitzen bucklige Weiber mit feuchten Pfefferkuchen und faulen Äpfeln und alles ist so schmierig um diese häßlichen Frauenzimmer. Langweilig ist so ein Spaziergang entlang der Fontanka! Der nasse Granit unter den Füßen, zu beiden Seiten die hohen, dunklen rauchgeschwärzten Häuser, unter den Füßen Nebel, zu Häupten ebenfalls Nebel. Es war so ein trauriger, dunkler Abend heute.

Als ich in die Gorochowaja Straße einbog, wurde es schon ganz dunkel und man zündete die Gaslaternen an. Schon lange war ich nicht mehr auf der Gorochowaja – es hatte sich nicht so ergeben. Eine lebendige Straße! Was für Geschäfte und reich eingerichtete Kaufläden! Alles glänzt so, leuchtet, Stoffe, Blumen unter Glas, allerhand Hüte mit Bändern. Man glaubt, es wäre alles nur um der Schönheit willen ausgestellt – aber dem ist nicht so: es gibt wirklich Menschen, die all das kaufen und ihren Frauen schenken. Eine reiche Straße! Auf dieser Gorochowaja haben viele deutsche Bäcker ihre Läden; auch sie müssen genug reich sein. Wie viele Fahrzeuge alle Augenblicke vorüberkommen! Wie das Pflaster das bloß aushält! Elegante Kutschen, mit Glasscheiben wie Spiegel, innen Samt und Seide. Die Lakaien livriert, mit Tressen und Degen. Ich betrachtete alle diese Equipagen und überall saßen Damen, elegant gekleidet, vielleicht Fürstinnen und Gräfinnen. Es war allerdings gerade die Zeit, wo alle auf Bälle und zu Festlichkeiten fahren. Es muß interessant sein, eine Fürstin oder überhaupt eine Dame in der Nähe zu sehen: sehr schön muß das sein; ich habe noch niemals eine gesehen; höchstens so wie heute, in der Equipage. Und da erinnerte ich mich Ihrer. Ach, mein Täubchen, meine Teuerste, wie ich mich so Ihrer erinnere, scheint mir das Herz zu brechen! Warum sind Sie denn so unglücklich, Warinka? Mein Engelchen! Warum sollten Sie schlechter sein als die anderen? Sie sind ja so gut, so schön, so gebildet; warum ist gerade Ihnen von der Vorsehung ein so bitteres Schicksal beschieden? Warum ist es so eingerichtet, daß so ein guter Mensch in Elend und Jammer leben muß, während sich anderen das Glück förmlich aufdrängt? Ich weiß, ich weiß, meine Liebste, es ist nicht schön, so zu denken, das ist freidenkerisch; aber wenn man offen und ehrlich sein will, warum wird dem Einen schon im Schoß der Mutter sorgloses Glück für das Leben vorbereitet, während der andere aus dem Findelhaus in die Welt Gottes schreiten muß? Und doch kommt es vor, daß das Glück mitunter einem kleinen Narren Iwanuschka Märchenheld, Anm. d. Übers. in den Schoß fällt. Ah, du kleiner Narr Iwanuschka, wühle in den Säcken deiner Väter, iß, trink, freu dich des Lebens, und Du Irgendwer, Niemand, Du, laß Dir bloß das Wasser im Munde zusammenlaufen; Du hast nicht mehr verdient, ja, so einer bist Du, Brüderchen! Es ist Sünde, so zu denken, meine Teuerste, gewiß ist es Sünde, aber diese Sünde drängt sich mir unwillkürlich auf. Da könnten Sie in so einer Equipage fahren, mein Sternchen, meine Liebste! Generale würden trachten, einen wohlwollenden Blick von Ihnen zu erhaschen – aber nicht so einer wie ich. Sie würden nicht mehr in Ihrem Leinenkleidchen einhergehen, alt und abgenutzt, sondern in Seide und Goldschmuck. Sie wären nicht mager und leidend wie jetzt, sondern wie eine Zuckerpuppe, frisch, rosig und voll. Dann wäre ich wohl voll des Glückes, selbst wenn ich bloß von der Straße zu den hellerleuchteten Fenstern aufblicken dürfte, wo ich manchmal Ihren Schatten sehen könnte, beim bloßen Gedanken, daß Sie dort glücklich und frohen Mutes sind, Sie mein Bestes, schönstes Vögelchen, würde mir ganz glücklich ums Herz werden. Jetzt dagegen! Nicht bloß, daß böse Menschen Sie verderben, beleidigt Sie noch zum Überfluß irgend so ein Schuft. Darf er sich darum Frechheiten erlauben, weil er einen eleganten Rock hat und Sie durch eine goldumränderte Lorgnette betrachten kann, dieser schamlose Kerl? Und darf er Ihnen deshalb alle möglichen schamlosen Worte sagen, die man noch untertänig mitanhören soll? Ist das etwa gerecht, mein Täubchen, wie kommt er dazu? Nur deshalb, weil Sie eine Waise sind, schutzlos, deshalb, weil Sie keinen starken Freund haben, der Sie beschirmen könnte. Was ist das für ein Mensch, was sind das für Leute, die sich nichts daraus machen, eine Waise zu beleidigen? Das sind eben Schurken und nicht Menschen, einfach Schurken; sie alle zusammengenommen, sind ein Nichts, das bloß gezählt wird, eine Sache, weiter nichts, davon bin ich überzeugt, so sind sie, diese Leute. Nach meiner Ansicht, meine Teuerste, verdient es jener Leiermann, dem ich heute auf der Gorochowaja begegnete, eher, geachtet zu werden, als jene Leute. Er geht den ganzen Tag herum, beschwerlich, wartet auf Gaben, armselige Groschen für seinen Unterhalt, doch ist er sein eigener Herr, ernährt sich selbst. Er will nicht um Almosen betteln; darum dreht er zur Unterhaltung der Leute seinen Leierkasten wie eine aufgezogene Maschine – das heißt, so gut er kann, bereitet er Vergnügen. Er ist arm, arm wie ein richtiger Bettler und bleibt immer arm, das ist richtig, aber er ist ein ehrenhafter armer Mensch; er ist müde, hinfällig und bemüht sich trotzdem, arbeitet auf seine Art, aber er arbeitet. Und so gibt es viele anständige Leute, meine Liebste, die, nach dem Verdienst, das ihnen gebühren würde, nicht entsprechend viel Geld erarbeiten, aber sie brauchen sich vor niemandem beugen, niemanden um Brot bitten. Ich bin auch so einer, wie dieser Leiermann, das heißt ich bin selbstverständlich ganz anders als er, aber in gewisser Beziehung, durchaus ehrenhaft, was die gesellschaftliche Stellung anbelangt, bin ich genau so wie er, ich leiste, was ich kann. Das ist allerdings nichts Bedeutendes, aber besser als nichts. Ich habe deshalb von dem Leiermann gesprochen, weil ich heute auf diese Weise meine Armut doppelt stark zu spüren bekam. Ich blieb stehen und betrachtete den Leiermann. Es kamen mir allerhand Gedanken in den Kopf und deshalb war ich stehengeblieben, um mich abzulenken. Und so stehe ich, neben mir einige Kutscher, ein Mädchen, dann noch ein kleineres Mädchen, sehr schmierig. Der Leiermann hatte sich vor das Fenster irgendwelcher Leute gestellt. Da sehe ich einen Knirps, etwa zehn Jahre alt: er wäre ein hübscher Junge gewesen, bloß machte er einen so kranken, schwindsüchtigen Eindruck, hatte bloß ein Hemdchen an und stand da, barfuß, lauschte mit offenem Munde – Kindheit! Er betrachtete die tanzenden Puppen auf dem Leierkasten, während seine Hände und Füße schon ganz blau anliefen und er vor Kälte am ganzen Körper zitterte und an dem Zipfel seines Ärmels nagte. Ich bemerkte, daß er in den Händen irgendein Papierchen hielt. Ein vorübergehender Herr warf dem Leiermann eine kleine Münze zu; sie fiel auf die Gemüsekiste, auf der die beiden Puppen tanzten, ein Franzose mit seinen Damen. Kaum klapperte die Münze, da fuhr der Junge auf, blickte schüchtern um sich und dachte offenbar, daß ich es war, der das Geld geworfen hatte. Er lief auf mich zu, seine Händchen zitterten, die dünne Stimme zitterte, dann streckte er mir das Papierchen hin und sagte »Nehmen Sie, bitte«. Ich entfaltete das Papier – nun, man weiß ja – mein Wohltäter, die Mutter meiner drei Kinder, die hungern, stirbt, helfen Sie uns jetzt, und wenn ich sterbe, werden meine Kinder nie vergessen, was Sie getan haben und im Jenseits selbst werde ich Sie, meinen Wohltäter, nicht vergessen –. Nun, die Sache war klar, alltäglich, aber was sollte ich ihnen geben? Und so gab ich gar nichts. Aber wie leid tat er mir! Dieser arme, kleine, ganz blau angelaufene Knabe, vielleicht ist er so hungrig, er lügt nicht, bestimmt lügt er nicht; ich kenne das. Es ist bloß nicht gut, daß diese schlechten Mütter ihre Kinder nicht schonen und bei solcher Kälte halbnackt ins Freie schicken. Wer weiß, was für ein dummes Weib ohne Charakter die Mutter dieses Knaben ist! Sie kennt ihre Pflicht nicht, kein Mensch kümmert sich um sie und so sitzt sie daheim ganz müßig, vielleicht ist sie aber wirklich krank. Nun, sie könnte sich aber doch an Stellen wenden, die für solche Dinge zuständig sind. Oder ist sie vielleicht ganz einfach eine Betrügerin, die absichtlich ein hungriges schwindsüchtiges Kind hinausschickt, um die Leute zu täuschen, bis das Kind wirklich stirbt. Wozu wird der arme Junge mit derlei Zetteln erzogen? Sein Herz wird bloß grausam; er geht, wandert umher, bettelt, es gehen Leute an ihm vorüber, aber er ist nicht da für sie. Ihr Herz ist aus Stein. Ihre Rede hart. »Fort! Troll dich! Gassenjunge!« Das ist es, was er von allen hört. Das Herz des Kindes krampft sich zusammen und vergebens zittert der arme verschüchterte Junge vor Kälte, mit einem Wort: ein Vöglein, das aus einem zerbrochenen Nest gefallen ist, Hände und Füße werden starr; sein Atem beginnt schneller zu gehen, im Nu hustet er schon; und es dauert nicht lange, da kriecht Krankheit wie ein schmutziger Wurm in seine Brust, bohrt dort und schon steht der Tod hinter ihm, irgendwo, in einem schmutzigen Winkel, ohne Wartung, hilflos stirbt er – so war sein ganzes Leben! So kann das Leben aussehen! Ach, Warinka, es ist quälend, dieses »Um Christi willen« hören und vorübergehen zu müssen, ohne geben zu können, sondern sagen zu müssen: »Gott wird geben.« So manches »Um Christi willen« wäre noch zu ertragen. (Und es gibt ja verschiedene »Um Christi willen«, meine Liebste!) So manches wird langgezogen, gewohnheitsmäßig, eingeübt, einfach nach Bettlerart gesprochen; da ist es nicht so quälend, nicht zu geben, das sind Bettler von Beruf, hart, handwerksmäßig. Man denkt, der kommt darüber schon hinweg, er versteht sich darauf. Aber manches »Um Christi willen« kommt ungeübt, heiser, fürchterlich – so wie heute, als ich von dem kleinen Jungen das Papier genommen habe, da stand dort am Zaun irgendeiner, ganz abseits und er bat nicht alle, die vorüberkamen, zu mir jedoch sagte er: »Gib einen Groschen Herr, um Christi willen«, aber es war eine so abgerissene hohle Stimme, daß ich zusammenfuhr, so furchtbar war der Eindruck. Und ich gab ihm nichts: denn ich hatte nichts. Und da gibt es noch reiche Leute, die es nicht lieben, daß sich die Armen über ihr schweres Schicksal beklagen – sie belästigen einen, sagen sie, sie sind aufdringlich! Ja, Armut ist immer aufdringlich: das Stöhnen der Hungrigen stört diese Reichen wohl im Schlafe!

Ich muß Ihnen gestehen, meine Teuerste, daß ich teilweise nur deshalb von diesen Dingen zu schreiben begann, weil ich mir das Herz erleichtern wollte, teils aber auch deshalb, um Ihnen eine kleine Probe meines Stils zu zeigen. Denn Sie selbst werden sicherlich bemerkt haben, meine Liebste, daß sich mein Stil während der letzten Zeit zu formen beginnt. Nun aber bin ich derart in kummervolle Phrasen verfallen, daß ich bereits selbst in meinen Gedanken beginne, Mitgefühl zu empfinden, auch wenn ich sehr gut weiß, meine Liebste, daß man mit diesem Mitgefühl nichts erreicht, aber in einiger Hinsicht wird man sich selbst auf diese Weise doch gerecht. Wahrhaftig, meine Teuerste, ganz grundlos erniedrigt man sich oft, hält sich für weniger, als einen Groschen, als ein Spänchen Holz. Und wenn man bildlich spricht, kommt das vielleicht daher, daß ich selbst verschüchtert und verängstigt bin, gerade so wie dieser arme Junge, der mich um eine milde Gabe bat. Nun werde ich Ihnen bildlich Verschiedenes erzählen, gewissermaßen wie in einem Gleichnis; also hören Sie, meine Liebste: frühmorgens, wenn ich mich beeile, um rechtzeitig ins Amt zu kommen, da ereignet es sich mitunter, daß ich in den Anblick der Stadt versinke, wie sie allmählich erwacht, aufsteht, zu rauchen, sieden und donnern beginnt. – Da wird man angesichts dieses Schauspiels ganz klein, als hätte man von irgend jemandem einen Nasenstüber auf seine neugierige Nase bekommen und so schleppt man sich leise weiter, kleinlaut, zieht sich ganz in sich zusammen und läßt die Arme schlenkern. Und nun betrachten Sie einmal diese schwarzen, rußigen großen Häuser, was dort alles vorgeht, forschen Sie darüber nach und dann urteilen Sie selbst, ob es richtig war, sich so sinnlos derart nieder einzuschätzen und so unwürdig einschüchtern zu lassen. Bedenken Sie, Warinka, daß ich nur bildlich spreche, nicht im vollen Sinne des Wortes. Nun, betrachten wir einmal, was in diesen Häusern vorgeht. Dort ist zum Beispiel in irgendeiner rußigen Ecke, in einem feuchten Keller, der gerade zur Not noch als Wohnung für Menschen bezeichnet werden kann, eben irgendein Handwerker vom Schlaf erwacht; und im Schlaf hat ihm, beispielsweise, die ganze Nacht lang von einem Paar Stiefel geträumt, die er gestern aus Versehen verschnitten hat, als hätte der Mensch nichts besseres, wovon er träumen könnte, als solchen Blödsinn! Nun, er ist schließlich Handwerker, Schuster: es ist naheliegend, daß er sich in Gedanken immer mit diesen Dingen beschäftigen wird. Er hat kleine Kinder und eine hungrige Frau; und nicht bloß die Schuster erwachen so, meine Teuerste, das ginge noch an, es stünde nicht dafür, darüber zu schreiben. Aber sehen Sie einmal, was für bemerkenswerte Dinge da ans Tageslicht kommen. Ebendort, in demselben Hause, bloß ein Stockwerk höher, erscheinen einem sehr reichen Menschen in seinem prunkvollen Schlafzimmer im Traume vielleicht eben dieselben Stiefel, das heißt, selbstverständlich andere Stiefel, von anderer Form, aber immerhin Stiefel, denn, was den Sinn meines Gleichnisses anbelangt, meine Teuerste, sind wir ja irgendwie alle ein wenig solche Schuster. Das wäre aber noch nichts, das wäre nicht so schlimm, schlimm ist bloß, daß dieser Reiche gar niemanden neben sich hat, der ihm etwa ins Ohr flüstern könnte: »Was hat das für einen Sinn, daran zu denken, du bist ja nicht etwa ein Schuster, deine Kinder sind gesund, deine Frau ist auch satt, blicke um dich, vielleicht findest du etwas Höheres, worum du dich sorgen kannst, als deine Stiefel!« Das ist es, was ich Ihnen sozusagen durch ein Gleichnis erklären wollte, Warinka. Dies ist vielleicht ein allzu freier Gedanke, meine Teuerste, aber mitunter tauchen solche Gedanken auf und unwillkürlich drängen sie sich in einem heißen Wort aus dem Herzen. Und deshalb sage ich: es ist grundlos, sich selbst so gering einzuschätzen, weil man ja doch bloß von Lärm und Getöse eingeschüchtert wird. Ich schließe damit, meine Liebste, daß Sie nicht denken mögen, was ich hier erzähle, sei bösartige Verdrehung, oder ich wollte Grillen fangen, oder gar, ich hätte dies alles aus irgendeinem Buche abgeschrieben – nein, meine Teuerste, seien Sie überzeugt davon, es ist nicht so, ich würde mich auf derlei gar nicht verstehen, ich kann nichts verdrehen und keine Grillen fangen und abgeschrieben habe ich schon gar nicht, so ist das!

In sehr trauriger Stimmung kam ich nach Hause, setzte mich an den Tisch, wärmte meine Teekanne, wollte ein, zwei Gläschen Tee trinken. Plötzlich tritt Gorschkow, unser armer Mieter, ein. Ich hatte schon morgens bemerkt, daß er sich in der Nähe der Zimmertüren zu schaffen machte und auch gegen mich zu Bewegungen machte. Ich muß nebenbei bemerken, meine Liebste, daß die Lage dieser Familie unvergleichlich schlechter ist als die meinige. Frau und Kinder! Also, wäre ich Gorschkow, ich weiß wahrhaftig nicht, was ich an seiner Stelle schon getan hätte! Nun, da kam Gorschkow zu mir ins Zimmer, verneigte sich, wie stets hatte er seine kleine Träne im Auge, er scharrt irgendwie mit den Füßen, vermag aber nicht, ein einziges Wort hervorzubringen. Ich lud ihn zum Sitzen ein – der Stuhl, den ich ihm anbot, war allerdings zerbrochen, aber ich hatte keinen anderen. Lud ihn zum Tee ein. Er entschuldigte sich, lange und umständlich, endlich nahm er an. Er wollte den Tee ohne Zucker trinken, begann neuerdings, sich zu entschuldigen, als ich ihm versicherte, er müsse unbedingt Zucker nehmen. Er zögerte lange, weigerte sich, bis er endlich das kleinste Stückchen in sein Glas warf, indem er versicherte, der Tee sei außergewöhnlich süß. Ach, wie weit erniedrigt doch die Armut den Menschen! – »Nun, was gibt es, Väterchen?« sagte ich zu ihm. – »Ja, so und so, hm, Sie, mein Wohltäter Makar Alexejewitsch, haben Sie Erbarmen, schenken Sie mir und meiner unglücklichen Familie Ihren Beistand; Frau und Kinder hungern; und ich als Vater muß es mitansehen!« Ich wollte etwas sagen, aber er unterbrach mich: »Ich fürchte mich hier vor allen, Makar Alexejewitsch, das heißt, nicht daß ich mich fürchte, sondern wissen Sie, ich schäme mich, die Leute hier sind alle so stolz und unnahbar. Ich hätte Sie, Väterchen, bestimmt nicht belästigt, mein Wohltäter, ich weiß, daß Sie selbst Unannehmlichkeiten hatten, ich weiß, daß Sie nicht viel geben können, aber vielleicht könnten Sie mir doch etwas borgen; ich habe es nur deshalb gewagt, Sie um Hilfe zu bitten, weil ich Ihr gutes Herz kenne und weiß, daß Sie selbst Not gelitten haben, arm sind und mitfühlen können.« – Er schloß damit, daß er sagte »und so verzeihen Sie meine Zudringlichkeit und Unanständigkeit, Makar Alexejewitsch.« Ich antwortete, daß ich aus ganzer Seele helfen wollte, aber selbst nichts habe, einfach so gut wie nichts. – »Väterchen Makar Alexejewitsch,« sagte er, »ich bitte nicht um viel, ich meine ...« (und dabei wurde er ganz rot) »die Frau und die Kinder sind hungrig – vielleicht zehn Kopeken.« Nun, da krampfte sich mir das Herz schon ganz und gar zusammen, was war denn da ich noch gegen ihn! Ich hatte im ganzen noch zwanzig Kopeken und wollte sie morgen für unbedingt notwendige Dinge ausgeben. »Nein, mein lieber Freund, ich kann nicht, die Sache ist so und so.« – »Väterchen Makar Alexejewitsch, wenn es möglich wäre, vielleicht bloß zehn Kopeken«, nun, da griff ich in meine Koffer und gab ihm meine zwanzig Kopeken, meine Liebste, als gutes Werk! Oh, diese Armut! Dann sprach ich noch mit ihm: »Wie sind Sie denn so in Not geraten, Väterchen,« daß Sie aber dennoch in einem Zimmer wohnen, für das Sie monatlich fünf Rubel bezahlen müssen?« Er erzählte mir, daß er dieses Zimmer vor einem halben Jahr gemietet und für drei Monate im voraus bezahlt hatte; dann wurden aber seine Verhältnisse so, daß der Arme nicht mehr aus noch ein wußte. Außerdem hatte er noch eine unangenehme Sache. Er wartete auf das Ende eines Prozesses, der bald erledigt sein mußte. Diese Angelegenheit hatte er mit irgendeinem Kaufmann auszutragen, der sich Gaunereien bei staatlichen Lieferungen zuschulden kommen ließ; der Betrug wurde entdeckt, der Kaufmann verhaftet, worauf dieser Gorschkow mit in die Angelegenheit zog, der mitangeklagt wurde. Tatsächlich aber hatte sich Gorschkow nur Nachlässigkeiten zuschulden kommen lassen und ihm wäre höchstens vorzuwerfen gewesen, daß er die Vorteile des Staates nicht genügend gewahrt habe. Nun zieht sich diese Sache schon einige Jahre lang hin: es ergeben sich gegen Gorschkow alle möglichen Schwierigkeiten: »Man wirft mir Ehrlosigkeit vor, Betrug und Hehlerei, aber dieser Vergehen bin ich nicht schuldig, durchaus nicht!« sagt Gorschkow. Die Sache schadete ihm sehr, er wurde aus dem Dienst entlassen, obwohl man ihm nicht nachweisen konnte, daß er tatsächlich schuldig war, aber er hat eine immerhin ansehnliche Summe Geldes, das ihm gehört, durch den Prozeß nicht herausbekommen können, da ihm diese Summe von dem Kaufmann streitig gemacht wird. Ich glaube ihm, aber das Gericht glaubt ihm nicht. Es ist, wie gesagt, eine sehr verwickelte Angelegenheit, die man vielleicht nicht einmal in hundert Jahren entwirren kann. Haben sich endlich einige Tatsachen ergeben, verwirrt der Kaufmann die Sache von neuem. Ich nehme herzlich Anteil an Gorschkows Unheil, meine Teuerste; ich fühle mit ihm. Ein Mensch ohne Anstellung; ohne Hoffnung, irgendwo aufgenommen zu werden; was an Vorräten da war, ist aufgegessen. Die Sache ist verfahren, die Leute aber müssen leben und es kam eines zum anderen, durchaus zur Unzeit wurde ihnen noch ein Kind geboren, neue Ausgaben kamen hinzu, ein Sohn erkrankte, wieder Ausgaben, er starb – neue Ausgaben. Die Frau ist krank; er selbst leidet an irgendeiner schleichenden Krankheit: mit einem Worte: er leidet schrecklich. Übrigens sagt er, er erwarte in den nächsten Tagen eine günstige Entscheidung in seiner Sache, woran nicht mehr zu zweifeln sei. Er tut mir sehr, sehr leid, meine Liebste. Ich habe ihn sehr schonungsvoll behandelt. Er ist ganz verschüchtert und verängstigt; sucht Aufmunterung; und so habe ich ihn nach Kräften getröstet. Nun, leben Sie wohl, meine Teuerste, Christus sei mit Ihnen, bleiben Sie gesund, mein Täubchen! Wenn ich mich Ihrer erinnere, ist dies wie Arznei für meine kranke Seele, und wenn ich auch um Sie in Sorge bin, so wird mir dabei dennoch leichter. Ihr aufrichtiger Freund

Makar Djewuschkin.

9. September.

 

Meine liebste Warwara Alexejewna!

Ich schreibe Ihnen ganz außer mir. Ich bin noch ganz aufgeregt von diesem schrecklichen Vorfall. In meinem Kopfe dreht sich alles im Kreise. Ich fühle, wie sich um mich herum auch alles dreht. Ach, meine Teuerste, wie soll ich Ihnen das erzählen. Nein, das haben wir wirklich nicht vorausgesehen. Und doch, es kommt mir vor, als hätte ich es geahnt; ich habe alles vorausgeahnt. Alles habe ich in meinem Herzen gefühlt! Sogar im Traume habe ich etwas Ähnliches schon gesehen.

Nun, folgendes hat sich ereignet: ich erzähle Ihnen ohne besonderen Stil, sondern so, wie Gott es meiner Seele eingibt. Ich ging heute ins Amt. Komme hin, setze mich auf meinen Platz und schreibe. Sie müssen wissen, meine Liebste, daß ich abends ebenfalls geschrieben hatte. Nun, gestern kommt Timofej Iwanowitsch zu mir und sagt: »Hier ist ein dringendes Dokument. Schreiben Sie es ab, Makar Alexejewitsch, sauber, genau und sofort: es muß noch heute unterfertigt werden.« Hiezu muß ich Ihnen sagen, mein Engelchen, daß ich gestern gar nicht bei der Sache war, ich meine, ich wollte überhaupt nichts vor mir sehen; ich war in tiefe Trauer und Sorgen versunken! Mir war so kalt ums Herz und düster in der Seele; vor meinem Gedächtnis tauchten immer wieder Sie auf, mein armes Sternchen. Nun, so schickte ich mich an, das Dokument abzuschreiben; ich schrieb sauber, schön, bloß, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das genau erklären soll, ich war nicht ganz bei der Sache oder verfolgte mich irgendwie geheimes Schicksal, oder mußte es so kommen: ich ließ eine ganze Zeile aus; der ganze Sinn wurde gestört, weiß Gott wie, kurz, man konnte überhaupt nichts verstehen. Das Dokument wurde zu spät fertig und erst heute seiner Exzellenz zur Unterschrift vorgelegt. Als ob nichts geschehen wäre, kam ich heute zur gewohnten Stunde ins Amt und setzte mich neben Jemeljan Iwanowitsch. Ich muß Ihnen sagen, meine Teuerste, daß ich mich seit einiger Zeit noch mehr schämte und zu verbergen suchte als früher. Während der letzten Tage wagte ich überhaupt niemanden mehr anzusehen. Wenn bloß irgendwer mit dem Stuhle rückte, fühlte ich mich schon mehr tot als lebendig. Nun und heute saß ich ganz geduckt da, wie ein Igel, so daß Jefim Akimowitsch (der spöttischeste Mensch, den die Erde je gesehen hat) laut rief, so daß es alle hören konnten: »Ja, wie sitzen Sie denn da, Makar Alexejewitsch?« Dazu schnitt er eine Grimasse, daß alle, die in unserer Nähe saßen, sich nur so die Hüften hielten, derart lachten sie, selbstredend auf meine Rechnung. Dann ging es los! Ich versuchte, nichts zu hören, schloß die Augen und saß bewegungslos da, das tue ich immer in solchen Fällen; dann hören sie früher auf. Plötzlich höre ich Lärm, Schritte laufen näher, ich höre – täuschen mich meine Ohren? Man ruft mich, man verlangt mich, man ruft Djewuschkin. Das Herz bebte in meiner Brust und ich weiß selbst nicht mehr, wieso ich derart erschrak, wie nie bisher in meinem ganzen Leben. Ich klebte förmlich an meinem Sessel – war ganz außer mir. Da begann es wieder näher, immer näher. Ich höre schon ganz nahe bei meinen Ohren: »Djewuschkin! Djewuschkin! Wo ist Djewuschkin?« Ich schlage die Augen auf, vor mir steht Jewstafi Iwanowitsch; er sagt: »Makar Alexejewitsch, schnell zu Seiner Exzellenz! Was haben Sie da mit dem Dokument angestellt!« Bloß dies sagte er, aber das genügte mir, können Sie sich das vorstellen, meine Teuerste, daß mir das genügte? Ich erstarrte, schien zu sterben. Man führt mich durch ein Zimmer, durch ein zweites, durch ein drittes, ich stehe im Kabinett! Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich um diese Zeit dachte. Ich sah Seine Exzellenz und rundherum alle die anderen. Ich glaube, ich verneigte mich nicht einmal; ich vergaß darauf. Ich war so bestürzt, daß mir Lippen und Beine zitterten. Es war Grund genug dazu vorhanden, meine Teuerste. Erstens schämte ich mich; ich warf einen Blick nach rechts in den Spiegel und was ich da sah, war so furchtbar, daß ich verrückt werden konnte. Und zweitens hatte ich mich doch immer so benommen, daß man glauben konnte, ich wäre überhaupt nicht auf der Welt. Möglicherweise hatte Seine Exzellenz irgendwann einmal zufällig erfahren, daß es in einem der Amtsräume einen Djewuschkin gibt, aber in nähere Berührung mit ihm war ich nie gekommen.

Er begann aufgeregt: »Herr, was haben Sie da getan! Wo hatten Sie Ihre Augen? Ein wichtiges Dokument, dringend abzusenden, und Sie entstellen es. Wie konnten Sie bloß ...« und da wandte sich Seine Exzellenz an Jewstafi Iwanowitsch. Ich hörte bloß, wie von weitem die Worte an meine Ohren klangen: »Unachtsamkeit, Nachlässigkeit! Machen bloß Unannehmlichkeiten!« Ich riß meinen Mund auf, ohne etwas zu sagen. Ich wollte um Entschuldigung bitten, konnte es aber nicht. Fortlaufen war unmöglich, ich wagte es nicht und da ... da, meine Teuerste, geschah etwas, wo sogar jetzt noch vor Schande die Feder in meiner Hand zittert, wenn ich mich daran erinnere. Mein Knopf – der Teufel hole ihn – der Knopf, der nur mehr an einem Faden hing, riß plötzlich, fiel zu Boden (offenbar hatte ich ihn unabsichtlich berührt), rollte schnurstracks zu Füßen Seiner Exzellenz und dies alles inmitten allgemeinen Stillschweigens. Das also war meine ganze Rechtfertigung, meine ganze Entschuldigung, meine ganze Antwort, alles, was ich Seiner Exzellenz zu sagen hatte! Die Folgen waren schrecklich! Seine Exzellenz wurde sofort auf meine Erscheinung und meine Kleider aufmerksam. Ich erinnere mich an das, was ich im Spiegel gesehen hatte: ich warf mich zu Boden, um den Knopf zu fangen. Ungeschickt und unbeholfen, gelang mir nichts – der Knopf rollte im Kreise, ich erwische ihn nicht und zeichne mich also außerdem noch durch meine Gewandtheit aus. Da fühlte ich bereits, daß meine letzten Kräfte im Schwinden waren, kurz, ich gab alles, alles verloren. Alles Ansehen war dahin, als Mensch war ich vernichtet! Und da begann es in meinen beiden Ohren zu sausen, es schien mir, als hörte ich Therese und Faldoni, es läutete bald links, bald rechts. Endlich erwischte ich den Knopf, erhob mich, stand wieder aufrecht, war aber so dumm, statt stramm dazustehen, die Hände an der Hosennaht, den Knopf an die Stelle zu drücken, wo er früher angenäht war, und jetzt nur noch ein paar kleine Fäden hingen, als könnte er dort kleben bleiben; und dazu lächelte ich noch, tatsächlich, ich lächelte noch dazu. Erst wandte sich Seine Exzellenz ab, dann betrachtete sie mich wieder und ich hörte, wie sie noch zu Jewstafi Iwanowitsch sagte: »Ja, was ist denn das? ... Schauen Sie bloß, wie er aussieht! Was ist mit ihm los?« Ach, meine Teuerste, was sollte ich da noch! Jewstafi sagte: »Führt sich einwandfrei auf, durchaus einwandfrei, musterhafte Führung, ordnungsmäßig hohes Gehalt.« – »Nun, helfen Sie ihm irgendwie«, sagte Seine Exzellenz. »Man soll ihm Vorschuß geben.« ... »Er hat schon Vorschuß genommen, sogar für längere Zeit. Seine Verhältnisse sind scheinbar so schlecht, aber seine Führung tadellos, durchaus einwandfrei.« Mir war es, mein Engelchen, als befände ich mich im Feuer der Hölle. Ich schien zu sterben. »Nun,« sagte Seine Exzellenz laut, »schreiben Sie es schnell nochmals ab; Djewuschkin, kommen Sie her, schreiben Sie es nochmals und diesmal fehlerlos. Ja, und nun hören Sie ...« Da wandte sich Seine Exzellenz wieder an die anderen, gab verschiedene Aufträge und man ging auseinander. Kaum waren die anderen fort, da zog Seine Exzellenz die Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Hundertrubelschein: »Nehmen Sie, so viel ich kann, so, nehmen Sie nur«, und drückte mir das Geld in die Hand. Ich zuckte zusammen, mein Engelchen, und meine Seele erbebte; ich wußte nicht, wie mir war; ich wollte seine Hand küssen. Er aber errötete sehr, mein Täubchen, und – nun aber weiche ich nicht um Haaresbreite von der Wahrheit ab, meine Teuerste: er nahm meine Hand ganz einfach und schüttelte sie, er nahm sie und schüttelte sie in der seinen, mit einem Wort, als wäre sie etwa die Hand eines Generals. »Gehen Sie jetzt,« sagte er, »es ist, so viel ich kann ... machen Sie keine Fehler und damit Schwamm drüber.«

Nun habe ich folgendes beschlossen, meine Liebste: ich bitte Sie und Fedora, und wenn ich Kinder hätte, würde ich auch ihnen befehlen, zu Gott zu beten, und zwar so: nicht für den eigenen Vater, sondern für Seine Exzellenz, täglich und für alle Zeiten! Noch etwas sage ich, meine Teuerste, und zwar durchaus feierlich, passen Sie gut auf, meine Teuerste – ich schwöre Ihnen, so sehr mich auch unsere Not und unser Kummer drückten, insbesondere, wenn ich mich Ihres traurigen Schicksals erinnerte, und ebenso an meine Unfähigkeit und Erniedrigung, ungeachtet all dessen schwöre ich Ihnen, daß mir diese hundert Rubel nicht so viel wert sind als der Umstand, daß Seine Exzellenz mir persönlich, mir, dem Trunkenbold, ganz einfach meine unwürdige Hand zu drücken geruhte! Damit hat er mir neues Leben gegeben. Durch diese Tat ist meine Seele von den Toten auferstanden, das Leben wurde mir für ewig versüßt und ich bin fest überzeugt, wie sündig ich auch vor dem Allerhöchsten erscheinen mag, daß mein Gebet für Glück und Wohlergehen Seiner Exzellenz bestimmt bis zum Throne Gottes dringen und erhört werden wird! ...

Meine Liebste! Ich bin jetzt in einer schrecklichen Erregung meiner Seele, furchtbar aufgeregt. Mein Herz klopft laut, als wollte es aus der Brust springen und ich selbst fühle mich ganz erschöpft. – Ich sende Ihnen fünfundvierzig Rubel, zwanzig gebe ich der Hausfrau, fünfunddreißig behalte ich mir; für die zwanzig Rubel bringe ich meine Garderobe in Ordnung, bleiben fünfzehn zum Leben. Erst jetzt fühle ich, wie sehr mich alle diese Eindrücke von heute morgen erschüttert und geschwächt haben. Ich werde zu Bette gehen; übrigens bin ich jetzt sehr, sehr ruhig. Ich fühle bloß einen Druck auf dem Herzen und irgendwo, im Innern empfinde ich das Beben meiner Seele. – Ich komme zu Ihnen; jetzt aber bin ich ganz benommen von allen diesen Empfindungen. Gott sieht alles, meine Teuerste, mein Täubchen, mein Unschätzbares!

Ihr würdiger Freund
Makar Djewuschkin.

10. September.

 

Mein lieber Makar Alexejewitsch!

Ich bin unsäglich erfreut über Ihr Glück und vermag die Güte Ihres Vorgesetzten sehr wohl zu schätzen. Nun können Sie endlich von all den Sorgen frei aufatmen! Um Gottes willen, vergeuden Sie das Geld bloß nicht wieder unnütz. Leben Sie ruhig, so bescheiden als möglich und beginnen Sie von heute an, sich ein wenig Geld beiseite zu legen, damit Sie das Unglück nicht wieder fassen kann. Seien Sie um unseretwillen bei Gott nicht beunruhigt. Ich und Fedora kommen schon durch. Warum haben Sie uns so viel Geld geschickt, Makar Alexejewitsch, wir brauchen es wirklich nicht und sind mit dem zufrieden was wir haben. Wir brauchen allerdings bald für die Übersiedlung Geld, aber Fedora hofft, eine alte, fällige Schuld hereinzubekommen. Für alle Fälle also behalte ich zwanzig Rubel. Den Rest sende ich Ihnen zurück. Bewahren Sie das Geld gut auf, Makar Alexejewitsch, ich bitte Sie darum. Leben Sie wohl. Leben Sie nun recht ruhig, bleiben Sie gesund und munter. Ich hätte Ihnen mehr geschrieben, aber ich fühle mich schrecklich müde, gestern bin ich den ganzen Tag nicht aufgestanden. Es ist gut, daß Sie versprechen, zu mir zu kommen. Kommen Sie bitte, lieber Makar Alexejewitsch.

W. D.

11. September.

 

Meine liebe Warwara Alexejewna!

Ich flehe Sie an, meine Teuerste, verlassen Sie mich nicht, jetzt, wo ich so durchaus glücklich und mit allem zufrieden bin. Mein Täubchen, hören Sie nicht auf Fedora und ich werde alles tun, was Sie wollen; ich werde mich gut aufführen, schon aus Verehrung für Seine Exzellenz werde ich mich tadellos und anständig benehmen; wieder werden wir einander glückliche Briefe schreiben, unsere Gedanken austauschen, unsere Freuden und Sorgen, wenn es Sorgen geben wird; wir werden in Eintracht und Glück miteinander leben. Werden uns mit Literatur beschäftigen ... Mein Engelchen! In meinem Lebensschicksal hat sich alles verändert, alles zum Besseren gewendet. Die Hausfrau spricht wieder mit mir, Therese ist vernünftiger, sogar Faldoni legt Dienstbeflissenheit an den Tag. Mit Ratasajew habe ich mich versöhnt. Vor Freude bin ich selbst zu ihm gegangen. Eigentlich ist er ein guter Kerl, meine Liebste, und alles, was man über ihn Schlechtes gesprochen hat, ist Unsinn. Ich bin jetzt daraufgekommen, daß das alles gemeine Verleumdung war. Er dachte überhaupt nicht daran, uns zu bespötteln: er selbst hat mir das gesagt. Auch hat er mir ein neues Werk vorgelesen. Was die Tatsache betrifft, daß er mich Lovelace nannte, hat sich herausgestellt, daß dies durchaus keine Gemeinheit oder unanständige Bezeichnung ist: er hat es mir erklärt. Dieses Wort ist ein Fremdwort und bedeutet »schneidiger Kerl«, schöner gesagt, mehr literarisch heißt das »ein schneidiger Kavalier« – so ist die Sache! Und daran ist doch nichts Schlechtes. Ein unschuldiger Scherz, mein Engelchen! Ich ungebildeter Mensch hielt es für eine Gemeinheit und Beleidigung. Und deshalb habe ich mich auch bei ihm entschuldigt ... Dazu haben wir heute so schönes Wetter, Warinka. Morgens gab es allerdings ein wenig Frost, aber das macht nichts. Dafür wurde die Luft ein bißchen frischer. Ich ging fort, um Stiefel zu kaufen. Sie sind sehr schön. Dann ging ich auf dem Newski spazieren, las die Zeitung. Ja! Das Wichtigste hätte ich fast vergessen, Ihnen zu erzählen: hören Sie mich an! Heute morgens habe ich mit Jemeljan Iwanowitsch und Aksenti Michailowitsch von Seiner Exzellenz gesprochen. Ja, Warinka, Seine Exzellenz war nicht nur zu mir allein so gut, er hat nicht nur mir eine Wohltat erwiesen, sein gütiges Herz ist allbekannt. Sehr viele Menschen verehren diese unendliche Güte und gedenken ihrer mit dankbaren Tränen. Im Hause Seiner Exzellenz wurde auch eine Waise erzogen. Man hat für sie gesorgt und sie wurde an einen Beamten verheiratet, der in der nächsten Umgebung Seiner Exzellenz arbeitet. Der Sohn einer Witwe wurde in der Kanzlei Seiner Exzellenz untergebracht und so weiß man noch von vielen, vielen Wohltaten zu berichten. Ich betrachtete es als meine Pflicht, sogleich auch mein Scherflein beizutragen und erzählte allen von der guten Tat Seiner Exzellenz – alles, ohne etwas zu verheimlichen. Meine Scheu versteckte ich in der Tasche. Was gibt es denn hier auch für eine Scheu, was hat das Ansehen mit so einer Sache zu tun! Und so erzählte ich alles laut, zum Ruhme Seiner Exzellenz! Voll Eifer und Begeisterung erzählte ich, ohne zu erröten, im Gegenteil, voll Stolz, so etwas erzählen zu können. Und ich erzählte alles (nur über Sie schwieg ich vernünftigerweise, meine Liebste), von meiner Hausfrau, von Faldoni, von Ratasajew, von den Stiefeln und von Markow. Man lächelte allerdings, alle lächelten, aber ich glaube, nur deshalb, weil in meiner Erscheinung irgend etwas Lächerliches ist, kann sein, auch über meine Stiefel – ja, bestimmt über meine Stiefel. Aber in irgendeiner bösen Absicht konnten sie das unmöglich tun. Das ist schon so, die Jugend, oder vielleicht, weil sie reiche Leute sind, aber mit schlechter Absicht konnten sie mich unmöglich verlachen. Ich meine zum Beispiel, über Seine Exzellenz hätten sie bestimmt nicht gelacht. Nicht wahr, Warinka?

Eigentlich kann ich mich bis jetzt noch immer nicht recht fassen, meine Liebste, so sehr haben mich alle diese Vorfälle verwirrt. Haben Sie genug Holz? Verkühlen Sie sich nicht, Warinka, das ist rasch geschehen. Ach, meine Teuerste, mit Ihren traurigen Gedanken machen Sie mich völlig mutlos. Und wie ich zu Gott bete, um Sie, meine Liebste! Haben Sie zum Beispiel Wollstrümpfchen oder sonstige warme Kleidungsstücke? Seien Sie auf der Hut, mein Täubchen, wenn Sie irgend etwas derartiges brauchen sollten, dann, bei Gott, kränken Sie mich alten Mann nicht. Dann wenden Sie sich sogleich an mich, die schlechten Zeiten sind jetzt vorüber. Beruhigen Sie sich meinetwegen, vor uns liegt alles so hell und freundlich!

Wie traurig war doch diese Zeit, Warinka! Nun ist dies aber gleichgültig – die Zeit ist vorüber. Wenn Jahre vergangen sein werden, werden wir aufatmend uns dieser Tage erinnern. Ich erinnere mich meiner Jugendzeit. Wie schwer war sie! Oft hatte ich nicht eine einzige Kopeke, kalt war es, ich hatte Hunger und dennoch war ich fröhlich. Morgens ging ich über den Newski, sah irgendein hübsches Gesichtchen und war den ganzen Tag glücklich. Schön, wunderschön war diese Zeit, meine Liebste! Das Leben ist überhaupt schön, Warinka! Insbesondere in Petersburg. Mit Tränen in den Augen habe ich gestern vor Gott dem Herrn meine Sünden bereut, um Verzeihung gebeten für alles, was ich in dieser traurigen Zeit begangen habe: Hadern mit dem Schicksal, liberale Gedanken, Leichtsinn und Hazard. Voll Rührung habe ich in meinem Gebete Ihrer gedacht. Sie allein, mein Engelchen, haben mich getröstet, gestützt, mir mit Rat und Tat über meine schwersten Zeiten hinweggeholfen. Das kann ich niemals vergessen, meine Liebste. Heute habe ich alle Ihre Brieflein abgeküßt, mein Täubchen! Nun leben Sie wohl, meine Liebste! Man hat mir erzählt, daß hier in der Nähe jemand einen Anzug zu verkaufen hat, also werde ich mich wieder ein wenig besser kleiden. Leben Sie wohl, mein Engelchen. Leben Sie wohl!

Aus ganzer Seele zugetan bleibe ich Ihr
Makar Djewuschkin.

15. September.

 

Lieber Herr Makar Alexejewitsch!

Ich bin furchtbar aufgeregt. Hören Sie, was sich ereignet hat. Ich ahne irgend etwas Schreckliches. Urteilen Sie selbst, mein unschätzbarer Freund: Herr Bykow ist in Petersburg. Fedora ist ihm begegnet. Er fuhr an ihr vorüber, ließ seinen Wagen halten, ging selbst auf Fedora zu und begann sie auszufragen, wo sie wohne. Anfangs sagte sie es ihm nicht. Dann meinte er lächelnd, er wisse sehr gut, wer bei ihr wohne. (Man sieht daraus, daß ihm Anna Fedorowna alles erzählt hat.) Da konnte sich Fedora nicht mehr beherrschen und machte ihm gleich dort auf der Straße Vorwürfe, sagte ihm, er sei ein sittenloser Mensch, der an all meinem Unglück Schuld trage. Darauf antwortete er, es sei selbstverständlich, daß man sich unglücklich fühle, wenn man keinen Groschen besitzt. Fedora sagte ihm, ich könne mich mit Arbeit wohl ernähren, könnte auch heiraten, sogar irgend eine Stelle annehmen, mein Glück aber sei für immer verloren, zudem sei ich auch krank und werde bald sterben. Darauf erwiderte er, ich sei noch allzu jung, in meinem Kopfe sei es noch zu unruhig und unsere Tugenden seien ein wenig getrübt (dies seine Worte). Fedora und ich dachten, er wisse nicht unsere Adresse, aber gestern, ich war eben ausgegangen, um im Gostinny Dwor Verschiedenes zu kaufen, da trat er plötzlich in unser Zimmer; er wollte mich scheinbar nicht zu Hause treffen. Lange fragte er Fedora über unser Leben aus, betrachtete alles genau, auch meine Handarbeiten; schließlich fragte er: »Was für ein Beamter ist das, der mit Ihnen beiden bekannt ist?« In diesem Augenblicke gingen gerade Sie über den Hof. Fedora wies auf Sie. Er sah hin und lächelte; dann bat sie ihn, fortzugehen, sagte ihm, ich sei vor Kummer ohnedies schon krank und es wäre mir bestimmt sehr unangenehm, ihn bei uns zu sehen. Er schwieg, dann sagte er, er sei bloß so gekommen, da er nichts zu tun hatte und er wollte Fedora fünfundzwanzig Rubel geben; selbstverständlich nahm sie nichts an. – Was soll das bedeuten? Warum ist er zu uns gekommen? Ich kann nicht verstehen, woher er alles über uns erfahren hat. Ich verliere mich in allerhand Vermutungen. Fedora sagt, Axinja, ihre Schwägerin, die manchmal zu uns kommt, sei mit der Wäscherin Nastasja bekannt, deren Vetter in demselben Amte als Diener angestellt ist, wo ein Freund von Anna Fedorownas Neffen arbeitet. Vielleicht ist der Klatsch auf diesem Wege bis zu ihm gekommen? Übrigens ist es sehr leicht möglich, daß sich Fedora irrt; wir wissen nicht, was wir denken sollen. Er wird doch nicht wieder zu uns kommen! Beim bloßen Gedanken daran erschrecke ich! Als gestern abends Fedora das alles erzählte, erschrak ich derart, daß ich vor Schrecken fast in Ohnmacht gefallen bin. Was wollen die Leute denn noch? Ich will nichts mehr von ihnen wissen. Was wollen sie von mir armem Teufel? Ach, wie ängstlich bin ich jetzt: alle Augenblicke glaube ich, Bykow trete ins Zimmer. Was wird mit mir werden! Was hat mir das Schicksal noch vorbereitet? Um Christi willen, kommen Sie sogleich zu mir, Makar Alexejewitsch! Kommen Sie um Gottes willen, kommen Sie!

18. September.

 

Meine liebste Warwara Alexejewna!

Heute hat sich bei uns in der Wohnung eine unendlich traurige, unerklärliche und völlig unerwartete Sache abgespielt. Unser armer Gorschkow ist freigesprochen worden. Das Urteil war schon längst gefällt, aber erst heute wurde die endgültige Entscheidung bekannt. Die ganze Sache endete für ihn durchaus glücklich. Alles, dessen man ihn beschuldigt hatte, Nachlässigkeit und Unachtsamkeit – von all dem wurde er freigesprochen. Das Gericht hat seine Ehre in vollem Umfange wiederhergestellt und den Kaufmann zur Bezahlung jener hohen Geldsumme an Gorschkow verurteilt, so daß seine Lage sich vollkommen gebessert hat und seine Ehre von dem dunklen Fleck gereinigt ist, also ist alles gut geworden – mit einem Wort, er erlebte die Erfüllung aller seiner Wünsche. Er kam heute um drei Uhr nachmittags nach Hause, er war kaum zu erkennen, sein Gesicht bleich wie Kreide, die Lippen zitterten, dazu lächelte er, umarmte Frau und Kinder. Wir alle, eine ganze Schar, eilten herbei, um ihn zu beglückwünschen. Er war sehr gerührt über unser Erscheinen, verneigte sich nach allen Seiten und schüttelte jedem einzelnen von uns mehrmals die Hand. Mir schien es sogar, als wäre er förmlich gewachsen und wieder gerade geworden, auch seine Augen tränten nicht mehr. Er war so aufgeregt, der Arme. Er konnte keine zwei Minuten auf dem Platze verharren, nahm alles in die Hand, was ihm unterkam, dann warf er es wieder weg, lächelte und verneigte sich ununterbrochen, setzte sich, stand auf, setzte sich wieder hin und redete, weiß Gott, was alles durcheinander. »Meine Ehre, die Ehre, der gute Name, meine Kinder« – und wie er das sagte! Er weinte sogar. Auch uns waren die Tränen nahe. Ratasajew, der ihn offenbar irgendwie ablenken wollte, sagte: »Ach, Väterchen, was bedeutet die Ehre, wenn man nichts zu essen hat; Geld, Väterchen, Geld ist die Hauptsache; dafür müssen Sie Gott danken!« Und dazu klopfte er ihn auf die Schulter. Es schien mir, als fühlte sich Gorschkow gekränkt, nicht, daß er den Beleidigten gespielt hätte, er sah bloß Ratasajew so eigentümlich an und nahm dessen Hand von seiner Schulter. Früher hätte es das nicht gegeben, meine Liebste! Es gibt übrigens verschiedene Charaktere. – Ich zum Beispiel, hätte in so einem freudigen Augenblick nicht meinen Stolz hervorgekehrt; wie oft, meine Teuerste, verneigt man sich doch, erniedrigt sich unnötigerweise, nicht bloß aus überflüssiger Seelensgüte und zu heftiger Gutherzigkeit ... Nein, von mir ist schließlich hier nicht die Rede. – »Ja,« sagt Gorschkow, »auch Geld ist gut, Gott sei Dank, Gott sei Dank! ...« Und dann bekräftigte er es die ganze Zeit lang, die wir bei ihm blieben: »Gott sei Dank, Gott sei Dank!« Seine Frau bestellte ein reichlicheres und feineres Mittagessen. Die Hausfrau selbst kochte es. Unsere Hausfrau ist eigentlich eine gutmütige Person. Gorschkow war nicht imstande, bis zum Mittagessen ruhig sitzen zu bleiben. Er ging die ganze Zeit im Zimmer auf und ab, ging in die anderen Zimmer, egal, ob man ihn gerufen hatte oder nicht. Er ging einfach, trat ein, lächelte, setzte sich in einen Stuhl, sagte irgend etwas, manchmal auch nichts – dann ging er wieder. Der Seemann lud ihn zu einer Kartenpartie ein; er spielte tatsächlich in einer Partie als Vierter mit. Er spielte, spielte, brachte die Partie irgendwie in Verwirrung, tat drei oder vier Runden mit, dann warf er die Karten hin. »Nein,« sagte er, »ich meine ... bloß so ...« Dann ging er aus dem Zimmer. Er begegnete mir im Korridor, nahm meine beiden Hände, blickte mir direkt in die Augen, aber ganz eigenartig; er schüttelte meine Hand und ging fort, lächelte ununterbrochen, aber es war ein schweres, seltsames Lächeln, einfach ein Todeslächeln. Seine Frau weinte vor Freude. Sie waren alle so munter, festlich. Sie aßen sehr rasch zu Mittag. Nach dem Essen sagte er zu seiner Frau: »Höre, mein Kindlein, ich will mich jetzt ein wenig hinlegen«, dann ging er zu seinem Bett, rief sein Töchterchen zu sich, legte ihr die Hand auf den Kopf und sah lange, lange in die Augen des Kindes. Dann wandte er sich wieder an seine Frau: »Und wo ist Petinka? Unser Petja, Petinka? ...« Die Frau bekreuzte sich und antwortete, er sei doch gestorben. – »Ja, ja, ich weiß es, ich weiß alles, Petinka ist jetzt im Himmelreich.« Die Frau sah, daß er ganz anders war als sonst, daß ihn die Vorfälle ganz verwirrt hatten und sagte: »Es wäre gut, wenn du schlafen könntest.« »Ja, gut so, sogleich werde ich ... ein wenig ...« Damit drehte er sich um, lag eine Weile ruhig da, dann drehte er sich wieder zurück, wollte irgend etwas sagen. Die Frau verstand nicht, fragte ihn: »Was denn, mein Freund?« Aber er gab keine Antwort. Dann wartete sie noch ein wenig – nun, dachte sie, jetzt ist er eingeschlafen und ging für eine Weile zur Hausfrau. Nach einer Stunde kam sie zurück und sah, daß der Mann noch nicht aufgewacht war und ruhig dalag, ohne sich zu bewegen. Sie dachte, er schlafe, setzte sich hin und begann irgend etwas zu arbeiten. Sie erzählt, daß sie eine halbe Stunde lang so gesessen sei, ganz in Gedanken, sie erinnert sich nicht einmal mehr, an was sie gedacht hat, bloß habe sie auf den Mann förmlich vergessen. Sie sei plötzlich wieder zu sich gekommen, durch ein beunruhigendes Gefühl, das sie aus ihrer Versunkenheit aufschreckte, und da habe vor allem die Grabesstille, in die das Zimmer getaucht war, sie so sehr beängstigt. Sie sah auf das Bett und bemerkte, daß ihr Mann noch immer in derselben Stellung verharrte. Sie ging hin, zog die Decke fort und betrachtete ihn, er aber war schon kalt, tot, meine Liebste. Gorschkow war tot, plötzlich gestorben, einfach, als hätte ihn der Blitz erschlagen; woran er aber gestorben ist, Gott weiß es. Das hat mich so erschüttert, Warinka, daß ich mich bis jetzt noch nicht klar besinnen kann. Man will es nicht glauben, daß ein Mensch so mir nichts dir nichts sterben kann. Dieser armselige, bejammernswerte Gorschkow! Ach, dieses Schicksal, wie hart ist es doch! Seine Frau, in Tränen aufgelöst, ganz verschreckt, das Mädchen ist in irgendeinen Winkel verkrochen. Ein großer Wirrwarr ist bei ihnen: es wird eine medizinische Untersuchung vorgenommen werden ... Ich kann es Ihnen nicht genau sagen. Nur leid tut es mir, ach, wie leid! Es ist so traurig, zu denken, daß man weder Tag noch Stunde tatsächlich vorhersehen kann ... Man stirbt wie nichts ...

Ihr
Makar Djewuschkin.

19. September.

 

Liebes Fräulein Warwara Alexejewna!

Ich beeile mich, Ihnen, meine Freundin, mitzuteilen, daß mir Ratasajew für einen Schriftsteller Arbeit verschafft hat. Es ist einer zu ihm gekommen und brachte ihm ein dickes Manuskript – Gott sei Dank, viel Arbeit. Nur ist es derart unleserlich geschrieben, daß ich noch nicht weiß, wie ich diese Arbeit erledigen werde; ich soll sie rasch erledigen. Überdies ist alles so schwer geschrieben, daß ich es gar nicht verstehen kann. Pro Bogen wurden vierzig Kopeken vereinbart. Ich schreibe Ihnen das alles deshalb, meine Teuerste, weil ich jetzt auf diese Weise doch Nebenverdienst haben werde. Nun, jetzt leben Sie wohl, meine Liebste, ich gehe an die Arbeit.

Ihr treuer Freund
Makar Djewuschkin.

23. September.

 

Mein teurer Freund Makar Alexejewitsch!

Ich habe Ihnen schon drei Tage nicht geschrieben, mein Freund, obwohl ich viele Sorgen und Aufregungen mitgemacht habe.

Vor drei Tagen war Bykow bei mir. Ich war allein, Fedora war irgendwohin gegangen. Ich öffnete die Tür und war so erschrocken, als ich ihn bemerkte, daß ich wie festgebannt stehen blieb. Ich fühlte, wie ich erbleichte. Wie dies schon seine Manier ist, trat er laut lachend ein, nahm einen Sessel und setzte sich. Ich konnte mich lange nicht fassen, schließlich setzte ich mich an das Fenster zu meiner Arbeit. Bald hörte er auf zu lachen. Scheinbar überraschte ihn mein Aussehen. Ich bin während der letzten Zeit sehr abgemagert, Wangen und Augen sind eingefallen und ich war bleich wie weißes Leinen ... wer mich vor einem Jahre gesehen hat, muß mich wirklich schwer wiedererkennen. Lange und aufmerksam betrachtete er mich, schließlich wurde er wieder aufgeräumt. Er sagte irgend etwas; ich erinnere mich nicht, was ich antwortete, aber er begann wieder zu lachen. Eine ganze Stunde lang saß er bei mir, redete lange auf mich ein, fragte allerhand. Schließlich, bevor er sich verabschiedete, nahm er meine Hand und sagte (ich schreibe es Ihnen wörtlich): »Warwara Alexejewna! Unter uns gesprochen, Anna Fedorowna, Ihre Verwandte und meine alte Bekannte und Freundin, ist ein gemeines Frauenzimmer.« (Hier gebrauchte er noch ein unanständiges Wort.) »Nun hat sie auch Ihre Kusine auf schlechte Wege gebracht und wollte sie verderben. Ich meinerseits habe mich in dieser Sache sehr gemein benommen; aber das Leben ist schon so.« Dazu lächelte er sehr schmutzig. Dann bemerkte er, er sei kein Meisterredner, und, was die Hauptsache sei, was er eigentlich vor Anständigkeit verschweigen sollte, habe er bereits gesagt; alles andere wolle er in kurzen Worten auseinandersetzen. Daraufhin kündigte er mir an, er wolle um meine Hand anhalten. Er erachte es für seine Pflicht, mir meine Ehre wiederzugeben, er sei reich und wolle mich nach der Hochzeit nach seinem Steppengut bringen, wo er Hasen jagen möchte. Auch wolle er nie wieder nach Petersburg zurückkehren, denn Petersburg sei zuwider; er habe hier einen mißratenen Neffen, den er um die ersehnte Erbschaft bringen wolle und auch zu diesem Zwecke wolle er gesetzliche Erben haben, aus welchem Grunde er um meine Hand anhalte, dies sei der Hauptgrund für seine Werbung. Dann bemerkte er noch, es sei kein Wunder, wenn ich so schlecht aussehe und krank sei, da ich doch in so einer erbärmlichen Hintertreppenwohnung hause und ich würde bald sterben, wenn ich auch nur noch einen Monat hier bliebe. Die Petersburger Wohnungen seien alle schlecht, dann fragte er noch, ob ich einen besonderen Wunsch hätte.

Ich war durch seinen Vorschlag so überrascht, daß ich, ich weiß selbst nicht warum, zu weinen begann. Er hielt meine Tränen für Dankbarkeit und sagte mir, er wäre immer überzeugt gewesen, daß ich ein gutes, gefühlvolles und gebildetes Mädchen sei, er habe sich aber nicht früher zu seinem Antrag entschließen können, ehe er nicht Erkundigungen über meine derzeitige Lebensführung eingezogen hätte. Dann fragte er nach Ihnen und sagte, er habe bereits alles erfahren. Sie seien ein sehr anständiger Mensch, er wolle nicht in Ihrer Schuld bleiben und ob fünfhundert Rubel genügen würden für alles das, was Sie für mich getan haben? Worauf ich ihm erwiderte, daß das, was Sie für mich getan haben, niemals mit Geld zu bezahlen wäre. Er aber meinte, das sei Unsinn; derlei stehe wohl in Romanen, ich sei noch jung und lese Verse, Romane aber verwirrten bloß junge Mädchen, verdürben die Sitten, er könne Bücher überhaupt nicht ertragen; dann riet er mir, erst einmal so alt zu werden wie er, ehe ich über Menschen urteile. »Dann erst werden Sie die Menschen kennen lernen«, fügte er hinzu. Er riet mir noch, seinen Antrag mir zu Herzen zu nehmen, gut zu überlegen, denn es wäre ihm durchaus unangenehm, wenn ich einen so wichtigen Schritt unüberlegt tun würde; er fügte noch hinzu, daß Unachtsamkeit und plötzliche Entschlüsse die unerfahrene Jugend immer ins Verderben führen, er aber wünsche sehr stark, von meiner Seite eine zusagende Antwort zu bekommen; im entgegengesetzten Falle wäre er gezwungen, eine Moskauer Kaufmannstochter zu heiraten, da er seinen nichtsnutzigen Neffen unbedingt um die Erbschaft bringen wolle. Mit Gewalt ließ er auf meinem Stickrahmen fünfhundert Rubel zurück, wie er sagte, für Konfekt; auf dem Dorfe würde ich aufgehen wie ein Kuchen, würde mich erholen und aussehen wie Milch und Blut, er selbst habe jetzt sehr viel zu tun, müsse allerhand Geschäften nachlaufen und sei mitten darin zu mir geeilt. Dann ging er fort. Ich dachte lange nach, überlegte, quälte mich und schließlich, mein Freund, habe ich mich entschieden. Ich werde ihn heiraten, mein Freund, ich muß auf seinen Vorschlag eingehen. Wenn mir irgendjemand Rechtfertigung für meine Schande geben kann, meine Ehre retten und mich in Hinkunft vor Armut, Erniedrigung und Unglück beschützen kann, dann ist er der einzige, der es imstande ist. Was sollte ich sonst noch warten, was sollte ich sonst noch vom Schicksal verlangen? Fedora meint, man solle das Glück nicht von sich stoßen – was aber sollte man hier Glück nennen, fragte sie selbst? Jedenfalls finde ich keinen anderen Ausweg für mich, mein unschätzbarer Freund, was sollte ich sonst tun? Ich arbeite wohl, aber auf diese Weise richte ich mich gesundheitlich zugrunde. Ich kann nicht ununterbrochen arbeiten. Und zu fremden Leuten gehen? Ich würde vor Unglück sterben und außerdem die Leute nicht zufriedenstellen. Ich bin von Geburt aus kränklich und würde Fremden stets zur Last fallen. Selbstverständlich gehe ich auch jetzt nicht ins Paradies, aber was sollte ich sonst tun, mein Freund, was? Was sonst könnte ich tun?

Ich habe Sie nicht um Ihren Rat gefragt, ich wollte mir die Sache allein überlegen. Der Entschluß, den Sie jetzt gelesen haben, ist unwiderruflich und ich werde ihn sogleich Bykow mitteilen, der mich ohnedies zu einer endgültigen Entscheidung drängt. Er sagte, seine Geschäfte eilten, er müsse abreisen und könne diese Dinge wegen Kleinigkeiten nicht verschieben; weiß Gott, ob ich glücklich sein werde. Bei ihm allein in seiner heiligen und unerforschlichen Macht liegt mein Schicksal, aber ich habe mich entschieden. Man sagt, Bykow sei ein guter Mensch: er wird mich achten; vielleicht werde auch ich ihn achten. Was mehr wäre von unserer Ehe zu erwarten? Ich teile Ihnen alles mit, Makar Alexejewitsch. Ich bin überzeugt, daß Sie all mein Leid verstehen werden. Bringen Sie mich nicht von meinem Vorhaben ab. Ihre Bemühungen wären zwecklos. Erwägen Sie in Ihrem eigenen Herzen alles, was mich veranlaßt hat, so zu handeln. Anfangs war ich sehr aufgeregt, aber jetzt bin ich ruhiger. Was die Zukunft bringt, weiß ich nicht. Was geschehen muß, wird geschehen; wie Gott es fügt! ... Bykow ist gekommen. Ich lege den Brief unvollendet beiseite. Ich wollte Ihnen noch Vieles sagen. Bykow ist schon hier!

23. September.

 

Meine liebste Warwara Alexejewna!

Ich beeile mich, Ihnen zu antworten; ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich ganz verblüfft bin. Irgend etwas stimmt da nicht ... Gestern haben wir Gorschkow begraben. Ja, so ist es, so ist es; Bykow hat edel gehandelt, bloß eines, sehen Sie, meine Teuerste, Sie haben eingewilligt? Selbstverständlich muß alles nach dem Willen Gottes geschehen; das ist so, das muß unbedingt so sein, das heißt, Gottes Wille muß unbedingt dafür sein; und die Vorsehung des himmlischen Schöpfers, das Wohl des Menschen, unerforschlich, ebenso das Schicksal, alles liegt in seiner Hand. – Auch Fedora nimmt Anteil an Ihnen, selbstverständlich werden Sie jetzt glücklich sein, meine Liebste. In Wohlstand leben, mein Täubchen, mein Sternchen, mein vielgeliebtes Engelchen – bloß eines sagen Sie mir, Warinka, wieso kam alles so schnell? ... Ja, Geschäfte ... Herr Bykow hat Geschäfte – selbstverständlich, wer hat nicht Geschäfte, auch er kann sie haben ... Ich habe ihn gesehen, als er von Ihnen fortging, ein ansehnlicher, ein sehr ansehnlicher Mann; ein außerordentlich ansehnlicher Mann. Bloß, ist das alles? Nein, darum handelt es sich nicht, daß er ein ansehnlicher Mann ist, ich bin bloß irgendwie ganz außer mir. Wie werden wir zum Beispiel jetzt einander Briefe schreiben? Und ich, wie werde ich allein weiterleben? Ich überlege und erwäge die ganze Zeit, mein Engelchen, was Sie mir da geschrieben haben, die Gründe erwäge ich. Ich hatte schon den zwanzigsten Bogen abgeschrieben und da kam dieser Vorfall! Meine Liebste, wenn Sie jetzt abreisen, müssen Sie ja noch verschiedene Einkäufe machen; Sie brauchen Stiefelchen, verschiedene Kleidchen und nun weiß ich zufälligerweise ein gutes Geschäft an der Gorochowaja; erinnern Sie sich, wie ich Ihnen noch das alles beschrieben habe. – Ach nein, was denken Sie denn! Sie können doch nicht sofort abreisen, das ist ganz unmöglich, durchaus unmöglich, Sie müssen doch große Einkäufe machen und einen Wagen mieten. Dazu ist noch das Wetter sehr schlecht, sehen Sie bloß, es schüttet ja wie mit Kannen, ein so feuchter Regen und dann ... es wird Ihnen doch sehr kalt sein, mein Engelchen, Ihr Herzchen wird frieren! Sie fürchten sich vor fremden Menschen und dennoch wollen Sie abreisen, und was werde ich allein tun? Ja, Fedora sagt, daß Sie ein großes Glück erwartet, aber sie ist ein rüdes Frauenzimmer und will mich zugrunde richten. Gehen Sie heute zur Abendmesse, meine Teuerste? Dann ginge auch ich hin, um Sie zu sehen. Es ist richtig, meine Liebste, durchaus richtig, daß Sie ein gebildetes, gutmütiges und feinfühliges Mädchen sind, aber – er soll doch lieber eine Moskauer Kaufmannstochter heiraten! Was denken Sie dazu, meine Teuerste? Soll er lieber diese Kaufmannstochter heiraten! – Ich komme zu Ihnen, meine Warinka, wenn es dunkelt, dann eile ich auf ein Stündchen zu Ihnen. Es wird jetzt immer früher dunkel, dann komme ich. Ganz bestimmt komme ich heute noch auf ein Stündchen, meine Teuerste. Sie erwarten doch jetzt Bykow und wenn er fortgeht, dann ... Also warten Sie, meine Liebste, ich werde zu Ihnen eilen ...

Makar Djewuschkin.

27. September.

 

Mein Freund, Makar Alexejewitsch!

Herr Bykow sagte, ich müsse unbedingt für drei Dutzend Hemdchen holländische Leinwand haben und so müssen so schnell wie möglich Weißnäherinnen für zwei Dutzend gefunden werden, aber wir haben sehr wenig Zeit. Herr Bykow ärgert sich, daß mit diesen Lappen so viel Scherereien sind. In fünf Tagen findet unsere Hochzeit statt und schon am Tage darauf reisen wir ab. Herr Bykow hat Eile, er sagt, für Dummheiten könne man nicht viel Zeit verlieren. Ich bin von diesen vielen Besorgungen schon ganz zermürbt und halte mich kaum auf den Beinen. Es gibt haufenweise Arbeit, wahrhaftig, es wäre besser, wenn das alles nicht notwendig wäre. Ja, noch etwas: wir haben nicht genug Spitzen, also müssen noch welche gekauft werden, denn Herr Bykow sagt, er wolle nicht, daß seine Frau wie eine Köchin einhergehe; ich müsse unbedingt »alle Gutsbesitzerinnen in den Schatten stellen«, so hat er selbst gesagt. Also, Makar Alexejewitsch, wenden Sie sich bitte an Madame Chiffon auf der Gorochowaja und bitten Sie sie, erstens uns Weißnäherinnen zu schicken und zweitens sich selbst hieher zu bemühen. Heute bin ich krank. In unserer neuen Wohnung ist es sehr kalt und es herrscht eine furchtbare Unordnung. Die Tante Herrn Bykows kann vor Altersschwäche kaum mehr atmen. Ich fürchte, sie könnte noch vor unserer Abreise sterben. Herr Bykow aber meint, es wäre nichts, sie würde sich schon wieder erholen. Wir haben eine fürchterliche Unordnung im Hause. Herr Bykow wohnt nicht bei uns und so laufen die Leute nach allen Richtungen durcheinander, weiß Gott wohin. Es kommt vor, daß einzig und allein Fedora zu unserer Bedienung da ist. Der Kammerdiener Herrn Bykows, der hier nach dem Rechten sehen muß, ist schon den dritten Tag, unbekannt wohin, verschwunden. Herr Bykow kommt jeden Morgen gefahren, ärgert sich ununterbrochen, hat gestern den Hausknecht verprügelt und deshalb mit der Polizei Unannehmlichkeiten gehabt ... Ich habe derzeit niemanden, mit dem ich Ihnen diesen Brief schicken könnte und so sende ich ihn durch die Post. Ja, fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Sagen Sie Madame Chiffon, sie möge die Spitzen unbedingt umtauschen und zu den gestern gewählten Mustern neue aussuchen, dann persönlich hieherkommen, um mir die neue Auswahl vorzulegen. Ja, sagen Sie ihr noch, daß ich mir die Sache mit der Garnitur überlegt habe; auch sie muß mit Spitzen besetzt werden. Und die Buchstaben für die Taschentuchstickereien müssen tambouriert werden, verstehen Sie mich? Tambouriert und nicht glatt. Bitte vergessen Sie ja nicht: tambouriert! Nun hätte ich beinahe noch etwas vergessen! Sagen Sie ihr um Gottes willen, daß die Blättchen an die Pelerine erhaben genäht werden müssen, die Endchen und Ranken in Kordon, an den Kragen aber müssen noch Spitzen kommen oder eine breite Falbel. Bitte sagen Sie ihr das, Makar Alexejewitsch.

Ihre
W. D.

P. S. Ich schäme mich so sehr, daß ich Sie schon wieder mit meinen Aufträgen belästige, vorgestern sind Sie den ganzen Morgen für mich herumgelaufen. Aber was tun! In unserem Hause herrscht gar keine Ordnung und ich selbst bin krank. Ärgern Sie sich also bitte nicht über mich, Makar Alexejewitsch. Welch ein Jammer! Ach, was wird noch daraus, mein Freund, mein lieber guter Makar Alexejewitsch! Ich fürchte mich, in meine Zukunft zu blicken. Ich habe immer Ahnungen und lebe in einer völligen Umnebelung des Geistes.

P. S. Um Gottes willen, mein Freund, vergessen Sie ja nichts von dem, was ich Ihnen jetzt erklärt habe. Ich ängstige mich, daß Sie irgend etwas verwechseln könnten, erinnern Sie sich genau: tambouriert und nicht glatt.

W. D.

27. September.

 

Liebes Fräulein Warwara Alexejewna!

Alle Ihre Aufträge sind gewissenhaft durchgeführt. Madame Chiffon sagt, sie selbst habe schon an das Tambourieren gedacht; es sei eleganter, meinte sie, oder so etwas Ähnliches, ich weiß es nicht mehr. Ich habe nicht recht verstanden. Ja, dann haben Sie von Falbeln geschrieben und so hat sie sich auch darüber geäußert, nur habe ich leider vergessen, meine Liebste, was sie mir über die Falbeln sagte. Ich erinnere mich bloß, daß sie sehr viel sprach. Ein unsympathisches Frauenzimmer! Was hatten wir noch? Ja, sie wird Ihnen alles selbst sagen. Ich bin ja ganz verwirrt, meine Teuerste. Heute bin ich nicht ins Amt gegangen, aber Sie ängstigen sich ganz unnötig, meine Liebste. Ich wäre bereit, alle Geschäfte Petersburgs zu Ihrer Beruhigung abzulaufen. Sie schrieben, daß Sie sich fürchten, in die Zukunft zu blicken, aber heute um sieben Uhr werden Sie alles erfahren. Madame Chiffon selbst kommt zu Ihnen, also verzweifeln Sie nicht; hoffen Sie, meine Liebste. Vielleicht wird sich noch alles zum besten wenden. Diese verwünschten Falbeln gehen mir nicht aus dem Sinn – immer und ewig Falbel, Falbel! Ich würde zu Ihnen eilen, mein Engelchen, ja, zu Ihnen, unbedingt würde ich zu Ihnen eilen, ich bin ohnedies schon zweimal ganz nahe vor Ihrer Tür gewesen. Aber da ist immer dieser Bykow, das heißt ich wollte sagen, daß Herr Bykow immer so verärgert ist und da wäre es wohl nicht recht ... Finden Sie nicht?

Makar Djewuschkin.

28. September.

 

Lieber Herr Makar Alexejewitsch!

Um Gottes willen, laufen Sie sofort zum Juwelier. Sagen Sie ihm, er brauche die Ohrgehänge mit den Perlen und Smaragden nicht fertigzustellen. Herr Bykow sagt, sie seien zu teuer, das risse ein Loch in seinen Sack. Er ärgert sich, die Sache koste ihn sehr viel Geld, wir plünderten ihn aus und gestern meinte er, wenn er im vorhinein gewußt hätte, daß die Sache so viel Geld kosten würde, hätte er diese Verpflichtungen nicht übernommen. Dann fügte er noch hinzu, daß wir sofort nach der Trauung abreisen würden, er wolle keine Gäste laden, ich möge nicht auf Tanz und Feste hoffen, bis dahin sei es noch weit. So spricht er und Gott weiß selbst, ob ich das alles notwendig habe! Herr Bykow hat ja selbst alles bestellt, ich wage ihm in nichts zu widersprechen: er ist so hitzig. Was wird mit mir sein?

W. D.

28. September.

 

Mein Täubchen Warwara Alexejewna!

Ich – das heißt der Juwelier sagt: gut; ich selbst wollte von mir bloß erwähnen, daß ich erkrankt bin und mich nicht vom Bett erheben kann. Und dies gerade jetzt, wo ich so viel Zeit brauchen würde, um alle Ihre Sachen zu erledigen, kommen diese Verkühlungen. Der Teufel hole sie! Dann habe ich Ihnen noch mitzuteilen, daß zur Steigerung meines Unglücks Seine Exzellenz heute geruhte, sich sehr aufzuregen und sich über Jemeljan Iwanowitsch sehr ärgern, viel schimpfen mußte und schließlich ganz ermüdet war – der arme Mensch! Sie sehen also, daß ich Ihnen alles mitteile. Ich wollte Ihnen ja noch etwas schreiben, aber ich fürchte, Ihnen bloß Zeit wegzunehmen. Ich bin ja doch ein dummer, gewöhnlicher Mensch, schreibe nieder, was mir gerade einfällt, so daß Sie vielleicht – nun ja, wozu noch schreiben!

Ihr
Makar Djewuschkin.

29. September.

 

Meine teuerste Warwara Alexejewna!

Heute, meine Teuerste, habe ich Fedora gesehen. Sie erzählte mir, daß Sie schon morgen getraut werden und übermorgen abreisen. Herr Bykow habe bereits die Pferde bestellt. Von Seiner Exzellenz habe ich Ihnen ja bereits Mitteilung gemacht, meine Liebste. Ja, noch etwas: die Rechnungen des Geschäftes auf der Gorochowaja habe ich überprüft; es stimmt alles, bloß sehr teuer ist es. Warum eigentlich ärgert sich Herr Bykow über Sie? Nun seien Sie glücklich, meine Liebste! Ich freue mich; ja, ich werde mich freuen, wenn Sie glücklich sind. Ich wäre in die Kirche gekommen, meine Teuerste, aber ich kann nicht, ich habe Kreuzschmerzen. Ja, und nun wieder zu unseren Briefen: wie werden wir sie einander überbringen lassen, meine Liebste? Ja! Sie haben Fedora mit Geschenken überhäuft, meine Teuerste, da haben Sie ein gutes Werk getan, meine Freundin; sehr gut haben Sie daran getan, ein gutes Werk. Und für jedes gute Werk wird Gott Sie segnen. – Ein gutes Werk bleibt nicht ohne Vergeltung und der Wohltäter wird für jede seiner Taten Gottes Lohn empfangen, ob früher, ob später. Meine Liebste, ich wollte Ihnen noch viel schreiben, ich würde Ihnen jede Stunde, jede Minute schreiben, immerzu! Bei mir ist noch Ihr Büchlein »Bjelkins Erzählungen« zurückgeblieben und da Sie es ja ohnedies kennen, nehmen Sie es mir bitte nicht weg, schenken Sie es mir, mein Täubchen. Nicht deshalb, weil ich es so sehr noch einmal lesen will, sondern – Sie selbst wissen ja, meine Liebste, daß der Winter vor der Tür steht. Es kommen die langen Abende, es wird traurig und da ist es gut zu lesen. Ich übersiedle von hier in Ihre frühere Wohnung und werde bei Fedora mieten. Von dieser ehrenwerten Frau will ich mich nicht um alles mehr trennen; dazu ist sie noch außerordentlich arbeitsam. Gestern habe ich Ihre verlassene Wohnung genau angesehen. Dort lag noch Ihr Stickrahmen, der kleine, so wie Sie Ihre letzte Arbeit angefangen haben, ganz unberührt: so liegt er in der Ecke. Ich habe nur Ihre Arbeit angesehen, dort sind noch einige kleine Stickereien unvollendet geblieben. Auf ein kleines Stück eines meiner Brieflein haben Sie begonnen Zwirn aufzuwickeln. Auf dem Tischchen fand ich ein Stückchen Papier. Darauf stand: »Liebster Makar Alexejewitsch; ich beeile mich« – und sonst nichts. Offenkundig hat Sie da jemand an einer wichtigen Stelle unterbrochen. In der Ecke hinter dem Schirm steht Ihr Bettchen ... Ach, mein Täubchen!!! Nun leben Sie wohl, leben Sie wohl! Geben Sie mir um Gottes willen irgendeine Antwort auf dieses Brieflein, recht bald.

Makar Djewuschkin.

30. September.

 

Mein unschätzbarer Freund Makar Alexejewitsch!

Nun ist alles vorbei! Meine Würfel sind gefallen; ich weiß nicht wie, aber ich unterwerfe mich dem Willen Gottes. Morgen reisen wir. Und so sage ich Ihnen ein letztes Lebewohl, mein unschätzbarer Freund und Wohltäter, mein teuerster Makar Alexejewitsch. Kränken Sie sich nicht um meinetwillen, leben Sie glücklich, Gottes Segen wird über Ihnen sein! Ich werde in Gedanken und in meinen Gebeten stets bei Ihnen sein. Nun ist diese Zeit auch vorüber! Es sind wenig freudige Erinnerungen, die ich in mein neues Leben hinübernehme; um so wertvoller wird mir die Erinnerung an Sie, um so wertvoller werde ich Ihr Bild in meinem Herzen bewahren. Sie sind mein einziger Freund; hier haben nur Sie mich geliebt. Wie sehr habe ich dies gesehen, wie gut weiß ich, wie Sie mich geliebt haben. Ein einziges Lächeln von mir, eine einzige Zeile, die ich Ihnen schrieb, hat Sie schon glücklich gemacht. Jetzt müssen Sie sich daran gewöhnen, ohne mich zu sein; wie werden Sie hier allein zurückbleiben? Bei wem werden Sie sein, mein guter, unschätzbarer, einziger Freund? Ich lasse Ihnen das Büchlein, den Stickrahmen und den begonnenen Brief zurück; wenn Sie diese angefangenen Zeilen lesen, dann lesen Sie in Gedanken weiter, alles, was Sie von mir hören oder lesen wollen, alles, was ich Ihnen geschrieben hätte; was würde ich Ihnen jetzt nicht alles schreiben! Erinnern Sie sich an Ihre arme Warinka, die Sie so sehr geliebt hat. Alle Ihre Briefe sind bei Fedora in der Kommode geblieben, in der obersten Lade. Sie schreiben, daß Sie krank sind, aber Herr Bykow läßt mich heute nicht ausgehen. Ich werde Ihnen schreiben, mein Freund, das verspreche ich Ihnen; aber Gott allein weiß, was die Zeit bringen wird. Und so müssen wir nun für immer Abschied voneinander nehmen, mein Freund, mein Teuerster, für immer! Ach, wie wollte ich Sie jetzt umarmen, leben Sie wohl, mein Freund, leben Sie wohl, leben Sie wohl! Seien Sie glücklich und gesund. Mein Gebet wird ewig über Ihnen sein. Oh, wie traurig ist mir zumute, wie schwer wird mir ums Herz. Herr Bykow ruft mich. Ihre Sie ewig liebende

W.

P. S. Meine Seele ist so voll, so voll von Tränen ... sie ersticken mich, zerreißen mein Innerstes. Leben Sie wohl, ach Gott, wie traurig! Erinnern Sie sich, denken Sie an Ihre arme Warinka!

 

*

 

Mein Täubchen, meine unschätzbare Warinka!

Man führt Sie fort, Sie reisen! Ach, hätte man mir lieber das Herz aus der Brust gerissen, als Sie von meiner Seite! Ist es denn möglich, Sie weinen und dennoch reisen Sie?! Ich habe eben Ihr Brieflein erhalten, das noch ganz tränenfeucht ist. Sie wollen am Ende gar nicht abreisen, vielleicht führt man Sie gewaltsam fort, vielleicht tue ich Ihnen doch leid, vielleicht lieben Sie mich! Ja, wie, mit wem werden Sie denn jetzt leben? Ihrem Herzchen wird es dort einsam sein, düster und kalt. Es wird vor Trauer krank und zerrissen werden. Sie werden dort sterben, man wird Sie dort in die feuchte Erde legten und niemand wird Sie beweinen! Herr Bykow wird die ganze Zeit Hasen jagen ... ach, meine Liebste! Wie konnten Sie sich dazu entschließen, wie konnten Sie das tun? Man wird Sie dort ins Grab bringen, man wird Sie umbringen, mein Engelchen. Sie sind doch so zart wie ein Federchen, so schwach! Und wo war denn ich? Ich habe mit offenen Augen zugesehen, ich Dummkopf! Ich sehe, daß ein Kindchen ein wenig steifnackig ist und ich Dummkopf stehe da, sehe zu, als würde mich die ganze Sache gar nichts angehen; und laufe noch wegen dieser Falbeln herum! ... Nein, Warinka, ich stehe auf, morgen vielleicht schon bin ich gesund, und dann stehe ich auf! Ich werde mich unter die Räder werfen; ich erlaube nicht, daß Sie abreisen! Was soll denn das alles bedeuten? Mit welchem Recht geschieht das? Ich reise mit Ihnen, ich werde hinter Ihrem Wagen einherlaufen, wenn Sie mich nicht hinaufnehmen und werde laufen, so lange ich kann, bis ich meinen Geist aufgebe. Wissen Sie denn überhaupt, was dort sein wird, wohin Sie reisen, meine Liebste? Sie wissen das vielleicht gar nicht, fragen Sie bloß mich? Dort ist die Steppe, meine Teuerste, die Steppe, die kahle Steppe; kahl wie meine Handfläche, dort gibt es bloß gefühllose Weiber und dumme, betrunkene Bauern. Dort fällt jetzt das Laub von den Bäumen, dort regnet es, dort ist es kalt – und dorthin fahren Sie! Nun, Herr Bykow hat dort Geschäfte: er wird dort mit seinen Hasen sein, und Sie? Sie wollen Gutsbesitzerin sein, meine Liebste? Ach, Sie mein Cherubinchen! Sehen Sie sich doch einmal an, sehen Sie etwa einer Gutsherrin ähnlich? ... Wie kann denn das nur sein, meine Liebste? Nehmen Sie nur zum Beispiel die Sache mit den Briefchen. Wem soll ich jetzt schreiben? Wen werde ich jetzt »meine Liebste« nennen? Wem kann ich diesen lieben Namen geben? Wo werde ich Sie dann finden, mein Engelchen? Ich werde sterben, Warinka, bestimmt werde ich sterben; mein Herz wird dieses Unglück nicht überwinden können. Ich habe Sie geliebt, wie das Licht der Sonne, wie mein eigenes Töchterchen, alles habe ich an Ihnen geliebt, meine Teuerste, und nur für Sie allein habe ich gelebt! Ich habe gearbeitet, geschrieben, bin herumgegangen, spazierengegangen und habe meine Beobachtungen zu Papier gebracht, in meinen Freundschaftsbriefen, und nur darum, weil Sie hier waren. Mir gegenüber, ganz nahe bei mir gelebt haben. Vielleicht haben Sie das alles nicht gewußt, aber es war wirklich so! Hören Sie, mein Täubchen, mein liebes, wie kann denn das alles sein, wie konnten Sie denn abreisen? Meine Teuerste, Sie dürfen nicht fahren, es ist ganz ausgeschlossen; es gibt einfach keine Möglichkeit dafür! Es regnet ja und Sie sind schwach und würden sich verkühlen. Ihr Wagen wird durchnäßt, ganz bestimmt wird er durchnäßt. Sie werden kaum außer der Stadt sein und der Wagen wird zusammenbrechen, er wird absichtlich zusammenbrechen. Denn hier in Petersburg sind alle Wagen sehr nachlässig gebaut! Ich kenne sie alle, diese Kaleschen; sie haben bloß eine schöne Fasson, eine richtige Spielzeugarbeit, aber nicht dauerhaft! Ich schwöre Ihnen, daß sie nicht dauerhaft gearbeitet sind! Meine Liebste, ich werde mich vor Herrn Bykow auf die Knie werfen; ich werde ihm alles, alles sagen! Und Sie werden ihm auch alles sagen, mit Vernunft! Sagen Sie ihm, daß Sie hier bleiben und nicht abreisen können! ... Ach, warum hat er denn nicht in Moskau die Kaufmannstochter geheiratet? Hätte er doch lieber sie zur Frau genommen, für ihn paßt eine Kaufmannstochter besser, viel besser, ich weiß schon warum! Und ich hätte Sie hier bei mir behalten. Wozu brauchen Sie ihn denn, diesen Bykow, meine Liebste? Wie sollte er Ihnen denn plötzlich so lieb geworden sein? Vielleicht, weil er Ihnen alle diese Falbeln gekauft hat, doch nicht etwa deswegen? Wozu Falbeln, wozu? Das ist doch lauter Unsinn! Hier handelt es sich um das Leben eines Menschen und dort – Falbeln, was ist so eine Falbel, ein Fetzen. Wenn ich bloß mein nächstes Gehalt bekomme, kaufe ich Ihnen sofort diese Falbeln, ganz bestimmt, meine Liebste! Ich habe in diesem Geschäft Bekannte. Lassen Sie mich nur mein nächstes Gehalt abwarten, mein Cherubinchen Warinka! Ach Gott, ach Gott! Also Sie fahren wirklich mit Herrn Bykow in die Steppe. Sie reisen unwiderruflich! Ach, meine Teuerste! ... Nein, Sie werden mir noch einmal schreiben, Sie werden mir noch ein Brieflein schreiben, wo Sie mir alles erzählen. Und wenn Sie reisen, werden Sie mir auch von dort schreiben. Sonst wäre dies doch Ihr letzter Brief; und das kann ja unmöglich so sein, daß dies Ihr letzter Brief wäre! Wie sollte denn dies tatsächlich bestimmt der letzte sein! Nein, ich werde Ihnen weiterhin schreiben und auch Sie mir ... Mein Stil ist doch eben im Begriffe, sich zu bessern ... Ach, was Stil, meine Teuerste! Weiß ich doch jetzt gar nicht mehr, was ich überhaupt schreibe, gar nichts weiß ich, gar nichts. Ich lese es auch nicht noch einmal durch, verbessere nichts, sondern ich schreibe bloß, um zu schreiben, um Ihnen noch mehr zu schreiben ... Mein Täubchen, ach, Sie meine teuerste Warinka!

 


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