Franz Dingelstedt
Die neuen Argonauten
Franz Dingelstedt

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Kalliope

Kalliope, du der Musen letzte und größte, die du alle Epiker begeistert vom Sänger der Iliade bis zum Dichter des »Staps«, Göttin Dantes und Thümmels, Klopstocks und Voltaires, Camoens' und Blumauers, du unsterbliche Schöpferin sterblichster Heldengedichte, warum ziehst du noch einmal den Vorhang auf, der vor der Doppelgruppe zweier liebender Paare verhüllend gefallen war? Warum drückst du gebieterisch den Griffel noch einmal in meine widerstrebende Hand, zur Stunde, da draußen alles schläft und träumt, mich zu einer letzten Nachtwache zwingend? Ach, ließest du uns unsere Lieben, wie wir von ihnen geschieden, ein Kleeblatt verklärt in dem magischen Lichte seines Liebesglückes und den einsam Einzigen als Schicksalsopfer an den Pforten seiner Heimat eines rühmlichen Todes verblichen, dem Schiffer gleich, der im Hafen sinkt, oder dem olympischen Sieger, wenn er am Ziele seines Wettlaufs zusammenstürzt!

Allein du winkst verneinend; dein großes Gesetz heißt »Einheit«, ausgesprochen vor Jahrtausenden, bekämpft durch Jahrhunderte, aber in der heutigen Stunde noch gültig: – Einheit, Vollendung, Treue! Dein Priester gehorcht ihm! –

Es war am dritten Pfingsttage, dem außerordentlichen, hinter dem heiligen Geist wie eine profane Coda herschleppenden Feste, als im Pensionat der Madame Pappel, geborenen Ruthenbusch, alle Fenster hoch erleuchtet waren. Hinter diesen glänzenden Scheiben wurde die feierliche Verlobung Adelens mit dem Kompagniechirurgus Höcker begangen. Selbst Claurens gastronomische Belesenheit würde nicht ausreichen, um die Schüsseln und Teller alle aufzuzählen, von denen – die ausschweifende Phantasie des Magisters Hudel geträumt hatte. Die Wahrheit übertraf aber dieses lockende Vorbild um ein Bedeutendes, nämlich durch eine erhabene Einfachheit und eine Mäßigung, wie sie nur in den höchsten, sich am Spirituellen entschädigenden Ständen Sitte ist. Daher kam es auch, daß bei dem Festmahle durchaus nicht jener triviale Lärm von Messern, Gabeln, Gläsern, Flaschen, Tellern usw. gehört wurde, der sonst sinnende Gemüter bei ähnlichen Gelegenheiten zu stören pflegt; desto mehr waren die Zungen statt der Kinnbacken, die Augen statt der Lippen in Bewegung, also in jedem Bezug die edleren Instrumente. Denkt euch zweiundzwanzig Zungen und vierundvierzig Augen junger Frauenzimmer, wo wir dann Madame Pappel, und sehr mit Unrecht, weder bei den Zungen und Augen, noch bei den jungen Frauenzimmern mitgezählt haben! Welches Geschwirre sichtbarer und hörbarer Pfeile auf die Herzen der anwesenden Männer!

Überraschend, d. h. längst erwartet war's aber für die ganze Gesellschaft, daß bei dem »frugalen Abendmahle«, wozu die aufrichtige Madame Pappel eingeladen hatte, auf einmal der zu ihrer Rechten sitzende Kanzleirat Ziehmeyer sich erhob, mit der Serviette den Mund wischte, räusperte, wie nur er sich zu räuspern imstande war, und endlich nach einer salbungsvollen, unterbrochenen Rede die Gesundheit des jungen Paares ausbrachte. Ein donnerndes »Hoch!« im Saale und allgemeines Feiergeläute mit leeren Gläsern!

Kurz auf diesen Toast trat die gewöhnlich auf große Erdstöße folgende Ruhe ein, und unmittelbar in diese Stille – Adele sagte flüsternd: »es fliegt ein Engel durch's Zimmer« und lächelte ihren Höcker hold an – unmittelbar in diese allgemeine Rührung scholl auf einmal eine unbekannte, laute Stimme von der Saaltüre her:

»Mich bei den Herrschaften insgesamt und allergehorsamst – hm! – zu bedanken! Hm!«

Hamlet kann bei dem »Schwört« unter seinen Füßen nicht minder erschrocken gewesen sein, noch auch Abraham bei dem Ruf aus den Wolken, der ihm Kinder prophezeite, als die zum weiblichen Teile entsetzt aufkreischende Gesellschaft es bei jenen unverständlichen Worten war. Wie mit einem Halse drehte man sich nach der Türe um, und da stand ein bleicher, hagerer Mann, eine Hutschachtel unter dem linken Arm, in der anderen Hand einen Nachtsack, die Reisemütze tief in die Augen gedrückt, den fremden Leib in den Nankingrock gestopft, wie eine Wurst in ihren Darm.

So stand er da: –

Eusebius Trenttelfuß, der von den Toten Auferstandene, am dritten Tage gen Kesselstadt Gefahrene, welcher kam zu richten die Lebendigen und die Toten und zur rechten Hand seiner Zukünftigen zu sitzen! Eusebius!

Geschehen noch Wunder in dieser glaubensarmen Welt? Werden Jünglinge auferweckt und bersten Gräber? Ich könnte es einfach bejahen, und ihr müßtet mir ebenso wohl glauben, als dem schnellvergessenen Verfasser der »Jobsiade«, der seinen im ersten Bande gemütlich erschlagenen Helden im zweiten brevi manu wieder auferweckt. Ich aber bin milder in Anwendung meiner schriftstellerischen Rechte über Leben und Tod, und leichter als der Gesellschaft bei Madame Pappel soll sich meinen Lesern das Geheimnis der wunderbaren Erscheinung lösen.

Bei Madame Pappel wußte allerdings bis auf die erbleichende Hausfrau niemand, wo er den steinernen Gast im Nankingrocke hinbringen sollte. Madame Pappel faßte sich aber mit gewohnter Geistesgegenwart, und indem sie auf den im Fluge geahnten Vetter zuschritt, sagte sie, ihn den Gästen anmutig präsentierend: »Ein weitläufiger Anverwandter von mir, der Herr Kommerzienassessor Trenttelfuß aus Gersfeld.« Und zum Vetter gewandt fügte sie hinzu, ihm die Hand reichend: »Nun, das ist ja gar schön, daß Sie auch noch zur Verlobung kommen, und zwar direkt vom Postwagen, wie ich sehe!«

Sie warf einen schier mehr als ernsthaften Blick auf seine Garderobe, und Eusebius, ob durch seinen neuen Charakter oder durch die Gesellschaft oder durch den Blick außer Fassung gebracht, stammelte verlegen, indem er den Nachtsack fallen ließ, um die Mütze abnehmen zu können: »Verehrte Frau Base, nehmen Sie es nur nicht übel, daß ich Sie und die vielen Gäste habe warten lassen; aber nun soll es auch gleich losgehen. Und wo ist denn Mamsell Adele nun?«

Madame Pappel und den lieben Ihrigen, die nach und nach auch zu erraten begannen, trat ein gelinder Angstschweiß vor die Stirne, als der indiskrete Mensch, der auf kein Husten und Zupfen zu achten schien, ihren guten Namen, den eben notdürftig salvierten, einer neuen Katastrophe auszusetzen im Begriffe stand. Hastig fiel ihm die Frau Base ins Wort, nahm seine Effekten aufmerksam ab, suchte mit den Augen den Platz für ihn am Tische, wo er am wenigsten schaden (d. h. essen und reden) konnte, und fragte ihn zugleich, um ihn nur zunächst von den Freiersgedanken abzubringen, nach seiner Reise und nach dem Grunde seiner späten, kaum noch verhofften Ankunft.

Eusebius seufzte. Über seine ehrwürdigen Züge flogen die Schatten einer herben, kaum überstandenen Vergangenheit. Er erzählte, dichterischer, als wir es leider vermocht, seine Abenteuer, die unter seiner Bearbeitung eine ganz andere Gestaltung und Deutung gewannen. Wir berichteten nur das Wahre, Eusebius suchte eine richtige Mitte zwischen dem Wahren und Schönen zu treffen, um sich im Brennpunkt beider, möglichst vorteilhaft beleuchtet, hinzustellen.

An jenem Abend, als er für tot in die Arme seiner treuen Schleichlein sank, erwachte er auch wieder, und zwar noch in dem Hause des Metzgermeisters Daue, wo der Stech- oder Fliegenschimmel Anker geworfen hatte und ihn ab. Nur eine gefällige Ohnmacht verhüllte seine Besinnung in jenem ungeheuren Augenblicke; sein Schutzgott wollte ihn in einer Wolke gleichsam den Angriffen der Feinde entziehen. Er erholte sich binnen kurzem wieder und wankte am Arm Margarethens heim, wo ihn der »Schnellsegler« traulich und mit Jubel, aus dem Munde des Midshipman nämlich, begrüßte. Diesem und Margarethen sträubten sich alle Haare, als er ihnen noch am selbigen Abend eine gedrängte Geschichte seiner taten- und ereignisreichen Brautfahrt mitteilte. Diese Schleichlein bestand darauf, er dürfe nun nicht wieder fort; wo Gott so deutlich rede, indem er täglich zurückwiese, sei es Frevel vom Menschen, voranzustreben. Eusebius schüttelte mit schaudererregender Freigeisterei das Haupt, und heftig auf den zitternden Ladentisch schlagend, fuhr er die mehr zitternde Alte also an:

»Sprich«, sprach er, »meinetwegen, was du willst, kleinmütiges Frauenzimmer! Ich tue darum doch, was ich will!«

Mit diesen majestätischen Worten, denen er billig das spanische » Jo el Rey« hätte hinzufügen können, wenn er außer der Inschrift auf seinen Gersfelder Zigarren noch einiges Spanische gewußt hätte, mit diesen Worten begab sich Eusebius hinauf in sein Kämmerlein, schloß hinter sich ab und verbrachte die Nacht minder schlafend, als über Plänen der Liebe und des Hasses brütend. Ihm träumte, als er gegen Morgen in einen unruhigen Schlummer verfiel, er habe den Stadtrichter aus Gersfeld heiraten müssen und sei von seiner Base Pappel auf die Folterbank gespannt worden; so toll vermischte die gigantische Einbildungskraft unseres Helden Vergangenheit und Zukunft, Mann und Weib, Strafe und Lohn.

Der zweite Pfingsttag verging, einem windstillen Augenblick vor dem Erdbeben nicht unähnlich. Mit Entsetzen sah Margaretha an einzelnen, nur ihr verständlichen Zeichen, daß der Sturm im Herzen des Marktmeisters noch nicht ausgetobt hatte, und wartete bekümmerten Gemütes der Dinge, die da kommen sollten. Abends legte ihr Eusebius stillschweigends einen Reiseschein hin, auf seine Person lautend . . .

Er hatte sich einschreiben lassen!

Margaretha weinte laut bei dem Anblick des gefährlichen Blattes. »Sind Sie denn«, sagte sie, durch ihre Angst kühn, »noch nicht klug gemacht worden?« Eusebius lächelte, während sie weiter jammerte: »Ich sagte es ja gleich, daß es nicht gut täte, so weit weg!«

»Als ob«, entgegnete er, »ich noch niemals in Kesselstadt gewesen wäre!«

»Sind Sie etwa?«

»Du vergissest, daß ich als Kind von neun Jahren diesen Weg schon einmal machte.«

»Ach Gott, das war ja ein anderes! Damals war Ihr seliger Herr Vater bei Ihnen, und Sie lagen, sicher wie in einer Wiege, in dem Geflecht unter dem Frachtwagen, womit er zur Messe fuhr, neben dem Hemmschuh gut verwahrt. Aber jetzt so ganz mutterseelenallein in die schlechte, fremde Welt hinaus!«

Die mit Fug und Recht Besorgte fand nur darin einen Trost, selbst einen gewissen Triumph, daß Eusebius nun doch noch auf dem Eilwagen reisen müsse. »Da passiert einem so leicht nichts«, sagte sie bei sich, und in der Tat, wenn man Aufenthalte am unrechten Orte, Tabaksdampf im Wagen und zerbrochene Achsen draußen für nichts rechnen will, so kann man jahrelang mit der Post reisen, ohne einem Abenteuer zu begegnen. Verfasser dieses erinnert sich sogar mit dankbarer Bewunderung dieses Instituts im Vorbeigehen daran, daß es ihm nicht einmal möglich war, auf der Post etwas zu verlieren. Ein altes Paar Glacéhandschuhe, das er einst in einem Waagen vergessen, reiste ihm versiegelt und verwahrt, natürlich unfrankiert, von Station zu Station nach, und er war, dämonisch gleichsam, erschrocken, als er in geraumer Entfernung von dem Orte des Verlustes das gewaltige, von unendlichen Postzeichen durchkreuzte Paket aufriß und seine alten Handschuhe wiederfand, über deren Verlust er ordentlich froh gewesen war. Freilich, einen mit ihnen abgestreiften und schmerzlich vermißten Ring erhielt er nicht zurück, weil die Post dergleichen billig zu den »kleinen Effekten« zählt, für die sie nicht »haftet«.

Eusebius reiste also am dritten Pfingstmorgen zum dritten Male, diesesmal zu Wagen, von Gersfeld aus. Und in der Tat passierte ihm nichts. Das Schicksal schien erschöpft oder versöhnt, wie ja auch Juno am Ende den frommen Aeneas, Poseidon den göttlichen Dulder Odysseus – bongré, malgré! – am Ziele mußten anlangen sehen. Das rechnete der abgehärtete Marktmeister für nichts, daß er von Rautenburg aus mit einem Paar »Hofschauspieler« fuhr, die in Alten ein Deklamatorium zu geben beabsichtigten. Und doch würde es minder geprüften Seefahrern schon schlimm genug gedünkt haben, sechs Stunden lang zwischen einem schnarchenden Männlein und einem trinkenden Weiblein zu sitzen, von denen jenes Eusebio das schwere Haupt beständig auf die Schulter lehnte, während dieses, behufs der Verbesserung natürlicher Abweichungen mit einem eisernen Harnisch unterhalb der leichten Oberkleider angetan, die Spitzen jenes wohltätigen Metalls ebenso beständig in Eusebii Hüften setzte. Als die Künstler in Alten ausstiegen, er schlaftrunken, sie geistestrunken, stöhnte der zwischen beide Gepreßte laut auf und befühlte zweifelmutig seine Gliedmaßen; blaue Flecke hatte er bestimmt an der linken Schulter, und seine rechte Seite mußte blutrünstig gedrückt sein von dem Panzer, der auf dem Theater die Jungfrau von Orleans zur Heldin und im gewöhnlichen Leben die Künstlerin zum Weibe machte.

Diese kleine Unbill, wie gesagt, vergaß Eusebius um so leichter, als ihn das Schicksal durch Ankunft eines neuen Reisegefährten in Alten auf das Anmutigste entschädigte. Dies war ein zum Landtage zurückkehrender Blaufärber, der von seinem Einsteigen in Alten bis zu seinem Aussteigen in Kesselstadt einen fließenden Vortrag über das, was er bisher in der Kammer getan und was er hinfüro tun werde, von sich gab. Es bedurfte nicht einmal des ganzen ersten Teiles, um den Marktmeister in einen ebenso erquickenden als anhaltenden Schlummer zu wiegen, aus dem er erst auffuhr, als der Postwagen unter herzzerreißendem Hörnerklang in den Kesselstädter Posthof rollte. Wie Odysseus – wir gebrauchen geflissentlich dieses Bild so oft als ein allein würdiges Seitenstück des unsrigen – wie er nach langjährigem Irrsal schlafend an Ithakas Küste landete, so Eusebius schlafend, von Schiffen, Segeln und Ankern träumend, in Kesselstadt.

Was war natürlicher, als daß er sofort mit Sack und Pack in das Haus seiner teuren, bald mit einem noch teureren Namen zu begrüßenden Frau Base eilte, von deren erwartungsvoller Sehnsucht nach ihm er sich ein reizendes Bild entwarf? Vergebens suchten ihn die Domestiken auf der Hausflur mit der Versicherung, es sei große Gesellschaft droben, aufzuhalten; er lächelte pfiffig und sagte, einen Tritt hinaufhüpfend: »Ich weiß schon!« Das Stubenmädchen faßte ihn keck am Nanking-Schönfahrsegel und riß ihn mit den Worten zurück: »Aber Sie werden doch nicht so hinauf wollen, wie die Sau ins Judenhaus; wissen Sie denn, daß unsere Mamsell Verlobung hält?« Eusebius sah die Vordreiste mit einem fragenden Blicke an und begnügte sich, ihr mit Würde zuzurufen, schon wieder mehrere Stufen höher gestiegen: »Unverschämte! Bin ich denn nicht selber der Hauptjude hier oder Bräutigam?« Ein schallendes Gelächter begleitete ihn hinauf.

Wie er aber im Saale begrüßt und empfangen wurde, haben wir oben bereits erzählt. Sein Reisebericht, den er auf der Hausfrau Verlangen, immer mit gefährlichen Seitensprüngen auf den Zweck seiner Erscheinung, mitteilte, brachte eine ungewöhnliche Heiterkeit in der Gesellschaft hervor, und als er am Ende schloß: »Da bin ich denn, und wo ist nun Mamsell Adele?«, hatte diese Unbefangenheit genug wiedergefunden, um mit Höcker vor ihn hinzutreten und ihm mit komischer Feierlichkeit zu sagen: »Hier, mein liebenswertester Herr Vetter, ist Adele, die sich mit ihrem Verlobten Ihrem vetterlichen Wohlwollen bestens empfiehlt!«

Adele hatte den Knoten zerhauen. Allgemeines Bravo und helles Gelächter im Saale belohnte sie, auf Kosten des Marktmeisters, der sprachlos und erstarrt unter den Residenzlern dastand, ihnen ein Gegenstand des Spottes, guten Menschen ein Bild der Verlassenheit und des in sich selbst verletzt zurückkehrenden Weisen. Er sagte keine Silbe, allein sein Auge fiel auf Madame Pappel, die halb verlegen, halb übermütig diesen Blitz auszuhalten suchte. Sie vermochte es nicht und redete den Vetter unsicher also an:

»Ja, mein bester Herr Assessor! Ihre eigene Schuld, wenn Sie zu spät kamen und ein anderer statt Ihrer zu früh. Sehen Sie, wir sind nicht gewohnt, auf die zu warten, die von uns etwas zu bitten haben; Adele hatte der Anträge genug, und wie könnte es auch anders sein?«

Eusebius fand während dieser Worte Zeit, sich zu sammeln. Seine Augen durchliefen den ganzen, glänzenden Kreis fremder Menschen, auf Adelen und ihrem Zukünftigen, seinem Stellvertreter, mit tieffeindlichem Ausdrucke ruhend. Madame Pappel, geborene Ruthenbusch, würdigte er keines Blickes mehr. Alles, was er tat, war, daß er aufstand, seinen Sessel mit Anstand zurückschob, Mütze, Hutschachtel und Nachtsack hastig aufraffte und mit einem stummen Gruß an die überraschte Gesellschaft hinausstürzte. Lange stand er unten an dem hellerleuchteten Hause still; finstere Gedanken zogen wie Furien durch seine aufgeregte Seele. »Soll ich ihnen«, so murrte er, »das Dach über den falschen Köpfen anstecken oder mich in das verräterische, da drunten hinkriechende Wasser der Dulfe werfen?« Er schüttelte ernst das Haupt und verschwand in der Nacht. –

Und so könnte ich ihn im Reiz des Geheimnisses Euren Augen entrücken, geliebte, in diesen letzten Momenten unseres geistigen Zusammenseins doppelt liebe Leser! War es doch von jeher den gefeiertsten Erscheinungen in der Weltgeschichte eigen, daß ihr Auftritt und ihr Abgang, Wiege und Grab, von rätselhaften, mehr verklärenden als verhüllenden Nebeln umflossen wurde. Auch Eusebius, der Sproß eines holländischen Heldengeschlechtes, könnte so zur Mythe versteinert werden, dem tibetanischen Büßer nicht unähnlich, der nach genossenem und getragenem Leben auf die Spitze eines unbekannten Berges hinaufsteigt und von denen im Tale nicht mehr gesehen wird.

Ich aber ziehe das minder dichterische Geständnis vor, daß Eusebius schon des nächsten Tages in demselben Wagen, in dem er schlafend durch die Tore von Kesselstadt eingefahren war, gen Gersfeld heimkehrte. Und daß er am nämlichen Abend noch still und in sich gewandt die Schwelle des Schnellseglers überschritt, daß er Margarethen mit einem tonlosen: »Frauenzimmer, du hattest doch Recht!« die Hand reichte, von dem Subjekt seine Pantoffeln forderte und, ohne ein Wort weiter zu reden, ohne einen Bissen zu genießen, in sein Kämmerlein hinaufstieg, – auch das will ich nicht verhehlt haben. Ja, ich vertraue meinen Lesern ein persönliches Erlebnis, das mit dem späteren Eusebius in genauem Bezuge steht, zum Schlusse um so bereitwilliger an, als es dem Schriftsteller ein absonderlich lohnendes Gefühl ist, selber einmal vor seinen Freunden und Feinden aufzutreten, nachdem er so lange fremde Menschen vor ihnen aufführte, und auch ein Wort von der Bühne herabzureden, ehe der Vorhang völlig fällt und die letzten Lichter dampfend auslöschen. –

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*

Jahre waren seit Eusebius Trenttelfuß' denkwürdiger Brautfahrt verflossen. Die Sage davon, nicht von ihm ausgehend, der vielmehr ein bescheidenes und strenges Schweigen über seine Heroenzeit unverbrüchlich wahrte, hatte sich, wahrscheinlich aus dem Pappelschen Institut, durch alle Lande verbreitet und, wie es zu geschehen pflegt, aus Eusebius einen gewöhnlichen Menschen, schier einen Gimpel nach Art des veralteten »Magister Zimpel« bei Langbein, gemacht. Mich jammerte dessen, weil ich in den Nachrichten, die auch mich trotz einer beinahe unermeßlichen Ferne erreichten, eine große Vergangenheit und über das Gewöhnliche hinausgehende Charaktere ahnte. Sehr willkommen war mir daher eine Reise, die mich über den Schauplatz der wunderbaren Begebenheiten und durch die Stadt Gersfeld selbst führte. Ich wohnte im »Engel«, und meine erste Frage galt dem Helden, für den ich eine unerklärliche, fast sympathetische Teilnahme empfand, ohne ahnen zu können, daß ich zu seinem Homeros ausersehen sei. Er lebte noch, und ich atmete tief auf.

Kaum hatte ich mir den Staub der Reise von meinen Füßen geschüttelt, so führte mich ein im unschuldigsten Flügelkleide barfuß neben mir trabender Betteljunge, den der»Engel« seinen Lohnbedienten nannte und deshalb wahrscheinlich so sehr nach der Mode der Engel kostümiert hatte, in die Pomeranzenstraße. Er deutete auf ein ansehnliches Haus in dieser und legte sich, zum Zeichen, daß wir zur Stelle wären, auf der Schwelle nieder.

Ich trat ein – mit welchen Empfindungen, mögen diejenigen ermessen, die rechten Sinnes in das Vorzimmer des weiland sachsen-weimarischen Staatsministers von Goethe geschritten sind, um sich von dessen Kammerdiener sagen zu lassen, wie seine Exzellenz heute niemanden annehme. Über meinem Haupte der Schnellsegler, die Tauende, der ausgestopfte Stör, die Schiffsschnäbel, die junge Walfischrippe, – ganz wie ich es mir in beschaulichen Träumen ausgemalt hatte. Hinter dem Ladentisch saß ein schon ältlicher Mann, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, weil er emsig in einem Buche las. Seine Haare spielten entschieden ins Graue, und der jugendlich-leichte Nanking, womit er angetan war, konstrastierte originell damit. Befangen und mit einem höflichen Gruße nahte ich mich dem Ladentische. Der Lesende stand und sah in demselben Augenblicke auf – er war es, Er, ER!

Der Nankingrock mußte im Laufe der Zeiten zu einer kurzen Matrosenjacke zusammengeschrumpft sein, die um den Leib von einem buntseidenen Tuch zusammengehalten ward. Das Gesicht war ernst, sogar düster, als seien schwere Sorgen oder tiefe Studien darüber hingegangen; mit Würde blickten zwei Augen, deren Ausdruck sich nicht wiedergeben läßt, aus diesem mich an, und eine männliche, tief ansetzende Stimme fragte mich, was mir denn gefällig wäre?

»Sie sind Trenttelfuß, Eusebius Trenttelfuß sind Sie, nicht wahr?«

Er entgegnete: »Ich bin der Marktmeister, wie auch Vieh- und Fleischbeschauer Trenttelfuß, Mitglied der Orts–«

Allein hier unterbrach ich schon und griff mit einem höflichen »Ist's erlaubt?« nach dem Buche, das er niedergelegt. Es war »Antonia della Roccini, die kühne Seeräuberkönigin«.

Lösch' deine Laterne aus, schlauer Diogenes, du hast deinen Mann gefunden!

So rief ich mir selber zu und fragte ehrerbietig: »Würdiger Mann, wären Sie wohl geneigt, einem Reisenden, der Ihretwegen einen Umweg von vier deutschen Meilen nicht gescheut hat, das Nähere über Ihre berühmte Reise nach Kesselstadt mitzuteilen?«

Aber wie bereute ich meine vorschnelle, nur der Begeisterung zur Unzeit entschlüpfte Wißbegier, als Eusebius mit einem furchtbaren: »Potz Nelson und Codrington!« aufstand, seine Seeräuberkönigin ergriff und die Ladentür klirrend hinter sich zuschlug.

Da stand ich. Und nur mit Mühe konnte ich die neugierig und zornig zugleich aus derselben Türe hervortretende Alte bewegen, mir ein halbes Dutzend Schreibfedern gegen bares Geld zu verabfolgen. »Nicht wahr«, sagte ich zu der verwunderten Matrone, »Sie sind Frau Margaretha Schleichlein?« Sie nickte, und ich ging hinaus, die sechs Gänsekiele als ein heiliges Gedächtnis an diesen klassischen Boden mit mir nehmend.

Lange habe ich sie bewahrt. In diesem Augenblicke aber zerstampfe ich, vergebens nach einem pikanten Schlusse haschend, deren letzten.

Mit ihnen ist vorstehende Geschichte der neuen Argonauten geschrieben worden; die ehrwürdigen Stümpfe finden sich nach meinem Tode in dem rechten Fach meines Schreibtisches, dritte Schublade von oben. –


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