Franz Dingelstedt
Die Amazone
Franz Dingelstedt

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6. Beim Lever einer Theaterprinzeß

Auf den Freitag, an welchem die bisher erzählten Begebenheiten sich zugetragen, folgte ein Sonnabend. Wir würden dieses Umstandes, der an und für sich nicht eben merkwürdig genannt werden kann, kaum Erwähnung tun, hätte er nicht auf den Gang der Ereignisse, die uns und unsere verehrten Leser beschäftigen, beschleunigend eingewirkt. Wäre unsere Geschichte in den ersten Wochentagen angegangen, statt am Freitage, so verliefe sie ungleich ruhiger, regelmäßiger. Aber gegen Schluß der Woche gerät sämtliches Leben, das öffentliche wie das private, äußeres und inneres, unwillkürlich in rascheren Fluß. So klein der Zeitabschnitt auch ist, so steigert sich doch gegen das Ende zu alle Bewegung, und insonderheit der Sonnabend, südlich der Mainlinie Samstag geheißen, ist ein vorzugsweise stürmischer Tag, eine Springflut vor der ebbenden Sabbatstille des letzten Wochentages. Wie viele Besen, Scheuerlappen, Schwämme befinden sich in fieberhafter Erregung. Auf den Straßen, welches Gedränge von Wäscherinnen, Schusterbuben, Schneiderlehrlingen mit geheimnisvollen Paketen! Auf den Märkten, in den Läden, am Postschalter, in Kontoren und Kanzleien welches Gewühl!

Auch in Fräulein Lomonds Wohnung, die überhaupt nicht zu den stillen im Lande gehörte, stellte sich dieser Sonnabend unter unruhigen Zeichen ein. Die Sängerin residierte in der Nähe des Theaters, Rosenstraße Nr. 27. So zierlich das Bild ist: eine Nachtigall in Rosen, so gebietet uns doch die Wahrheitsliebe, des Geschichtsschreibers höchste Pflicht, hier zu erklären, daß nicht von Rosengärten die Straße ihren duftenden Namen empfangen, sondern von einem alten, herrschaftlichen Hause, das zur roten Rose genannt wurde, noch von Olims Zeiten her, als die Häuser nicht numeriert waren wie jetzt, vielmehr durch Sinnbilder und Schilder unterschieden. Über der Haustür der roten Rose prangte, in Stein gehauen, die Königin der Blumen, eine kolossale Zentifolie, die man freilich, wäre sie grün, statt ziegelrot angestrichen gewesen, ebensogut für einen Kohlkopf hätte ansehen können. Das Haus stammte aus einer Periode, wo italienische Baumeister in der Stadt grassiert und sie mit allerlei exotischen Steingewächsen bereichert hatten; Fluren mit Oberlicht, gewölbte Gemächer, lange Korridore, Balkone mit eisernen, ehedem vergoldeten Gittern, Mezzanine, Attiken mit Figuren, flache Dächer, und was dergleichen welsche Spielereien mehr sind. Fräulein Lomond fand Geschmack daran, vielleicht in Erinnerung an Neapel. Sie bezog den Hauptstock der roten Rose, eine Reihe von hohen, hallenden Zimmern, mit einem Balkon auf die Straße und einer Loggia auf den mit Akazien bepflanzten Hof. Über ihr, in der Attika, hauste ein polytechnischer Schüler, der sie im stillen anbetete. Wenn sie übte oder studierte, lag er mit verhaltenem Atem auf dem Fußboden, das Ohr an die Dielen gedrückt. Vor den Fenstern ihres Schlafzimmers hing er von oben an langen Bindfaden anonyme Selams auf. Begegnete er ihr aber einmal zufällig auf der Stiege, so lief er davon, als ob ihm der Kopf brennte, und zwar ohne Gruß. Unter ihr im Entresol fand häufiger Wechsel der Mietsparteien statt; jetzt wohnte ein pensionierter Finanzrat darin, der sich hatte zur Ruhe setzen und nebenbei ein Freibillett auf die Oper genießen wollen. Unglückseliger Wahn! Außer der Skala, der täglichen, hörte der Musikfreund nichts oder doch nicht viel von seiner Hausgenossin. Dagegen liefen am Morgen Theaterdiener, Livreediener, Lohndiener die Treppen lärmend auf und ab; mittags und abends kam lustige Gesellschaft, und nicht selten wurde bis lange nach Mitternacht über dem Haupte des Pensionierten gewalzt, gepolkt, geländlert. Er zählte verzweiflungsvoll die Stunden bis zur Ziehzeit. Ins Erdgeschoß der roten Rose teilten sich ein Geldwechsler und eine Weinhandlung, welche beide Fräulein Lomond häufig in Nahrung zu setzen liebte.

Ehe wir an ihrer Tür anläuten, wollen wir ein Geständnis machen. Wenn unsere geneigten Leserinnen »den bürgerlichen Haushalt, wie er sein soll,« »die perfekte Köchin,« oder »das Ganze einer Musterwirtschaft« bei ihr kennenzulernen hoffen, so bleiben sie besser draußen. Fräulein Lomond gehörte nicht zu den Auserwählten, Hausfrauen von Gottes Zorn, die beim ersten Schritt ins Zimmer ein Staubwölklein im entferntesten Winkel, ein schief aufgezogenes Rouleau, einen nicht ganz lot- oder wagrecht hängenden Spiegel wahrnehmen und mit Fanatismus zu Felde ziehen gegen solche Sünden wider den Heiligen Geist. Sie hatte das Bedürfnis und die Gewohnheit, schön umgeben zu sein, setzte den Fuß lieber auf Brüsseler Teppiche, als auf den nackten Boden, und saß (noch häufiger lag) ohne sonderliche Schonung und Rücksicht in Lehnstühlen von Samt, auf Ruhebetten von Seidendamast. Es kam ihr auch nicht darauf an, ihre Möbel nach Herzenslust und augenblicklicher Laune durcheinander zu werfen, einmal am Schreibtisch zu frühstücken und auf dem Piano ein hastiges Billett mit Bleifeder hinzukritzeln. Wie alle Singvögel, die zugleich Zugvögel sind, war sie ziemlich gleichgültig gegen ihr Nest, dabei jedoch himmelweit entfernt von der genialen Unordnung mancher Theaterkolleginnen, welche Schminktopf und Kaffeetasse nebeneinander stellen, und zwar auf ein Noten- oder Zeitungsblatt, das Kamelienbukett von gestern abend zwischen den Pantoffeln von heute morgen liegen lassen, und wenn ein Besuch gemeldet wird, hastig ein Paar Strümpfe, ein gebrauchtes Taschentuch oder schmutzige Handschuhe unter die Sofakissen stopfen, von wo sie der Schoßhund, das Ungeheuer, im entscheidenden Moment der Unterhaltung hervorzerrt... O Schicksal! – Von solcher Künstlerwirtschaft dachte die Sängerin wie Roland von der malerischen Unordnung eines Ateliers.

So viel vorausgeschickt, treten wir ein. Im Vorzimmer, obgleich es noch nicht zehn Uhr vormittags ist, findet sich bereits eine zahlreiche Gesellschaft. Auf den Bänken mit hoher Lehne räkeln sich stattliche Lakaien, Überbringer von Briefen, Visitenkarten, Blumensträußen und Blumentöpfen, welche sämtlich persönlich übergeben sein wollen. Den Ehrenplatz im ledernen Armsessel behauptet Vater Winter, das wandernde Album aus Bremen im Schoß, das die gefeierte Künstlerin an passender S–telle mit einem kurzen Denks–pruche ausstatten soll. Ein paar andere Lohndiener haben sich ihm angeschlossen, um Jagd auf Billette zur letzten Vorstellung zu machen. Der Uhrmacher, der Sonnabend aufzieht, der Klavierstimmer, der Sonnabend stimmt, der Theaterschneider mit einem neuen Helm zum Anprobieren, der Kapelldiener, stehende Figuren in diesen Räumen, harren am Eingang. In den finstersten Winkel verkriechen sich jammervolle Gestalten: Damen mit baumwollenen Handschuhen und karierten Schals, auf der linken Seite getragen; Herren, welche die Röcke bis an den Hals hinauf krampfhaft zuknöpfen, während ihre Fußzehen aus dem Stiefel neugierig in die Welt blicken. Die schmierigen Reisepässe, die sie in erfrorenen Fingern halten, sagen, was sie sind: »Künstler« ohne Engagement, welche auf Kollekte gehen. Zuweilen werden Gespräch und Gelächter der buntgemischten Gesellschaft zu laut; dann öffnet sich die innere Tür, ein majestätischer Männerkopf mit Ohrringen schaut heraus, ein gebieterischer Finger legt sich an den Mund, – und »die Stille wird stiller.«

La Diva, die Göttin, schlummert noch. Ehe im Allerheiligsten, dem Schlafzimmer, das erste Glockenzeichen getönt hat, muß ehrfurchtsvolles Schweigen im Tempel herrschen, dafür sorgt der Oberpriester, Signor Beppo, eben jenes majestätische Antlitz mit den goldenen Ohrbommeln. Wenn Herr Raff, genannt Raffael, ein Original ist, so ist Beppo ein Ideal, der Inbegriff aller möglichen und unmöglichen Vollkommenheiten der dienenden Menschheit, wie er sich nur noch in Italien realisiert. Wen der Himmel lieb hat, den züchtigt er mit einem solchen Faktotum. Die Primadonna brachte ihn aus Neapel mit. Er schrieb und unterschrieb sich: Giuseppe del Sotto, Intendente della Signora Lomondi Seraphina, prima donna assoluta del teatro reale. Nur seiner Herrin räumte er das Recht ein, ihn kurzweg Beppo zu rufen; im Hause, im Theater, in der Stadt bestand er auf seinem Geschlechtsnamen, dessen Quelle er bis in das graueste Altertum, die pelasgischen Kolonien in Großgriechenland, nachwies. Sein Äußeres widersprach der Angabe keineswegs. In schwarzem Frack, kurzen Unaussprechlichen und seidenen Strümpfen, eine weiße Krawatte mit Brillantnadel um den Hals, glatt rasiert, das dunkle Haar zu Berge gestrichen, sah er unglaublich vornehm aus. Über der stolz geschwungenen Adlernase funkelten ein Paar Augen, die das blaßgelbe Gesicht noch heller heraushob. Er trug bei großen Gelegenheiten den Orden vom goldenen Sporen im Knopfloch, der ihm, streng genommen, das Recht gegeben haben würde, sich Cavaliere del Sotto zu betiteln; allein er verschmähte das. »Herr del Sotto«, oder »Herr Haushofmeister« genügte; »Herr Kammerdiener« versetzte ihn in Wut. Wer ihn »Beppo« nannte, empfing keine Antwort. Die Tätigkeit des Ideals ist eine bis zum Unendlichen vielseitige. Vor Tagesanbruch, ehe noch ein Fenster oder Auge im Hause sich geöffnet, steht er auf, Winter und Sommer. Er ordnet, wie ein Hausgeist, unsichtbar und unhörbar, alle Zimmer. Sogar das Parkett hält er nicht unter seiner Würde; auf einer Bürste, die gleich einem Kothurn unter die Füße geschnallt wird, läuft er pfeilschnell über den Boden dahin, der glatt und blank wie eine Eisfläche aus seiner Behandlung hervorgeht. Dann werden die Möbel, die Rahmen, die Vorhänge, die Teppiche abgestäubt, die Blumen verschnitten und mit Bürste und Schwamm bedient, der Käfig des Papageien und der Korb der Wachtelhunde gereinigt. Um sieben, acht Uhr ist diese erste Herkulesarbeit beendigt; wehe dem Sterblichen, der ihn dabei überrascht! Die Küchenmagd, welche einmal helfen wollte, wurde sofort entlassen. Niemand darf wissen, was für eine Hand hier gewaltet hat. Um acht Uhr beginnt der zweite Teil der Tagesordnung: Beppo sorgt in der Küche für die Schokolade der Herrin. Wer anders als er könnte dies Getränk nach echt italienischer Art bereiten und Ravioli dazu, Seraphinens unentbehrliches Naschwerk? Mit dem Frühstück, das sie im Schlafzimmer, oft im Bett einnimmt, serviert Beppo die eingelaufenen Zeitungen und Briefe, jene aufgeschnitten, diese erbrochen, beide gelesen. Er »arbeitet mit der Signora«. Wiederum wehe dem Sterblichen, der zu stören wagte! Der Zimmerputzer hat sich in den Mandolettibäcker, der Bäcker hierauf in den Geheimsekretär verwandelt. Die Signora diktiert kurze Notizen zur Erledigung der starken Korrespondenz; der Signor Intendente schiebt die Papiere in sein Portefeuille und zieht sich zurück in sein Hofgemach, um zu expedieren. Nur eine annähernde Vorstellung zu geben von der überraschenden Fertigkeit des Vielseitigen im deutschen Briefstil, schalten wir hier ein paar seiner Antworten ein, die er, nach dem Thema, zu variieren wußte, con grazia, in infinitum.

Nummer eins, an einen Bittsteller: »Eier Wolgegeborn! In Erwiderung auf Ihren Allerwertesten a dato 24 voriges Monat, so winschen Sie eine Unterstutzung. Diesen ißt in gegenwärtigen Augenblicken nicht möglick. Ätten Sie früher, wäre möglick. Haber was nicht möglick, ißt unmöglick. Mit haller Hachtung Ihren haufricktigen: Giuseppe del Sotto, Intendente usw.«

Nummer zwei, an einen Theaterdirektor – »Eier Wolgeborn! In Erwiderung auf Ihren Allerwertesten a dato 9 laufendes Monat, so winschen Sie von uns heinige Gasserollen. Diesen ißt in gegenwartigen Augenblicken nickt möglick. Denn warum, so aben wir schon so ville Gasserollen mit haußwartige Impresarii, daß wir nicht wissen, wie hihne halle befriedigen. Vielleickt auf eine handere Jahren ißt möglick. Mit halle Hachtung usw. (wie oben).«

Bis zehn Uhr wurde im Kabinett konzipiert, mundiert, expediert und hierauf Toilette gemacht, Signor Beppo ging immer schwarz, nur mit farbigem Halstuch, Sommers im Strohhut, Winters in einem weißen Zylinder, jeder Zoll ein Gentleman. Er begab sich zur Post, besorgte die mündlichen Aufträge seiner Gebieterin, kaufte ein: Geflügel, Wild, junges Gemüse, Früchte. Hier spielte das Taschenbuch dieselbe wichtige Rolle, wie im Sekretariat das Portefeuille: »Butter – due funti (zwei Pfund), Eier – cinque mandole (fünf Mandel)« usw. Heimgekehrt, hüllte sich Beppo in die weiße Schürze und Mütze des Mundkochs, wobei er der assistierenden Hausmagd selten zu erzählen unterließ, daß auch Rossini, der göttliche Maestro, der Schwan von Pesaro, sich niemals das Recht nehmen lasse, seine Makkaroni, sein Risotto selbst zu komponieren. Bei Tisch bediente er aber nur die Sängerin; für Gäste wurden Lohndiener angenommen. Große Diners dirigierte sein Haushofmeisterstab; auch hier wehe dem Sterblichen, der eine silberne Gabel fallen ließ oder mit den Tellern klapperte! Ein Blitz aus den funkelnden Augen mit nachfolgendem Donnerschlag, der im stillen mittels des Stabes appliziert wurde, vernichtete ihn. Abends besuchte Beppo das Theater, jedoch niemals die Bühne. Er hatte seinen Sperrsitz unmittelbar hinter dem Orchester, stand mit allen Mitgliedern desselben auf dem Prisenfuß und übte eine furchtbare Kritik, stellenweise auch Antikritik, über die Opernvorstellungen, während er im Schauspiel regelmäßig schlief. Einen Fremden, der sich neben ihm unterfangen hatte, die Lomond auszuzischen, warf er im Zwischenakt aus dem Parkett ins Orchester, so daß er mitten in die große Trommel zu sitzen kam. Er wurde verhaftet und nur auf Verwendung der einflußreichen Primadonna wieder losgegeben. »Signora,« sagte er bei der Rückkehr aus dem Polizeiarrest, »ich küsse Ihnen die Füße für meine Freiheit: aber die Strafe war verdient, nicht von mir, sondern von Ihnen.« – »Beppo, was fällt Euch ein?« – »Signora hat wirklich schlecht gesungen an jenem unglücklichen Abend; sie hat zweimal falsch angesetzt, einmal zu früh, einmal zu spät, und die Schlußkadenz der großen Arie verdorben.« – »Ich war zerstreut, Beppo, müde, indisponiert.« – »Signora, dann singt man nicht. Man kompromittiert nicht seine Freunde.« Sie versprach Besserung und erhielt Verzeihung, nicht im Scherz, nein, vollkommen ernsthaft gemeint. Denn aufrichtig und groß war der Respekt der Sängerin vor dem musikalischen Urteil ihres getreuen Beppo. Er besaß ein unbestechlich feines Ohr, angebornen Sinn für Takt und Tempo, Geschmack und Erfahrung in Verzierungen des Gesanges, und ein eigenes Repertoire neapolitanischer Volkslieder, dem die Primadonna manches Paraderößlein für den Salon verdankte. Deswegen benützte sie ihn auch zuweilen im Studium neuer Partien; zum Geheimsekretär, Haushofmeister, Kammerdiener, Koch gesellte sich eine abermalige Verwandlung: der Musikmeister. Beppo schwur einen körperlichen Eid, er werde noch Amme werden, dry nurse, wie die Engländer sagen, falls es der Signora einfallen sollte, was der Himmel verhüte, Kinder zu kriegen.

Außer Beppo umfaßte der Hausstand Seraphinens nur noch eine präsentable Person, Marie, die Jungfer, der wir im Hühnerhof von Rolandseck am Arme Raffaels flüchtig begegnet sind. Marianka war eine Tschechin mit Leib und Seele; sie trug breite Backenknochen, längliche, etwas schief gestellte Augen und rabenschwarzes Haar, das, aufgelöst, sie wie ein Mantel bis herab zum Knie bedeckte, sprach wenig, hörte und horchte desto mehr, galt für eine Fee mit der Nadel und dem Bügeleisen und konnte ohne Theater nicht leben. Ihr Bereich ging über Schlafzimmer, Toilettenkabinett und Garderobe der Herrin nicht hinaus. Wagte sie einmal, Fuß oder Hand jenseits dieser Grenzen auszustrecken, so begegnete sie auf Schritt und Tritt dem zähen Widerstand des Italieners. Die Tochter Libussas und der Enkel der Pelasger lebten in unaufhörlichem Kriege miteinander. Da beide das Deutsche nur gebrochen redeten, fielen sie in der Hitze des Gefechtes immer in ihre Muttersprachen zurück und wurden einander vollkommen unverständlich. Dergleichen Zankduette waren die Wonne vertrauter Hausfreunde; Graf Wallenberg, des Böhmischen und des Italienischen mächtig, versäumte niemals, die zwei Feinde zusammenzubringen und durch die perfideste Dolmetschung zur höchsten Leidenschaftlichkeit zu steigern. Ihre Fehde entstand, angeblich, aus eitel Liebe und Treue für die Herrschaft. Mariankas Herz blutete unaufhörlich, weil Beppo, – der Schnipfer, der Salamimann, – Pana, die so gut und arglos, bei Rechnung seiniges betrog. Beppo hinwiederum bezichtigte die Wilde, das Kalmückengesicht, sie plaudere die Geheimnisse der Theatergarderobe an den ersten Kommis der Weinhandlung im Erdgeschoß aus, mit dem sie ein Techtelmechtel habe. Die Sängerin schlichtete den edlen Wettstreit mit einem Urteil Salomons, indem sie sagte: »Ihr habt beide recht; nun laßt mich in Ruhe!«

Ruhe... Als ob das Leben einer Primadonna in und außer dem Hause die Ruhe jemals kennen lernen könnte! Ihr Dasein braucht, gleich der Uhr, die Unruhe zum Gehen. Unruhig war denn auch, wie gesagt, unser Sonnabendmorgen, zu welchem wir nach einer kleinen Farbenskizze von Signor Beppo und Mademoiselle Marie zurückkehren.

Er hielt sich, der Vielseitige, seit neun Uhr bereits im Speisezimmer auf und wartete ungeduldig auf das Zeichen der Glocke, das ihn mit der Schokolade und dem silbernen Teller voll Briefe und Zeitungen zu der aufgehenden Sonne bescheiden würde. Das Speisezimmer ist ein mäßig großes, höchstens auf ein Dutzend Gäste berechnetes Gemach. Von Silberzeug weist das Büfett nur die nötigsten Stücke auf. An den Wänden hängen, in Kupferstich und Steindruck, die Porträts berühmter Theatergrößen, mit eigenhändigen Unterschriften der Sängerin gewidmet; den glänzendsten Rahmen hat ihr Gesanglehrer, ein Neapolitaner, dem sie den ersten ihr gespendeten Kranz, eine Erinnerung an San-Carlo, mit Schleifen in den italienischen Farben, grünweißrot, auf das Haupt gedrückt. Ein Atemzug der Weltgeschichte weht durch die welken Blätter dieses Kranzes. Die Hand, die ihn vor Jahr und Tag geworfen, büßte damals auf Ischia in Eisen und Banden das Verbrechen, die nationale Trikolore auf den Brettern von San-Carlo gezeigt zu haben – Links an den kleinen Speisesaal stößt der Salon, das einzige Zimmer, das nicht mit reichen Teppichen und Portieren versehen ist, weil hier gesungen und musiziert wird. Zwei Flügel von Bösendorfer teilen sich mit einer Menge kleiner Etablissements für gesellige Gruppen in den weiten Raum: Fauteuils, Chaiselongues, Causeusen, Dos-à-Dos, Eckdiwans in buntester Unordnung. Blumentische, kostbare Majolikaschalen, bis an den Rand mit Visitenkarten gefüllt, deckenhohe Spiegel, drei Lüstres, ein marmorner Kamin, mit Bronzen bedeckt, wirken zu einem stattlichen Gesamteindruck zusammen, während Etageren mit fingerlangen Nippen und Porzellanpüpplein, desgleichen photographische Albums nur durch ihre Abwesenheit glänzen. Ein einziges Bild schmückt die Hauptwand: das Porträt des Landesherrn, in Öl gemalt, ganze Figur, Geschenk Seiner Majestät zum letzten Namenstage der Künstlerin.

In diesem Salon, wie in jenem Speisezimmer, vor der Tür und an den noch dicht verschlossenen Gardinen des Himmelbettes – überall wurde gewartet. Im Salon befinden sich zwei Gruppen, die wir uns näher ansehen müssen. Am Kamin harrt ein Paar ältlicher Herren, der eine ein Theateragent, namens Baldrian, der zweite ein Theaterdirektor, unter der Benennung Salamander im ganzen deutschen Bühnenstaat berühmt. Herr Baldrian, der mächtigste seiner Zunft, erscheint selbst bei der Primadonna nur im bequemen Morgenanzug; die Füße gegen das Bronzegitter des Kamins gestemmt, beide Hände in den tiefen Rocktaschen vergraben, mit finstergerunzelter Stirn sitzt er da. Ihn verdrießt das Warten. Seine Zeit ist Geld. »Diese Prinzessinnen aus meinem Theateralmanach,« klagt er bitter, »lassen länger antichambrieren, als die des Gothaischen.« Der Salamander zuckt die Achseln; ein geschmeidiges, feistes, freundliches Amphibium von »Künstler« und »Bühnenvorstand«, in einer wundervollen schwarzen Perücke und einem schwarzen Frack, der etwas zu weit ist (um auf dem Theater auch über Wattierung getragen werden zu können) und auf der linken Brust ein paar Maschen hat zum Einhängen von Sternen und Großkreuzen aus Blech. Seine Handschuhe, trotz der frühen Stunde buttergelbe, riechen nach Terpentin, weil sie einige Male gewaschen worden sind, und von seinen Stiefeln tropft, vielleicht von der Kaminwärme, der Lack auf den Fußboden. Der Salamander beruhigt den Baldrian und schlägt ihm, die Zeit zu vertreiben, ein kleines Geschäftchen vor. »Seid Ihr denn wieder flott?« fragt der Agent. – »Noch nicht, aber ich hoffe es zu werden durch die Lomond.« – »Satanskerl! Dreimal abgebrannt, viermal bankerott gemacht und immer oben auf.« – »Ich arbeite jetzt an einer neuen Konzession für Pommern.« – »Die wievielte ist das?« – »Ungefähr das Dutzend voll, das Ausland, Schweiz, Holland, Elsaß, nicht gerechnet.« – »Und was sagt der Herr Regierungspräsident dazu?« – »Ich berufe mich auf die Opfer, die ich bei der letzten Landestrauer gebracht habe.« – »O Salamander ohnegleichen. Auch von der Landestrauer profitiert er! Als ob man nicht wüßte, daß Ihr zum fünften Male hättet zugrunde gehen müssen, wenn der Theaterschluß nicht zur rechten Zeit gekommen wäre!« – »Sans Spaß, das Geschäft ging brillant; beim Sommertheater hätte ich ein Heidengeld herausgeschlagen.« – »Ohne die Wintergagen zu bezahlen, Salamanderchen?« – »Jede Jahreszeit für sich, Gevatter Baldrian. Aber sans Spaß, wollt Ihr mir eine Gesellschaft machen, wenn ich Pommern kriege?« – »Darüber läßt sich reden, wenn Ihr's habt. Der jetzigen Direktion, Stullmüller und Breul, spiele ich gern einen Possen; sie arbeiten seit zwei Jahren nicht mehr mit mir, sondern mit meinem Erbfeind, dem Musteragenten, der die Provision auf sechs Prozent herabsetzen wollte, dem Doktor Siebenreuter.« – »Die Rache ist süß, Baldrianchen. Rächen wir Euch. Seht einmal nach, was Ihr auf Lager habt.« – Der Agent zog eine Brieftasche heraus, die mehr Sack als Tasche heißen durfte, so strotzte sie von Briefen, Rechnungen, Zeitungsblättern, Telegrammen, photographischen Porträts, Rollenverzeichnissen usw. Er öffnete seinen Sklavenmarkt. »Von Johannis ab disponibel,« las er, »Frau Deubel-Fitzinger, das erste tragische Talent der Gegenwart.« – »Wohl schon mehr Vergangenheit, Baldrianchen?« – »Unsinn! Dreißig Jahre alt, Augen wie Minerva, eine Büste wie Juno, gewachsen wie die Venus Kallipygos. Famoses Repertoire. Alle klassischen Rollen. Kein Hoftheater besitzt eine Jungfrau, die ihr nur das Wasser reichte.« – »Was tu' ich in Anklam mit der Jungfrau? Ich brauche eine muntere Liebhaberin, Spieltenor, Naturburschen, vor allem eine Soubrette für Oper und Gesangsposse.« – »Wißt Ihr was? Nehmt die Mintschka; ein reizender Balg, achtzehn Jahre alt, den Satan im Leibe. Studiert in allen Offenbachschen Opern. Spielte die schöne Helena in Altona zehnmal mit aufgehobenem«... – »Abonnement?« – »Nein, Peplon.« – Nachdem die Biedermänner eine Minute lang über den köstlichen Witz gelacht hatten, daß ihre Bäuchlein wackelten, fuhr der Direktor fort: »Sans Spaß! Könnt Ihr mir die Mintschka liefern? Und nicht zu teuer?« – »Um ein Spottgeld. Sie ist schwer anzubringen, weil kein Direktor es lange mit ihr aushält. Ihrem vorletzten, Heumeister in Torgau, hat sie auf offener Szene eine Ohrfeige gegeben.« – »Was tat Heumeister darauf?« – »Er entließ sie.« – »O Heupferd! Drei Monatsgagen Strafe hätte ich ihr angesetzt und ein brillantes Geschäft gemacht. Ich nehme die Mintschka.« – »Ihr sollt sie haben, wenn die Konzession da ist.« – »Dazu muß die Lomond herhalten. Wenn ich ein Gastspiel von ihr im Sack habe, kann der Regierungspräsident nicht nein sagen.« – »Aber wie wollt Ihr das Honorar aufbringen? Sie singt Euch nicht unter hundert Louisdor.« – »Ich verschreibe ihr tausend, wenn sie's verlangt. Dergleichen Gäste bezahlt man ohnehin nicht.« – »Man bezahlt sie nicht?« – »Niemals. Ich verspreche die halbe Einnahme, ganzes Benefiz, Garantie bis ins Blaue hin. Ist das Gastspiel vorüber, so schicke ich dem berühmten Gast, wenn er weichherzig ist, ein halbes Dutzend Theaterkinder über den Hals, je zerlumpter, desto besser. Ich erscheine auch, ich spreche vom Hungertuch, ich weine; keine Ruhe, bis mir das Honorar erlassen wird. Bei hochfahrenden Damen, wie die Lomond, zähle ich in kleiner Münze einen Bettel auf den Tisch, den sie sich anzunehmen schämen; sie werfen ihn mir ins Gesicht, mich zur Tür hinaus, und ich lache mir draußen ins Fäustchen.« – Der Agent sah den Direktor mit einem Blicke unverhohlener Bewunderung an, als wollte er ausrufen: »Wenn ich nicht Baldrian wäre, möchte ich Salamander sein!« Jedoch verlor sich ihr vertrauliches Zwiegespräch in dem immer lauter anwachsenden Lärm der anderen Gruppe, die um den weit aufgeschlagenen Bösendorfer versammelt war.

Dort erklärte Herr Bullermann, der Verfasser der Amazone, dem Redakteur der halboffiziellen Morgenzeitung, dem Bassisten Braun und dem Ritter von Blumenberg Tendenz und Charakter seiner neuesten Tondichtung: die Sündflut. Er kündigte dieselbe, mit ebensoviel Bescheidenheit als Sehergabe, als das absolute Kunstwerk der Zukunft an. Der Meister der Schule, die vom »Wagen« den Namen führt, ist darin bereits meilenweit überflügelt; er liegt tief unten und hinten, ein überwundener Standpunkt. Ebenso sind alle Grenzen und Formen der Kunst siegreich niedergeworfen. Die Sündflut ist weder Oratorium, noch symphonische Dichtung; noch weniger kann und will sie für ein musikalisches Drama gelten. »Musik gewordene Weltgeschichte« wäre die etwa einzige, treffende Bezeichnung für das Werk. Zur Aufführung bedarf der »Schöpfer« eines Theaters von der Größe und Einrichtung des altrömischen Zirkus Maximus; der eine Halbkreis wird für die Zuschauer, der andere für das Orchester bestimmt, während in der Mitte die Sänger und Darsteller ihren Platz haben. Wie die Schauspiele der Hellenen beginnt das Werk mit Sonnenaufgang, unter freiem Himmel, und endet, nach den notwendigen Pausen, um Mitternacht bei bedecktem Raume. Von der Mysterienbühne des christlichen Mittelalters borgt es die Dreiteilung des Schauplatzes, Himmel, Erde, Hölle; von der Neuzeit alle Wunder der Malerei, des Kostüms und der Maschinenkunde. Dasselbe zerfällt in sieben Teile, wie denn die mystische Zahl Sieben (sieben Schöpfungstage oder Epochen, sieben Farben des Regenbogens usw.) in Septimenakkorden sinnig durch das Ganze klingt. Idyllisch ist der Anfang: Erwachen der Natur bei Sonnenaufgang. Eine Herde Kühe mit Glocken – die kein Anachronismus sind, da Tubalkain das Erz bereits erfunden – ein Zug Kamele wird über die Bühne getrieben, natürlich in natura. Hirten, soviel wie möglich auch in naturalibus, singen, tanzen, spielen Schalmeien. Hierauf entfaltet sich das Patriarchenleben in seiner Reinheit: Noah, nebst Töchtern, tritt auf. (Noah – Herr Braun, tiefer Baß.) Dann ein Zwischenstück in der Hölle: ein gefallener Engel, dem Heldentenor zugedacht, wird vom Satan, humoristischer Baßbuffo, auf die Erde gesandt, um die jugendliche Menschheit zu verderben. Es gelingt ihm nur zu leicht; wer kennt nicht die unwiderstehliche Macht des hohen C über weiche weibliche Gemüter? Vierte Abteilung: riesige Orgie; alle drei Schauplätze wirken mit. Im obersten Stock weinen die Engelschöre, in der Mitte brüllen Trink-, Spiel-, Liebeslieder, unten heulen die Triumphdithyramben der Dämonen, worin die sechzehn Kontrabässe, unisono, hohnlachen. Hiernach verdunkelt sich die Bühne, das gesamte Haus, über dem sich plötzlich eine Decke wölbt. Sündflut mit wirklichen, von Stufe zu Stufe des Amphitheaters und von einem Tone zum anderen wachsenden Wassern. Noah baut die Arche; prachtvoller Chor der Zimmergesellen mit taktmäßigen Axtschlägen. Chor der Ertrinkenden, decrescendo, während das Orchester, die Flut steigt, steigt, steigt, bis in die höchsten Flageolettöne der ersten Geige. Hierauf tiefe Stille. Man sieht die Arche schwimmen. Sechster Teil: Die Noahtauben fliegen aus; das Schlagen ihrer Flügel wird durch einen Schlag mit dem Holz des Fiedelbogens auf die Saiten täuschend nachgeahmt. Die Wasser fallen, fallen, fallen! mit einem Ruck durchs ganze Orchester strandet die Arche auf Ararat. Dankopfer Noahs und der Geretteten; Jubelchöre im Himmel (Seraphine – erster Seraph), Verzweiflung in der Unterwelt, wohin der erste Tenor in einem Musikstück zurückkehrt, das zwischen Don Juan und Tannhäuser, aber hoch über beiden steht. Ein Septimenakkord geht mit dem Morgenregenbogen auf und in melodische Farbenmalerei über. Siebenter Teil: Gründung des Weinbaues, im antiken Sinne aufgefaßt, so daß Noah, gleich Bacchus, den Kulturbringer darstellt. Bacchantisches Finale.

Von dieser Schöpfung gab ihr Urheber, Herr Bullermann, seinen Getreuen am Piano einen kleinen Begriff. Bei dem Sänger Braun hatten seine Intentionen zum voraus gewonnenes Spiel; derselbe freute sich auf die Partie des Noah und gedachte namentlich dessen Trinkszene meisterhaft auszuführen, worin taumelnde und abgebrochene Läufe des englischen Horns einen zarten Rausch wundervoll andeuteten. Ob er's aushalten würde, fragte Ritter von Blumenberg, der Bedenklichste des kleinen, aber auserlesenen Auditoriums. Statt aller Antwort erhob sich Braun und schlug auf seinen Brustkasten, der wie ein Faß dröhnte... Ein geborner Noah! Herr Braun ist sechs Fuß lang, wie die meisten Bassisten, unverhältnismäßig breit, wie viele, und mit einer sanft geröteten Nase versehen, wie einige unter ihnen. Noch größere Skrupel als Vater Noahs Ausdauer verursachte die Maschinerie dem einigermaßen ängstlichen und kritischen Ritter Blümchen von Blumenberg. »Wie werden Sie können machen die Sündflut?« fragte er kopfschüttelnd. – »Durch Druckwerke; nichts leichter als das.« – »Wie werden Sie lassen regnen?« – »Durch Wasser, an hohen Glastafeln herabgeschüttet. Ein leichter Gazevorhang davor macht die Täuschung vollkommen. Außerdem ist das Haus halbdunkel, und das Ohr hilft dem Auge, indem es den Regen im Orchester hört.« – »Aber der Regenbogen?« – »Optische Apparate von kolossalen Dimensionen bringen ihn glänzender hervor, als die Natur selbst.« – »Und die Tauben?« – »Haben Sie nicht von Ziegen gehört, die für die Bühne dressiert worden? Von den Börsentauben?« – »Die Arche endlich?« – »Das Schiff aus der Afrikanerin.« – »Tausendkünstler. Eine Antwort hat er für alles.« – »Sagen Sie, er ist alles in allem!« rief enthusiastisch der Mann der Morgenzeitung aus: »Dichter, Komponist, Regisseur, Dekorateur, Maschinenmeister! Bullermann, du bist ein Universalgenie!« – Der Maestro wiegte lächelnd das Haupt; wobei es ungewiß bleiben mag, ob das Universalgenie ihm zu viel oder zu wenig schien. Die Freunde umarmten einander, über den Bösendorfer hinweg; ein Schauspiel für Götter: die offizielle Presse und die neue Musik im herzlichsten Einverständnis!

Wenige Monate vorher war ihr Verhältnis noch das entgegengesetzte gewesen. Damals diente das oppositionelle Abendblatt als Organ der Zukunftsmänner, während die Morgenzeitung das eine ihrer Häupter einen Wasserkopf, das andere ein verbranntes Hirn, die gesamte Schule ein Irrenhaus nannte. Der Bekehrungstag von Damaskus ist inzwischen angebrochen, das Blatt hat sich durchaus gewendet. Vielmehr beide Blätter. Die Morgenzeitung schwärmt für die Romantiker, das Abendblatt wütet gegen sie. Nur eines ist beim alten geblieben: der gegenfüßlerische Standpunkt beider Organe und ihrer Vertreter. Der Feuilletonist der Morgenzeitung, Meyer Hirsch, sitzt im Salon; das Licht des Abendblattes, Hirsch Meyer, wartet allein im Kabinett der Primadonna. Sie dürfen sich persönlich nicht begegnen, sonst gibt es ein Unglück, Mord und Totschlag.

Und doch – wenn jemals zwei Sterbliche durch die Stimme des Blutes, des Berufes, der innigsten Seelenverwandtschaft zu einem Paar von Busenfreunden bestimmt gewesen, so sind es Hirsch Meyer und Meyer Hirsch. Sie gehören zu der interessanten Gattung von Säugetieren, die ein Staatsmann der Gegenwart mit dem Namen »Preßjuden« taufen wollte. Beide führen keineswegs das Steuer in den Redaktionen ihrer Organe; sie bedienen nur das Feuilleton mit Kunstartikeln, vermischten Nachrichten, Verbrechen und Unglückfällen. Die halboffizielle Morgenzeitung geht tapfer hinter der Regierung her, durch dick und dünn. Ihr Hauptredakteur ist ein Mann in Amt und Würden, der aus dem Vorzimmer des Ministers dirigiert wird und auch dirigiert. Sie zeichnet sich aus durch Berichtigungen, die regelmäßig vier Wochen hinter den Ereignissen dreinhinken und niemals sagen, was geschehen sein soll. Umgekehrt das Abendblatt, welches ebenfalls durch dick und dünn vor der Opposition einherläuft. Eigentümer ist eine Aktiengesellschaft, die in Liberalismus spekuliert, je nach dem Tageskurs. Wird das Blatt in irgendeinem Staate verboten, so reist ein Hauptaktionär sofort ab, um an Ort und Stelle Buße zu tun, Besserung zu geloben. Konfiskationen hingegen sind beliebte, oftmals absichtlich herbeigeführte Maßregeln, die den Kurs in die Höhe treiben. Freiheitsstrafen sitzt Hirsch Meyer ab nach einer bestimmten Diätenskala. Seine Spezialität ist die Theaterkritik; doch schreibt er auch glänzende Leitartikel. Wenn die Kammern einberufen werden, so donnert er gegen unzeitige Verschwendung; es sind die Regierungsvorlagen noch nicht fertig, die Ausschüsse unvorbereitet. Vertagt man dieselben, dann blitzt Hirsch Meyer von der anderen Seite: Wehe dem Lande, wo die Stimme der Volksvertretung unterdrückt wird. Eben wirft er auf dem Schreibtisch der Sängerin, einem Prachtstück aus Vieux-Boule, die glühende Improvisation auf fliegende Blätter: »Fusion der Parteien, Konfusion der Minister.« Pitt und Fox – nicht die Minister, sondern die zwei Wachtelhunde Seraphinens – zerren dabei spielend an seinen herabhängenden Rockschößen, der Papagei spritzt ihm von der Stange herab Hanfkörner und Wassertropfen ins Gesicht.

Aber die Primadonna, aber Seraphina? Wo bleibt sie, was treibt sie? Sie schläft den Schlaf der Gerechten, fester als irgendeine Fenella bei Mas Aniellos langer Schlummerarie. Erst als die Sündflut im Salon bis in die höchsten Tasten ihres Bösendorfer steigt, als gleichzeitig draußen auf dem Gang der prächtige Chor der Zauberflöte: O Isis und Osiris, überlaut angestimmt wird, ein Morgen- und Abschiedsständchen, der Sängerin vom Chorpersonal des Theaters gewidmet, erst da, gegen zehn Uhr, fährt sie unruhig und erschreckt empor. Sie läutet; ein heftiger Zug an der Glocke über ihrem Bett bedeutet Sturm. Marie stürzt herbei und reißt die dunkelblauen Vorhänge auseinander »Was ist das? Was soll das? Wer singt das?« – »Theaterleut' sein draußen, Pana, wullen machen Nachtmusik.« – »Und drüben am Flügel?« – »Weiß nit. Salon is ganz vull von Mannsbilder, fremdiges; Beppo hat einlassen, Pana.« – »Wieviel Uhr?« – »Acht hat geschlagen, vor paar Stund', Pana.« – »Bis zehn Uhr läßt man mich schlafen?! Unerhört, abscheulich! Ich könnte sterben, keine Seele sieht nach mir!« – Wiederum zwei Glockenzüge; der Sturm wird stärker, von obligatem Isis und Osiris und leisem Wimmern der Ersäuften aus der Ferne begleitet. Beppo erscheint ruhig und lächelnd. – »Was unterstehst du dich, Besuch zu empfangen, ehe ich auf bin?« – »Sie mögen warten, Madonna.« – »Sie sollen nicht warten, du auch nicht. Hinaus mit dir.« – Beppo verschwindet, immer ruhig lächelnd. – »Meinen Schlafrock; rasch!«

Nach einer hastigen Toilette von fünf Minuten rauschte sie hinaus, aus dem Schlafzimmer ins Kabinett. Das zitternde Abendblatt fiel ihr zuerst in die Hände. »Sie hier, Herr Meyer Hirsch? Was wünschen Sie?« – »Hirsch Meyer, gnädiges Fräulein.« – »Einerlei. Was wünschen Sie?« – »Nur einige Notizen, zu einem Abschiedsartikel; Ihr Leben, göttliche Lomond.« – »Bin ich tot, daß Sie einen Nekrolog über mich schreiben wollen? Ich will nicht einbalsamiert sein bei lebendigem Leibe! Verstanden?« Damit eilte sie an ihm vorüber und warf die Tür hinter sich zu, daß die Fenster klirrten. Pitt und Fox bellten ihr nach, der Papagei kreischte mit gellender Stimme: »Bravo, Bravissimo!« – Im Speisezimmer stand Beppo und öffnete, ruhig und lächelnd, beide Flügeltüren des Salons dem heranziehenden Ungewitter.

Seraphine begrüßte die frühen Eindringlinge mit ironischer Verbeugung. »Entschuldigen Sie, meine Herren,« sagte sie, »daß ich nicht von acht Uhr morgens auf dem Paradebette liegen und Cour machen kann.« – Der Agent faßte sich am ersten ein Herz, während die andern Anwesenden scheu zurückgetreten waren. Er haschte vergeblich nach ihrer Hand und begann eine pathetische Anrede, die aber sofort unterbrochen wurde. »Herr Enzian oder Thymian, wenn ich nicht irre?« fragte die zornige Göttin. – »Baldrian, zu dienen, Generalagent Baldrian, geschickt von der hochfürstlichen Hoftheaterintendanz zu...« – »Ich muß Sie an meinen Intendanten verweisen. Signor Beppo, den Hut des Herrn Baldrian. Und wer sind Sie, mein Herr?« blitzte sie den Direktor aus Hinterpommern an, indes Baldrian durch den lächelnden Beppo hinauskomplimentiert wurde. – »Direktor Mander, genannt Salamander; konzessioniert für Stargard, Stolpe, Köslin, Kolberg; Sommertheater in Swinemünde. Feines Publikum. Eine einzige Gastrolle rettet meine Gesellschaft. Brandunglück...« – »Genug, genug, mein Herr. Folgen Sie Herrn Thymian zu meinem Intendanten. Er allein kennt meine Disposition.« – Der Salamander schlich langsam hinaus. – »Nun zu Ihnen, meine Freunde!« fuhr die Göttin fort. Ritter Blümchen eilte überglücklich herbei und ergriff ihre eine Hand, Bullermann die andere, der Mann von der Morgenzeitung suchte verzweifelnd die dritte. »Es tut mir leid, auch Sie verabschieden zu müssen. Ich brauche heute Ruhe für morgen. Auf Wiedersehen. Noch eins. Herrn Hirsch Meyer bitte ich, mir einen Augenblick in mein Kabinett zu folgen.« – »Meyer Hirsch, meine Gnädige.« – Gleichviel. Ich erwarte Sie.«

Die Sonne verschwand, wie sie erschienen war, in Sturmwolken. Der Ritter und der Musiker suchten das Weite; die Morgenzeitung pochte, ungewiß der Dinge, die da kommen sollten, zaghaft an das Kabinett. Drinnen standen urplötzlich, überrascht und ergrimmt, die zwei feindlichen Brüder einander gegenüber. Seraphine lächelte, zog eine Schublade ihres Schreibtisches auf, worin Gold, Silber, Banknoten, Schmuck, Briefe, Karten, Etuis, allerdings in einiger Unordnung, zusammenlagen und sprach indem sie eine Schere ergriff: »Ich möchte, ehe ich gehe, ein gutes Werk stiften und zwei unversöhnliche Feinde wenigstens auf eine kurze Zeit unzertrennlich verbinden.« – »Unmöglich, niemals,« so lautete die Antwort. – »Lassen Sie mich den Versuch wagen. Sehen Sie diese Banknote?« Sie zeigte einen preußischen Hunderttalerschein und schnitt ihn mit einer künstlichen Wellenlinie in zwei ungleiche Teile, jedem der Gegner einen davon darbietend. »Seid einig – einig – einig,« rief sie dazu aus und verschwand im Schlafzimmer, die Kritiker sich selbst überlassend. Sie hatten wie unwillkürlich die sonderbare Abschiedskarte der Sängerin aus ihrer Hand genommen und sahen sprachlos zuerst ihr nach, dann sich an. Meyer Hirsch erwachte vor Hirsch Meyer aus der Verzauberung und rannte eilig hinaus; Hirsch Meyer noch eiliger hinter Meyer Hirsch drein. Und in der Tat erfüllte sich der Künstlerin Wunsch, wenn auch nur für eine einzige Stunde. Man sah Hirsch Meyer und Meyer Hirsch, ein nie dagewesenes Schauspiel, selbander zunächst in einen Buchbinderladen treten und dort mit Kleister und Pinsel eine geheimnisvolle Operation vornehmen. Hierauf gingen sie, wiederum selbander, in das Wechselkontor zur roten Rose, aus dem sie mit roten Gesichtern zurückkehrten, um alsbald auf den alten, entgegengesetzten Wegen davonzurennen. Niemand hat das Rätsel dieser engen, aber ach! nur flüchtigen Freundschaft zwischen Morgenzeitung und Abendblatt jemals gelöst.

Seraphine streckte sich, erschöpft durch ihren frühen Feldzug, noch einmal auf dem kaum verlassenen Lager aus. Beppo verabschiedete auf ihren Befehl mit einem Geschenk die Supplikanten und Choristen, welche auf Isis und Osiris noch das schöne Volkslied: »Ach. ist es möglich denn, daß ich dich lassen muß?« zum besten gaben und eben an ein drittes Stück gehen wollten. Alle übrigen Morgenopfer wurden mit kurzem Dank angenommen, das Bremer Album dem knurrenden Vater Winter unbeschrieben zurückgestellt, und so kehrte allmählich, draußen und drinnen, der Frieden in das bedrängte Hauptquartier der Amazone zurück. Sie erholte sich unter den Händen Mariankas, die ihre Fußsohlen streichelte; ein untrügliches Mittel, die aufgeregten Nerven zu beschwichtigen.

Beppo brachte die Schokolade und die ersten Erdbeeren des Jahres, welche Ritter Blümchen persönlich hatte zu Füßen legen wollen, der mit schnödem Undank Belohnte. Aber alle diese Aufmerksamkeiten vermochten nicht, die finsteren Wetter zu zerstreuen, hinter denen an dem stürmischen Sonnabend die Sonne aufgegangen war. Die Liebkosungen der Wachtelhündlein, das Geplauder des Papageien, sie blieben unerwidert. Die Amazone klagte, mehr sich selbst als ihren Getreuen, die Verlassenheit und Hilflosigkeit ihrer Lage. Die Heldin, welche, einen Augenblick vorher, alle ihre Feinde und Freunde mit eigener Kraft aus dem Felde geschlagen hatte, gebärdete sich nicht anders, als wäre sie ein schwaches, erbarmenswertes Kind. Signor Beppo bemerkte ihr dies beim Einschenken. »Signora haben,« so sagte er mit feierlichem Ernst, »sich selbst geholfen, besser und tapferer, als es der stärkste Mann vermöchte.« – »Das heißt, ich war wieder einmal recht heftig.« – »Superba,« rief Beppo mit komischer Emphase aus. – »Über diese verwünschte Leidenschaftlichkeit, die ich niemals werde bezwingen lernen! Sie macht mich unausstehlich für andere, unglücklich in mir selbst. Daß ich ein Mittel wüßte, mich zu zähmen, eine Hand, die mich zurückhielte, einen Mann, dem ich mich unterwerfen könnte, – einen ... Meister!« –

Sie nahm, in Gedanken verloren, ein Blatt von ihrem Nachttisch, ein Billett, dessen Siegel ein Wappen mit der Grafenkrone trug. Gestern abend spät, nach dem Konzert war es abgegeben worden. Wallenberg kündigte ihr darin auf heute mittag seinen Besuch an in wichtigen Angelegenheiten. Erriet sie die letzteren oder nicht? Von den zahlreichen Briefen und Karten, die eingelaufen, beschäftigte sie sich nur mit dem einen, kleinen, bereits gelesenen Billett. Sie studierte die zierliche Handschrift, die fast einer weiblichen glich, das Wappen, den Stempel; sie rollte das starke Papier, hellblau mit Silberrand, um ihre Finger. »Es sind seine Farben, Wallenbergs Farben,« sagte sie, »und die meinen: blau und weiß.«

Nach geraumer Zeit sprang sie hastig auf und rief Beppo zu: »Ich bin für niemanden zu Hause, außer für den Grafen Wallenberg, der nach zwölf Uhr kommen wird. Für niemanden, hörst du? Geh und besorge das nötige. Und du, Marie, komm zum Anziehen. Du sollst mich schön machen, so schön du kannst; aber kein Auge darf das Gemachte sehen. Gib mir den weißen Morgenüberrock, die blaue Samtjacke.«

Die Amazone rüstet sich zum Kampfe.


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