Charles Dickens
David Copperfield. Teil II
Charles Dickens

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45. Kapitel
Mr. Dick erfüllt die Prophezeiung meiner Tante

Ich hatte meine Stellung bei Doktor Strong schon seit geraumer Zeit aufgegeben. Da ich in seiner Nähe wohnte, sah ich ihn häufig, und wir alle kamen hie und da zum Mittagessen oder zum Tee zu ihm. Der »General« hatte bei dem Doktor seinen beständigen Wohnsitz aufgeschlagen. Sie war noch ganz die alte, und die unsterblichen Schmetterlinge schwebten immer noch über ihrem Hut.

Mrs. Markleham war, wie das oft vorkommt, viel vergnügungsüchtiger als ihre Tochter. Sie beanspruchte viel Zerstreuung und gab als alter, schlauer Soldat vor, sich für ihr Kind aufzuopfern, während sie nur ihren eignen Neigungen frönte. Des Doktors Wunsch, Ännie zu zerstreuen, kam deshalb dieser vortrefflichen Mutter besonders gelegen, und sie stimmte seinen Vorschlägen auf das Entschiedenste bei.

»Lieber Doktor«, sagte sie zu ihm einmal in meiner Gegenwart, »es wäre wirklich etwas langweilig für Ännie, wenn sie immer hier eingesperrt sein müßte.«

Der Doktor nickte wohlwollend mit dem Kopf.

»Wenn sie einmal in den Jahren ist wie ihre Mutter«, sagte Mrs. Markleham mit einem Fächerschlag, »wird es anders sein. Mich könnte man in einen Kerker sperren mit angenehmer Gesellschaft und einer Whistpartie, und ich würde gar nicht daran denken, auszugehen. Aber ich bin nicht Ännie, sehen Sie, und Ännie ist nicht ihre Mutter.«

»Ganz gewiß, ganz gewiß«, stimmte der Doktor bei.

»Sie sind der beste Mensch von der Welt . . . Nein, ich bitte um Verzeihung!« – Der Doktor machte eine abwehrende Bewegung. – »Ich muß es Ihnen ins Gesicht sagen, wie ich es immer hinter ihrem Rücken tue: Sie sind der beste Mensch von der Welt, aber naturgemäß können Sie nicht auf die Geschmackrichtung und Neigungen Ännies eingehen.«

»Nein«, sagte der Doktor mit bekümmertem Ton.

»Naturgemäß nicht. Nehmen Sie zum Beispiel Ihr Lexikon! Wie nützlich ist so ein Lexikon! Wie notwendig! Die Bedeutung der Worte! Ohne Doktor Johnson oder sonst jemand der Art würden wir heute noch ein Brenneisen eine Bettstelle nennen. Aber wir können nicht erwarten, daß ein Lexikon, besonders wenn es noch nicht fertig ist, Ännie interessiert, nicht wahr?«

Der Doktor nickte.

»Und deshalb billige ich so sehr Ihre kluge Einsicht«, sagte Mrs. Markleham und schlug Dr. Strong mit dem zugemachten Fächer auf die Schulter. »Es beweist, daß Sie nicht, wie so viele bejahrte Leute, alte Gesichter auf jungen Schultern zu sehen wünschen. Sie haben Ännies Charakter studiert und verstehen ihn. Das finde ich so bewunderungswert.«

Selbst das ruhige und geduldige Gesicht Dr. Strongs zeigte sich, wie mir vorkam, peinlich berührt von derartigen Komplimenten.

»Deshalb, lieber Doktor«, fuhr der »General« liebreich fort, »können Sie zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten über mich verfügen. Ich stehe ganz zu Ihren Diensten. Ich bin bereit, mit Ännie in die Oper, ins Konzert, in die Ausstellung und überall hinzugehen, und nie sollen Sie sehen, daß ich müde bin. Die Pflicht, lieber Doktor, geht allem in der Welt vor.«

Sie hielt Wort. Sie gehörte zu den Leuten, die sehr viel Zerstreuung vertragen können, und ihre Ausdauer in dieser Hinsicht war nicht zu ermüden. Selten legte sie eine Zeitung aus der Hand, ohne etwas zu finden, was Ännie gewiß sehr gerne sehen würde. Vergebens wendete Ännie in solchen Fällen ein, daß sie derlei Dinge satt habe. Immer wieder kam ihre Mutter mit Vorstellungen wie: »Liebe Ännie, du wirst es wohl besser wissen, aber ich muß dir schon sagen, mein Kind, daß du durchaus nicht die gehörige Dankbarkeit für die Güte Dr. Strongs beweisest.«

Das sagte sie immer in der Anwesenheit des Doktors und schien damit ihre Tochter am ehesten zu bewegen, keine Einwendungen mehr zu machen.

 

Es kam jetzt nur selten vor, daß Mr. Maldon Ännie begleitete. Manchmal wurden meine Tante und Dora zu den Spaziergängen eingeladen und nahmen immer an. Manchmal Dora allein. In früherer Zeit wäre mir das nicht ganz recht gewesen, aber näheres Nachdenken über jenen Vorfall in des Doktors Studierzimmer hatte meinem Mißtrauen eine andere Richtung gegeben. Ich glaubte, daß der Doktor recht habe, und hegte keinen Argwohn mehr.

Meine Tante rieb sich manchmal die Nase, wenn wir darüber sprachen, und sagte, sie könnte nicht klug daraus werden; sie möchte den beiden wünschen, sie wären glücklicher, und sie glaube nicht, daß unser militärischer Freund – wie sie immer den »General« nannte – die Sache besser mache. Wenn Mrs. Markleham nur wenigstens die Schmetterlinge abschneiden und sie den Rauchfangkehrern zum Maifest schenken wollte, würde sie wenigstens den guten Willen, wieder zur Vernunft zurückzukehren, damit zeigen, meinte sie.

Aber ihre feste Zuversicht war und blieb Mr. Dick. Der Mann habe offenbar eine Idee im Kopf, sagte sie, und wenn er sie erst einmal in einer Ecke festfahren könnte, was die Hauptschwierigkeit bei ihm sei, so werde er sich in ganz außerordentlicher Weise auszeichnen.

Ohne etwas von dieser Prophezeiung zu wissen, schien Mr. Dick in seinem alten Verhältnis zu dem Doktor und seiner Gattin weder einen Schritt vorwärts noch rückwärts zu machen. Wie ein Gebäude verharrte er unbeweglich auf seinem ursprünglichen Grund, und ich muß gestehen, mein Glaube, er werde jemals einen Schritt vorwärts machen, war nicht größer, als wenn er wirklich ein Gebäude gewesen wäre.

Eines Abends nun, als meine Tante mit Dora zu den beiden kleinen Vögeln zum Tee gegangen war und ich allein an meinem Schreibtisch saß, steckte Mr. Dick den Kopf zur Tür herein, hustete bedeutsam und fragte:

»Könnte ich mit dir wohl ein Wort sprechen, ohne dich zu stören, Trotwood?«

»Gewiß, Mr. Dick«, sagte ich, »nur herein.«

»Trotwood«, sagte Mr. Dick und legte den Finger an die Nase, nachdem er mir die Hand geschüttelt. »Ehe ich mich setze, möchte ich eine Bemerkung machen. Du kennst deine Tante?«

»Ein wenig.«

»Sie ist die wunderbarste Frau auf der Welt.«

Nach dieser Mitteilung, mit der er herausplatzte, als ob sie ganz neu wäre, setzte er sich mit größerm Ernst als gewöhnlich hin und sah mich an.

»Jetzt, mein Sohn, will ich dir eine Frage vorlegen.«

»Bitte, nur zu.«

»Wofür hältst du mich?« fragte Mr. Dick und verschränkte die Arme.

»Für einen lieben, alten Freund.«

»Ich danke dir, Trotwood«, gab Mr. Dick lachend zur Antwort und reichte mir fröhlich die Hand hin. »Aber ich meine«, sagte er wieder mit seinem vorigen Ernst, »was hältst du von mir in dieser Hinsicht?« und deutete auf seine Stirn.

Ich war verlegen und suchte nach einer Antwort. Aber er half mir mit einem Wort:

»Schwach?«

»Nun ja«, entgegnete ich zögernd, »ein klein wenig.«

»Ganz richtig«, rief Mr. Dick, den meine Antwort ordentlich zu entzücken schien. »Nämlich, Trotwood, als sie einige von den Sorgen aus seinem Kopf – du weißt schon wessen – nahmen und in meinen taten, da entstand eine . . .« Er drehte seine beiden Hände rasch umeinander, um eine Verwirrung auszudrücken. »Da geschah mir das auf irgendeine Weise, nicht wahr?«

Ich bejahte, und er nickte wieder.

»Kurz, mein Sohn«, und er dämpfte seine Stimme bis zum Flüstern, »ich bin schwachsinnig.«

Ich wollte dagegen Einwendungen erheben, aber er verhinderte mich daran.

»Ja, das bin ich. Sie behauptet auch, ich wäre es nicht. Aber ich weiß, daß ichs bin. Wenn sie mir nicht als Freund beigestanden hätte, so wäre ich heute noch eingesperrt und hätte die langen Jahre hindurch ein schreckliches Leben führen müssen. Aber ich werde für sie sorgen. Ich greife nie das Geld für das Abschreiben an. Ich tue es in eine Sparbüchse. Ich habe ein Testament gemacht und will ihr alles hinterlassen. Sie soll reich werden! – Vornehm!«

Mr. Dick zog sein Taschentuch heraus und wischte sich die Augen. Dann legte er es mit großer Sorgfalt zusammen, strich es glatt und steckte es in die Tasche und schien damit auch das Thema weggesteckt zu haben.

»Du bist ein Gelehrter, Trotwood«, fuhr er dann fort. »Ein bedeutender Gelehrter! Du weißt, was für ein großer hervorragender Mann der Doktor ist. Du weißt, wieviel Ehre er mir immer erwiesen hat. Nie ist er stolz in seiner Weisheit! Bescheiden, bescheiden – herablassend selbst gegen den armen Dick, der schwachsinnig ist und nichts weiß! Ich habe seinen Namen auf einem Papierzettel an der Schnur entlang hinauf zu dem Drachen geschickt, als er hoch im Himmel war bei den Lerchen. Der Drache hat ihn entgegengenommen, und der Himmel ist lichter davon geworden.«

Er war entzückt, als ich ihm auf das herzlichste versicherte, daß der Doktor unsere größte Achtung verdiene.

»Und seine schöne Frau ist ein Stern. Ein glänzender Stern. Ich habe ihn leuchten sehen. Aber –« er rückte mit dem Stuhle näher und legte mir die Hand aufs Knie »– Wolken, Trot, – Wolken!«

Ich nickte.

»Was sind das für Wolken?« fragte er.

Er sah mir so besorgt fragend ins Gesicht und sah mich so angestrengt nach Verständnis ringend an, daß ich mir die größte Mühe gab, ihm langsam und deutlich alles zu erklären wie einem Kinde.

»Es ist ein unglücklicher Zwiespalt zwischen ihnen entstanden. Irgend etwas, was sie voneinander fernhält. Ein Geheimnis. Es ist vielleicht unzertrennlich von der Verschiedenheit ihres Alters. Es ist vielleicht aus fast nichts entstanden.«

Mr. Dick, der bei jedem Satz gedankenvoll genickt hatte, schwieg, als ich fertig war, und dachte nach, die Augen auf mein Gesicht geheftet und die Hände auf mein Knie gelegt.

»Der Doktor ist ihr nicht bös, Trotwood?« fragte er nach einer Weile.

»Nein, er liebt sie aufs innigste.«

»Dann habe ichs, mein Sohn!«

Die plötzliche Freude, mit der er mir aufs Knie schlug und sich in den Stuhl zurücklehnte, die Augenbrauen so hoch wie nur irgend möglich in die Höhe gezogen, ließ mich glauben, daß er weniger zurechnungsfähig als je sei. Ebenso schnell wurde er wieder ernst, holte das Taschentuch hervor und sagte wieder, als ob er damit das alte Thema hervorgeholt habe:

»Die wunderbarste Frau auf der Welt, Trotwood! Warum hat sie eigentlich nichts getan, um die Sache in Ordnung zu bringen?«

»Es ist ein zu delikater Gegenstand, um sich hineinzumischen.«

»Großer Gelehrter!« sagte Mr. Dick und tupfte mir mit dem Finger auf die Brust. »Warum hast du nichts getan?«

»Aus demselben Grund.«

»Dann hab ichs«, und Mr. Dick stellte sich vor mich hin, noch erfreuter, nickte mit dem Kopf und schlug sich wiederholte Male so stark auf die Brust, als wolle er sich allen Atem aus dem Leibe hämmern.

»Ein armer, halb verrückter Kerl!« sagte er. »Ein Einfaltspinsel, einer, der den Verstand verloren hat . . . Schau mich an!« und er schlug sich wieder auf die Brust – »kann vollbringen, was wundervolle Leute nicht imstande sind. Ich will sie zusammenbringen, mein Sohn! Ich wills versuchen. Mir kann niemand einen Vorwurf machen! Ich kann keinen Schaden anrichten, wenn ich etwas Unrechtes tue. Ich bin nur Mr. Dick! Dick ist niemand! Hui!« Er spitzte den Mund, als ob er etwas wegblasen wollte.

Es traf sich glücklich, daß er mit seiner Enthüllung so weit gekommen war, denn soeben hielt der Wagen mit meiner Tante und Dora an der Gartentüre.

»Kein Wort, mein Junge«, flüsterte er. »Überlasse alles dem Dick dem schwachsinnigen Dick – dem verrückten Dick. Ich habe schon seit einiger Zeit gehofft, daß ichs finden würde, und jetzt habe ichs gefunden. Nach dem, was du mir gesagt hast, bin ich gewiß, daß ich es gefunden habe.«

Nicht eine Silbe mehr ließ Mr. Dick über die Sache fallen, benahm sich aber während der nächsten halben Stunde zur größten Beunruhigung meiner Tante wie ein lebendiger Telegraphenzeiger, um mir das unverbrüchlichste Schweigen einzuschärfen.

Zu meiner Verwunderung hörte ich die nächsten paar Wochen nichts wieder davon, obgleich mich die Sache höchlichst interessierte. Endlich fing ich an zu glauben, daß Mr. Dick entweder seinen Plan aufgegeben oder ihn vergessen habe.

 

An einem schönen Abend machten meine Tante und ich, da Dora keine Lust zum Spazierengehen hatte, einen Besuch bei dem Doktor. Es war Herbst, und keine Parlamentsdebatte verdarb die Abendstimmung. Die Blätter dufteten wie einst unser Garten, in Blunderstone, als sie unter unserm Fuße rauschten, und das alte Gefühl der Unbefriedigung lebte wieder in meiner Brust. Es dämmerte, als wir das Landhaus erreichten. Mrs. Strong kam gerade aus dem Garten, und Mr. Dick half dem Gärtner einige Stäbe zuspitzen. Der Doktor war mit jemand in seinem Studierzimmer beschäftigt; aber der Besuch würde gleich gehen, sagte Mrs. Strong und bat uns zu bleiben. Wir traten mit ihr in das Besuchszimmer und setzten uns ans Fenster.

Es waren kaum ein paar Minuten verstrichen, als Mrs. Markleham, die es immer zustande brachte über irgend etwas in Aufregung zu sein, mit der Zeitung in der Hand hastig hereintrat und ganz außer Atem sagte: »Gott im Himmel, Ännie, warum machst du mich nicht darauf aufmerksam, daß jemand im Studierzimmer ist.«

»Liebe Mama«, erwiderte Mrs. Strong ruhig, »wie konnte ich denn wissen, daß du es zu wissen wünschtest.«

»Zu wissen wünschtest!« – Mrs. Markleham sank auf das Sofa. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so erschrocken.«

»Du bist in der Studierstube gewesen, Mama?« fragte Ännie.

»In der Studierstube gewesen? Allerdings, ja. Ich bin dort gewesen! Ich überraschte den vortrefflichen Mann – denken Sie sich meine Empfindungen, Miss Trotwood und David – beim Aufsetzen seines Testamentes!«

Ännie blickte schnell auf.

»Beim Aufsetzen seines letzten Willens«, wiederholte Mrs. Markleham, indem sie die Zeitung auf ihren Schoß wie eine Serviette ausbreitete und mit den Händen draufpatschte. »Nein, die Vorsicht und Liebe des Trefflichen! Ich muß Ihnen erzählen, wie es war, um dem wundervollen Mann Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie wissen vielleicht, Miss Trotwood, daß in diesem Hause nie ein Licht angezündet wird, ehe einem nicht die Augen buchstäblich aus dem Kopfe fallen, von der Anstrengung des Zeitunglesens, und daß kein Stuhl im Hause ist, in dem man eine Zeitung lesen könnte, was ich lesen nenne, außer einem einzigen im Studierzimmer. Das führte mich dorthin, zumal ich Licht drin sah. Ich öffnete die Tür. Bei dem lieben Doktor waren zwei Herren, offenbar Advokaten, und alle drei standen am Tisch – der gute Doktor mit der Feder in der Hand. ›Damit drücke ich mit einfachen Worten aus‹, sagte er, ›meine Herrn, daß ich das größte Vertrauen in Mrs. Strong setze und ihr hiermit alles bedingungslos verschreibe.‹ Und einer der beiden Herren wiederholte: ›bedingungslos verschreibe.‹

Darauf sagte ich, von meinem mütterlichen Gefühl überwältigt: ›Guter Gott, ich bitte um Entschuldigung‹, stolperte über die Türschwelle und kam hierher durch den kleinen Gang an der Speisekammer vorbei.«

Mrs. Strong öffnete die Glastür, ging auf die Veranda hinaus und lehnte sich an eine Säule.

»Sagen Sie, Miss Trotwood, und Sie, David, ist es nicht eine wahre Herzensstärkung, wenn ein Mann in Dr. Strongs Alter noch so viel Geistesstärke hat, so etwas zu tun?« fragte Mrs. Markleham. »Es beweist wieder, wie recht ich hatte. Ich sagte damals schon zu Ännie, als er um sie anhielt: Liebe Tochter, sagte ich, es läßt sich meiner Meinung nach gar nicht daran zweifeln, wenn wir von einer passenden Versorgung für dich sprechen, daß Dr. Strong noch weit mehr tun wird, als er verspricht.«

Man hörte die Klingel gehen und den Besuch sich entfernen.

»Jetzt ist alles vorüber«, sagte der General. »Der Treffliche hat unterschrieben, und sein Gemüt ist beruhigt. Liebe Ännie, ich gehe jetzt mit der Zeitung in das Studierzimmer, denn ohne Neuigkeiten bin ich ein geschlagenes Geschöpf. Miss Trotwood, David, bitte, kommen Sie mit zum Doktor.«

Ich war mir bewußt, daß Mr. Dick im dunklen Hintergrund des Zimmers stand und sein Messer zuklappte, als wir ihr in das Studierzimmer folgten, auch daß meine Tante unterwegs ihre Nase heftig rieb, um ihrem Ärger über unsern militärischen Freund Luft zu machen. Aber wer zuerst eintrat, oder wie Mrs. Markleham in einem Nu es sich im Lehnstuhl bequem gemacht hatte, oder wie es kam, daß meine Tante und ich an der Tür stehenblieben, das habe ich vergessen, wenn ich es jemals gewußt habe. Das eine weiß ich, daß wir den Doktor, ehe er uns bemerkte, an seinem Tisch unter den Folianten sitzen sahen, die ihm so viel Freude machten, und daß er den Kopf auf die Hand gestützt hatte, und daß in demselben Augenblick Mrs. Strong bleich und zitternd hereintrat. Mr. Dick stützte sie, mit der andern Hand berührte er den Arm des Doktors, so daß dieser mit zerstreuter Miene aufblickte.

Im selben Augenblick war Ännie vor ihrem Gatten auf die Knie gesunken, die Hände flehend emporgehoben und wieder mit dem Ausdruck in den Mienen, den ich nie vergessen hatte. Bei diesem Anblick ließ Mrs. Markleham die Zeitung fallen und sah mit aufgerissenen Augen dem Gallionenbild eines Schiffes »Das große Erstaunen« ähnlicher als irgend etwas anderem.

»Doktor«, sagte Mr. Dick, »woran fehlts hier? Sehen Sie her!«

»Ännie«, rief der Doktor, »steh doch auf, liebe Ännie!«

»Ich bitte Sie alle, bleiben Sie hier! Und du, mein Gatte und Vater, brich endlich dies lange Schweigen. Laß uns beide wissen, was zwischen uns getreten ist.«

Mrs. Markleham, die unterdessen die Sprache wiedergefunden hatte und von Familienstolz und mütterlicher Entrüstung überfloß, rief: »Ännie, sogleich stehe auf und verunehre nicht deine ganze Familie, indem du dich so demütigst, wenn du nicht willst, daß ich auf der Stelle den Verstand verliere.«

»Mama«, entgegnete Ännie, »verschwende keine Worte an mich, denn ich richte meine Bitte an meinen Gatten, und selbst du giltst hier nichts.«

»Nichts!« rief Mrs. Markleham aus. »Ich nichts! Das Kind ist verrückt geworden! Ich bitte um ein Glas Wasser!«

Meine Aufmerksamkeit war zu sehr von dem Doktor und Ännie in Anspruch genommen, als daß ich dem Wunsche Beachtung hätte schenken können. Auf die andern machte es ebenfalls keinen Eindruck, und so blieb Mrs. Markleham nichts übrig als zu pusten, große Augen zu machen und sich Luft zuzufächeln.

»Ännie«, sagte der Doktor und ergriff zärtlich die Hände seiner Gattin, »liebe Ännie! Wenn eine unvermeidliche Veränderung im Verlauf der Zeit in unserm Eheleben eingetreten ist, so trägst du nicht die Schuld daran. Es ist mein Fehler und nur meiner. In meiner Liebe und Bewunderung und in meiner Achtung hat sich nichts geändert. Ich wünsche dich glücklich zu machen. Ich liebe und halte dich hoch von ganzem Herzen. Stehe auf, Ännie, ich bitte dich!«

Aber Mrs. Strong stand nicht auf. Sie blickte ihn eine kleine Weile an, legte ihren Arm auf sein Knie, ließ ihren Kopf darauf sinken und sagte:

»Wenn ich einen Freund hier habe, der ein Wort für mich oder meinen Gatten sprechen oder dem Verdacht, den mir mein Herz zugeflüstert hat, Worte geben kann, – einen Freund, der meinen Gatten schätzt oder jemals auf mich etwas gegeben hat, so möge er sprechen, ich flehe ihn an –, wenn er etwas weiß, was immer es sein möge, was zur Vermittlung zwischen uns helfen kann.«

Eine tiefe Stille folgte. Nach einigen Augenblicken peinlichen Zögerns brach ich das Schweigen.

»Mrs. Strong«, sagte ich, »ich weiß von etwas, was zu verbergen Ihr Gatte mich ernstlich ersucht hat und ich bis jetzt verschwiegen habe, aber ich glaube, die Zeit ist da, wo es ein falsches Zartgefühl wäre, es länger zu verheimlichen, zumal Ihr Wunsch mich meines Wortes entbindet.«

Sie wendete mir einen Augenblick das Gesicht zu, und ich erkannte, daß ich recht hatte.

»Unser zukünftiger Frieden«, sagte sie, »liegt vielleicht in Ihren Händen. Und ich bitte Sie, nichts zu verschweigen. Ich weiß im voraus, daß weder Sie, noch irgend jemand anders etwas sagen kann, was meines Gatten Hochherzigkeit in einem andern Lichte als bisher erscheinen lassen könnte. Kümmern Sie sich nicht darum, ob es mich verletzen mag.«

So ernstlich gebeten, glaubte ich mich nicht erst vom Doktor meines Wortes entbinden lassen zu müssen, sondern erzählte ohne Umschweife, nur die Roheiten Uriah Heeps abschwächend, was an jenem Abend geschehen war. Mrs. Marklehams erstaunte Blicke und die schrillen Ausrufe, mit denen sie mich gelegentlich unterbrach, spotten jeder Beschreibung.

Ännie verblieb einige Augenblicke in ihrer Stellung, dann ergriff sie des Doktors Hand, drückte sie an ihre Brust und küßte sie. Mr. Dick hob sie sanft auf, und sie stützte sich auf ihn, als sie zu ihrem Gatten sprach.

»Alles was ich gedacht und gefühlt habe, seit wir verheiratet waren«, sagte sie mit milder und zärtlicher Stimme, »will ich dir ohne Rückhalt offenbaren. Ich könnte nicht leben und einen Gedanken vor dir verbergen, seit ich weiß, was ich soeben erfahren habe.«

»Nein! Ännie«, sagte der Doktor liebevoll, »ich habe nie an dir gezweifelt, mein Kind! Es bedarf dessen nicht. Es bedarf dessen wirklich nicht, meine Liebe.«

»Doch, doch! Es bedarf dessen sehr wohl! Ich muß mein ganzes Herz auftun vor der edlen und treuen Seele, die ich Jahr um Jahr und Tag für Tag mehr geliebt und verehrt habe, Gott weiß es.«

»Wahrhaftig«, unterbrach Mrs. Markleham, »wenn ich überhaupt Taktgefühl habe –«

»Sie haben es eben nicht, Sie Störenfried«, verwies sie meine Tante mit einem entrüsteten Flüstern.

»– so möchte ich mir zu bemerken erlauben, daß es wohl nicht notwendig wäre, auf diese Einzelheiten einzugehen.«

»Das kann nur mein Gatte beurteilen, Mama«, sagte Ännie, ohne ihre Augen von seinem Gesicht abzuwenden, »und ich bitte ihn, mich bis zu Ende anzuhören. Wenn ich etwas sage, was dir Schmerz bereitet, Mama, so verzeihe mir. Ich habe den Gram lange mit mir herumgetragen.«

»O Gott!« ächzte Mrs. Markleham.

»Als ich noch ein kleines Kind war«, begann Ännie wieder, »waren schon die ersten Anfänge meiner Erkenntnisse unzertrennlich mit dem geduldigen Freund und Lehrer, dem Freunde meines verstorbenen Vaters, verbunden. Ich kann an nichts denken, was ich weiß, ohne nicht auch an ihn zu denken. Er gab meinem Geist seinen ersten Inhalt.«

»Sie macht ihre Mutter zu einem Nichts!« rief Mrs. Markleham aus.

»Gewiß nicht, Mama«, sagte Ännie; »aber ich mache ihn zu dem, was er war. Ich muß das tun. – Als ich aufwuchs, nahm er noch immer dieselbe Stelle ein. Ich war stolz auf ihn und hing zärtlich und dankbar an ihm. Ich blickte zu ihm auf wie zu einem Vater, zu einem Führer, zu einem, der über jedes Lob erhaben ist, zu einem, auf den ich vertraut haben würde, wenn ich an der ganzen Welt hätte zweifeln müssen. Du weißt, Mama, wie jung und unerfahren ich war, als du ihn mir ganz unerwartet als Bewerber vorstelltest.«

»Das habe ich jedem hier schon mindestens fünfzig Mal erzählt«, sagte Mrs. Markleham.

»Dann halten Sie um Himmelswillen schon endlich den Mund und erwähnen Sie es nicht weiter«, brummte meine Tante.

»Das bedeutete für mich eine so große Umwälzung, einen so großen Verlust im Anfang«, fuhr Ännie fort, »daß ich mich erregt und bekümmert fühlte. Ich war fast noch ein Kind, und als ich eine so große Veränderung in seiner Stellung zu mir eintreten sah, tat es mir fast leid. Aber nichts hätte ihn wieder zu dem machen können, was er mir früher gewesen, und ich war stolz darauf, daß er mich seiner für wert hielt, und wir wurden getraut.«

»In der St.-Alphagius-Kirche in Canterbury«, bemerkte Mrs. Markleham.

»Verwünschtes Frauenzimmer!« murrte meine Tante. »Ob sie nicht endlich den Mund halten kann!«

»Ich habe nie«, fuhr Ännie fort, und ihr Gesicht färbte sich röter, »an einen irdischen Vorteil, als ich heiratete, gedacht. Mein junges Herz hatte in seiner Liebe keinen Platz für einen so armseligen Gedanken. Mama, verzeihe mir, wenn ich sage, daß du es warst, die mich zuerst auf die Vermutung brachte, irgend jemand könne ihn und mich in einem so gemeinen Verdacht haben.«

»Ich!« rief Mrs. Markleham.

»Ja, ja! Natürlich!« brummte meine Tante. »Sie können das nicht wegfächeln, mein militärischer Freund!«

»Das war das erste Leid auf meiner neuen Lebensbahn. Es gab die erste Veranlassung zu jedem unglücklichen Augenblick, den ich gekannt habe. Solcher Augenblicke sind in der letzten Zeit mehr geworden, als ich zählen kann; aber nicht, mein hochherziger Gatte, aus dem Grund, den du annehmen magst, denn in meinem Herzen lebt nicht ein Gedanke, nicht eine Erinnerung oder Hoffnung, die irgendeine Macht jemals von deiner Person trennen könnte!«

Sie faltete die Hände und sah so schön und rein aus wie ein Engelsbild. Der Doktor sah ihr von jetzt an so fest in die Augen, wie sie ihm.

»Mama darf man keinen Vorwurf machen«, fuhr Ännie fort, »daß sie jemals für sich selbst etwas erbeten hätte, und sie ist gewiß nicht anzuklagen, irgend etwas mit Berechnung getan zu haben, aber als ich sah, wieviel zudringliche und unberechtigte Ansprüche in meinem Namen gemacht wurden, wie man dich ausnützte, und wie hochherzig und aufopfernd du dich benahmst, und wie Mr. Wickfield, der dich immer so hoch hielt, aufgebracht darüber war, da beschlich mich die Furcht, man könne den Verdacht hegen, meine Liebe sei dir verkauft worden, – ich könnte gezwungen worden sein, an dieser Schmach teilzunehmen. Ich kann dir nicht sagen, was es hieß – und auch Mama kann es sich nicht vorstellen –, immer in dieser Befürchtung und Unruhe zu leben und doch im innersten Herzen zu wissen, daß mein Hochzeitstag der Weihe- und Ehrentag für mein Leben war.«

»Solchen Dank erntet man«, rief Mrs. Markleham weinend aus, »wenn einem die Familie am Herzen liegt! Ich wollte, ich wäre ein Türke!«

»Und zwar weit weg in der Türkei!« sagte meine Tante.

»Das war zu jener Zeit, wo meine Mutter so besorgt war um meinen Vetter Maldon. Ich habe ihn sehr gern gehabt«, sagte Ännie leise, aber ohne jedes Stocken. »Wir waren einst als Kinder ein kleines Liebespaar gewesen. Wenn es nicht anders gekommen wäre, hätte ich mir vielleicht eingeredet, ihn wirklich zu lieben, – hätte ihn geheiratet und würde höchst unglücklich geworden sein, denn es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen.«

Mir fielen diese Worte aufs Herz wie etwas, was auch auf mich paßte.

»Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen!«

»Wir haben nichts gemein miteinander, das habe ich längst erkannt. Wenn ich meinem Gatten weiter nichts als diese Erkenntnis zu verdanken hätte, so würde ich ihm dafür dankbar sein, daß er mich vor der ersten mißverstandenen Regung meines unerfahrenen Herzens gerettet hat.«

Sie stand ruhig vor dem Doktor und sprach mit einer Innigkeit, die mir tief in die Seele drang.

»Als mein Vetter Maldon darauf rechnete, durch deine Freigebigkeit versorgt zu werden, die ihm auch um meinetwillen so reichlich zuteil wurde, und ich mich unglücklich fühlte in der habgierigen Rolle, die mir aufgedrungen wurde, da dachte ich, es stünde ihm besser an, wenn er sich durch eigne Kraft emporarbeitete. Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, würde ich es versucht haben, und hätte es gekostet, was es wollte. Aber bis zum Abend seiner Abreise nach Indien dachte ich nichts Schlimmes von ihm. An diesem Abend erst erfuhr ich, daß er ein falsches und undankbares Herz hat. Ich las damals in Mr. Wickfields forschendem Blick den Verdacht, der mein Leben verfinstern sollte.«

»Verdacht, Ännie!« sagte der Doktor. »Nein, nein, nein!«

»Du hegtest keinen, das weiß ich! Und als ich an jenem Abend zu dir kam, um meine ganze Last von Scham und Schmerz zu deinen Füßen niederzulegen, und fühlte, ich hätte dir zu beichten, daß unter deinem Dach einer meiner eignen Verwandten, dem du mir zuliebe ein Wohltäter gewesen warst, Worte zu mir gesprochen, die nie hätten fallen dürfen, selbst wenn ich das schwache und selbstsüchtige Geschöpf gewesen wäre, für das er mich hielt, – da schauderte ich vor der Befleckung zurück, die mir schon das bloße Erzählen hätte bringen müssen. Es starb auf meinen Lippen, und bis zu dieser Stunde habe ich es verschwiegen.«

Mit einem kurzen Stöhnen lehnte sich Mrs. Markleham in ihren Sessel zurück und flüchtete sich hinter ihren Fächer, als wollte sie nie wieder dahinter hervorkommen.

»Von jener Zeit an habe ich nie wieder ein Wort mit ihm darüber gesprochen. Jahre sind inzwischen vergangen. Alles, was du insgeheim für seine Beförderung tatest und mir dann erzähltest, um mich damit zu überraschen und zu erfreuen, war, das kannst du mir glauben, nur eine neue, schwere Bürde für mich.«

Sie sank zu den Füßen des Doktors hin, obgleich er alles tat, um sie daran zu verhindern, und sagte mit Augen voll Tränen:

»Unterbrich mich noch nicht. Nur noch ein paar Worte. Mag es Recht oder Unrecht gewesen sein, aber wenn es wieder geschehen würde, ich glaube, ich müßte abermals so handeln. Ich kann dir nicht sagen, was es hieß, dich zu lieben und dabei glauben zu müssen, man habe mich im Verdacht, dir meine Liebe verkauft zu haben. Ich war sehr jung und hatte keinen Berater. Zwischen Mama und mir lag in allem, was dich betraf, eine weite Kluft. Wenn ich mich in mich selbst zurückzog und die Geringschätzung, die mir widerfuhr, verbarg, so geschah es nur, weil ich dich so hoch hielt und so sehr wünschte, daß du mich in Ehren hieltest.«

»Ännie, mein reines, treues Herz!« sagte der Doktor. »Mein liebes Kind!«

»Nur ein paar Worte, ein paar Worte noch! Ich dachte oft, es gäbe so viele, die dir weniger Last und Unruhe gebracht und dein Heim zu einem würdigeren hätten machen können. Ich dachte mir manchmal, es wäre vielleicht besser gewesen, ich wäre deine Schülerin und Tochter geblieben. Ich fürchtete manchmal, ich paßte nicht zu deiner Gelehrtheit und zu deinem Wissen. Wenn ich alles über mich ergehen ließ, so tat ich es nur, weil ich dich so hoch hielt und hoffte, daß auch du mich eines Tages erkennen würdest.«

»Dieser Tag ist längst gekommen, Ännie«, sagte der Doktor.

»Ich wollte mit Standhaftigkeit allein die Last tragen, um die Unwürdigkeit eines Menschen zu verwischen, für den du so viel Gutes getan. Und jetzt ein letztes Wort, liebster und bester aller Freunde. Die Ursache der Veränderung, die ich mit so viel Schmerz und Kummer an dir bemerkt habe und die ich manchmal meiner alten Befürchtung zuschrieb und dann wieder Gründen, die der Wahrheit näherkamen, ist heute abends aufgeklärt worden, und durch einen Zufall habe ich auch heute die ganze Größe des hochherzigen Vertrauens, das du selbst in dieser Zeit des Mißverständnisses auf mich setztest, kennengelernt. Und mit dieser neuen Erfahrung kann ich zu diesem geliebten Gesicht emporschauen, das ich verehre als das Antlitz eines Vaters, liebe wie das eines Gatten und das mir heilig war in meiner Kindheit wie das eines Freundes, und feierlich erklären, daß ich, auch mit den leisesten Gedanken nicht, in der Liebe und Treue, die ich dir schulde, gewankt habe.«

Sie hatte ihre Arme um den Nacken des Doktors geschlungen, und er beugte sein Haupt über sie, und sein graues Haar vermischte sich mit ihren dunkelbraunen Flechten! »Drücke mich an dein Herz, mein Gatte, meine Liebe ist auf einen Felsen gebaut und sie dauert ewig.«

 

In dem Schweigen, das hierauf folgte, ging meine Tante ernsthaft und gemessen auf Mr. Dick zu, umarmte ihn und gab ihm einen schallenden Kuß. Es war ein Glück für sein Ansehen, daß sie das tat, denn ich weiß ganz bestimmt, daß er sich in diesem Augenblick gerade anschickte, in seinem Entzücken auf einem Bein zu balancieren.

»Sie sind ein höchst bemerkenswerter Mann, Dick«, sagte meine Tante mit einer Miene unbeschränkter Billigung, »und tun Sie nie, als ob Sie etwas anderes wären, denn ich weiß es besser!«

Damit zupfte sie ihn am Ärmel, nickte mir zu, und wir drei schlichen uns still aus dem Zimmer.

»Das ist jedenfalls eine gesunde Kur für unsern militärischen Freund«, sagte sie auf dem Nachhausewege, »schon deswegen würde ich heute fröhlich schlafen gehen.«

»Ich fürchte, sie war ganz vernichtet und gerührt«, wandte Mr. Dick voll Mitgefühl ein.

»Was! haben Sie jemals ein Krokodil gerührt gesehen?«

»Ich habe überhaupt noch kein Krokodil gesehen«, entschuldigte sich Mr. Dick mit Milde.

»Es wäre überhaupt nie etwas schiefgegangen, wenn nicht dieses alte Biest gewesen wäre«, sagte meine Tante mit starkem Nachdruck. »Es wäre sehr zu wünschen, daß manche Mütter ihre Töchter nach der Heirat in Frieden ließen und nicht so entsetzlich zärtlich gegen sie täten. Sie scheinen zu glauben, sie hätten das Recht, ein unglückliches Mädchen zu Tode peinigen zu dürfen, bloß weil sie es in die Welt gesetzt haben. Woran denkst du, Trot?«

Ich hatte darüber nachgedacht, was alles geschehen war. Die Worte Mrs. Strongs klangen mir noch in den Ohren: »Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen und die erste mißverstandne Regung eines unerfahrenen Herzens.«

 

Wir waren zu Hause, und die welken Blätter lagen unter unsern Füßen, und der Herbstwind wehte.

 


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