Charles Dickens
Klein-Dorrit. Zweites Buch
Charles Dickens

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Drittes Kapitel.

Auf dem Wege.

Die helle Morgensonne blendete die Augen, der Schnee hatte aufgehört, die Nebel waren verschwunden, die Bergluft war so klar und leicht, daß das neue Gefühl des Atmens wie das Eintreten in ein neues Dasein erschien. Um die Täuschung zu mehren, schien selbst der feste Boden verschwunden und der Berg eine leuchtende Wüste ungeheurer weißer Haufen und Massen, eine schwimmende Wolkenregion zwischen dem blauen Himmel oben und der Erde tief unten.

Einige dunkle Flecken auf dem Schnee, wie Knoten an einer kleinen Schnur, am Klostertor beginnend und sich in gebrochenen Stücken, die noch nicht zusammengebunden waren, fortziehend, wanden sich an dem Abhang hinab und zeigten, wie die Brüder bereits an verschiedenen Punkten beschäftigt waren, den Pfad zu bahnen. Schon hatte der Schnee begonnen, um das Tor her unter den Füßen aufzutauen. Geschäftig wurden Maulesel herausgeschafft, an die Ringe in der Mauer gebunden und beladen; Glockenriemen wurden umgeschnallt, Lasten festgebunden: die Stimmen der Treiber und Reiter klangen harmonisch. Einige von den Frühesten hatten sogar bereits ihre Reise wieder angetreten, und sowohl auf dem flachen Berggipfel bei dem dunkeln Wasser in der Nähe des Klosters als auf dem Wege, auf dem man gestern bergan geklettert war, sah man kleine sich bewegende Gestalten von Menschen und Maultieren, durch den ungeheuren Raum zu Zwergen zusammengeschrumpft, unter dem hellen Klang der Glöckchen und angenehmem, harmonischem Geplauder hinziehen.

Im Speisezimmer vom vergangenen Abend war ein neues Feuer auf der federartigen Asche des alten aufgetürmt und schien auf das einfache Frühstück, das aus Brot, Butter und Milch bestand. Es beschien auch den Kurier der Familie Dorrit, der für seine Gesellschaft Tee aus einem Vorrat bereitete, den er, nebst noch einigen andern kleinen Vorräten, mitgebracht hatte, die hauptsächlich für die große unbequeme Masse angelegt waren. Mr. Gowan und Blandois von Paris hatten bereits gefrühstückt und gingen, ihre Zigarre rauchend, am See auf und nieder.

»Gowan, hm?« murmelte Tip, sonst Edward Dorrit, Esquire, die Blätter des Buches umdrehend, als der Kurier gegangen war. »Gowan ist also der Name eines Laffen, das ist alles, damit Punktum! Wenn es sich der Mühe für mich lohnte, wollt' ich ihn tüchtig an der Nase herumführen. Aber es lohnt sich der Mühe nicht – das ist ein Glück für ihn. Wie befindet sich seine Frau, Amy? Ich glaube, du kennst sie. Du kennst ja Dinge der Art.«

»Sie befindet sich besser, Edward. Aber sie gehen heute noch nicht.«

»Oh! Sie gehen heute noch nicht? Das ist ein Glück für diesen Menschen,« sagte Tip, »er und ich möchten sonst in Kollision kommen.«

»Man hält es hier für besser, daß sie heute noch ruhig liegenbleibt und sich nicht anstrengt und durch den Ritt hinab erschüttert wird, bis sie sich morgen ganz wohl befindet.«

»Meinetwegen. Aber du sprichst ja, als ob du ihre Krankenwärterin gewesen wärest. Du bist doch nicht wieder (Mrs. General ist nicht hier) in deine alten Gewohnheiten zurückgefallen, Amy?«

Er tat diese Frage mit einem listig beobachtenden Blick auf Fanny und auf seinen Vater.

»Ich war bloß bei ihr, um sie zu fragen, ob ich für sie nichts tun könne, Tip,« sagte Klein-Dorrit.

»Du brauchst mich nicht Tip zu nennen, Amy,« versetzte der junge Mann mit gerunzelter Stirn, »denn das ist eine alte Gewohnheit, die du aufgeben mußt.«

»Ich wollt' es auch nicht sagen, lieber Edward. Ich vergaß es. Es war einst so natürlich, daß es mir im Augenblick das rechte Wort schien.«

»O ja!« fiel Miß Fanny ein. »Natürlich und rechtes Wort und einst, und wie das alles heißt. Unsinn, du kleines Ding! Ich weiß ganz wohl, weshalb du solch ein Interesse an dieser Mrs. Gowan nimmst. Du kannst mich nicht täuschen.«

»Ich will es auch nicht, Fanny. Sei nicht böse.«

»O, böse!« versetzte die junge Dame auffahrend. »Ich habe keine Geduld« (was auch wirklich der Fall war).

»Bitte, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, die Augenbrauen aufziehend, »was meinst du? Erkläre dich.«

»Oh! sei ruhig, Vater,« versetzte Miß Fanny, »es ist nicht der Rede wert. Amy wird mich verstehen. Sie kannte diese Mrs. Gowan oder wußte von ihr, schon vor dem gestrigen Abend, und sie wird es wohl auch eingestehen, daß dies der Fall.«

»Mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, sich an seine jüngere Tochter wendend, »hat deine Schwester – irgend – ha – irgendeinen Grund zu dieser seltsamen Behauptung?«

»Wie weichherzig wir auch sind,« fiel Miß Fanny ein, ehe sie antworten konnte, »wir schleichen doch nicht in die Zimmer der Leute auf den Spitzen der Berge und sitzen halbtot vor Kälte bei den Leuten, wenn wir sie nicht vorher schon kennen. Ist es nicht schwer zu ahnen, wessen Freundin Mrs. Gowan sei?«

»Wessen Freundin?« fragte der Vater.

»Papa, ich bedaure, sagen zu müssen,« versetzte Miß Fanny, der es indessen gelungen war, sich in den Zustand der Beleidigten und Geärgerten hineinzustacheln, was sie oft mit großer Anstrengung tat, »daß ich glaube, sie ist eine Freundin jener aus vielen Gründen widerwärtigen und unangenehmen Person, die uns seinerzeit beleidigte. Sie benahm sich mit jenem vollständigen Mangel an Delikatesse, die unsere Erfahrung von ihm erwartet hätte. Sie kränkte auf so öffentliche und absichtliche Weise bei einer Gelegenheit, auf die wir, nach unserer Verabredung, durchaus nicht mehr anspielen wollen.«

»Amy, mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, milde Strenge mit würdevoller Liebe mäßigend, »ist das der Fall?«

Klein-Dorrit antwortete sanft, ja, es sei der Fall.

»Ja, es ist der Fall!« rief Miß Fanny. »Natürlich! Ich sagte es ja. Und jetzt, Papa, erkläre ich, ein für allemal (diese junge Dame hatte die Gewohnheit, dasselbe jeden Tag ihres Lebens und oft siebenmal an einem Tag ein für allemal zu erklären), daß das schändlich ist! Ich erkläre ein für allemal, daß dieser Sache ein Ende gemacht werden sollte. Nicht genug, daß wir durchgemacht haben, was nur wir wissen. Wir müssen es uns auch noch von der, die unsre Gefühle am meisten schonen sollte, beharrlich und systematisch ins Gesicht schleudern lassen? Sollen wir unser ganzes Leben lang diesem unnatürlichen Benehmen ausgesetzt sein? Sollen wir niemals vergessen dürfen? Ich sage noch einmal, es ist unerhört!«

»Nun, Amy,« bemerkte ihr Bruder, den Kopf schüttelnd, »du weißt, ich stehe immer auf deiner Seite, wo ich kann, und bei den meisten Gelegenheiten. Aber ich muß sagen, ich halte es wahrhaftig für eine ziemlich unerklärliche Art, deine schwesterliche Liebe zu zeigen, daß du einen Mann beschützest, der mich auf die ungesittetste Weise behandelte, in der man einen andern behandeln kann. Und der«, fügte er überzeugend hinzu, »ein sehr niedriggesinnter Schuft sein muß, sonst hätte er sich nicht so gegen mich benehmen können, wie er es tat.«

»Und bedenkt,« sagte Miß Fanny, »bedenkt wohl, was das mit sich führt! Können wir erwarten, daß uns unsre Diener respektieren? Nie. Da sind zwei Kammermädchen, und Papas Kammerdiener, und ein Diener, und ein Kurier und alle Arten von Dienerschaft; und umgeben von diesen müssen wir eins von den Unsrigen mit einem Glase kalten Wassers, wie einen Diener umherlaufen sehen. Wahrhaftig,« sagte Miß Fanny, »ein Polizeidiener könnte, wenn ein Bettler in der Straße einen Anfall bekommt, nicht anders mit seinem Glase einherrennen, als Amy es in diesem Zimmer gestern Abend vor unsren Augen getan hat!«

»Ich wollte darauf kein so großes Gewicht legen«, bemerkte Mr. Edward. »Aber dein Clennam, wie er sich zu nennen beliebt, das ist etwas anderes.«

»Er gehört dazu«, versetzte Miß Fanny, »und zu allem andern. Er drängte sich in erster Linie uns auf. Wir haben nie nach ihm verlangt. Ich zeigte ihm stets, daß ich mit dem größten Vergnügen auf seine Gesellschaft verzichten würde. Und dann beleidigt er unsre Gefühle auf so gröbliche Weise, was er nie getan haben könnte oder würde, wenn es ihm nicht Vergnügen gemacht hätte, uns bloßzustellen; und dann müssen wir uns noch zum Dienste seiner Freunde herabwürdigen lassen! Ich wundre mich auch nicht über das Benehmen Mr. Gowans. Was ließ sich erwarten, da er unser früheres Mißgeschick kannte und sich gerade im Augenblick daran weidete.«

»Vater – Edward – wahrhaftig nicht!« verteidigte sich Klein-Dorrit. »Weder Mr. noch Mrs. Gowan hatten je unsere Namen gehört. Sie wußten und wissen durchaus nichts von unsrer Geschichte.«

»Um so schlimmer«, warf Fanny ein, entschlossen, nichts zuzugeben, was ihren Angriff hätte abschwächen können, »denn dann hast du keine Entschuldigung. Wenn sie uns gekannt hätten, hättest du dich berufen fühlen können, sie zu versöhnen. Das wäre ein schwacher und lächerlicher Mißgriff gewesen: aber ich kann einen Mißgriff entschuldigen, während ich eine absichtliche und überlegte Erniedrigung derer, die uns am nächsten und teuersten sein sollten, nicht entschuldigen kann. Nein. Ich kann das nicht entschuldigen. Ich kann es nur anklagen.«

»Ich beleidige dich nie mit Wissen, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »obgleich du so hart gegen mich bist.«

»Dann solltest du vorsichtiger sein, Amy«, versetzte ihre Schwester. »Wenn du solche Sachen durch Zufall tust, so solltest du vorsichtiger sein. Wenn ich etwa an einem gewissen Platz und unter gewissen Umständen geboren wäre, die mein Bewußtsein von Anstand beeinträchtigen, ich glaube, ich würde mich dann für verbunden halten, bei jedem Schritt zu überlegen: ›Werde ich unbewußterweise irgendeinen näheren oder entfernteren Verwandten kompromittieren?‹ Das ist es, glaube ich, was ich tun würde, wenn es mein Fall wäre.«

Mr. Dorrit trat nun dazwischen, um zu gleicher Zeit dieser peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen und ihrer Moral durch seine Weisheit die Krone aufzusetzen.

»Meine Liebe«, sagte er zu seiner jüngern Tochter, »ich bitte dich, erwidere nichts mehr. Deine Schwester drückt sich etwas streng aus, hat aber ziemlich recht. Du mußt eine – hm – eine große Stellung ausfüllen. Die große Stellung nimmst nicht du allein ein, sondern auch – ha – ich – und – ha, hm – wir alle. Alle. Es ist nun die Aufgabe aller Menschen in einer bedeutenden Stellung, und insbesondere dieser Familie, aus Gründen, bei denen ich – ha – nicht verweilen will, sich Achtung zu verschaffen. Immer darauf bedacht zu sein, sich die Achtung der Menschen zu erwerben. Untergeordnete Menschen müssen, damit sie uns respektieren, – ha – in Entfernung gehalten werden und – hm – niedergehalten werden. Nieder. Deshalb ist es von höchster Wichtigkeit, daß du dich keinen Bemerkungen unsrer Dienerschaft aussetzest, indem du dich etwa ihrer Dienste entschlagen und dieselben selbst verrichtet zu haben scheinst.«

»Nun, wer sollte daran zweifeln?« rief Miß Fanny. »Das ist die Essenz von allem.«

»Fanny«, versetzte ihr Vater in feierlichem Tone, »erlaube mir, meine Liebe. Wir kommen jetzt zu – ha – Mr. Clennam. Ich gestehe offen, Amy, daß ich die Gefühle deiner Schwester nicht teile, – das heißt nämlich – hm – in Beziehung auf Mr. Clennam. Ich begnüge mich, dieses Individuum als einen – ha – im allgemeinen – wohlgesitteten Mann zu betrachten. Hm. Einen wohlgesitteten Mann. Auch will ich nicht untersuchen, ob Mr. Clennam sich je meiner Gesellschaft – hm – aufgedrängt. Er wußte, daß – hm – meine Gesellschaft gesucht war, und der Grund, weshalb er es getan hat, mag sein, daß er mich als einen öffentlichen Charakter betrachtete. Aber es gab Umstände im Geleite – ha – meiner geringen Bekanntschaft mit Mr. Clennam (sie war sehr gering), die«, hier wurde Mr. Dorrit außerordentlich ernst und feierlich, »es höchst unzart für Mr. Clennam machen würden, – ha – den Verkehr mit mir oder irgendeinem Glied meiner Familie unter den bestehenden Umständen wieder anzuknüpfen. Wenn Mr. Clennam Zartheit genug besitzt, das Unpassende jedes derartigen Versuches zu begreifen, so bin ich als Mann von Ehre verpflichtet, dieses Zartgefühl auf seiner Seite zu respektieren. Wenn aber auf der andern Seite Mr. Clennam diese Delikatesse nicht besitzt, so kann ich keinen Augenblick – ha – mit einem so ungebildeten Menschen im geringsten Verkehr stehen. In beiden Fällen würde es scheinen, als ob Mr. Clennam ganz und gar nicht in Betracht käme und wir nichts mit ihm oder er mit uns zu tun hätte. Ha – Mrs. General!«

Das Eintreten der Dame, die er ankündigte und die ihren Platz beim Frühstück einnehmen wollte, machte der Diskussion ein Ende. Kurz darauf kündigte der Kurier an, daß der Kammerdiener, der Diener, die beiden Kammermädchen, die vier Führer und die vierzehn Maultiere bereitständen: die Frühstücksgesellschaft brach deshalb auf, um sich vor dem Klostertore zu der Kavalkade zu gesellen.

Mr. Gowan stand in der Ferne mit Zigarre und Bleistift, aber Mr. Blandois war an Ort und Stelle, um den Damen seinen Respekt zu bezeugen. Als er höflich seinen ins Gesicht hereingedrückten Hut vor Klein-Dorrit abnahm, war es ihr, als ob er einen noch unheimlicheren Blick hätte, wie er so schwarz und in den Mantel gehüllt im Schnee dastand, als vergangene Nacht, wo ihn das helle Kaminfeuer beleuchtete. Da jedoch ihr Vater und ihre Schwester seine Huldigung mit einigem Wohlwollen aufnahmen, faßte sie sich, um ihr Mißtrauen nicht zu zeigen, damit es nicht wieder einen Beweis des Makels liefere, der von ihrer Gefängnisgeburt stamme.

Nichtsdestoweniger sah sie sich, solange sie den rauhen Weg hinabritten und das Kloster noch sichtbar war, mehr als einmal um und gewahrte, wie Mr. Blandois, hinter dem der Klosterrauch senkrecht und hoch aus den Kaminen in einer goldenen Hülle emporstieg, immer noch auf einem hervorragenden Punkte dastand und ihnen nachblickte. Lange, nachdem er nur wie ein schwarzer Stock im Schnee aussah, war es ihr, als ob sie noch immer sein Lächeln, die gebogene Nase und die Augen sehen könnte, die so nahe beieinander standen. Und noch später, als das Kloster verschwunden war und einige leichte Morgenwolken den Paß unter denselben verschleierten, schienen die Skelettarme am Wege alle nach ihm hinaufzudeuten.

Trügerischer denn Schnee, vielleicht kälter an Herz und schwerer schmelzend, verschwand Blandois von Paris nach und nach aus ihrem Gedächtnis, als sie in die milderen Regionen kamen. Die Sonne war wieder warm; die Ströme, die von den Gletschern und Schneeklüften herabrauschten, boten wieder frischen Trunk: sie ritten wieder zwischen den Pinien, den Felsbächen, über die grünen Höhen und durch die Täler, an den hölzernen Sennhütten und an den rohen Zickzackgehängen des Schweizerlandes hin. Bisweilen wurde der Weg so breit, daß sie und ihr Vater nebeneinander reiten konnten. Und dann ihn anzublicken, wie er in Pelz und prachtvolles Tuch gehüllt, reich, frei, von vielen Dienern begleitet und bedient, die Augen weit in der Herrlichkeit der Landschaft umherschweifen ließ, während keine elende Scheidewand den Blick verdunkelte und ihren Schatten darauf warf, – das war genug für sie.

Ihr Onkel war so weit aus dem früheren Schatten herausgetreten, daß er die Kleider trug, die man ihm gab, und einige Waschungen als Opfer für den Ruf der Familie vornahm und mitging, wohin man ihn führte, mit einer gewissen geduldigen naiven Freude, die auszudrücken schien, daß die Luft und der Wechsel ihm wohltue. In jeder andern Beziehung, eine ausgenommen, gab und spiegelte er kein andres Licht von sich als das, das von seinem Bruder ausstrahlte. Seines Bruders Größe, Reichtum, Freiheit und Herrlichkeit gefiel ihm ohne irgendwelche Rücksicht auf sich. Still und in sich gekehrt, hatte er keine Sprache, wenn er seinen Bruder sprechen hören konnte; keinen Wunsch, selbst bedient zu werden, so daß die Diener nur mit seinem Bruder zu tun hatten. Die einzige bemerkenswerte Neuerung, die in ihm vorging, war sein verändertes Benehmen gegen seine jüngere Nichte. Jeden Tag verfeinerte es sich mehr zu einem ausgeprägten Respekt, wie man ihn selten beim Alter gegenüber der Jugend sieht, und noch seltener, möchte man sagen, von einem Takt, ihm den richtigen Ausdruck zu geben, begleitet findet. Sooft Miß Fanny ein für allemal erklärte, pflegte er die nächste Gelegenheit zu ergreifen, sein graues Haupt vor seiner jüngern Nichte zu entblößen, oder er half ihr aufsteigen, oder hob sie in den Wagen, oder erwies ihr sonst mit der tiefsten Ehrerbietung eine Aufmerksamkeit. Und doch erschien alles dies nie am unrechten Ort angebracht oder gezwungen, sondern immer herzlich einfach, natürlich und ungekünstelt. Auch gab er niemals zu, selbst wenn sein Bruder ihn dazu aufforderte, daß man ihm vor ihr einen Platz anwies oder daß er in irgend etwas den Vorrang vor ihr habe. So eifersüchtig war er darauf, daß man sie respektiere, daß er eben auf dem Ritt vom großen St. Bernhard herab plötzlich ganz heftig und ungehalten wurde, als er sah, daß der Diener, obgleich er ganz nahe dabei war, als sie abstieg, ihr den Steigbügel zu halten versäumte; und das ganze Gefolge geriet in grenzenloses Erstaunen, als er auf einem starrköpfigen Maultier einen Angriff auf ihn machte, ihn in eine Ecke ritt und ihm drohte, ihn totzutreten.

Es war eine hochnoble Gesellschaft, und die Wirte stritten sich um sie. Wohin sie kamen, war ihre Wichtigkeit in der Person des vorausreitenden Kuriers ihnen vorangeeilt, um zu sehen, ob die Staatszimmer in Bereitschaft seien. Er war der Herold der Familienprozession. Dann kam der große Reisewagen, der innen enthielt: Mr. Dorrit, Miß Dorrit, Miß Amy Dorrit und Mrs. General; außen saß einer der Diener und (bei schönem Wetter) Edward Dorrit, Esquire, für den der Bock reserviert war. Dann kam der kleine Reisewagen mit Frederick Dorrit, Esquire und einem leeren Platze für Edward Dorrit bei schlechtem Wetter. Dann kam der Gepäckwagen mit der übrigen Dienerschaft, dem schweren Gepäck, und soviel er von dem Schmutz und Staub tragen konnte, den die andern Wagen hinter sich ließen.

Diese Wagen schmückten den Hof des Hotels in Martigny, als die Familie von ihrer Bergtour zurückkehrte. Es waren noch andere Wagen vorhanden, da viele Reisende sich unterwegs befanden. Von der zusammengeflickten italienischen Vettura – die wie der Stuhl einer Schaukel von einem italienischen Jahrmarkt aussah, den man auf ein hölzernes Speisenbrett mit Rädern gestellt hat, während sich obendrüber ein zweites hölzernes Speisenbrett ohne Räder befand – bis hinauf zum schöngebauten englischen Wagen. Aber etwas anderes schmückte noch das Hotel, was Mr. Dorrit nicht ausbedungen hatte. – Zwei fremde Reisende nämlich schmückten eines seiner Zimmer.

Der Hotelbesitzer schwor, den Hut in der Hand, dem Kurier, daß er vernichtet, daß er trostlos, daß er tief bekümmert, daß er das elendeste und unglücklichste aller Tiere sei, daß er den Kopf eines hölzernen Schweins habe. Er würde das niemals zugegeben haben, sagte er, aber die feine Dame habe ihn so inständig gebeten, ihr das Zimmer nur für eine kleine halbe Stunde zum Dinieren einzuräumen, daß er sich habe herumbringen lassen. Die kleine halbe Stunde sei vorüber, die Dame und der Herr nehmen ihr kleines Dessert ein und eine halbe Tasse Kaffee, die Rechnung sei bezahlt, die Pferde befohlen, sie würden augenblicklich abreisen; aber ein unglückliches Schicksal und der Fluch des Himmels wolle, daß sie noch nicht fort seien.

Nichts konnte die Entrüstung Mr. Dorrits übersteigen, als er sich am Fuße der Treppe umwandte und diese Entschuldigungen vernahm. Es war ihm, als sei die Würde der Familie von den Händen eines Meuchelmörders getroffen worden. Er hatte ein Gefühl seiner Würde, das von der ausgesuchtesten Art war. Er konnte einen Angriff auf dieselbe entdecken, wo kein Mensch sonst auch nur das geringste merkte. Sein Leben wurde zu einem unaufhörlichen Kampf durch die Masse von Seziermessern, die er beständig mit der Sezierung seiner Würde beschäftigt wähnte.

»Ist es möglich, mein Herr«, sagte Mr. Dorrit tief errötend, »daß Sie – ha – die Kühnheit gehabt haben, eines von meinen Zimmern zur Verfügung einer andern Person zu stellen?«

Er bitte tausendmal um Entschuldigung. Es sei des Wirtes größtes Unglück, sich von dieser nur allzu vornehmen Dame haben überreden zu lassen. Er bitte Monseigneur nicht ungehalten zu sein. Er verlasse sich auf Monseigneurs Nachsicht. Wenn Monseigneur die ausgezeichnete Gnade haben wollte, den andern besonders für ihn hergerichteten Salon nur für fünf Minuten einzunehmen, so würde alles gut sein.

»Nein, Sir«, sagte Mr. Dorrit, »Ich will gar keinen Salon einnehmen. Ich werde Ihr Haus verlassen, ohne zu essen oder zu trinken oder einen Fuß hineinzusetzen. Wie können Sie es wagen, so zu handeln. Wer bin ich, daß Sie – ha – mich von andern Gentlemen absondern?«

Ach! Der Wirt rief das ganze Weltall zu Zeugen auf, daß Monseigneur der liebenswürdigste Mann des ganzen Adels, der bedeutendste, achtungswerteste und geachtetste Mann sei. Wenn er Monseigneur von andern absondere, so geschehe es bloß, weil er ausgezeichneter, geschätzter, edler und berühmter sei.

»Sagen Sie mir dergleichen nicht ins Gesicht«, versetzte Mr. Dorrit in großer Hitze. »Sie haben mich beleidigt. Sie haben Beschimpfungen auf mich gehäuft. Wie können Sie das wagen? Erklären Sie sich!«

Ach, gerechter Himmel, wie könnte der Wirt sich erklären, da er nichts mehr zu erklären hatte, sondern sich nur noch entschuldigen und sein Vertrauen auf die wohlbekannte Großmut von Monseigneur setzen könnte!

»Ich sage Ihnen, Sir«, versetzte Mr. Dorrit, zitternd vor Zorn, »daß Sie mich von andern Gentlemen absondern; daß Sie Unterschiede zwischen mir und andern Gentlemen von Vermögen und Stellung machen. Ich frage Sie, warum? Ich wünsche zu wissen, mit welchem Recht, mit welchem – ha – Recht? Antworten Sie, mein Herr. Erklären Sie sich. Antworten Sie, warum?«

Der Wirt müsse sich die Freiheit nehmen, dem Herrn Kurier zu bemerken, daß der sonst so gnädige Monseigneur sich ohne Grund ereifere. Es sei keine Ursache vorhanden. Der Herr Kurier möge Monseigneur vorstellen, daß er sich täusche, wenn er glaube, es sei irgendein Grund vorhanden als der, den sein ergebener Diener bereits ihm mitzuteilen die Ehre gehabt. Die außerordentlich vornehme Dame –

»Genug!« rief Mr. Dorrit. »Schweigen Sie. Ich will nichts mehr von dieser außerordentlich vornehmen Dame hören. Sehen Sie diese Familie an – meine Familie – eine vornehmere Familie als irgendwelche Dame. Sie haben diese Familie mit Mißachtung behandelt. Sie waren unverschämt gegen diese Familie. Ich werde Sie ruinieren. Ha – schicken Sie nach den Pferden. Packen Sie die Wagen, ich werde keinen Fuß mehr in dieses Mannes Haus setzen.«

Niemand hatte sich in diesen Streit gemischt, der über die französischen Sprachkräfte Edward Dorrits Esq. ging und kaum im Bereich von denen der Damen lag. Miß Fanny jedoch unterstützte jetzt ihren Vater mit großer Bitterkeit, indem sie in ihrer heimischen Sprache erklärte, daß es ganz klar sei, hinter dieses Mannes Impertinenz laure etwas ganz Bestimmtes; und sie betrachte es für wichtig, daß er durch irgendwelche Mittel gezwungen werde, den Grund anzugeben, weshalb er einen Unterschied zwischen dieser Familie und andern reichen Familien mache. Was die Ursache seiner Vermessenheit sein könne, wisse sie sich nicht zu erklären; aber Gründe müsse er haben und man solle sie aus ihm herauspressen.

Alle Führer, Maultiertreiber und Müßiggänger im Hofe hatten bei der heftigen Verhandlung zugehört und waren sehr verblüfft, als der Kurier nun die Wagen hinauszuschaffen sich mühte. Mit Hilfe von einigen Dutzend Leuten an jedem Rade geschah dies mit großem Geräusch; dann machte man sich wieder ans Aufladen, bis die Pferde vom Posthause kamen.

Da der Wagen der sehr vornehmen englischen Dame bereits angeschirrt an dem Tor des Hotels stand, war der Wirt hinaufgeschlichen, um ihr seinen fatalen Fall mitzuteilen. Dies erfuhr der Hof, indem er jetzt mit dem Herrn und der Dame die Treppe herabkam und auf die beleidigte Majestät von Mr. Dorrit mit einer bezeichnenden Bewegung der Hand hindeutete.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Herr, indem er sich von der Dame losmachte und näher kam. »Ich bin ein Mann von wenig Worten und habe kein Talent zum Erklären – aber die Dame hier wünscht sehr, daß jeder Spektakel vermieden würde. Die Lady – meine Mutter – wünscht wegen des Vorgefallenen, daß ich sagen soll, sie hoffe, es werde keinen Spektakel geben.«

Mr. Dorrit, der im Gefühle der Kränkung noch immer zitterte, grüßte den Herrn und die Dame in einer sehr fremden, abweisenden unnahbaren Weise.

»Nein, aber wahrhaftig – hier, alter Junge; Sie!« Das war die Art des jungen Mannes, wie er sich an Edward Dorrit Esquire wandte, den er als einen großen, von der Vorsehung ihm zugesandten Befreier aus der Verlegenheit packte. »Wir zwei wollen die Sache miteinander zurechtlegen. Die Dame wünscht so sehr, daß es keinen Spektakel gebe.«

Edward Dorrit Esquire, der am Knopf etwas auf die Seite gezogen worden, nahm einen diplomatischen Gesichtsausdruck an, indem er antwortete: »Sie müssen doch gestehen, wenn Sie eine Partie Zimmer vorausbestellen lassen und dieselben Ihnen gehören, es nicht angenehm ist, andre Leute in denselben zu finden.«

»Ja«, sagte der andre, »allerdings. Ich gebe es zu. Wir zwei wollen die Sache jedoch miteinander zurechtlegen und den Spektakel vermeiden. Der Fehler liegt durchaus nicht an diesem Laffen, sondern an meiner Mutter. Eine sehr feine Frau, die bei Gott keinen Unsinn an sich hat – und sehr gebildet – sie war zuviel für diesen Laffen. Steckte ihn förmlich in die Tasche.«

»Wenn das der Fall –« begann Edward Dorrit Esquire.

»Ich versichere Sie, auf Ehre, das ist der Fall. Warum deshalb«, sagte der andere, seine frühere gewichtige Stellung wieder einnehmend, »warum Spektakel?«

»Edmund«, sagte die Dame vom Tor aus, »ich hoffe, du hast zur Beruhigung des Herrn und seiner Familie erklärt, daß dieser höfliche Wirt keinen Tadel verdient?«

»Versichere Sie, Madame«, versetzte Edmund, »ich werde ganz lahm vor Anstrengung.« Dann sah er Edward Dorrit Esquire einige Sekunden lang an und fügte mit einem Ausbruch von Vertraulichkeit hinzu: »Alter Junge! Ist jetzt alles in Ordnung?«

»Ich glaube«, sagte die Dame, anmutig einen Schritt oder zwei auf Mr. Dorrit zuschreitend, »es ist besser, wenn ich selbst sage, daß ich diesen Mann versicherte, ich werde alle Folgen auf mich nehmen, die daraus entstehen könnten, daß ich eines von den Zimmern eines Fremden, während seiner Abwesenheit, für die lange (oder kurze) Dauer meines Diners in Beschlag nahm. Ich hatte keine Ahnung, daß der rechtmäßige Inhaber dieser Zimmer so bald zurückkommen würde. Auch hatte ich keine Ahnung, daß er schon angekommen, sonst würde ich mich beeilt haben, mein mit Unrecht in Beschlag genommenes Zimmer zurückzugeben und mich zu erklären und zu entschuldigen. Ich glaube, indem ich dies sage –«

Einen Augenblick lang stand die Dame mit dem Glas an dem Auge betroffen und sprachlos vor den beiden Miß Dorrit. In diesem Augenblick hielt Miß Fanny im Vordergrund einer großen malerischen Stellung, die die Familie, die Familienwagen und die Familiendiener bildeten, ihre Schwester fest unter dem Arm, um sie an Ort und Stelle zu fesseln, und mit dem andern Arm fächelte sie sich mit stolzer Miene und betrachtete die Dame nachlässig von Kopf bis zu Fuß.

Die Dame, die sich rasch wieder faßte – denn es war Mrs. Merdle, die nicht leicht aus der Fassung zu bringen war – fügte nun hinzu, sie glaube, indem sie dies sage, ihre Kühnheit zu entschuldigen und diesen gebildeten Wirt wieder in den Besitz der Gunst zu setzen, die ihm von so hohem Wert sei. Mr. Dorrit, auf dessen Altar all dies eitel Weihrauch war, gab eine gnädige Antwort und sagte, seine Leute sollten – ha – seine Pferde wieder abbestellen, – er wolle – hm – über das hinwegsehen, was er anfangs für eine Beleidigung gehalten, jetzt aber für eine Ehre ansehe. Daraufhin neigte sich der Busen vor ihm; und die Besitzerin warf mit einer wundervollen Beherrschung ihrer Züge den beiden Schwestern, als jungen Damen von Vermögen, für die sie sehr eingenommen war und die sie nie zuvor das Glück gehabt zu sehen, ein gewinnendes Lächeln zum Abschied zu.

Anders benahm sich Mr. Sparkler. Dieser junge Mann, dessen Blicke zu gleicher Zeit wie die seiner Lady-Mutter gefesselt wurden, konnte sich um keinen Preis wieder von den Fesseln losmachen, sondern starrte unverwandt auf die ganze Gesellschaft mit Miß Fanny im Vordergrund. Als seine Mutter sagte: »Edmund, wir sind nun fertig: gib mir deinen Arm«; schien er, nach der Bewegung seiner Lippen, mit einer Bemerkung zu antworten, die ungefähr die Worte enthielt, in denen seine glänzenden Talente sich zumeist äußerten, aber er entspannte keinen Muskel. So steif und starr war seine Gestalt, daß es schwierig gewesen wäre, ihn hinlänglich zu beugen, um ihn in die Wagentür zu bringen, wenn er nicht von drinnen zu rechter Zeit eine mütterlichen Ruck bekommen hätte. Er war kaum im Wagen, als das Kissen an dem kleinen Fenster hinten verschwand und sein Auge den Platz desselben beschlagnahmte. Dort blieb es so lange, als man einen so kleinen Gegenstand unterscheiden konnte, und wahrscheinlich noch weit länger, und starrte (wie wenn einem Stockfisch etwas unaussprechlich Überraschendes begegnet), einem schlechtgemalten Auge in einem großen Armband ähnlich, in die Ferne.

Diese Begegnung war für Miß Fanny so angenehm, und sie dachte später so viel mit wahrer Siegesfreude daran, daß ihre Härten sich außerordentlich milderten. Als die Prozession am nächsten Tag wieder im Gange war, nahm sie ihren Platz in derselben mit einer ihr sonst fremden Heiterkeit ein und zeigte wirklich eine so glückliche Laune, daß Mrs. General ziemlich überrascht aussah.

Klein-Dorrit war froh, daß man keinen Fehler an ihr fand und daß Fanny heiter war: ihr Teil an der Prozession war jedoch ein stilles sinnendes Träumen. Wenn sie so ihrem Vater in dem Reisewagen gegenübersaß und an das alte Zimmer im Marschallgefängnis dachte, so erschien ihr das gegenwärtige Leben wie ein Traum. Alles, was sie sah, war neu und herrlich, aber es war nicht wirklich. Es war ihr, als wenn diese Visionen von Bergen und malerischen Gegenden jeden Augenblick verschwinden und der Wagen, plötzlich um eine Ecke biegend, mit einem Stoß vor dem alten Gefängnistor stehen könnte.

Nichts zu arbeiten zu haben war seltsam, aber nicht halb so seltsam, als in einer Ecke zu sitzen, wo sie für niemanden zu denken, nichts auszusinnen und auszurichten, keine Sorgen von andern auf sich zu übernehmen hatte. Seltsam wie das war, war es doch noch weit seltsamer, einen Raum zwischen sich und dem Vater zu sehen, wo andere sich damit beschäftigten, für ihn zu sorgen und wo man sie gar nicht erwartete. Anfangs war dies mit ihrer alten Erfahrung so widerstreitend, mehr noch als die Berge, daß sie außerstande gewesen war, darauf zu verzichten, und versucht hatte, ihren alten Platz neben ihm zu behaupten. Aber er hatte allein mit ihr gesprochen und ihr gesagt: daß Leute – ha – Leute in einer höheren Stellung ängstlich gewissenhaft von ihren Untergebenen Respekt verlangen müßten; und daß es für sie, seine Tochter, Miß Amy Dorrit, von der einzig noch existierenden Linie der Dorrits von Dorsetshire, unvereinbar mit jener Stellung wäre, dafür zu gelten, daß sie die Funktionen – ha – eines Kammerdieners versehe. Deshalb müsse er ihr seine väterliche – hm – streng verschärfte Mahnung erteilen, sich zu erinnern, daß sie eine Dame, die sich nun mit – hm – dem gebührenden Stolz zu benehmen und den Rang einer Dame aufrechtzuerhalten habe. Deshalb fordre er von ihr, daß sie sich solchen Tuns enthalte – ha –, das unangenehme und nachteilige Bemerkungen hervorrufen könnte. Sie hatte ohne Murren auf sein Wort gehorcht. Es war dahin gekommen, daß sie jetzt in einer Ecke des üppigen Wagens, die kleinen Hände vor sich faltend, saß, selbst von dem äußersten Punkt ihres früheren Platzes weggerückt, den ihr Fuß aufzugeben lange gezögert hatte.

Von dieser Stellung aus erschien ihr alles, was sie sah, traumhaft! je überraschender die Szenen, desto mehr glichen sie der Traumhaftigkeit ihres eignen innern Lebens, durch dessen öde Räume sie den ganzen Tag schritt. Die Abgründe des Simplon, seine ungeheuren Tiefen und donnernden Wasserfälle, der herrliche Weg, die gefährlichen Punkte, wo ein loses Rad oder ein strauchelndes Pferd den Untergang brachte, das Hinabsteigen nach Italien, das Aufgehen des schönen Landes, als die rauhe Bergschlucht sich erweiterte und sie aus dem düstern und dunkeln Gefängnis herausließ – alles war ein Traum – nur das alte elende Marschallgefängnis eine Wirklichkeit. Ja, selbst das alte elende Marschallgefängnis war bis auf den Grund niedergerissen, wenn sie es sich ohne ihren Vater malte. Sie konnte kaum glauben, daß die Gefangenen noch in dem engen Hofe weilten, daß die elenden Räume noch immer alle besetzt waren und daß der Schließer noch immer in dem Pförtnerstübchen stehe und die Leute aus- und einlasse – alles, wie sie wohl wußte, daß es noch war.

Mit einer Erinnerung an ihres Vaters altes Leben im Gefängnis, die schwer wie eine traurige Melodie auf ihr lastete, erwachte Klein-Dorrit gewöhnlich aus einem Traum von ihrem Geburtsort zu dem Traum eines ganzen Tages. Das gemalte Zimmer, in dem sie erwachte, oft ein ehemaliges Prunkzimmer in einem verfallenen Palaste, eröffnete diesen Traum; wildes rotes Herbstweinlaub hing über die Fenster herab, Orangenbäume standen auf der zerrissenen weißen Terrasse vor dem Fenster, eine Gruppe von Mönchen und Bauern ging durch die Straße einher. Elend und Pracht stritten sich auf jedem Fleck Erde, gleichviel unter welcher Gestalt, rings umher um den Vorrang, und das Elend warf die Pracht mit der Stärke des Schicksals zu Boden. Diesem Eingang folgte ein Labyrinth von kahlen Gängen und pfeilertragenden Galerien, während die Familienprozession sich bereits in dem viereckigen Hof zur Abfahrt rüstete, nachdem die Wagen und das Gepäck für die Tagreise von den Dienern zusammengebracht worden. Dann das Frühstück in einem andern gemalten Zimmer, mit feuchten Flecken und von traurigem Aussehen; und dann die Abreise, die für ihre Schüchternheit und das Gefühl, nicht vornehm genug für ihren Platz bei den Zeremonien zu sein, immer eine unbehagliche Sache war. Denn dann erschien der Kurier (der ein Fremder von hoher Auszeichnung im Marschallgefängnis gewesen wäre), um anzuzeigen, daß alles in Bereitschaft sei. Dann hüllte ihres Vaters Kammerdiener ihn mit großem Pomp in seinen Reiserock; dann bedienten sie Fannys Mädchen und ihr eigenes Mädchen (die für Klein-Dorrit eine schwere Last war, sie weinte anfangs über sie, da sie gar nicht wußte, was mit ihr anfangen); dann vollendete ihres Bruders Diener den Anzug seines Herrn; dann gab ihr Vater Mrs. General den Arm, und ihr Onkel gab ihr den seinen, und begleitet von dem Wirt und der Dienerschaft des Hotels rauschten sie die Treppe hinab. Dort war gewöhnlich eine Masse Menschen versammelt, um sie einsteigen zu sehen, was sie dann auch unter vielem Verbeugen, Bitten, Pferdebäumen, Knallen und Knarren taten; und dann ging's toll durch die engen, übelriechenden Straßen und zum Stadttor hinaus.

Unter den Traumerscheinungen des Tages waren gewöhnlich Wege, wo das glänzend rote Weinlaub sich wie Girlanden meilenlang an den Bäumen hinzog: Olivenwälder, weiße Dörfer und Städte an Hügel gelehnt, lieblich von außen, aber schrecklich in ihrem Schmutz und ihrer Armut im Innern; Kreuze am Wege; tiefblaue Seen mit schönen Inseln und Gruppen von Booten mit Zelten von glänzenden Farben und Segeln von schönen Formen; massenhafte Gebäude, die in Staub zerfielen; hängende Gärten, wo das wuchernde Gestrüpp so stark geworden, daß seine Stämme wie eingetriebene Keile die Bogen gesprengt und die Mauer zerrissen hatten; steinerne terrassenförmige Gänge, wo die Eidechsen in und aus allen Ritzen krochen; Bettler von allen Arten und überall; bemitleidenswert, malerisch, hungrig, lustig; Bettelkinder und alte Bettler. Oft erschienen ihr an Posthäusern und andern Haltplätzen diese elenden Geschöpfe das einzige Wirkliche des Tages, und manchmal, wenn das Geld, das sie mitgebracht hatten, um es ihnen zu geben, alles verschenkt war, saß sie mit gefalteten Händen gedankenvoll da, nach einem winzig kleinen Mädchen hinblickend, das seinen greisen Vater führte, als wenn dieser Anblick sie an etwas aus längst vergangenen Tagen erinnerte.

Dann gab es wieder Orte, wo sie die ganze Woche in glänzenden Zimmern zusammenwohnten, jeden Tag Gastmähler hatten, unter Haufen von Wundern ausfuhren, zwischen Meilen von Palästen hingingen und in dunkeln Winkeln von großen Kirchen weilten; wo es blinkende Lampen von Gold und Silber zwischen Pfeilern und Bogen gab, kniende Gestalten in der Nähe von Beichtstühlen und auf dem Pflaster umherschwärmten: wo Dampf und Geruch von Weihrauch webte: wo man Gemälde, phantastische Bilder, festlich geschmückte Altäre, große Höhen und Entfernungen sah, alles durch buntes Glas sanft beleuchtet und die massiven Vorhänge, die an den Türen hingen. Von den Städten kamen sie wieder auf Wegen mit Wein und Oliven durch schmutzige Dörfer, wo keine Hütte war ohne ein Loch in der trüben Wand, kein Fenster mit einem ganzen Zoll Glas oder Papier; wo nichts zu sein schien, was das Leben erträglich machte, nichts zu essen, nichts zu tun, nichts zu schaffen, nichts zu hoffen, wo man nichts tun konnte als sterben.

Dann kamen sie wieder in ganze Städte von Palästen, deren rechtmäßige Einwohner alle verbannt, und die alle in Kasernen verwandelt waren; Scharen von müßigen Soldaten lehnten aus den Staatsfenstern, wo ihre Ausrüstung an der marmornen Architektur zum Trocknen aufgehängt war. Die Soldaten sahen wie Heere von Ratten aus, die (glücklicherweise) die Stützen der Gebäude wegfraßen, die bald mit ihnen über die Häupter der andern Schwärme von Soldaten, und der Schwärme von Priestern, und der Schwärme von Spionen noch, die die unheimliche Bevölkerung bildeten und sich, dem Untergang verfallen, in den Straßen unten umhertrieben, hereinbrechen mußten.

Durch solche Szenen bewegte sich die Reisegesellschaft bis nach Venedig. Hier zerstreute sie sich für einige Zeit, da sie in Venedig einige Monate bleiben wollte, in einem Palast (der sechsmal so groß war wie das ganze Marschallgebäude) am Canal Grande.

In diesem alles Frühere krönenden Traum, wo alle Straßen mit Wasser gepflastert waren und die Totenstille bei Tag und Nacht nur durch das dumpfe Läuten der Kirchenglocken, das Rauschen des Wassers und den Ruf der Gondoliere unterbrochen wurde, die um die Ecken der fließenden Straßen bogen, saß Klein-Dorrit, ganz in Gedanken versunken, da ihre Arbeit getan war, und sinnend da. Die Familie begann ein heiteres Leben, ging da und dorthin und verwandelte Nacht in Tag; aber sie scheute sich, an ihren Freuden teilzunehmen, und verlangte nur, allein bleiben zu dürfen.

Bisweilen stieg sie auch in eine der Gondeln, die immer in Bereitschaft standen und an gemalte Pfosten vor der Tür angelegt waren, – wenn sie sich von der aufdringlichen Bedienung ihres Kammermädchens, die mehr ihre Herrin, und zwar eine sehr harte, war, losmachen konnte – und ließ sich durch die ganze seltsame Stadt fahren. Gesellschaften in andern Gondeln begannen einander zu fragen, wer das kleine einsame Mädchen sei, an dem sie vorüberkamen, und das mit gefalteten Händen in ihrem Boote sitze und so nachdenklich und staunend umherblicke. Nicht entfernt ahnend, daß es irgend jemand für der Mühe wert halte, von ihrem Tun Notiz zu nehmen fuhr Klein-Dorrit in ihrer ruhigen, schüchternen, in sich gekehrten Weise in der Stadt umher.

Aber ihr Lieblingsplätzchen war der Balkon ihres Zimmers, der auf den Kanal hinausging, mit andern Balkonen darunter und keinem darüber. Er war massiv von Stein, durch die Zeit geschwärzt und von jener wunderlich phantastischen Bauart, die vom Osten mit andern wunderlich phantastischen Dingen herüberkam; und Klein-Dorrit sah wirklich sehr klein aus, wenn sie sich über das breite Geländer hinauslehnte und hinabschaute. Da sie namentlich abends keinen Ort so sehr liebte wie den Balkon, so fiel sie bald auf, und manche Augen in den vorüberfahrendcn Gondeln erhoben sich zu ihr und manche Leute sagten: »Da ist wieder die kleine Gestalt der jungen Engländerin, die immer allein ist.«

Solche Leute waren für die kleine Gestalt der jungen Engländerin keine wirklichen Personen; sie waren ihr ja alle unbekannt. Sie beobachtete den Sonnenuntergang mit seinen langen purpurnen und roten Linien, seinem Flammenbrand, der hoch in die Wolken schlug und die Gebäude mit solcher Glut, ihre Struktur mit solchem Licht übergoß, daß es aussah, als wenn die dicken Wände durchsichtig und von innen erhellt wären. Sie sah, wie diese Pracht unterging; und dann, wenn sie einige Zeit auf die schwarzen Gondeln unten hinabgeblickt, die Gäste zu Musik und Tanz führten, erhob sie die Augen zu den leuchtenden Sternen. War nicht in ihrem eignen früheren Leben eine Gesellschaft, auf die die Sterne schienen? Oh, an jenes alte Tor jetzt zu denken!

Sie dachte dann gewöhnlich an jenes alte Tor, und wie sie dort gesessen in der Totenstille der Nacht, Maggys Haupt als Kopfkissen dienend; und an andre Plätze und andre Szenen, deren Erinnerung sich an jene vergangene Zeiten knüpfte. Und dann lehnte sie sich an den Balkon und sah darüber hinaus auf das Wasser, als wenn das alles unten vor ihr läge. Wenn sie so weit gekommen, schaute sie sinnend auf die Strömung, als wenn sie, in der allgemeinen Vision, austrocknen und ihr das Gefängnis und sie selbst und das alte Zimmer und die alten Insassen und die alten Besuche zeigen würde: lauter dauernde Wirklichkeiten, die sich nicht verändert hatten.

 


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