Charles Dickens
Die Silvesterglocken
Charles Dickens

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Das vierte Viertel

Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte – eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren – und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte – ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte – alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley – eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

»Was ists für eine Nacht, Anna?« fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. »Ich sitze da, wenns schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenns gut ist.«

»Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee,« entgegnete seine Frau. »Dunkel. Und sehr kalt.«

»Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten,« sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. ’s ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck.«

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

»Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby,« bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

»Nein,« versetzte Tugby, »nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!«

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

»O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!« schrie Frau Tugby entsetzt. »Was er nur treibt!«

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

»Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben,« versetzte Frau Tugby, »wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!«

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

»So stürmts also und graupelts und drohts mit Schnee; ists dunkel und sehr kalt, meine Liebe!« sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

»Bei Gott, ein rauhes Wetter,« erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja!« sagte Herr Tugby. »Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!«

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

»Nun, was solls?« fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. »O! ich bitt‹ um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären.«

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

»Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby,« sagte der Gentleman. »Der Mann kann nicht leben.«

»Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?« rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

»Der Dachstübler, Herr Tugby,« entgegnete der Gentleman, »wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen.«

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

»Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby,« sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, »ist im Begriff abzufahren.«

»Dann«, sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, »muß er abfahren, bevor er abgefahren ist.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt,« sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. »Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kanns nicht mehr lange treiben.«

»’s ist der einzige Gegenstand,« sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, »über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben – sie und ich – und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier – stirbt auf unserm Grund und Boden – stirbt in unserm Haus!«

»Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?« rief seine Frau.

»Im Armenhaus,« entgegnete er. »Wozu hat man denn Armenhäuser?«

»Dazu nicht,« erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. »Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby – ich wills nicht haben. Ich leide es einmal nicht – lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand – und er hat viele, viele Jahre da gestanden – war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling – ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat – ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!«

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: »Gott segne sie! Gott segne sie!«

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei – sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel – ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

»Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«

»Ach,« versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, »das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen – das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten – ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate.«

»O! ist er auf Abwege geraten?« sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

»Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt – vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde – so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mirs leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft – lauter Vergnügungen, die – nach dem Ausspruch des Gentleman – so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit – kurz alles!«

»Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby,« erwiderte der Gentleman, »denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging.«

»Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb ers Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: ›Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.‹ So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an.«

»Ah!« entgegnete der Gentleman. »Und was weiter?« »Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder – sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten.«

»Und sie? – Laßts Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby.«

»Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. ›Was er mir einmal gewesen ist‹, sagte sie, ›ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen – in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.‹ Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen.«

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

»Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?«

»Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat,« versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. »Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen.«

»Aber ich weiß es,« murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: »Wie Kampfhähne!«

Er wurde jetzt durch einen Schrei – einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

»Mein Freund,« sagte er zurückblickend, »Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart.«

Mit diesen Worten eilte er die Treppe hinauf, und Frau Tugby folgte ihm nach, während Herr Tugby hinterdrein keuchte und brummte, denn er war kurzatmiger als gewöhnlich infolge der Beute aus der Geldlade, die eine unbequeme Menge Kupfer enthalten hatte. Trotty schwebte, das Kind an seiner Seite, wie ein Windhauch die Treppe hinauf.

»Folge ihr! folge ihr! folge ihr!« Er hörte beim Hinansteigen die gespenstigen Stimmen in den Glocken ihre Worte wiederholen. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

Es war vorüber. Es war vorüber. Dies also war sie, der Stolz und die Freude ihres Vaters! – dieses hagere, unglückliche Weib, die neben dem Bett, wenn es diesen Namen verdiente, weinte und gesenkten Hauptes ein Kind an ihre Brust drückte? Wie abgezehrt, krank und elend das arme Kind aussah – aber doch, wer kann sagen, wie teuer es ihr war?

»Gott sei Dank!« rief Trotty, die Hände gefaltet in die Höhe haltend. »O, Gott sei gedankt! Sie liebt ihr Kind!«

Der Gentleman war durch täglich sich wiederholende ähnliche Szenen gleichgültig gegen den Anblick geworden und wußte, daß sie nur bedeutungslose Ziffern in Filers Summen waren – nur Striche in den Berechnungen. Er legte seine Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte:

»Seine Leiden sind vorüber. Ihm ist wohl!«

Frau Tugby versuchte, die arme Frau mit liebevoller Teilnahme zu trösten, während Herr Tugby mit philosophischen Beruhigungsmitteln angestiegen kam.

»Nun, nun!« sagte er, die Hände in seinen Taschen; »Ihr müßt Euch nicht dem Schmerz hingeben. Es führt zu nichts. Ihr müßt dagegen ankämpfen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich mich als Portier hätte so unterkriegen lassen, wo wir wohl sechsmal in der Nacht durch das zweimalige Klopfen, das immer einen Wagen ankündigte, aus dem Schlaf gerissen wurden, um dann zu sehen, daß man uns genarrt hatte. Ich aber besaß Geistesstärke genug und machte nicht auf!«

Abermals hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer um und sah , wie dieser sich in die Luft schwang. »Folge ihr!« sagte er und verschwand.

Trotty schwebte um sie her, setzte sich zu ihren Füßen nieder, blickte zu ihrem Gesicht auf, um auch nur eine einzige Spur ihres früheren Aussehens zu finden , und lauschte auf einen Ton ihrer alten lieblichen Stimme. Auch das Kind umwandelte er – es war so abgezehrt, so frühalt, so schrecklich in seinem Ernst, so kläglich in seinem schwachen, traurigen Wimmern. Er betete es beinahe an; er klammerte sich an das kleine Geschöpf als ihren einzigen Schutz, als das letzte lebendige Glied, das sie noch an die Welt fesselte. Er setzte seine Vaterhoffnung, sein ganzes Vertrauen auf dieses hinfällige Kind, bewachte jeden ihrer Blicke, als sie es in ihren Armen hielt, und rief zu tausend Malen:

»Sie liebt es! Gott sei Dank, sie liebt es!«

Er war Zeuge, wie die Frau sie nachts pflegte und zu ihr zurückkehrte, sobald ihr brummender Mann schlief und alles still war, um ihr Nahrung zu bringen, sie zu ermutigen und mit ihr zu weinen. Der Tag kam und dann wieder die Nacht – abermals ein Tag und wieder eine Nacht; die Zeit entschwand. Das Haus des Todes entledigte sich seines Toten, und das Zimmer blieb ihr und dem Kind überlassen. Er hörte es stöhnen und weinen; er sah, wie es die Mutter quälte und ermüdete – ja , die vor Erschöpfung kaum Eingeschlummerte wieder wachrief und sie mit seinen kleinen Händchen auf der Folter erhielt. Aber sie blieb ausdauernd , sanft und geduldig. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter von ganzer Seele und ganzem Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so verknüpft, als sei es noch nicht geboren.

In all dieser Zeit litt sie Not, siechte dahin in schrecklichem, verzehrendem Mangel. Das Kind in ihren Armen, wanderte sie da- und dorthin, um Beschäftigung zu suchen, und während sein hageres Gesichtchen in ihrem Schoß lag und zu ihrem Antlitz aufblickte, verrichtete sie jede Arbeit für den erbärmlichsten Preis – Tag und Nacht sich abmühend für so viele Kreuzer, als da Ziffern sind auf dem Uhrblatt! Wenn sie es gezankt, vernachlässigt, nur einen Augenblick mit Haß angesehen oder gar in hastigem Zornaufwallen geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.

Sie teilte niemand ihre äußerste Not mit und wanderte tags draußen umher, um nicht von ihrer einzigen Freundin befragt zu werden; denn jede neue Hilfe, die sie von ihren Händen erhielt, hatte einen neuen Hader zwischen der guten Frau und ihrem Gatten zur Folge. Und der Gedanke, da auch noch die Ursache zu täglichem Zank und Wortwechsel zu werden, wo sie schon so viel schuldete, bereitete ihr neues Leid.

Dennoch liebte sie ihr Kind. Sie liebte es mehr und mehr. Aber es kam eine Nacht, in der auch ihre Liebe sich anders gestaltete.

Damals sang sie es leise in den Schlaf und ging auf und ab, um es einzulullen, als sich sacht die Tür öffnete und ein Mann hereinsah.

,,Zum letztenmal!« sagte er.

»William Fern!«

»Zum letztenmal!«

Er lauschte wie einer, hinter dem die Verfolger her sind, und sprach flüsternd:

»Margarete, meine Uhr ist nahezu abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne Abschied von dir zu nehmen, ohne dir ein Wort des Dankes zu sagen.«

»Was habt Ihr getan?« fragte sie, ihn mit Entsetzen betrachtend.

Er sah sie an, gab aber keine Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen machte er eine Gebärde mit der Hand, als wollte er ihre Frage abwehren, sie beiseite schieben, und sagte:

»Es ist jetzt schon lange her, Margarete; aber jene Nacht ist noch so frisch in meinem Gedächtnis , als wäre es erst gestern gewesen. Damals dachten wir nicht,« fügte er, mit einem Blick auf ihre Umgebung, hinzu, «daß wir uns jemals unter solchen Umständen wiedersehen sollten. Ist das dein Kind, Margarete? Laß es mich umarmen. Gib mir dein Kind.«

Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es auf, zitterte aber dabei vom Kopf bis zum Fuß.

»Ist es ein Mädchen?«

»Ja«

Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesichtchen.

»Schau , wie schwach ich geworden bin, Margarete , wenn ich nicht einmal den Mut habe, es anzusehen! Laß sie mir einen Augenblick. Ich tue ihr nichts. Es ist lange her, aber ... Wie heißt die Kleine?«

»Margarete,« antwortete sie rasch.

»Das freut mich,« sagte er. »Das freut mich.«

Er schien freier zu atmen. Nach einer kurzen Pause nahm er seine Hand weg und sah dem Kind ins Antlitz. Dann aber bedeckte er es augenblicklich wieder.

»Margarete!« sagte er und gab ihr das Kind zurück. »Es ist Lilians Gesicht.«

»Lilians?«

»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.«

»Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ?« wiederholte sie außer sich.

»Wie schrill du sprichst! Warum starrst du mich so an, Margarete?«

Sie sank in einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Dann sah sie ihm ängstlich ins Gesicht und drückte es abermals an ihr Herz. Wenn sie es aber so betrachtete, schien sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe zu mischen, und ihr alter Vater begann darob zu zittern.

»Folge ihr!« tönte es durch das Haus. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

»Margarete,« sagte Fern, sich über sie beugend und sie auf die Stirn küssend. »Ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht. Gott behüte dich! Gib mir deine Hand und versprich mir, mich von dieser Stunde an zu vergessen, und bilde dir ein, ich sei hier gestorben.«

»Was habt Ihr getan?« sagte sie abermals.

»Es wird heute nacht ein Feuer geben,« sagte er, von ihr zurücktretend. »Es werden in diesem Winter viele Feuer sein, um die dunkeln Nächte zu erhellen im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, dann wird die Farbe von Flammen herrühren. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, denke nicht mehr an mich; oder wenn du nicht anders kannst, so erinnere dich, welche Hölle in meinem Innern angezündet wurde, und denke, es seien ihre Flammen, die sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht. Gott befohlen!«

Sie rief ihm nach; aber er war fort. Dann setzte sie sich betäubt nieder, bis sie durch ihr Kind zum Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit geweckt wurde. Sie ging die liebe lange Nacht in der Stube auf und ab, es in den Armen wiegend und beschwichtigend, wobei sie mitunter vor sich hinmurmelte: »Es gleicht Lilian, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!« Warum war ihr Schritt so hastig, ihr Auge so wild, ihre Liebe so ungestüm und schrecklich, sooft sie diese Worte wiederholte?

»Aber es ist Liebe,« sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

Am andern Morgen kleidete sie das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt – ach, welch eitle Mühe bei so elenden Fetzen! – und versuchte abermals, irgendeinen Verdienst aufzutreiben. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ohne etwas über die Lippen zu bringen, lief sie bis in die Nacht umher; aber all ihre Bemühungen waren vergeblich!

Sie mischte sich unter eine Gruppe herabgekommener Bittsteller, die im Schnee standen, bis ein Beamter , der zur Verteilung der öffentlichen Almosen – die das Gesetz gebot, nicht aber die Barmherzigkeit, die einst auf einem Berg gepredigt wurde – bestellt worden war, sich gnädigst herbeiließ, die Leute hereinzurufen, ins Verhör zu nehmen, dem einen zu sagen, »er solle da und dahin gehen,« dem andern zu bemerken, »er solle nächste Woche wiederkommen,« oder einen dritten Elenden wie einen Ball von hierher dorthin, von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu schleudern, bis er kraftlos umsank, um zu sterben, oder wieder aufsprang, um einen Diebstahl zu begehen und so zu einer höheren Art von Verbrecher zu werden, dessen Ansprüche keine Zögerung gestatteten. Aber auch hier sollte sie ihre Erwartung trügen. Sie liebte ihr Kind und wünschte, daß es an ihrer Brust läge. Dies war ganz genug.

Es war Nacht – eine kalte, dunkle, schneidende Nacht, als sie, das Kind an ihrem Leib wärmend, an das Haus gelangte, das sie ihr Heim nannte. Sie war so matt und schwindlig, daß sie niemand unter dem Haustor stehen sah, bis sie dicht daran war und eintreten wollte. Jetzt erst erkannte sie den Hausherrn, der sich so aufgepflanzt hatte – bei seiner Beleibtheit war dies nicht schwer – daß er den ganzen Eingang versperrte.

»O!« sagte er halblaut. »Ihr seid zurückgekommen?«

Sie blickte ihr Kind an und schüttelte den Kopf.

»Glaubt Ihr nicht , Ihr habt hier lange genug gewohnt , ohne Miete zu bezahlen? Glaubt Ihr nicht , daß Ihr für jemand, der nichts zahlt, eine recht anhängliche Kundin gewesen seid?« sagte Herr Tugby.

Sie wiederholte dieselbe stumme, flehentliche Bitte.

»Was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr es versuchtet, woanders einzukaufen«, meinte er, »und Euch ein andres Quartier zu verschaffen? Nun! Glaubt Ihr nicht, es ließe sich machen?«

Sie versetzte mit gedämpfter Stimme, »daß es schon sehr spät sei. Morgen.«

»Ah, ich sehe schon, was Ihr wollt und was Ihr im Sinn habt,« entgegnete Tugby; »Ihr wißt, daß es in diesem Hause wegen Euch zwei Parteien gibt, und es macht Euch Freude, sie gegeneinander zu hetzen. Ich will keinen Streit haben und spreche jetzt so leise, um jeder Zänkerei vorzubeugen; aber wenn Ihr nicht geht, will ich laut reden, und es wird Worte setzen, die stolz und heftig genug sind, um Euch zu gefallen. Aber herein kommt Ihr mir nicht, das steht fest.«

Sie strich sich das Haar mit der Hand zurück und sah plötzlich zum Himmel auf in die düstere, dunkle Ferne.

»Dies ist die letzte Nacht des alten Jahres, und ich will nicht Euch oder irgend jemand anderm zuliebe böses Blut, Händel und Unfrieden ins neue hinübernehmen,« sagte Tugby, der in kleinerem Maßstab ein ›Freund und Berater‹ war. »Es wundert mich, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt, mit solchen Kniffen ein neues Jahr anzufangen. Wenn Ihr in der Welt nichts andres zu tun habt als stets zu heulen und den Samen der Zwietracht zu streuen zwischen Mann und Weib, so tut Ihr besser, aus ihr hinauszugehen. Fort mit Euch!«

»Folge ihr! zur Verzweiflung!«

Abermals hörte der alte Mann die Stimmen. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, die ihm den dunkeln Weg zeigten, den sie ging.

»Sie liebt es!« rief er in dringlichem Flehen. »Ihr Glocken, sie liebt es noch immer!«

Die Schatten schwebten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, gleich einer Wolke.

Er schloß sich den Verfolgern an, hielt sich dicht an die Unglückliche und blickte ihr ins Gesicht. Da war derselbe wilde, schreckliche Ausdruck, der sich in ihre Liebe mengte und aus ihren Augen blitzte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!« und ihre Eile verdoppelte sich.

O, gab es denn gar nichts, das sie aus ihrem Taumel reißen konnte? Nur ein Anblick, ein Schall, ein Geruch, der in einem Gehirn voll Feuer zartere Erinnerungen heraufbeschwören könnte? O Gott, nur ein einziges friedliches Bild der Vergangenheit sollte sich ihrem Auge zeigen!

»Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« rief der alte Mann, seine Hand nach den dunkeln Schatten ausstreckend, die in der Luft dahinflogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie zurück! Ich war ihr Vater!«

Aber sie deuteten bloß nach ihr hin, während sie weiter eilte, und sagten:

»Zur Verzweiflung! Lerne es an dem Geschöpf, das deinem Herzen am teuersten war!«

Hundert Stimmen hallten es nach, und die ganze Luft war ein für diese Worte verbrauchter Atem. Toby schien sie mit jedem seiner Atemzüge in sich zu saugen. Sie waren überall, und er konnte ihnen nicht entkommen. Dennoch eilte sie weiter – dasselbe unheimliche Licht in ihren Augen, dieselben Laute auf ihren Lippen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!«

Mit einem Male machte sie halt.

»O holt sie zurück!« rief der alte Mann, sich das weiße Haar zerraufend. »Mein Kind! Meine Meg! Holt sie zurück! Ewiger Vater, tu ihr Einhalt!«

Sie wickelte das Kind warm in ihr eignes dünnes Halstuch. Mit fieberigen Händen streichelte sie seine Glieder, legte sein Köpflein zurecht und ordnete den armseligen Anzug. Sie umschlang es mit ihren abgezehrten Armen, als wollte sie es nimmer von sich lassen, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im höchsten Schmerz und im letzten langen Kampf der Liebe.

Sie legte des Kindes abgezehrte Hand auf ihren Hals, hielt es unter ihrem Kleid geschützt, drückte es an ihr verzweifeltes Herz und wandte das schlafende Gesichtchen dem ihren zu – dann eilte sie dem Fluß entgegen.

Dem rollenden, raschen und trüben Strom entgegen, auf dem die Winternacht brütend saß wie die letzten düsteren Gedanken vieler, die früher hier eine Zuflucht gesucht hatten. Wo zerstreute Lichter am Ufer unheimlich rot und trübe glommen, als wären sie Fackeln, die den Weg zum Tode wiesen. Wo kein Wohnplatz lebender Menschen seinen Schatten warf auf das tiefe, undurchdringliche, melancholische Schattenreich.

Dem Fluß entgegen! Zu jener Pforte der Ewigkeit lenkte sie ihre verzweifelten Schritte mit derselben Schnelligkeit, mit der seine raschen Wellen dem Meer zuströmten. Er versuchte, sie festzuhalten, als sie auf ihrem Weg nach dem dunkeln Spiegel an ihm vorbeikam; aber die wirre, wahnsinnige Gestalt, die wilde und schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die alles menschliche Hindernis weit hinter sich gelassen hatte, rauschte wie der Wind an ihm vorbei.

Er folgte ihr. Sie hielt einen Augenblick an dem Rand inne, ehe sie den entsetzlichen Sprung tat. Er fiel auf seine Knie nieder und rief kreischend den Gestalten in den Glocken zu, die jetzt über ihnen schwebten.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »Von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie, rettet sie!«

Er konnte seine Finger in ihren Anzug krampfen, konnte ihn halten! Als diese Worte seinen Lippen entschlüpft waren, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren, und er wußte, daß er sie abhielt.

Die Gestalten schauten festen Blickes auf ihn nieder.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »O habt Erbarmen mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung und so gut ist, die Natur in den Herren der Mütter schmähte und sie zur Verzweiflung brachte! Habt Mitleid mit meiner Anmaßung, mit meinem Frevel und mit meiner Unwissenheit – rettet sie!«

Er fühlte, wie seine Hand kraftloser wurde. Sie schwiegen noch immer.

»Habt Erbarmen mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen wurde nur durch sinnlose Liebe gezeitigt; durch die stärkste, innigste Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen! Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht auch so weit getrieben werden könnte, wenn ein solches Leben vorhergegangen. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele dem Verderben preisgibt, um es zu erlösen!«

Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch,« sagte der alte Mann, das Kind erblickend, mit einer Art von Begeisterung, die dessen Blicke in ihm entzündeten. »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten. Ich halte es wieder in meinen Armen. O ihr gnädigen und gütigen Geister, ich verschließe eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich danke euch!«

Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde, ihr Freudengeläut zum neuen Jahr so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte. –

 

»Und was du auch tust, Vater,« sagte Meg, »du mußt jedenfalls den Arzt befragen, bevor du wieder Kuttelflecke ißt, damit er dir sagen kann, ob sie dir zuträglich sind. Denn was du getrieben hast! Du lieber Gott!«

Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleide, das sie mit Bändern schmückte, und war so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Haus wäre. Dann stürzte er auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die auf die Erde gefallen war, und jemand drängte sich zwischen ihn und Meg.

»Nein,« sagte die Stimme des besagten Jemand, und es war eine prächtige, helle Stimme! »Nicht einmal Ihr. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahr gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Haus gestanden, um die Glocken zu hören und mir ihn zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viel glückliche Jahre verleben, mein liebes Weibchen!«

Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

Als dies geschah, konnte man keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Ich kümmere mich nicht um das, was ihr gesehen und wo ihr es erlebt habt, denn es ist ausgeschlossen, daß ihr auch nur annähernd etwas Ähnliches geschaut habt. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Meg. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Richard. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Räuberlaterne; und was immer er tat, er setzte sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich dein glücklicher Hochzeitstag?«

»Heute!« jauchzte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute! Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur!«

Und sie läuteten wirklich.

Gott segne die kräftigen Burschen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

»Heute, meine Meg,« sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

»Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater,« sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein heftiger, halsstarriger Mensch! Wollte er doch dem großen Herrn Alderman seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde ...«

»Meg zu küssen,« half Richard ein und tat es sogleich.

»Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es genützt?«

»Richard, mein Junge,« sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du, mein Liebling, weintest heute abend am Feuer – als ich nach Hause kam? Warum weintest du denn am Feuer?«

»Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich allein fühlen.«

Trotty kehrte wieder zu jenem ominösen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärm erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

»Ei, hier ist sie ja,« sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilian! Ha ha! hier sind wir und hier gehen wir! O, hier sind wir und hier gehen wir wieder! Und hier sind wir und hier gehen wir und auch Onkel Will!«

Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab ich heute abend für eine Erscheinung gehabt, weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung von einer Menge Nachbarn, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andre gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Es gibt keine Menschenseele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die Euch beide kennt und Euch beiden nicht alles Glück wünscht, das das neue Jahr bescheren kann. Und hier sind wir deshalb, um es einzuspielen und einzutanzen.«

Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das schadete weiter nichts.

»Was für ein Glück ist es doch,« sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«

Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanz fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war eben im Begriff, aus allen Kräften loszuledern, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder daherum trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von erschrecklichem Umfang trug. Dicht hinter ihnen wurden die Klapperinstrumente und Glocken getragen; aber nicht die Glocken, sondern ein tragbares Glockenspiel in einem Gestell.

Trotty sagte: »Frau Chickenstalker!« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

»Was? heiraten und mir kein Wort davon sagen, Meg?« sagte die gute Frau. »Unerhört! Ich konnte am letzten Abend des alten Jahres nicht ruhen, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und zugleich dein Polterabend ist, so habe ich ein wenig Eierpunsch machen lassen und denselben mitgebracht.«

Frau Chickenstalkers Begriff von »ein wenig Eierpunsch« machte ihrem Charakter alle Ehre. Der Krug dampfte und rauchte wie ein Vulkan, und dem Mann, der ihn trug, war ganz schwach zumute.

»Frau Tugby,« sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumging, »ich wollte sagen Chickenstalker, Gott segne Sie! Ein glückliches Neujahr und noch recht viele hinterdrein, Frau Tugby,« sagte Trotty, als er sie geküßt hatte, »ich wollte sagen Chickenstalker – dies ist William Fern und Lilly.«

Die würdige Frau wurde zu seinem Erstaunen sehr blaß und sehr rot.

»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire gestorben ist?« sagte sie.

Ihr Onkel bejahte, und sie wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Frau Chickenstalker ihm beide Hände schüttelte, Trotty noch einmal aus freien Stücken auf die Wange küßte und das Kind an ihre geräumige Brust drückte.

»Will Fern,« sagte Trotty, indem er seinen rechten Fausthandschuh anzog, »doch nicht die Freundin, die Ihr zu finden hofftet?«

»Freilich,« entgegnete Will und legte Trotty beide Hände auf die Schultern, »und wie es scheint, eine ebenso gute Freundin, wenn das sein kann, wie der Freund, den ich in Euch gefunden habe.«

»O!« sagte Trotty, »wollt ihr dort nicht aufspielen? Seid so gut!«

Bei dem Klang der Musik, der Schellen, der Klapperinstrumente – alles zu gleicher Zeit – und während noch die Glocken lustig vom Turm niederbrummten, führte Trotty Frau Chickenstalker, Meg und Richard als zweites Paar folgend, zum Tanz und haspelte denselben in einem vorher und nachher unbekannten Pas ab, der auf seinen eigentümlichen Trab begründet war. –

Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen darin nur ein Traum? Er selber ein Traum? Der Erzähler dieser Geschichte ein Träumer, der eben erwacht? – Sollte dies so sein, lieber Leser, dann präge die bösen Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entspringen, deiner Seele ein und suche sie in deinem Kreise – keiner ist zu weit und keiner zu enge für solch einen Zweck – zu bessern und minder drückend zu machen. Möge das neue Jahr ein glückliches für dich, ein glückliches noch für viele sein, deren Glück von dir abhängt! Möge jedes Jahr glücklicher sein als das letzte, und nicht der geringste unsrer Brüder oder Schwestern ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an dem, was unser großer Schöpfer zu ihrer Freude geschaffen!


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