Charles Dickens
Weihnachtserzählungen
Charles Dickens

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Zweites Viertel

Der Brief, den Toby vom Ratsherrn Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. In dem größten Distrikt der Stadt, hätte ich sagen sollen, denn er hieß bei seinen Bewohnern gewöhnlich »die Welt«.

Der Brief schien in Tobys Hand mehr zu wiegen als ein anderer Brief. Nicht weil der Ratsherr denselben mit einem großen Wappen und unendlich viel Siegellack versiegelt hatte, sondern wegen des gewichtigen Namens auf der Adresse und des vielen, vielen Goldes und Silbers, das sich daran knüpfte.

»Wie so ganz anders als bei uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er seine Blicke in dieser Richtung warf. »Dividiere die lebendigen Schildkröten der Stadt mit der Zahl der Vornehmen, die sie kaufen können, und er erhält nichts als seinen Teil! Den Leuten die Kaldaunen vor dem Munde wegzunehmen – dazu würde er zu stolz sein!«

Mit unwillkürlicher Ehrfurcht vor einer so hohen Person schob Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.

»Seine Kinder«, sagte Toby, und in seine Augen traten fast Tränen, »seine Töchter – große Herren können um ihr Herz werben und sie heiraten; sie können glückliche Frauen und Mütter werden; sie können hübsch sein wie meine Meg –«

Er konnte ihren Namen nicht aussprechen. Die Endsilbe schwoll in seiner Kehle zur Größe des ganzen Alphabets an.

»Schon gut«, dachte Toby, »ich weiß, was ich meine. Das ist mehr als genug für mich.« Und unter diesem tröstlichen Gedanken trabte er weiter.

Es war an dem Tage sehr kaltes, schneidendes Wetter. Die Luft war scharf und klar. Die Wintersonne, obgleich ihr keine Wärme entströmte, blickte glänzend nieder auf das Eis, das nicht zu schmelzen imstande war, und umgab es mit einem strahlenden Heiligenschein. Ein anderes Mal hätte Trotty von der Wintersonne eine Lehre für arme Leute entnehmen können; aber heute war sein Gemüt zu sehr verstört.

Das Jahr war heute alt. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Lästerungen seiner Verleumder von Anfang bis zum Ende ertragen und getreulich seine Arbeit verrichtet. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte seinen vorgeschriebenen Kreis durchlaufen und legte nun sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Selber ohne Hoffnung, ohne irgendwelchen Impuls, ohne eigenes Glück, wohl aber Herold vieler Freuden für andere, rief es, da es nun alt geworden war, die Menschen auf, daß sie an seine mühevollen Tage und langweiligen Stunden denken und es in Frieden sterben lassen sollten. Trotty hätte in dem scheidenden Jahre das Bild eines armen, alten Mannes sehen können; aber er war heute zu verwirrt und traurig.

In der Straße war viel Leben, und die Läden waren glänzend geschmückt. Das neue Jahr wurde wie ein junger Erbe der ganzen Welt mit Willkommensgrüßen, Geschenken und Freudenbezeugungen erwartet. Da gab es Bücher und Schmuck für das neue Jahr, glitzerndes Geschmeide für das neue Jahr, Kleider für das neue Jahr, Mittel reich zu werden für das neue Jahr, neue Erfindungen, um es angenehm zu verleben. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern genau eingeteilt. Das Aufgehen seines Mondes, seiner Sterne und seiner Zeitabschnitte war im voraus bis auf jede Minute bekannt; alle Veränderungen seiner Jahreszeiten bei Tag und Nacht waren mit solcher Genauigkeit bestimmt, wie Mr. Filer Männer und Weiber summieren konnte.

Das neue Jahr, das neue Jahr! Überall das neue Jahr! Das alte Jahr wurde bereits als tot angesehen, und seine Habseligkeiten wurden so wohlfeil losgeschlagen, wie die Sachen eines ertrunkenen Seemanns. Seine Musterkollektion war vom letzten Jahr und wurde geopfert, ehe es noch den letzten Atem ausgehaucht. Seine Schätze waren ein bloßes Nichts neben den Reichtümern seines noch ungeborenen Nachfolgers.

Trotty hatte in seinen Gedanken keinen Raum weder für das neue noch für das alte Jahr.

»Ausrotten, ausrotten, Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen, alte gute Zeit, alte gute Zeit, ausrotten, ausrotten!« nach diesem Motto richtete sich sein Trab und wollte sich keinem andern anpassen.

Aber auch dieses Motto, so schwermütig es war, brachte ihn zur rechten Zeit an das Ende seines Weges, an das Haus des Parlamentsmitgliedes Sir Joseph Bowley.

Ein Portier öffnete die Tür. Aber welch ein Portier! Nicht von Tobys Art. Er war etwas ganz anderes. Obgleich seiner Stellung nach ebenfalls Lohndiener, war er dennoch keiner in der Art von Toby.

Dieser Portier keuchte gewaltig, ehe er sprechen konnte; er war außer Atem gekommen, indem er sich unvorsichtig aus seinem Lehnstuhl erhoben hatte, ohne sich erst Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken und sich darauf vorzubereiten. Als er die Stimme wiedergefunden hatte – was ihm eine geraume Zeit kostete, denn sie war einen weiten Weg fort und lag unter einer Last Fleisch versteckt – sagte er in einem heisern Wispern: »Von wem ist er?«

Toby sagte es ihm.

»Dann müßt Ihr ihn selbst hineintragen«, sagte der Portier und zeigte nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges, das aus der Halle führte. »Alles geht am heutigen Tage grade hinein. Ihr kommt nicht einen Augenblick zu früh, denn der Wagen steht bereits vor der Tür, und sie sind bloß auf ein paar Stunden in die Stadt gekommen.«

Toby rieb sich die Füße, wenn sie auch schon ganz sauber waren, sorgfältig ab und schlug den ihm bezeichneten Weg ein, dabei machte er im Gehen die Bemerkung, daß es ein schrecklich großes Haus war, aber alles war mäuschenstill und mit Überzügen bedeckt, als wenn die Familie auf dem Lande wohnte. Als er an die Zimmertür klopfte, wurde »Herein!« gerufen, und bald befand er sich in einem geräumigen Bibliothekzimmer, wo an einem mit Rollen und Papieren bedeckten Tische eine stattliche Dame in einem Hute saß; ein nicht sehr stattlicher Herr in schwarzer Kleidung schrieb, was sie diktierte, während ein anderer älterer und viel stattlicherer Herr, dessen Hut und Stock auf dem Tische lagen, die eine Hand in der Brust, auf und nieder ging und von Zeit zu Zeit wohlgefällig nach seinem Porträt in ganzer Figur blickte, das über dem Kamin hing.

»Was ist das?« fragte der zuletztgenannte Herr. »Mr. Fish, wollen Sie wohl die Güte haben, sich darum zu kümmern?«

Mr. Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und überreichte denselben mit großer Ehrfurcht dem gnädigen Herrn.

»Vom Ratsherrn Cute, Sir Joseph.«

»Ist das alles? Habt Ihr weiter nichts, Mann!« fragte Sir Joseph.

Toby verneinte.

»Ihr habt keine Rechnung oder Forderung an mich? Mein Name ist Bowlen, Sir Joseph Bowlen; irgendeiner Art von irgend jemand, habt Ihr,« sagte Sir Joseph. »Wenn Ihr eine habt, überreicht sie. Mr. Fish hat das Scheckbuch neben sich liegen. Ich lasse nichts auf das neue Jahr übertragen. Alle Rechnungen werden in diesem Hause mit dem Schluß des alten berichtigt, so daß, wenn der Tod meinen Lebensfaden –«

»Zerschneiden sollte«, half Mr. Fish ein.

»Abtrennen sollte, Sir«, entgegnete Sir Joseph mit großer Schärfe – »dann würden meine Angelegenheiten, hoff' ich, in vollkommener Ordnung gefunden werden.«

»Mein teurer Sir Joseph!« entgegnete die Dame, die bedeutend jünger war als der Herr. »Wie Sie mich erschrecken!«

»Mylady Bowlen«, entgegnete Sir Joseph, dann und wann gleichsam wie in der großen Tiefe seiner Bemerkung versinkend, »zu dieser Zeit des Jahres sollten wir an uns selbst – denken. Wir sollten nach unseren Rechnungen sehen. Wir sollten fühlen, daß jede Rückkehr einer so wichtigen Periode in den menschlichen Angelegenheiten Geschäfte von höchster Bedeutung zwischen den Menschen und seinem – und seinem Bankier mit sich bringt.«

Sir Joseph sprach diese Worte, als ob er die volle Verantwortung für das empfände, was er sagte, und er wünschte, daß selbst Trotty Gelegenheit haben sollte, durch eine solche Rede gebessert zu werden. Vielleicht war dies sein Zweck, weshalb er das Siegel des Briefes immer noch nicht aufbrach und Trotty sagte, daß er eine Minute warten solle.

»Sie wünschten, Mylady, Mr. Fish sollte –« bemerkte Sir Joseph.

»Mr. Fish hat es gesagt, glaub' ich«, entgegnete seine Gemahlin nach dem Briefe blickend. »Doch, Sir Joseph, ich kann es bei alledem nicht unterlassen, denk' ich. Es ist so sehr teuer.«

»Was ist teuer?« fragte Sir Joseph.

»Dieses Liebeswerk. Man hat nur zwei Stimmen für einen Beitrag von fünf Pfund. Wirklich schauderhaft!«

»Mylady Bowlen«, entgegnete Sir Joseph, »Sie setzen mich in Erstaunen. Richtet sich die Wollust der Empfindung nach der Anzahl der Stimmen oder rechnet nicht vielmehr ein ehrliches Gemüt der Anzahl der Bewerber und der tugendhaften Sinnesart derselben? Ist es nicht ein Vergnügen der reinsten Art, zwei Stimmen unter fünfzig Leuten zur Verfügung zu haben?«

»Für mich nicht, das gestehe ich«, entgegnete die Lady. »Es verdrießt einen. Außerdem kann man sich seine Bekanntschaft nicht verpflichten. Freilich, Sie sind des armen Mannes Freund, Sir Joseph. Sie denken anders.«

»Ich bin des armen Mannes Freund«, versetzte Sir Joseph mit einem Blicke auf den anwesenden Mann. »Das kann man mir zum Vorwurf machen. Das ist mir zum Vorwurf gemacht worden. Doch mir liegt an keinem andern Titel.«

»Der Himmel segne den edlen Herrn!« dachte Trotty.

»Ich stimme zum Beispiel mit Cute hierin nicht überein«, sagte Sir Joseph den Brief vor sich haltend. »Ich stimme mit der Partei Filer nicht überein, genug, ich stimme mit keiner Partei. Mein Freund, der arme Mann, hat mit dergleichen nichts zu schaffen und dergleichen hat nichts mit ihm zu schaffen. Mein Freund, der arme Mann, in meinem Kreise, ist meine Sache. Kein Individuum und keine Körperschaft hat ein Recht, sich zwischen meinen Freund und mich zu drängen. Das ist die Basis, auf die ich mich stelle. Ich sage: ›Mein guter Mann, ich will dich wie ein Vater behandeln.‹«

Toby hörte sehr bewegt zu und fing an sich behaglicher zu fühlen.

»Du hast es einzig und allein mit mir zu tun, mein guter Mann«, fuhr Sir Joseph fort, indem er zerstreut Toby ansah; »einzig und allein mit mir und brauchst dich dann dein Lebenlang um nichts zu sorgen. Du brauchst dir nicht die Mühe zu nehmen, über etwas selber nachzudenken. Ich will schon für dich denken; ich weiß, was dir gut ist; ich bin beständig dein Vater. Das ist die Ordnung einer allweisen Vorsehung! Der Zweck deiner Schöpfung besteht nicht darin, zu schwelgen und zu schlemmen und deine Freude wie ein unvernünftiges Tier in Essen und Trinken zu setzen« – Toby dachte reuevoll an seine Kaldaunen – »sondern daß du die Würde der Arbeit fühlst. Gehe hinaus, Mann, in die heitere Morgenluft und – und – dort bleibe. Lebe sparsam und mäßig, sei gottesfürchtig, übe dich in der Selbstverleugnung, erziehe deine Familie mit so gut wie nichts, bezahle deine Abgaben so pünktlich wie die Uhr schlägt, sei gewissenhaft in deinen Geschäften (ich gebe dir ein gutes Beispiel; du wirst Mr. Fish, meinen Geheimsekretär, immer mit einer vollen Geldkasse finden), dann wirst du in mir immer einen Freund und Vater finden.«

»Nette Kinder, in der Tat, Sir Joseph!« sagte die Lady mit einem Schauder. »Rheumatismus, Fieber, krumme Beine, Asthma und alle Arten von schrecklichen Krankheiten!«

»Mylady«, entgegnete Sir Joseph feierlich, »nichtsdestoweniger bin ich des armen Mannes Freund und Vater. Nichtsdestoweniger soll er von mir Unterstützung erhalten. Jedes Quartal soll er zu Mr. Fish kommen. Alle Neujahrstage will ich mit meinen Freunden auf seine Gesundheit trinken. Einmal alle Jahre wollen wir, meine Freunde und ich, mit tiefer Empfindung eine Rede an ihn halten. Einmal in seinem Leben mag er vielleicht öffentlich, in Gegenwart der ganzen Gesellschaft, selbst etwas empfangen – eine Kleinigkeit von einem Freunde. Und wenn er, von diesen Anreizungsmitteln und der Würde der Arbeit nicht mehr aufrecht gehalten, in sein stilles Grab sinkt, dann, Mylady« – hier blies Sir Joseph die Nasenflügel auf – »will ich unter denselben Bedingungen der Freund und Vater seiner Kinder sein.«

Toby war auf das tiefste ergriffen.

»O, Sie haben eine dankbare Familie, Sir Joseph!« sagte seine Gemahlin.

»Mylady«, versetzte Sir Joseph ganz majestätisch, »Undankbarkeit ist die Erbsünde dieser Klasse. Ich erwarte keinen anderen Dank.«

»Ach, von Natur böse!« dachte Toby. »Nichts rührt uns!«

»Was ein Mensch tun kann, tue ich«, fuhr Sir Joseph fort. »Ich tue meine Schuldigkeit als des armen Mannes Freund und Vater und suche seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei jeder Gelegenheit die eine große sittliche Lehre, die diese Klasse nötig hat, einpräge, nämlich: gänzliche Abhängigkeit von mir. Sie haben mit sich selber – mit sich selber gar nichts zu schaffen. Wenn ihnen gottlose, ränkesüchtige Menschen etwas anderes sagen, und sie werden ungeduldig und unzufrieden und lassen sich ein aufrührerisches Benehmen und schwarzen Undank zuschulden kommen – was unzweifelhaft der Fall sein wird – selbst dann bin ich immer noch ihr Freund und Vater. Es ist so angeordnet. Es liegt in der Natur der Dinge!«

Bei diesem großen Gedanken machte er des Ratsherrn Brief auf und las denselben.

»Sehr artig und aufmerksam, das ist wahr!« rief Sir Joseph aus. »Mylady, der Ratsherr ist so liebenswürdig, mich daran zu erinnern, daß er ›die ausgezeichnete Ehre‹ – sehr gütig – gehabt habe, mich in dem Hause unseres beiderseitigen Freundes, des Bankier Deedles, zu treffen; und er ist so gütig zu fragen, ob es mir angenehm wäre, wenn Will Fern eingesteckt würde.«

»Höchst angenehm!« entgegnete Lady Bowley, »Der Schlimmste von allen. Er hat hoffentlich einen Raubanfall verübt?«

»Nun, nein«, sagte Sir Joseph, indem er auf den Brief Bezug nahm, »nicht ganz. Zwar beinahe, aber nicht ganz. Er kam nach London, wie es scheint, um sich nach Arbeit umzusehen (er wollte sich verbessern, das ist die Sache!), und wurde, als man ihn bei Nacht in einem Schuppen schlafend fand, in Gewahrsam genommen und den nächsten Morgen vor den Ratsherrn geführt. Der Ratsherr bemerkt (sehr richtig und vernünftig), daß er entschlossen sei, derlei Dinge auszurotten, und daß, wenn es mir angenehm wäre, es ihn glücklich machen werde, mit Will Fern anzufangen.«

»Auf jeden Fall muß er des Beispiels wegen bestraft werden«, erwiderte die Lady. »Letzten Winter, als ich das Häkeln und Stricken unter den Männern und Knaben des Dorfes als hübsche Abendbeschäftigung einführte und die Verse:

O, laßt uns unsre Arbeit üben,
Unsern Herrn und seine Freunde lieben.
Von unsern Rationen leben
Und nie hochmütig höher streben!

nach einer neuen Melodie in Musik setzen ließ, die sie während der Zeit singen sollten, griff derselbe Fern – ich sehe ihn noch – an seinen Hut und sagte: ›Mylady, ich bitte ergebenst um Verzeihung, aber bin ich nicht etwas anderes als ein großes Mädchen?‹ Ich erwartete es natürlich; denn wer kann etwas anderes als Unverschämtheit und Undank von dieser Volksklasse erwarten? Indes gehört dies nicht hierher; stellen Sie aber ein warnendes Beispiel auf, Sir Joseph!«

»Hm!« hustete Sir Joseph. »Mr. Fish, wollen Sie so freundlich sein –«

Mr. Fish ergriff sogleich die Feder und schrieb nach dem Diktat Sir Josephs:

»Mein lieber Sir!

»Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Freundlichkeit in Sachen des Menschen Will Fern, von dem ich zu meinem Bedauern nichts Günstiges sagen kann. Ich hatte mich beständig in dem Lichte eines Freundes betrachtet, bin aber leider (ein gewöhnlicher Fall!) mit Undank und fortwährender Widersetzlichkeit gegen meine guten Absichten belohnt worden. Er ist ein unruhiger, widerspenstiger Kopf. Sein Charakter verträgt eine nähere Prüfung nicht. Nichts genügt ihm, um glücklich zu sein, wenn er es auch sein könnte. Unter diesen Umständen scheint mir, ich gestehe es, wenn er wieder vor Ihnen erscheint (und Sie teilen mir mit, daß er sich morgen zu stellen versprochen hat, und ich glaube, daß man sich hierin auf ihn verlassen kann), seine Einsperrung für kurze Zeit als Landstreicher ein der Gesellschaft geleisteter Dienst zu sein, und er würde ein heilsames Beispiel geben in einem Lande, wo sowohl wegen derjenigen, die unbekümmert um gute und böse Worte die Freunde und Väter der Armen sind, als in Rücksicht auf die allgemein verführten Klassen selber solche Beispiele sehr notwendig sind. Ich bin usf.«

»Es scheint«, bemerkte Sir Joseph, als er den Brief unterzeichnet hatte und Mr. Fish ihn siegelte, »als wäre dies von höherer Macht beschlossen, wirklich. Mit dem Schlusse des Jahres bringe ich meine Rechnung in Ordnung und schließe ab, selbst mit William Fern!«

Trotty, der schon lange wieder einen Rückfall bekommen hatte und sehr niedergeschlagen war, trat mit wehmütigem Gesicht einen Schritt vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

»Meinen Dank und meine Empfehlung!« sagte Sir Joseph. »Halt!«

»Halt!« rief das Echo, Mr. Fish.

»Ihr habt vielleicht«, sagte Sir Joseph wie ein Orakel, »gewisse Bemerkungen gehört, die ich zu machen veranlaßt war, bezüglich des feierlichen Zeitabschnittes, bei dem wir angelangt sind, und der Verpflichtung, die uns obliegt, unsere Angelegenheiten zu ordnen und auf alles gefaßt zu sein. Ihr habt gehört, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verstecke, sondern daß Mr. Fish – dieser Herr hier – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und sich gerade deshalb hier befindet, um es mir zu ermöglichen, ein völlig neues Blatt aufzuschlagen und den vor uns liegenden Zeitabschnitt mit einem reinen Konto anzutreten. Nun, mein Freund, könnt Ihr mir mit der Hand auf dem Herzen sagen, daß Ihr Euch ebenfalls auf das neue Jahr vorbereitet habt?«

»Ich fürchte, Sir«, stammelte Trotty, demütig zu ihm aufblickend, »daß ich noch ein wenig, ein klein wenig bei der Welt rückständig bin.«

»Rückständig bei der Welt!« wiederholte Sir Joseph Bowley mit schreckenerregender Bestimmtheit.

»Ich fürchte, Sir«, stotterte Trotty, »daß ich bei Mrs. Chickenstalker noch so zehn oder zwölf Schillinge schuldig bin.«

»Bei Mrs. Chickenstalker!« wiederholte Sir Joseph in dem fürchterlichen Ton von vorhin.

»Ein kleiner Laden mit allerlei Sachen, Sir!« entgegnete Toby. »Auch eine – eine Kleinigkeit auf die Miete. Eine sehr große Kleinigkeit. Wir sollten nichts schuldig sein, das weiß ich, aber wir sind von der Not dazu getrieben worden!«

Sir Joseph sah seine Gemahlin und Mr. Fish und Trotty einen nach dem andern zweimal rundherum an; dann machte er eine verzweifelte Bewegung mit beiden Händen auf einmal, als wenn er es ganz und gar aufgäbe.

»Wie kann ein Mann von dieser leichtsinnigen und widerspenstigen Rasse, ein alter Mann, ein Mann mit grauen Haaren dem neuen Jahre ins Gesicht sehen und seine Angelegenheiten in solcher Unordnung lassen; wie kann er sich am Abend in sein Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, ohne – Nein!« sagte er, Trotty den Rücken zuwendend. »Da nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

»Ich wünschte aufrichtig, es läge anders«, sagte Trotty, der sich bemühte, sich zu entschuldigen. »Wir sind sehr hart geprüft worden.«

Sir Joseph wiederholte noch immer: »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« und Mr. Fish sagte nicht bloß dasselbe, sondern unterstützte seine Aufforderung dadurch, daß er den Ausläufer nach der Tür schob, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als seine Verbeugung zu machen und das Haus zu verlassen. Und auf der Straße drückte der arme Trotty seinen alten abgetragenen Hut in das Gesicht, um seinen Gram darüber zu verbergen, daß er nicht einmal Anteil am neuen Jahre bekommen sollte.

Er lüftete auch nicht seinen Hut, um nach dem Glockenturm zu schauen, als er nach der alten Kirche zurückkam. Er blieb dort gewohnheitsgemäß einen Augenblick stehen und wußte, daß es dunkel wurde und daß der Turm sich in unbestimmten schwachen Umrissen über ihn in die düstere Luft erhob. Er wußte auch, daß die Glocken sogleich läuten würden und daß sie um diese Zeit in seiner Phantasie wie Stimmen in den Wolken klängen. Aber deswegen beeilte er sich nur um so mehr, den Brief an den Ratsherrn abzugeben und den Glocken aus dem Wege zu gehen, ehe sie zu läuten anfingen. Denn er fürchtete, daß sie zu der Weise, die sie zuletzt gesungen, »Freund und Vater, Freund und Vater« hinzufügen würden.

Toby entledigte sich daher seines Auftrages mit möglichster Eile und trabte dann heimwärts. Doch teils infolge seines Ganges, der auf der Straße recht ungeschickt war, teils infolge seines Hutes, der die Sache nicht besser machte, stieß er in weniger als gar keiner Zeit gegen jemand an und taumelte auf den Fahrweg hinüber.

»Ich bitte um Entschuldigung!« sagte er, indem er in großer Verwirrung den Hut abriß und zwischen dem Hut und dem zerrissenen Futter steckenblieb, das seinen Kopf wie eine Art Bienenkorb gefaßt hielt. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht verletzt.«

Was die Verletzung von irgend jemand betrifft, so war Toby nicht ein solcher Simson, daß er nicht viel wahrscheinlicher selbst verletzt worden wäre, und er war tatsächlich auf das Pflaster geflogen wie ein Federball! Allein er hatte eine solche Meinung von seiner Stärke, daß er in wirklicher Besorgnis für den andern schwebte und noch einmal fragte: »Ich hoffe, ich habe Euch keinen Schaden getan.«

Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnenverbrannter kräftiger Landmann mit graugemischtem Haar und bärtigem Kinn, sah ihn einen Augenblick an, als wenn er argwöhnte, daß er scherzen wollte. Als er sich aber von seiner Ernsthaftigkeit überzeugt hatte, antwortete er: »Nein, Freund, Ihr habt mir keinen Schaden getan.«

»Auch dem Kinde nicht, hoffe ich?« sagte Trotty.

»Auch dem Kinde nicht«, entgegnete der Mann. »Ich danke Euch bestens.«

Als er das sagte, blickte er nach einem kleinen Mädchen, das in seinen Armen schlief, und dessen Gesicht er mit dem langen Zipfel des ärmlichen Tuches bedeckte, das er um den Hals trug, und ging langsam weiter.

Der Ton, in dem er sagte: Ich danke Euch bestens, durchdrang Trottys Herz. Der Mann war so matt und müde und so schmutzig vom Wandern und blickte so fremd und verlassen um sich, daß es ein Trost für ihn war, irgend jemandem danken zu können, gleichviel für wie wenig. Toby sah ihm nach, als er sich mühselig weiter schleppte, während das Kind den Arm um seinen Nacken legte.

Trotty blickte, blind für die ganze übrige Straße, nur nach der Gestalt in den zerrissenen Schuhen – nur nach dem Schatten und dem Gedanken an Schuhe – den rauchledernen Gamaschen, der groben Jacke und dem breitkrempigen Hut, der über die Augen herabhing, und nach dem Kinde, das den Arm um seinen Nacken schlang.

Bevor der Fremde in der Dunkelheit verschwand, blieb er stehen, und als er sich umsah und Trotty noch dort erblickte, schien er unentschlossen, ob er umkehren oder weitergehen sollte. Nachdem er erst das eine, dann das andere getan, kam er zurück, und Trotty ging ihm den halben Weg entgegen.

»Ihr könnt mir vielleicht sagen«, sagte der Mann mit schwachem Lächeln, »und wenn Ihr es könnt, dann weiß ich, daß Ihr es gern tut, und ich möchte lieber Euch fragen als einen anderen, wo der Ratsherr Cute wohnt.«

»Hier ganz in der Nähe«, entgegnete Toby; »ich will Euch mit Vergnügen sein Haus zeigen.«

»Ich müßte ihn morgen an einem andern Ort aufsuchen«, sagte der Mann, während er Toby begleitete; »doch der Verdacht wird mir schrecklich, und ich möchte mich gern davon freimachen und gehen, wohin ich will, und mir mein Brot suchen – ich weiß nicht wo. So wird er mir vergeben, wenn ich heute zu ihm ins Haus komme.«

»Es ist nicht möglich«, rief Toby tief erschrocken, »daß Ihr Fern heißt!«

»Wie?« sagte der andere und sah ihn erstaunt an.

»Fern! Will Fern!« sagte Trotty.

»Das ist mein Name«, entgegnete der andere.

»Nun, dann«, sagte Trotty, nahm ihn beim Arm und sah sich vorsichtig um, »geht um des Himmels willen nicht zu ihm, geht nicht zu ihm! Er steckt Euch ein, so wahr Ihr auf der Welt seid. Kommt hier dieses Gäßchen hinauf, dann will ich Euch sagen, was ich meine. Geht nicht zu ihm!«

Sein neuer Bekannter sah ihn an, als wenn er ihn für verrückt hielte; doch ging er trotzdem neben ihm. Als sie sicher vor Beobachtung waren, sagte ihm Trotty, was er wußte und wie man seinen Charakter geschildert hatte und all das andere.

Der Held seiner Geschichte hörte ihm mit einer Ruhe zu, die ihn in Erstaunen setzte: er widersprach nicht, noch unterbrach er ein einziges Mal. Er nickte dann und wann mit dem Kopf – mehr zur Bekräftigung einer alten ausgemachten Geschichte, wie es schien, als zur Widerlegung derselben; und einmal oder zweimal schob er seinen Hut zurück und fuhr mit seiner sommersprossigen Hand über die Stirn, wo jede Furche, die er gepflügt hatte, ihr Bild im kleinen zurückgelassen zu haben schien. Doch weiter tat er nichts.

»Im ganzen ist das alles wahr genug«, sagte er. »Ich könnte hier und dort Spreu vom Weizen sichten, doch mag dies sein. Was war es weiter? Ich habe seinen Plänen entgegengehandelt, zu meinem Unglück; ich kann nicht anders; ich würde morgen dasselbe tun. Was den Charakter betrifft, so sucht und späht und spioniert dieses vornehme Volk, und möchte keinen Flecken und Makel an uns finden, ehe es uns nur ein einfaches gutes Wort gönnt. Nun, ich hoffe, sie verlieren ihren guten Ruf nicht so leicht wie wir, sonst muß ihr Leben wirklich ein Kartäuserleben und kaum der Mühe wert sein. Was mich anlangt, Freund, ich habe niemals mit dieser Hand – er hielt sie vor sich hin – genommen, was nicht mein war, und habe sie niemals von der Arbeit zurückgehalten, mochte dieselbe noch so schwer oder schlecht bezahlt sein. Wer es leugnet, der soll sie mir abhacken! Wenn mir aber die Arbeit nicht die Nahrung gibt, wie ein menschliches Geschöpf sie bitternötig hat, wenn ich so schlecht lebe, daß ich hungern muß außer dem Hause und im Hause; wenn ich sehe, daß das ganze Leben eines Arbeiters in dieser Weise anfängt, in dieser Weise endet, ohne Wechsel und Aussicht, dann sage ich zu dem vornehmen Volke: Bleibt mir vom Halse; laßt meine Hütte in Ruhe! Meine Tür ist dunkel genug, ohne daß Ihr sie noch dunkler zu machen braucht. Erwartet nicht, daß ich in den Park komme, um das Schauspiel zu vergrößern, wenn es einen Geburtstag zu feiern, oder schöne Reden zu halten, oder sonst was Gutes gibt. Haltet Eure Spiele und Jagden ohne mich und genießt sie nach Herzenslust; wir aber haben nichts miteinander zu tun. Mir ist es am liebsten, man läßt mich in Ruhe.«

Als er sah, daß das kleine Mädchen in seinen Armen die Augen geöffnet hatte und sich verwundert umsah, hielt er inne, um ihr ein paar zärtliche Worte in das Ohr zu sagen und sie neben sich auf den Boden zu stellen. Dann wickelte er langsam eine ihrer langen Flechten um seinen rauhen Zeigefinger wie einen Ring, während sie sich an sein bestaubtes Bein klammerte, und sagte zu Trotty: »Ich bin kein störrischer Mann von Natur, glaube ich, und ich bin leicht zufriedenzustellen, das weiß ich. Ich hege gegen keinen Menschen einen bösen Gedanken; nur leben will ich wie ein Geschöpf des Allmächtigen. Ich kann es nicht, ich tue es nicht, und so ist eine Grube gegraben zwischen mir und denen, die es können und tun. Gleich mir gibt es noch andere. Ihr könnt sie eher nach Hunderten und nach Tausenden, als nach Einern zählen.«

Trotty wußte, er sprach damit die Wahrheit, und schüttelte den Kopf, um dem beizustimmen.

»Ich habe mir auf diese Weise einen bösen Namen gemacht«, sagte Fern, »und ich fürchte, daß ich mir wahrscheinlich keinen besseren erwerben werde. Es ist nicht recht, mürrisch zu sein, und ich bin mürrisch, obgleich Gott weiß, daß ich lieber heiter sein möchte, wenn es nur in meiner Macht wäre. Ich weiß nicht, ob mir dieser Ratsherr viel schaden könnte, wenn er mich in das Gefängnis schickte; aber ohne einen Freund, der für mich ein gutes Wort einlegte, würde er es vielleicht tun; und Ihr seht« – und er zeigte mit dem Finger auf das Kind.

»Sie hat ein schönes Gesicht«, sagte Trotty.

»O ja«, entgegnete der andere mit leiser Stimme, indem er es mit beiden Händen liebevoll dem seinen zukehrte und es aufmerksam anblickte. »Ich habe oftmals so gedacht. Ich habe es gedacht, wenn mein Herd sehr kalt und mein Schrank sehr leer war. Ich dachte es kürzlich, als wir wie zwei Diebe aufgegriffen wurden. Aber sie – sie sollten das kleine Gesicht nicht so oft belästigen, nicht wahr, Lilly? Das heißt einem Manne hart zusetzen!«

Er sprach allmählich so leise und blickte sie mit einer so milden und sonderbaren Miene an, daß Toby, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, fragte, ob seine Frau noch am Leben sei.

»Ich habe niemals eine gehabt«, entgegnete er kopfschüttelnd; »sie ist meines Bruders Kind, eine Waise. Neun Jahre alt, obgleich es Euch sehr unwahrscheinlich vorkommen mag; doch sie ist jetzt müde und matt. Die Union wollte für sie sorgen, achtundzwanzig Meilen von unserm Dorf entfernt; zwischen vier Wänden, wie sie meinen alten Vater versorgten, als er nicht mehr arbeiten konnte, doch er hat sie nicht lange mehr belästigt, ich nahm sie aber an Kindes Statt an, und sie hat seit der Zeit bei mir gelebt, Ihre Mutter hatte eine Verwandte hier in London. Wir bemühen uns sie zu finden; doch es ist eine große Stadt. Doch das macht nichts. Desto mehr Raum haben wir darin umherzugehen, Lilly.«

Er sah dem Kinde mit einem Lächeln in die Augen, das Toby mehr rührte als Tränen, und er schüttelte ihm die Hand.

»Ich weiß nicht einmal Euren Namen«, sagte er, »und doch habe ich Euch mein Herz ausgeschüttet; denn ich bin Euch dankbar und habe guten Grund dazu. Ich werde Euren Rat befolgen und mich hüten vor diesem –«

»Richter«, ergänzte Toby.

»Ah!« sagte er, »wenn das der Name ist, den man ihm gibt. Also vor diesem Richter. Und morgen will ich versuchen, ob ich irgendwo in der Nähe von London etwas mehr Glück habe. Gute Nacht! Glückliches neues Jahr!«

»Halt«, sagte Toby und ergriff seine Hand, als jener die seine losließ; »halt! das neue Jahr könnte nicht glücklich für mich sein, wenn wir so scheiden wollten. Das neue Jahr würde kein Glück bringen, wenn ich das Kind und Euch umherirren sähe. Ihr wißt nicht wohin und habt kein Obdach, wo Ihr Euer Haupt hinlegen könntet. Kommt mit mir nach Hause! Ich bin ein armer Mann und wohne ärmlich; aber ich kann Euch ein Nachtquartier geben, ohne daß mir deswegen etwas abgeht. Kommt mit mir heim! So! Ich will sie nehmen«, sagte Trotty und nahm das Kind auf den Arm. »Ein liebes Kind! Ich wollte eine Last tragen, die zwanzigmal so schwer wäre, und würde nicht wissen, daß ich etwas auf den Schultern hätte. Sagt mir, wenn ich zu schnell für Euch gehe. Ich bin sehr schnell zu Fuß. Das war ich immer.« Als Trotty dies sagte, machte er sechs seiner trabenden Schritte, während sein ermüdeter Begleiter einen tat, und seine dünnen Beine zitterten wieder unter der Last, die er trug.

»O, sie ist so leicht«, sagte Trotty und trabte in seiner Rede sowohl wie in seinem Gange; denn er wollte keinen Dank hören und fürchtete auch nur eine augenblickliche Pause. »So leicht wie eine Feder. Leichter wie eine Pfauenfeder – unendlich viel leichter. Hier sind wir und hier gehen wir! Um die erste Ecke rechts, Onkel Will, und an der Pumpe vorüber und links gerade die Straße hinauf dem Wirtshause gegenüber. Hier sind wir und hier gehen wir! Die Marställe hinunter, Onkel Will, und an der schwarzen Tür angehalten, über der auf einem Schilde ›T. Veck, Packträger‹ steht; und hier sind wir und hier gehen wir, und hier sind wir in eigener Person, meine liebe Meg, und werden dir eine Überraschung bereiten.«

Bei diesen Worten setzte Trotty atemlos das Kind vor seiner Tochter in der Stube nieder. Das kleine Mädchen sah Meg in das Gesicht und, da es darin nichts Zweifelhaftes, sondern nur Vertrauenerweckendes fand, so lief es in ihre Arme.

»Hier sind wir und hier gehen wir!« sagte Trotty und lief hörbar keuchend in dem Kämmerchen umher. »Hier, Onkel Will, hier ist Feuer, seht Ihr! Warum kommt Ihr nicht an das Feuer? O, hier sind wir und hier gehen wir! Meg, mein lieber Schatz, wo ist der Teekessel? Hier ist er und hier geht er, und bald wird er kochen!«

Trotty hatte in der Tat den Teekessel auf seiner wilden Irrfahrt irgendwo gefunden und stellte ihn jetzt an das Feuer, während Meg, die das Kind in eine warme Ecke gesetzt hatte, vor demselben auf dem Boden niederkniete, ihr die Schuhe auszog und ihre nassen Füßchen mit einem Tuche abtrocknete. Ja, und sie lächelte Trotty entgegen – so fröhlich, so heiter, daß Trotty sie hätte segnen können, wie sie dort kniete, denn er hatte gesehen, daß sie bei ihrem Eintritt am Feuer saß und weinte.

»Ei, Vater«, sagte Meg, »du bist ja heute recht vergnügt. Ich möchte wissen, was die Glocken dazu sagen würden? Die armen kleinen Füßchen, wie kalt sie sind!«

»O, sie sind jetzt wärmer«, rief das Kind, »sie sind nun ganz warm.«

»Nein, nein, nein« sagte Meg, »wir haben sie noch lange nicht genug gerieben. Wir haben so viel zu tun, so viel! Und wenn sie getrocknet sind, wollen wir das feuchte Haar kämmen; und haben wir das getan, wollen wir mit frischem Wasser wieder etwas Farbe in das bleiche Gesicht bringen; und dann wollen wir munter, fröhlich und glücklich sein.«

Das Kind brach in Tränen aus, schlang den Arm um ihren Hals, streichelte mit der Hand ihre schöne Wange und sagte: »O liebe Meg!«

Tobys Segen hatte nicht mehr tun können. Wer könnte mehr tun!

»Ei, Vater!« sagte Meg nach einer Pause.

»Hier bin ich und hier gehe ich, mein Liebling!« erwiderte Trotty.

»Du Grundgütiger«, rief Meg aus, »er ist närrisch! Er hat die Haube des lieben Kindes auf den Teekessel gestülpt und den Deckel hinter die Tür gehängt!«

»Ich wollte das nicht tun, meine Liebe«, sagte Toby, und machte so schnell wie möglich seinen Irrtum wieder gut. »Liebe Meg?«

Meg blickte zu ihm hin und sah, daß er sich absichtlich hinter den Stuhl ihres Gastes gestellt hatte, wo er mit vielen geheimnisvollen Zeichen den halben Schilling emporhielt, den er verdient hatte.

»Als ich hereinkam«, sagte Trotty, »sah ich irgendwo auf der Treppe eine halbes Lot Tee liegen; und wenn ich nicht irre, war auch ein Stück Speck dabei. Da ich mich nicht genau erinnere, wo es war, will ich selber gehen und suchen.«

Mit dieser unentdeckbaren List entfernte sich Toby, um die Fleischware, von der er gesprochen, bei Mrs. Chickenstalker für bares Geld zu kaufen, und kam dann zurück unter dem Vorwande, daß er das Gesuchte im Dunkeln zuerst nicht habe finden können.

»Doch hier ist es endlich«, sagte Trotty und legte das zu einem Tee Erforderliche hin. »Alles in bester Ordnung! Ich wußte wohl, daß es Tee und eine Speckscheibe war, Meg, mein gutes Kind, wenn du den Tee machen willst, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, werden wir schnell alles geschafft haben. Es ist ein seltsamer Umstand«, sagte Trotty, indem er sich mit Hilfe der Röstgabel an seine Arbeit machte, »der aber meinen Freunden wohl bekannt ist, daß ich mir aus Speckscheiben und Tee gar nichts mache. Es freut mich, wenn es anderen Leuten schmeckt«, sagte Trotty sehr laut, um die Sache seinem Gaste bemerklich zu machen, »aber mir sind sie zuwider.«

Indes schnüffelte Trotty nach dem Duft des zischenden Specks – ach! – als wenn er ihn gar zu gern äße; und als er das kochende Wasser in die Teekanne goß, schaute er liebevoll in die Tiefen des sauberen Kessels und ließ sich den duftigen Dampf um die Nase kräuseln und Kopf und Gesicht in eine dichte Wolke einhüllen. Bei alledem aber aß und trank er nicht, ausgenommen im ersten Anfange einen einzigen Bissen der Form wegen, den er mit unendlichem Wohlgeschmack zu essen schien, wiewohl er erklärte, daß er ihm gar nicht besonders schmeckte. Nein, Trottys Sache war, Will Fern und Lilly essen und trinken zu sehen, und genau so machte es Meg. Und niemals fanden die Zuschauer bei einem Citygastmahl oder bei einem Hofbankett so ehrliches Vergnügen daran, andere speisen zu sehen, selbst wenn es ein Monarch oder der Papst gewesen wäre. Meg lächelte Trotty an, Trotty lächelte Meg an. Meg schüttelte den Kopf und wollte glauben machen, daß sie in die Hände klatschte, um Trotty Beifall zu spenden; Trotty erzählte Meg in stummer Sprache unverständliche Geschichten, wie, wann und wo er ihren Besuch gefunden; und sie waren glücklich. Sehr glücklich!

»Obgleich«, dachte Trotty bekümmert, indem er Megs Gesicht beobachtete, »diese Verbindung abgebrochen ist, wie ich sehe!«

»Nun will ich Euch etwas sagen«, sagte Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft bei Meg, das kann ich mir denken.«

»Bei der guten Meg«, sagte das Kind sie liebkosend, »bei Meg!«

»Das ist recht«, sagte Trotty. »Und ich würde mich gar nicht wundern, wenn sie auch Megs Vater einen Kuß gäbe, ja? Ich bin Megs Vater.«

Trotty freute sich außerordentlich, als das Kind schüchtern auf ihn zukam, und nachdem es ihn geküßt, kehrte es wieder zu Meg zurück.

»Sie ist so weise wie Salomo«, sagte Trotty. »Hier kommen und hier gehen – nein – wir kommen nicht, ich versprach mich – ich – was wollte ich doch sagen, Meg, meine gute Tochter?«

Meg blickte nach ihrem Gast, der auf ihrem Stuhle lehnte und mit abgewandtem Gesicht den Kopf des Kindes streichelte, der in ihrem Schoß halb versteckt ruhte.

»Freilich«, sagte Toby, »freilich, ich weiß nicht, wo ich heute meine Gedanken habe; ich bin sehr zerstreut. Will Fern, Ihr kommt mit mir. Ihr seid todmüde, und der Mangel an Ruhe hat Euch völlig aufgerieben. Ihr kommt mit mir!«

Der Mann spielte immer noch mit des Kindes Locken, lehnte immer noch auf Megs Stuhl, indem er immer noch sein Gesicht abwandte. Er sprach nicht, doch in seinen rauhen, dicken Fingern, die in dem schönen Haar des Kindes wühlten, lag eine Beredsamkeit, die genug sagte.

»Ja, ja«, sagte Trotty, indem er, ohne es zu wissen, beantwortete, was er in dem Gesicht seiner Tochter ausgedrückt sah. »Nimm sie mit dir, Meg, bring' sie zu Bett. Und Euch, Will, will ich zeigen, wo Ihr liegt. Sehr vornehm ist der Platz nun gerade nicht, denn es ist nur ein Heuboden, doch das ist einer von den großen Vorteilen, wenn man in einem Marstalle wohnt, daß man einen Heuboden hat; und bis Remise und Stall besser vermietet sind, wohnen wir hier billig. Es ist viel weiches Heu oben, das einem Nachbarn gehört, und es ist so reinlich, wie es Megs fleißige Hände machen können. Immer munter! Ihr dürft nicht verzagen! Ein frisches Herz zum neuen Jahr, allemal!«

Die Hand, die des Kindes Haar losgelassen hatte, zitterte, als sie in Trottys Hand gefallen war, der seinen Gast, immerfort schwatzend, nun so bedachtsam und liebevoll hinausführte, als wenn er selbst ein Kind gewesen wäre.

Da er früher als Meg zurückkehrte, lauschte er einen Augenblick an der Tür ihrer kleinen Kammer, welche an die Stube stieß. Das Kind sprach ein einfaches Gebet, ehe es sich schlafen legte, und als sie Megs Namen zärtlich genannt hatte, hörte Trotty, daß sie abbrach und nach dem seinen fragte.

Es dauerte einige Zeit, ehe der kleine närrische Mann sich sammeln, das Feuer schüren und seinen Stuhl an den warmen Kamin rücken konnte. Doch als er dies getan und das Licht geputzt hatte, nahm er seine Zeitung aus der Tasche und fing an zu lesen, zuerst gleichgültig und nur mit den Augen die Spalten auf und nieder fliegend, sehr bald aber mit trüber Aufmerksamkeit und düsterem Ernst.

Denn selbige gefürchtete Zeitung lenkte Trottys Gedanken wieder auf die Dinge zurück, die ihn den ganzen Tag beschäftigt hatten. Sein Interesse an dem Wanderer mit dem Kind hatte ihn für einige Zeit auf andere und glücklichere Gedanken gebracht; als er aber wieder allein war und von den Verbrechen und Gewalttaten des Volkes las, fiel er wieder in seine früheren Gedanken zurück.

In dieser Stimmung stieß er auf einen Bericht – und es war nicht der erste, den er je gelesen hatte – von einem Weibe, welche ihre verzweifelte Hand nicht nur an ihr eigenes Leben, sondern auch an das ihres Kindes gelegt hatte. Ein so schreckliches Verbrechen, welches seine von Liebe zu Meg erfüllte Seele so empörte, daß er die Zeitung fallen ließ und entsetzt in den Stuhl zurücksank.

»Unnatürlich und grausam«, sagte Toby; »unnatürlich und grausam! Nur Leute, die von Herzen schlecht, von Natur böse sind, die auf der Erde nichts zu tun haben, können solche Dinge tun. Es ist nur zu wahr, was ich heute gehört habe, zu richtig, nur zu oft von der Erfahrung bewiesen: wir sind böse!«

Die Glocken nahmen die Worte so plötzlich auf, brachen so laut, hell und klar heraus, daß er von den Glocken auf seinem Stuhle wie vom Schlage getroffen schien.

Und was war es, was sie sagten?

»Toby Veck, Toby Veck, warten auf dich, Toby! Toby Veck, Toby Veck, warten auf dich, Toby! Komm, besuch' uns, komm, besuch' uns, schlepp' ihn zu uns, schlepp' ihn zu uns, plag' und jag' ihn, plag' und jag' ihn, stör' im Schlaf ihn, stör' im Schlaf ihn! Toby Veck, Toby Veck, Tür weit offen, Toby Veck, Toby Veck, Toby Veck, Tür weit offen, Toby!« – Dann fingen sie wieder von neuem an mit ihrem wilden, ungestümen Liede, und selbst die Backsteine und der Mörtel an den Wänden hallten davon wider.

Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Er war am Nachmittag ungern von ihnen weggegangen! Nein, nein. Nichts davon. Aber nun wieder und wieder und noch ein dutzendmal: »Plag' und jag' ihn, plag' und jag' ihn, schlepp' ihn zu uns, schlepp' ihn zu uns!« Sie betäubten die ganze Stadt.

»Meg«, sagte Trotty, leise an ihre Tür klopfend, »hörst du etwas?«

»Ich höre die Glocken, Vater, sie sind heute wirklich sehr laut.«

»Schläft sie?« fragte Toby, gleichsam als Entschuldigung, weshalb er hineinguckte.

»O, so glücklich und friedlich! Doch kann ich sie noch nicht verlassen. Sieh nur, wie sie meine Hand festhält!«

»Meg«, flüsterte Trotty, »höre einmal die Glocken.«

Sie lauschte, die ganze Zeit über ihr Gesicht ihm zukehrend, doch die Züge veränderten sich nicht. Sie verstand ihn nicht.

Trotty entfernte sich, nahm seinen Sitz am Feuer wieder ein und lauschte noch einmal allein. Er blieb hier eine kurze Zeit.

Es war unmöglich, es auszuhalten; ihre Stärke war furchtbar.

»Wenn die Turmtür wirklich offen ist«, sagte Toby und legte hastig seine Schürze beiseite, aber ohne an seinen Hut zu denken, »was kann mich hindern in den Turm zu gehen und mich selber zu überzeugen? Wenn sie verschlossen ist, dann brauche ich keinen anderen Beweis. Der genügt.«

Er war ziemlich überzeugt, als er leise auf die Straße hinausschlich, daß er die Tür verschlossen und verriegelt finden würde, denn er kannte dieselbe gar wohl und hatte sie so selten offen gesehen, daß er sich nicht mehr als dreimal zusammen erinnern konnte. Es war ein niedriges, rundes Portal außen an der Kirche in einer dunklen Ecke hinter einer Säule, und hatte so große eiserne Angeln und ein so ungeheuer großes Schloß, daß man mehr von den Angeln und dem Schlosse sah, als von der Tür.

Doch wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig an die Kirche kam und die Hand in den dunklen Winkel streckte, – nicht ohne Furcht, daß sie unversehens gepackt werden möchte, und nicht ohne Neigung, sie schaudernd zurückzuziehen, – fand er die Tür, welche nach außen aufzumachen war, wirklich offen stehen!

Er wollte im ersten Schrecken zurückkehren oder ein Licht oder einen Begleiter holen; doch sein Mut kam ihm augenblicklich zu Hilfe und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

»Was habe ich zu fürchten?« sagte Trotty. »Es ist eine Kirche! Überdies sind vielleicht die Läuter oben und haben vergessen, die Tür zuzuschließen.«

Er ging also hinein und tappte sich vorwärts, wie ein blinder Mann; denn es war sehr dunkel und sehr ruhig, da die Glocken stillschwiegen.

Der Staub war von der Straße in dieses Versteck geflogen und lag nun dort haufenweise, so daß Toby wie auf Samt ging, was ebenfalls etwas Unheimliches hatte. Die enge Treppe befand sich so dicht an der Tür, daß er bei der ersten Stufe stolperte, und als er die Tür hinter sich zuwarf, indem er mit dem Fuße daran stieß, daß sie heftig wieder zurückklappte, konnte er sie nicht wieder öffnen.

Dies war jedoch ein neuer Grund, vorwärts zu gehen. Trotty tappte daher um sich und ging weiter, immer hinauf, hinauf, immer hinauf und im Kreise herum und immer höher, höher hinauf.

Es war eine recht unangenehme Treppe, wenn man sie im Dunklen hinauf tappen mußte; so niedrig und schmal, daß seine tappende Hand immer etwas berührte, und oft fühlte sich's fast wie ein menschliches und gespenstisches Wesen an, das aufrecht stand und ihm Platz machte, um nicht entdeckt zu werden, so daß er an der glatten Mauer in die Höhe blickte, um das Gesicht zu suchen, während ihn eine unheimliche Kälte überlief. Einmal oder zweimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Mauerfläche, die ihm dort so groß vorkam wie die ganze Kirche; dann meinte er am Rande des Abgrundes zu stehen und kopfüber hinunterstürzen zu müssen, bis er die Wand wieder fand.

Immer hinauf, immer hinauf und im Kreise herum, und immer höher und höher hinauf!

Endlich wurde die dumpfe, erstickende Luft frischer; dann kam Zugluft; nun blies der Wind so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Doch gelangte er an ein Bogenfenster in dem Turme, das ihm bis an die Brust reichte, und indem er sich dicht daran hielt, blickte er nieder auf die Giebel der Häuser, auf die rauchenden Schornsteine, auf die Lichtflecken und Strahlenmassen (in der Gegend, wo Meg sich wunderte, wo er sein möchte und vielleicht nach ihm rief), die in einem Teig von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet waren.

Dies war die Glockenstube, wohin die Läuter kamen. Er hatte eins der abgeriebenen Seile erfaßt, welche durch Öffnungen in der eichenen Decke herunterhingen. Zuerst erschrak er, denn er dachte, es wären Haare; dann zitterte er bei dem Gedanken, daß er die große Glocke erwecken möchte. Die Glocken selber waren höher. Trotty tappte sich, von seiner fixen Idee beherrscht und in seinem Zauberbann, immer höher hinauf. Endlich auf Leitern und mit großer Mühe, denn sie waren steil und boten dem Fuße keinen allzu sicheren Halt.

Immer hinauf, immer hinauf geklommen und geklettert; immer hinauf und höher und höher hinauf!

Endlich, indem er durch den Boden stieg und mit dem Kopfe gerade über dessen Balken hervorguckte, kam er mitten unter die Glocken. Es war kaum möglich, in der Dunkelheit ihre Größe zu erkennen; doch da waren sie. Schatten werfend, dunkel und stumm.

Ein bleischweres Gefühl von Furcht und Einsamkeit überkam ihn sofort, als er in dies luftige Nest von Stein und Metall emporklomm. Sein Kopf ging rundum mit ihm. Er lauschte und erhob dann ein wildes Hallo!

Hallo! nahm traurig das Echo auf, den Laut ausdehnend.

Schwindlig, verwirrt, atemlos und erschrocken blickte Toby ins Leere um sich und sank ohnmächtig nieder.



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