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Die Geschichte des Schuljungen

Da ich jetzt noch ziemlich jung bin – ich nehme zwar zu an Jahren, aber jetzt bin ich immerhin noch ziemlich jung –, so weiß ich keine eigenen Abenteuer, die ich vorbringen könnte. Es würde, glaube ich, niemand unter den Anwesenden besonders interessieren, zu erfahren, was für ein Geizkragen der Reverend oder was für ein Drache sie ist, oder was sie alles den Eltern auf die Rechnung setzen – besonders für Haarschneiden und für ärztlichen Beistand. Einem unserer Jungen wurden auf seiner Halbjahresrechnung zwölf Schilling und sechs Pence für zwei Pillen berechnet – bei sechs Schilling und drei Pence das Stück müssen sie ziemlich einträglich sein, sollte ich meinen –, und er nahm sie nicht einmal, sondern steckte sie in seinen Rockärmel.

Was den Rinderbraten angeht, so ist es eine Schande. Das ist kein Rinderbraten. Richtiger Rinderbraten besteht nicht aus Adern. Richtigen Rinderbraten kann man kauen. Außerdem gibt es zu richtigem Rinderbraten Sauce, und bei unserem ist niemals ein Tropfen zu sehen. Einer unserer Jungen fuhr krank nach Hause, und er hörte den Hausarzt zu seinem Vater sagen, daß er keinen Grund für seine Krankheit finden könne, wenn es nicht das Bier wäre. Natürlich war es das Bier, und das ist ganz begreiflich!

Jedoch Rinderbraten und der alte Cheeseman sind zwei verschiedene Dinge. Ebenso das Bier. Von dem alten Cheeseman wollte ich erzählen, nicht davon, wie unsere Jungen des Gewinns wegen um ihre Gesundheit gebracht werden.

Man braucht sich da bloß die Pastetenkruste anzusehen. Sie ist nicht locker, sondern fest wie feuchtes Blei. Dann bekommen unsere Jungen Alpdrücke und werden mit Kissen beworfen, weil sie im Schlaf schreien und andere Jungen aufwecken. Ist das etwa ein Wunder?

Der alte Cheeseman schlafwandelte eines Nachts. Er stülpte sich den Hut über die Nachtmütze, ergriff eine Angelrute und ein Kricketschlagholz und ging ins Wohnzimmer hinunter, wo man ihn begreiflicherweise nach seinem Aussehen für ein Gespenst hielt. Er hätte das bestimmt nicht getan, wenn sein Essen bekömmlich gewesen wäre. Wenn wir erst alle anfangen, im Schlaf zu wandeln, wird ihnen endlich das Gewissen schlagen, denke ich.

Der alte Cheeseman war damals noch nicht zweiter Lateinlehrer; er war bloß einer von den Jungen. Er wurde als ganz kleines Kind in einer Postkutsche dorthin gebracht von einer Frau, die ständig Tabak schnupfte und ihn schüttelte – das war alles, woran er sich erinnern konnte. Er ging niemals in den Ferien nach Hause. Seine Rechnungen (er nahm niemals an Sonderfächern teil) wurden an eine Bank geschickt, und die Bank bezahlte sie. Zweimal im Jahr bekam er einen braunen Anzug, und mit zwölf Jahren zog er schon Stiefel an. Sie waren ihm außerdem stets zu groß.

In den Sommerferien pflegten einige von unseren Jungen, die so nahe wohnten, daß sie zu Fuß gehen konnten, zurückzukommen und an den Bäumen vor der Spielplatzmauer hochzuklettern, um den alten Cheeseman allein beim Lesen zu sehen. Er war immer so mild wie der Tee – und ich denke, der ist mild genug! –, und wenn sie ihm pfiffen, so blickte er auf und nickte. Und wenn sie ihn fragten: »Hallo, alter Cheeseman, was hat's zu essen gegeben?« so sagte er: »Gesottenes Hammelfleisch«; und wenn sie fragten: »Ist es nicht recht einsam, alter Cheeseman?« so sagte er: »Es ist manchmal ein bißchen langweilig.« Und dann sagten sie: »Also auf Wiedersehen, alter Cheeseman!« und kletterten wieder hinunter. Natürlich war es ein Betrug an dem alten Cheeseman, ihm die ganzen Ferien hindurch nichts als gesottenes Hammelfleisch vorzusetzen; aber so war das System. Wenn sie ihm kein gesottenes Hammelfleisch gaben, verabreichten sie ihm Reispudding und behaupteten, das wäre ein besonderer Leckerbissen. Und sparten auf diese Weise den Fleischer.

So ging das Leben des alten Cheeseman. Die Ferien brachten für ihn noch andere Beschwerden mit sich, außer der Einsamkeit. Denn wenn die Jungen widerwillig zurückkamen, freute er sich stets, sie zu sehen. Das war ärgerlich für sie, da sie sich durchaus nicht freuten, ihn zu sehen, und infolgedessen schlug man ihn mit dem Kopf gegen die Wände, und er bekam Nasenbluten. Aber im allgemeinen war er doch beliebt. Einmal wurde eine Sammlung für ihn veranstaltet, und um ihn bei guter Laune zu halten, bekam er vor den Ferien zwei weiße Mäuse, ein Kaninchen, eine Taube und ein hübsches Hündchen geschenkt. Der alte Cheeseman weinte darüber – besonders nachher, als sie alle einander aufgefressen hatten. Übrigens war der alte Cheeseman nicht alt an Jahren, sondern er hatte bloß von Anfang an den Spitznamen alter Cheeseman erhalten.

Schließlich wurde der alte Cheeseman zweiter Lateinlehrer. Eines Morgens zu Beginn eines neuen Halbjahrs wurde er ins Zimmer geleitet und in dieser Eigenschaft als »Mr. Cheeseman« der Schule vorgestellt. Daraufhin waren unsere Jungen einstimmig der Ansicht, daß der alte Cheeseman ein Spion und Verräter war, der ins feindliche Lager übergegangen war und sich für Gold verkauft hatte. Es entlastete ihn nicht, daß er sich um sehr wenig Gold verkauft hatte – zwei Pfund zehn Schilling im Vierteljahr und die Wäsche, wie berichtet wurde. Ein Parlament, das darüber tagte, entschied, daß bei dem alten Cheeseman nur von Geldrücksichten die Rede sein konnte und daß er »unser Blut für Drachmen gemünzt« hätte. Das Parlament entlehnte diesen Ausdruck der Streitszene zwischen Brutus und Cassius.

Nachdem es mit diesen starken Worten ein für allemal ausgemacht war, daß der alte Cheeseman ein fürchterlicher Verräter war, der sich in die Geheimnisse unserer Jungen absichtlich eingeschlichen hatte, um sich durch Angeberei in Gunst zu setzen, wurden alle mutigen Jungen aufgefordert, sich zu einem Bund gegen ihn zusammenzuschließen. Die Präsidentschaft des Bundes übernahm der Primus namens Bob Tarter. Sein Vater war in Westindien, und er sagte selbst, daß sein Vater millionenreich wäre. Er besaß großen Einfluß unter unseren Jungen, und er schrieb ein Spottlied, das folgendermaßen begann:

»Wer stellte sich so sanft und zahm,
Daß man kaum seine Stimm' vernahm,
Und war doch ein Verräter?
Der Cheeseman-Missetäter.«

So ging es durch mehr als ein Dutzend Strophen weiter, die er jeden Morgen dicht am Pult des neuen Lehrers zu singen pflegte. Auch richtete er einen der kleinen Jungen, einen rotbackigen Frechdachs, der zu allem imstande war, ab, eines Morgens mit seiner lateinischen Grammatik zu ihm hinzugehen und seine Lektion folgendermaßen aufzusagen:

»Nominativus pronominum – der alte Cheeseman, raro exprimitur – wurde niemals beargwöhnt, nisi distinctionis – ein Verräter zu sein, aut emphasis gratia – bis er sich als ein solcher herausstellte. Ut – zum Beispiel, vos damnastis – als er die Jungen verklatschte. Quasi – gleich als ob, dicat – er sagte, praeterea nemo – ich bin ein Judas!«

Das alles machte auf den alten Cheeseman tiefen Eindruck. Er hatte niemals viel Haare gehabt; aber die wenigen, die er besaß, wurden mit jedem Tag dünner. Er wurde blasser und magerer, und bisweilen sah man ihn abends an seinem Pult sitzen, wie er die Hände vors Gesicht geschlagen hielt und weinte, während seine Kerze eine anständig lange Lichtschnuppe aufwies. Aber kein Teilnehmer des Bundes konnte ihn bemitleiden, selbst wenn er dazu Neigung verspürte, weil der Präsident sagte, es wäre des alten Cheesemans Gewissen.

So ging es mit dem alten Cheeseman weiter, und er führte wahrlich ein trauriges Leben! Natürlich behandelte ihn der Reverend von oben herab und natürlich tat sie das gleiche – weil sie sich beide allen Lehrern gegenüber stets so verhalten –, aber von den Jungen hatte er am meisten auszustehen, und zwar in einem fort. Der Bund konnte nicht herausfinden, daß er es angegeben hätte; aber man dachte deshalb nicht besser von ihm, weil der Präsident sagte, es wäre des alten Cheesemans Feigheit.

Er hatte nur ein Wesen in der Welt, mit dem er auf freundschaftlichem Fuße stand, aber dieses war fast ebenso machtlos wie er, denn es war nur Jane. Sie war eine Art Garderobenmädchen für unsere Jungen und hatte die Koffer in ihrer Obhut. Sie war zuerst als eine Art Lernende ins Haus gekommen – einige von unseren Jungen behaupteten, aus einem Findelhaus, aber darüber weiß ich nichts –, und nachdem ihre Zeit um war, war sie für so und so viel jährlich dageblieben. So wenig jährlich, sollte ich eher sagen, denn das ist viel wahrscheinlicher. Doch hatte sie ein paar Pfund auf der Sparkasse und war ein sehr nettes Mädchen. Sie war nicht gerade hübsch, aber sie hatte ein sehr offenes, ehrliches, freundliches Gesicht, und alle unsere Jungen hatten sie gern. Sie war ungewöhnlich sauber und fröhlich und ungewöhnlich freundlich und gutmütig. Und wenn einem Jungen die Mutter krank wurde, so ging er stets zu Jane und zeigte ihr den Brief.

Jane war die Freundin des alten Cheeseman. Je mehr der Bund gegen ihn vorging, desto treuer hielt sie zu ihm. Manchmal warf sie ihm von dem Fenster ihrer Vorratskammer aus einen freundlichen Blick zu, der ihm für den ganzen Tag Mut zu geben schien. Sie pflegte aus dem Obst- und Gemüsegarten (dessen Tür immer verschlossen ist, das könnt ihr mir glauben!) über den Spielplatz zu gehen, obwohl sie einen anderen Weg hätte wählen können, bloß um sich nach dem alten Cheeseman umzuwenden, als wollte sie ihm sagen: »Bleib guten Mutes!« Sein Kämmerchen war so sauber und ordentlich, daß jeder wissen konnte, wer danach sah, während er an seinem Platz saß; und wenn unsere Jungen beim Essen einen dampfenden Kloß auf seinem Teller sahen, dann war es ihnen zu ihrer Entrüstung klar, wer ihn heraufgeschickt hatte.

Unter diesen Umständen beschloß der Bund nach vielen Sitzungen und Beratungen, daß Jane aufgefordert werden sollte, den alten Cheeseman zu schneiden. Wenn sie sich aber weigerte, sollte sie selbst in Verruf gebracht werden. So wurde eine Deputation unter Führung des Präsidenten an Jane abgesandt, um ihr den Beschluß mitzuteilen, den der Bund zu seinem schmerzlichen Bedauern hätte fassen müssen. Sie war wegen ihrer vielen guten Eigenschaften sehr geachtet, und es gab eine Geschichte von ihr, daß sie einst dem Reverend in seinem eigenen Studierzimmer aufgelauert und aus ihrem guten Herzen heraus eine schwere Strafe von einem Jungen abgewendet hatte. So war der Deputation bei der Sache nicht besonders wohl zumute. Doch ging sie nach oben, und der Präsident teilte Jane alles mit. Diese bekam einen roten Kopf und brach in Tränen aus. Dann sagte sie dem Präsidenten und der Deputation in einer Art, die von ihrer sonstigen Weise ganz und gar abwich, sie wären eine Gesellschaft von boshaften jungen Wilden, und wies die ganze ehrenwerte Körperschaft aus dem Zimmer. Infolgedessen wurde in das Buch des Bundes (das aus Furcht vor Entdeckung in einer Geheimschrift geführt wurde) eingetragen, daß jeder Umgang mit Jane verboten wäre. Der Präsident aber richtete eine Ansprache an die Mitglieder, in der er sie auf dieses überzeugende Beispiel der Wühlarbeit des alten Cheeseman hinwies.

Aber Jane war dem alten Cheeseman ebenso treu, wie der alte Cheeseman gegen unsere Jungen treulos war – wenigstens ihrer Meinung nach. So hielt sie standhaft zu ihm und blieb seine einzige Freundin. Das ärgerte die Mitglieder des Bundes sehr, denn Jane war für sie ein ebenso großer Verlust wie für ihn ein Gewinn. Sie waren erbitterter gegen ihn und behandelten ihn schlechter denn je. Schließlich war eines Morgens sein Pult verlassen, und als man in sein Zimmer blickte, war es leer. Da bekamen unsere Jungen blasse Gesichter und ein Flüstern ging unter ihnen, daß der alte Cheeseman, außerstande, es noch länger auszuhalten, früh aufgestanden wäre und sich ins Wasser gestürzt hätte.

Die geheimnisvollen Mienen der übrigen Lehrer beim Frühstück und die Tatsache, daß der alte Cheeseman offenbar nicht erwartet wurde, bekräftigten den Bund in dieser Ansicht. Einige begannen zu disputieren, ob der Präsident den Galgen oder bloß lebenslängliche Deportation verwirkt hätte, und im Gesicht des Präsidenten war die angstvolle Frage zu lesen, welches von beiden es sein würde. Jedoch äußerte er sich, daß er einer Jury seines Vaterlandes mutig gegenübertreten würde. In seiner Ansprache an die Geschworenen würde er sie auffordern, die Hand aufs Herz zu legen und zu bekennen, ob sie als Briten mit Angeberei einverstanden wären und wie sie selbst etwas Derartiges aufgenommen haben würden. Einige Mitglieder des Bundes meinten, daß er lieber davonlaufen und in einem Wald mit einem Holzhauer die Kleider tauschen und sein Gesicht mit Heidelbeeren schwärzen sollte. Die Majorität aber glaubte, wenn er tapfer standhielte, dann könnte ihn sein Vater – da er doch in Westindien lebte und millionenreich war – loskaufen.

Alle unsere Jungen hatten Herzklopfen, als der Reverend hereinkam und mit dem Lineal eine Art Römer oder Feldmarschall aus sich machte. Das tat er stets, bevor er eine Ansprache hielt. Aber ihre Furcht war nichts gegen ihr Erstaunen, als er mit der Geschichte herausrückte, daß der alte Cheeseman, »so lange unser geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft«, wie er ihn nannte – jawohl! da war viel davon zu spüren gewesen! –, das verwaiste :Kind einer enterbten jungen Dame war, die gegen ihres Vaters Willen geheiratet hatte und deren Gatte jung gestorben war und die selbst vor Kummer gestorben war und deren unglückliches Kind (eben der alte Cheeseman) auf Kosten eines Großvaters erzogen worden war, der es niemals sehen wollte, als Kind, als Knaben oder als Mann. Dieser Großvater war nun tot, und das geschieht ihm recht – das füge ich hinzu –, und sein großes Vermögen, über das es kein Testament gab, gehörte nun plötzlich und für immer dem alten Cheeseman! Der Reverend schloß eine Menge langweiliger Zitate mit der Mitteilung, daß unser so lange geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft heute in vierzehn Tagen »noch einmal unter uns weilen« würde. Er wolle dann noch einmal Abschied von uns nehmen. Mit diesen Worten blickte er unsere Jungen streng an und ging aus dem Zimmer.

Das gab eine nette Verblüffung unter den Mitgliedern des Bundes. Viele wollten austreten, und viele andere versuchten nachzuweisen, daß sie niemals dazu gehört hätten. Jedoch setzte sich der Präsident aufs hohe Roß und sagte, daß sie zusammenstehen oder fallen müßten. Wenn ein Bruch im Bund entstehen sollte, so ginge der Weg dazu nur über seine Leiche. Damit glaubte er den Mitgliedern Mut einzuflößen, aber es nützte nichts. Er fügte noch hinzu, daß er sich ihre Lage überlegen und ihnen in einigen Tagen nach bestem Wissen und Gewissen raten wolle. Alle waren darauf begierig, denn er hatte schon allerhand von der Welt zu sehen bekommen, da sein Vater in Westindien lebte.

Nach tagelangem eifrigem Nachdenken, während dessen er ganze Armeen auf seine Schreibtafel gezeichnet hatte, rief der Präsident unsere Jungen zusammen und setzte ihnen die ganze Sache auseinander. Wenn der alte Cheeseman an dem bestimmten Tage käme, meinte er, so würde seine erste Rache sicherlich sein, den Bund anzuzeigen und dafür zu sorgen, daß sie alle tüchtige Prügel bekämen. Er würde sich an den Qualen seiner Feinde weiden und sein Herz an den Schreien erfreuen, die der Schmerz ihnen erpressen würde. Dann aber würde er aller Wahrscheinlichkeit nach den Reverend angeblich zu einer freundschaftlichen Unterhaltung in ein Privatzimmer einladen – etwa das Sprechzimmer, wo die Eltern empfangen wurden und wo die beiden großen Globusse standen, die nie benutzt wurden – und ihm dann die vielen Betrügereien und Qualen, die er von ihm hatte erdulden müssen, vorwerfen. Am Schluß seiner Bemerkungen würde er einem im Korridor versteckten Preisboxer ein Zeichen geben. Dieser würde daraufhin erscheinen und den Reverend bearbeiten, bis er besinnungslos liegenbleiben würde. Dann würde der alte Cheeseman Jane ein Geschenk von etwa fünf bis zehn Pfund machen und in teuflischem Triumph das Haus verlassen.

Der Präsident erklärte, daß er gegen den Teil dieser Anordnungen, der das Sprechzimmer oder Jane betraf, nichts einzuwenden hätte. Soweit aber der Bund in Frage käme, riete er zum Widerstand bis in den Tod. Zu diesem Zweck empfahl er, daß alle verfügbaren Pulte mit Steinen gefüllt werden sollten und daß das erste Wort einer Klage das Signal für jedes Mitglied sein sollte, dem alten Cheeseman einen an den Kopf zu schleudern. Der kühne Rat versetzte den Bund in bessere Stimmung und wurde einstimmig angenommen. Ein Pfahl, annähernd von der Größe des alten Cheeseman, wurde auf dem Spielplatz aufgepflanzt, und alle unsere Jungen übten sich daran, bis er ganz mit Abdrücken bedeckt war.

Als der Tag kam und die Jungen aufgerufen wurden, setzte sich jeder zitternd auf seinen Platz. Es hatte viele Debatten darüber gegeben, wie der alte Cheeseman erscheinen würde. Die vorherrschende Ansicht war, daß er in einer Art Triumphwagen mit vier Pferden ankommen würde, vorn zwei Diener in Livree und der Preisboxer in Verkleidung hintendrauf. So saßen alle unsere Jungen da und lauschten auf das Rasseln von Wagenrädern. Aber es ließen sich keine Räder vernehmen, denn der alte Cheeseman kam schließlich zu Fuß und betrat ohne jede Vorbereitung die Schule. Er sah so ziemlich aus wie immer, nur daß er schwarz gekleidet war.

»Gentlernen«, sagte der Reverend, ihn vorstellend, »unser so lange geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft wünscht ein paar Worte zu sprechen. Aufgepaßt, Gentlemen, alle!«

Jeder Junge fuhr verstohlen mit der Hand in sein Pult und blickte auf den Präsidenten. Der Präsident war vollkommen bereit und zielte bereits mit seinen Augen nach dem alten Cheeseman.

Was aber tat der alte Cheeseman? Ging er nicht an sein altes Pult und sah sich mit einem sonderbaren Lächeln in der Runde um, als hätte er eine Träne im Auge? Und dann begann er mit milder, zitternder Stimme: »Meine lieben Kameraden und alten Freunde!«

Jeder Junge zog seine Hand aus dem Pult und der Präsident begann plötzlich zu weinen.

»Meine lieben Kameraden und alten Freunde«, sagte der alte Cheeseman, »ihr habt von meinem Glück gehört. Ich habe so viele Jahre unter diesem Dach zugebracht – ich darf sagen, mein ganzes bisheriges Leben –, daß ich hoffe, ihr habt euch um meinetwillen darüber gefreut. Es könnte mich niemals glücklich machen, wenn ihr mir nicht Glück gewünscht hättet. Wenn es jemals überhaupt ein Mißverständnis zwischen uns gegeben hat, dann bitte ich, meine lieben Jungen, wir wollen es vergeben und vergessen. Ich habe eine große Zuneigung zu euch und bin sicher, daß ihr sie erwidert. Ich möchte aus dankerfülltem Herzen jedem einzelnen von euch die Hand schütteln. Ich bin zu diesem Zweck zurückgekommen, wenn es euch recht ist, meine lieben Jungen.«

Als der Präsident zu weinen begonnen hatte, hatten verschiedene andere Jungen hier und dort ebenfalls losgeheult. Jetzt aber begann der alte Cheeseman bei ihm als dem Primus, legte ihm die Linke liebevoll auf die Schulter und gab ihm die Rechte; und als der Präsident da sprach: »Ich verdiene das wirklich nicht, Sir; bei meiner Ehre, ich verdiene das nicht«, da schluchzte und heulte die ganze Schule. Jeder einzelne von den übrigen Jungen sagte in fast derselben Weise, er verdiene es nicht. Aber der alte Cheeseman kehrte sich nicht im mindesten daran; er trat fröhlich auf jeden Jungen zu und schloß mit den Lehrern – wobei der Reverend als letzter drankam.

Darauf ließ ein schnüffelnder kleiner Bengel in einer Ecke, der immer irgendeine Strafe abzubüßen hatte, einen schrillen Schrei laut werden: »Viel Glück dem alten Cheeseman! Hurra!« Der Reverend starrte nach ihm hin und sagte: »Mr. Cheeseman, Sir.« Da jedoch der alte Cheeseman beteuerte, daß ihm sein alter Name viel mehr zusage als sein neuer, so nahmen alle unsere Jungen den Ruf auf, und ein paar Minuten lang gab es ein solch donnerndes Händeklatschen und Getrampel und ein solches Gebrüll »alter Cheeseman«, wie es noch nie vernommen worden war.

Im Speisezimmer stand eine prachtvoll gedeckte Tafel bereit. Geflügel, Räucherzungen, Konserven, Obst, Zuckerzeug, Gelees, Punsch, Tempel aus Gerstenzucker, Knallbonbons – eßt, soviel ihr könnt, und steckt ein, soviel ihr mögt –, alles auf Kosten des alten Cheeseman. Darauf Trinksprüche, den ganzen Tag frei, alle möglichen Dinge für alle möglichen Spiele in doppelter und dreifacher Anzahl, Eselreiten, Ponywagen zum Selbstkutschieren und ein Diner für sämtliche Lehrer in den »Sieben Glocken«, zwanzig Pfund das Gedeck, schätzten unsere Jungen. Außerdem wurde ein jährlicher freier Tag und Festschmaus für dieses Datum festgesetzt und ein zweiter an dem Geburtstag des alten Cheeseman. Der Reverend wurde vor den versammelten Jungen dazu verpflichtet, so daß er sich niemals darum drücken kann. Und alles auf Kosten des alten Cheeseman.

Und gingen unsere Jungen nicht alle zusammen nach den »Sieben Glocken« und brachen draußen Hochrufe aus?

Aber außerdem gab es noch etwas. Seht noch nicht nach dem nächsten Erzähler, denn es kommt noch etwas. Am nächsten Tag wurde der Entschluß gefaßt, daß der Bund sich mit Jane aussöhnen und dann aufgelöst werden sollte. Was sagt ihr aber dazu, daß Jane fort war? »Was? Fort für immer?« fragten unsere Jungen mit langen Gesichtern. »Ja, allerdings«, war die ganze Antwort, die sie bekamen. Niemand von den Leuten im Haus wollte mehr sagen. Schließlich unternahm es der Primus, den Reverend zu fragen, ob unsere alte Freundin Jane wirklich fort war. Der Reverend (er hat eine Tochter zu Hause – rotes Gesicht und Stülpnase) erwiderte streng: »Ja, Sir, Miß Pitt ist fort.« So ein Einfall, Jane Miß Pitt zu nennen! Einige sagten, sie wäre in Schande davongejagt worden, weil sie von dem alten Cheeseman Geld angenommen hätte. Andere meinten, sie wäre für zehn Pfund im Jahr mehr bei dem alten Cheeseman in Dienst getreten. Aber jedenfalls wußten unsere Jungen nur das eine mit Bestimmtheit, daß sie fort war.

Es war zwei oder drei Monate später, als eines Nachmittags ein offner Wagen an dem Kricketfeld gerade an den Grenzlinien haltmachte. Darin waren eine Dame und ein Gentleman, die dem Spiel lange Zeit zuschauten und sogar aufstanden, um besser sehen zu können. Niemand kümmerte sich viel um sie, bis derselbe schnüffelnde kleine Bengel gegen alle Regeln von dem Pfahl, wo er Ballfänger war, ins Feld gelaufen kam und sagte: »Es ist Jane.« Beide Elfermannschaften hatten im selben Augenblick das Spiel vergessen, liefen herzu und drängten sich um den Wagen. Es war auch wirklich Jane! Und in was für einem Hut! Und wenn ihr mir glauben wollt – Jane war mit dem alten Cheeseman verheiratet!

Es wurde bald ein gewohnter Anblick, wenn unsere Jungen gerade mitten im Spiel waren, daß ein Wagen an der Ecke der Mauer, wo der niedrige Teil in den höheren übergeht, hielt und eine Dame und ein Gentleman darin standen und hinüberblickten. Der Gentleman war stets der alte Cheeseman und die Dame war stets Jane.

Das erstemal, daß ich sie zu Gesicht bekam, sah ich sie so: Es hatte damals häufige Wechsel unter unseren Jungen gegeben, und es hatte sich herausgestellt, daß Bob Tarters Vater durchaus keine Millionen besaß! Er besaß überhaupt nichts. Bob war Soldat geworden und der alte Cheeseman hatte seine Schulrechnung bezahlt. Aber ich wollte von dem Wagen erzählen. Der Wagen hielt, und alle unsere Jungen hielten im Spielen inne, sobald sie seiner ansichtig wurden.

»So habt ihr mich also doch nicht in Verruf gebracht!« sagte die Dame lachend, als unsere Jungen die Mauer hinaufkletterten, um ihr die Hand zu schütteln. »Wollt ihr das niemals tun?«

»Niemals! Niemals! Niemals!« von allen Seiten.

Ich verstand damals nicht, was sie damit meinte, aber jetzt verstehe ich es natürlich. Jedoch gefiel mir ihr Gesicht und ihre freundliche Art sehr, und ich mußte sie immer angucken – und auch ihn –, während alle unsere Jungen sich so fröhlich um sie drängten.

Sie fragten bald nach mir als einem neuen Jungen; so dachte ich, ich könnte ebensogut die Mauer hinaufklettern und ihnen die Hände schütteln wie die übrigen. Ich freute mich ebensosehr wie die übrigen, sie zu sehen, und war im Augenblick ebenso vertraut mit ihnen.

»Bloß noch vierzehn Tage bis zu den Ferien«, sagte der alte Cheeseman. »Wer bleibt da? Gibt es jemand?«

Viele Finger wiesen auf mich und viele Stimmen riefen: »Der!« Denn es war das Jahr, als ihr alle verreist wart, und mir war ziemlich traurig zumute, das kann ich euch sagen.

»Oh!« sagte der alte Cheeseman. »Aber es ist einsam hier in den Ferien. Er soll lieber mit zu uns kommen.«

So ging ich in ihr schönes Haus und war so glücklich, wie ich nur sein konnte. Sie wissen, wie sie sich gegen Jungen zu verhalten haben, wahrhaftig. Wenn sie zum Beispiel einen Jungen ins Theater führen, dann tun sie es auf die richtige Weise. Sie kommen nicht nach dem Anfang und gehen nicht vor dem Ende. Auch verstehen sie sich darauf, einen Jungen zu erziehen. Man braucht da bloß ihren eigenen anzugucken! Obwohl er noch ganz klein ist, ist er doch schon ein Prachtjunge! Ja, nach Mrs. Cheeseman und dem alten Cheeseman kann ich den kleinen Cheeseman am besten leiden.

So, damit habe ich euch alles erzählt, was ich von dem alten Cheeseman weiß. Und ich fürchte, es ist am Ende nicht viel. Meint ihr nicht auch?


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