René Descartes
Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie
René Descartes

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Vierte Betrachtung.

Wahrheit und Irrtum.

Es ist mir in der letzten Zeit zur Gewohnheit geworden, meinen Geist von den Sinnen abzulenken; ich habe es ganz deutlich bemerkt, wie wenig wir wirklich über die Körper erfahren, wieviel mehr aber über den menschlichen Geist, noch weit mehr aber über Gott; und so vermag ich nun ohne alle Schwierigkeit mein Denken von den Dingen der Anschauung weg und den rein begrifflichen und gänzlich immateriellen Gegenständen zuzuwenden.

In der That ist meine Vorstellung vom menschlichen Geiste als einem denkenden Wesen, das keine Ausdehnung nach Länge, Breite und Höhe hat und auch nichts Anderes mit dem Körper gemein hat, viel deutlicher, als die Vorstellung von irgend einem körperlichen Wesen.»sane multo magis distinctam habeo ideam mentis humanae, quatenus est res cogitans, non extensa in longum, latum et profundum, nec aliud quid a corpore habens, quam ideam ullius rei corporae.« Kuno Fischer und Kirchmann beziehen irrtümlicherweise das »quam ...« auf aliud, statt auf »multo magis«, wie wir es (in Übereinstimmung mit der französischen Ausgabe) thun. Kuno Fischer übersetzt: »ohne etwas vom Körper zu haben, als die Idee eines körperlichen Wesens.« Bedenke ich nun, daß ich zweifle, also ein unvollkommnes, abhängiges Wesen bin, so stellt sich mir ganz klar und deutlich die Vorstellung eines unabhängigen und vollkommnen Wesens, d. h. Gottes dar, und völlig überzeugend folgere ich aus dieser einen Thatsache, daß ich jene Vorstellung habe oder mit derselben existiere, die Existenz Gottes und die Abhängigkeit meiner ganzen Existenz von ihm in jedem einzelnen Moment. Daher bin ich der Überzeugung, der Menschengeist könne überhaupt nichts einleuchtender, nichts sicherer erkennen!

Nun glaube ich auch einen Weg zu sehen, um von der Betrachtung des wahrhaften Gottes, in dem alle Schätze der Wissenschaft und Weisheit verborgen sind, zur Erkenntnis der übrigen Dinge zu gelangen!

Erstlich nämlich erkenne ich, daß Gott mich unmöglich je täuschen kann; in allem Lug und Trug findet man eine Unvollkommenheit. Wenn auch die Fähigkeit zu täuschen ein Zeichen von Scharfsinn und Macht zu sein scheint, so beweist doch die Absicht zu täuschen ohne Zweifel Bosheit oder Schwäche und kann sich darum bei Gott nicht finden.

Zweitens bemerke ich bei mir ein Urteilsvermögen, das ich sicherlich ebenso wie alles andere, was ich habe, von Gott erhielt. Da nun aber Gott mich nicht täuschen will, wird er mir wahrlich kein solches gegeben haben, das mich bei richtigem Gebrauche jemals zu Irrtümern führen könnte.

Hierüber würde nun auch gar kein Zweifel mehr obwalten, wenn nicht hieraus zu folgen schiene, ich könne mithin niemals irren. Wenn ich nämlich alles, was in mir ist, von Gott habe, und dieser gab mir kein Vermögen zu irren, so kann ich dem Anscheine nach überhaupt nicht irren. So lange daher meine Gedanken sich nur mit Gott beschäftigen und ganz auf ihn gerichtet sind, so finde ich keinen Anlaß zu Irrtum oder Unwahrheit. Wende ich mich dann aber zu mir zurück, so bemerke ich, daß ich gleichwohl zahllosen Irrungen ausgesetzt bin. Forsche ich nach der Ursache derselben, so finde ich, daß sich mir nicht nur die reale und positive Vorstellung Gottes oder des vollkommensten Wesens darstellt, sondern auch sozusagen eine negative Vorstellung vom Nichts oder dem vollendetsten Gegensatz aller Vollkommenheit. Ich finde, daß ich gleichsam ein Mittelding zwischen Gott und dem Nichts bin, oder zwischen dem vollkommensten Sein und dem Nichtsein, und daß ich so beschaffen bin, daß ich als Geschöpf jenes vollkommensten Wesens nichts in mir habe, das mich zur Unwahrheit oder zum Irrtum führen könnte; inwiefern ich aber auch am Nichts oder am Nichtsein teilnehme (d. h. inwiefern ich nicht selbst jenes vollkommenste Wesen bin und gar vieles mir fehlt), kann es nicht gerade wunderbar erscheinen, wenn ich irre.

So sehe ich also klar ein, daß der Irrtum als solcher nichts Wirkliches, von Gott Herrührendes, sondern nur ein Mangel ist; daß ich also, um zu irren, keines besonderen Vermögens bedarf, das mir von Gott zu diesem Zwecke verliehen wäre; vielmehr entspringt mein Irrtum aus der Beschränktheit des mir von Gott verliehenen Urteilsvermögens.

Doch dies kann mich noch nicht ganz zufrieden stellen. Der Irrtum ist nämlich nicht die reine Negation, sondern der Mangel, das Fehlen einer mir gewissermaßen zukommenden Erkenntnis, und wenn ich das Wesen Gottes betrachte, so scheint es mir unmöglich, daß Gott ein Vermögen in mich gelegt habe, das nicht in seiner Art vollkommen wäre, oder dem eine ihm zukommende Eigenschaft fehlt. Wenn die Werke, die von einem Künstler ausgehen, um so vollkommner sind, je kundiger der Künstler ist, kann dann Gott, der Urheber aller Dinge, etwas geschaffen haben, das nicht in jeder Hinsicht vollkommen wäre?

Ohne Zweifel konnte doch Gott mich so schaffen, daß ich nie irrte; ohne Zweifel auch will er stets nur das Beste. Ist es nun besser ich irre, oder ich irre nicht?

Ich überlege mir dies genauer und finde erstlich, daß es gar nicht auffallend ist, wenn Gott etwas thut, dessen Gründe ich nicht einsehe. Auch darf ich nicht darum an Gottes Existenz zweifeln, weil ich etwa irgend etwas bemerke, von dem ich nicht begreife, warum und wie er es gemacht hat. Ich weiß ja, daß ich von Natur sehr schwach und beschränkt bin, Gott aber ist unermeßlich, unfaßbar, unendlich! Darum weiß ich, daß er Unzähliges vermag, dessen Gründe mir unbekannt sind.

Aus diesem einzigen Grunde glaube ich auch, daß jene ganze Gattung von Ursachen, die man aus dem Zweck entnimmt, für die Physik von gar keiner Bedeutung sind; denn es wäre verwegen, wenn ich die Absichten Gottes ausforschen zu können meinte.

Zweitens finde ich, daß man nicht ein einzelnes Geschöpf im besonderen, sondern die Gesamtheit aller Dinge in Betracht ziehen muß, wenn man die Frage untersucht, ob Gottes Werke vollkommen sind. Ein Ding, das für sich allein betrachtet mit Recht als sehr unvollkommen erscheinen könnte, ist vielleicht als Teil des Weltganzen höchst vollkommen. Ich habe zwar, seit ich mir vornahm, an allem zu zweifeln, noch nichts weiter erkannt, als daß ich bin und daß Gott ist. Seit ich aber die unermeßliche Macht Gottes erkannt, kann ich doch nicht leugnen, daß Gott noch vieles andere geschaffen hat oder wenigstens hätte schaffen können, und daß ich mithin in dem All der Dinge nur die Bedeutung eines Teiles habe.


Trete ich nun näher an mich heran und prüfe, welcher Art meine Irrtümer sind (die allein eine Unvollkommenheit in mir beweisen), so bemerke ich, daß dieselben durch das Zusammenwirken zweier Ursachen bedingt sind, nämlich durch das Erkenntnisvermögen, das ich habe, und durch das Vermögen zu wählen oder die Willensfreiheit: d. h. also durch den Verstand in Verbindung mit dem Willen.

Durch den Verstand allein gelange ich nur zu den Vorstellungen, über die ich ein Urteil fällen kann, und ein eigentlicher Irrtum kann in dem Verstande in diesem Sinne gar nicht vorkommen. Es mögen wohl unzählige Dinge existieren, ohne daß ich eine Vorstellung von ihnen habe. Man kann aber nicht eigentlich sagen, ich sei derselben beraubt; man kann nur negativ sagen, ich habe dieselben nicht. Ich könnte ja mit keinem Grunde beweisen, daß Gott mir eigentlich ein größeres Erkenntnisvermögen hätte geben müssen, als er mir wirklich gab! Wenn ich auch einen noch so erfahrenen Künstler in ihm erkenne, so glaube ich darum doch nicht, daß er jedem einzelnen seiner Werke alle jene Vollkommenheiten hätte verleihen müssen, die er einigen verleihen kann.

Ich kann mich aber auch nicht beklagen, daß Gott mir keinen Willen, keine Willensfreiheit gegeben habe, die ausgedehnt und vollkommen genug sei; ich bemerke vielmehr, daß dieselbe in der That ohne alle Grenzen ist.

Sehr bemerkenswert ist hierbei, daß nichts anderes in mir so vollkommen oder so groß ist, daß ich mir es nicht noch vollkommener und größer denken könnte. Nehme ich z. B. das Erkenntnisvermögen. Ich bemerke sofort, daß es äußerst gering und eng begrenzt ist. Ich bilde mir aber sogleich auch die Vorstellung eines anderen weit größeren, ja des größtmöglichen, unendlichen Erkenntnisvermögens, und eben daraus, daß ich imstande bin, mir dies vorzustellen, erkenne ich, daß es zum Wesen Gottes gehört. Ebenso, wenn ich das Erinnerungs- oder das Vorstellungsvermögen oder irgend ein anderes prüfe, so finde ich überhaupt keins, das nicht in mir selbst gering und beschränkt, in Gott aber unermeßlich wäre. Der Wille allein oder die Willens freiheit ist es, die ich als so groß erkenne, daß ich sie mir gar nicht größer vorstellen kann. Daher ist sie es auch vorzüglich, vermöge derer ich in mir ein Ebenbild Gottes erkenne.

Freilich ist dieser freie Wille in Gott unvergleichlich größer als in mir, sowohl hinsichtlich der Erkenntnis und Macht, mit der er verbunden ist, und die ihn stärker und wirksamer macht, als auch hinsichtlich des Objektes, da er eine viel weitere Ausdehnung hat. Gleichwohl aber erscheint er, an sich genau betrachtet, seinem Wesen nach nicht größer; er besteht nämlich nur darin, daß wir dasselbe thun oder auch nicht thun (d. h. bejahen oder verneinen, erstreben oder fliehen) können, oder vielmehr lediglich darin, daß wir uns von keiner äußeren Macht dazu gezwungen fühlen, wenn wir das bejahen oder verneinen, erstreben oder fliehen, was uns der Verstand vorhält.

Um frei zu sein, brauche ich nämlich keineswegs nach beiden Seiten in gleicher Weise hinzuneigen. Im Gegenteil! Jemehr ich mich der einen Seite zuneige – sei es nun, weil ich in ihr das Wahre und Gute klar erkenne, oder weil Gott in meinem Innersten so mein Denken lenkt – um so freier wähle ich diese Seite. Weder die göttliche Gnade, noch die natürliche Erkenntnis beeinträchtigen je meine Freiheit, sondern mehren und kräftigen sie vielmehr! Jene Indifferenz aber, die ich empfinde, wenn nichts mich mehr nach der einen Seite hintreibt als nach der anderen, ist die tiefste Stufe der Freiheit; sie darf nicht als Beweis einer Vollkommenheit, sondern lediglich als ein Mangel im Erkennen, als etwas Negatives angesehen werden. Sähe ich immerdar, was wahr und gut ist, ich würde niemals schwanken, wie ich zu urteilen oder zu wählen habe! Ich würde völlig frei, aber niemals indifferent sein!

Hieraus ersehe ich nun, daß weder die mir von Gott verliehene Willenskraft, an sich betrachtet, die Ursache meines Irrtums sein kann; denn sie ist von größter Ausdehnung und vollkommen in ihrer Art. Noch auch kann es die Erkenntniskraft sein, denn da ich mein Erkennen von Gott habe, ist zweifelsohne alles richtig, was ich erkenne und ich kann mich darin nicht täuschen.

Woher also entstehen meine Irrtümer?

Offenbar nur daraus, daß der Wille sich weiter erstreckt als mein Verstand, und daß ich ihn nicht in den nämlichen Schranken halte, sondern auch auf das Nichterkannte ausdehne. Da er gegen dieses sich indifferent verhält, weicht er leicht vom Wahren und Guten ab, und so irre und sündige ich.

Als ich beispielsweise dieser Tage untersuchte, ob irgend etwas in der Welt existierte, und als ich bemerkte, daß eben daraus, daß ich es prüfte, mein Dasein evident folgte, da konnte ich nicht anders urteilen, als es sei wahr, was ich so klar erkannte, und zwar war ich zu diesem Urteil nicht durch eine äußere Macht gezwungen, sondern diese große Neigung meines Willens war eine Folge der großen Erleuchtung meines Verstandes, und so war mein Fürwahrhalten um so selbständiger und freier, je weniger ich dabei indifferent war.Man sieht hier deutlich, wie der Streit um die Willensfreiheit lediglich ein Wortstreit ist.

Descartes nimmt die Willens»freiheit« an, weil nicht äußere Ursachen den Willen bestimmen, sondern der Verstand, unsere eigene Erkenntnis, das Ich. Weil der Wille bestimmt wird durch den Verstand (der selbst wieder bestimmt wird durch die Objekte), nennen andere den Willen unfrei. Beide Behauptungen sind ihrem Sinne nach nicht widersprechend!

Nun weiß ich aber nicht bloß, daß ich (insoweit ich ein denkendes Wesen bin) existiere, es schwebt mir auch eine Vorstellung der körperlichen Natur vor, und so kommt es, daß ich im Zweifel bin, ob die Denknatur, die in mir ist, oder die ich vielmehr selber bin, von jener Körpernatur verschieden ist, oder ob beide ein und dasselbe sind.

Ich nehme nun an, mein Verstand finde noch keinen Grund, der ihm das Eine wahrer erscheinen lasse als das Andere, und offenbar treibt mich daher nichts an, das Eine oder das Andere zu bejahen oder zu verneinen, oder mich überhaupt jeden Urteils darüber zu enthalten. Diese Indifferenz erstreckt sich sogar nicht nur auf das, was der Verstand gar nicht erkennt, sondern überhaupt auf alles, was er nur mangelhaft erkennt zur Zeit, da er die Entscheidung in Erwägung zieht. Mögen noch so wahrscheinliche Vermutungen mich nach der einen Seite hindrängen, der Umstand allein, daß ich weiß, es sind nur Vermutungen und keine sicheren, unzweifelhaften Gründe, dies allein ist mir Veranlassung genug, meine Zustimmung dem Gegenteil zuzuwenden!

Das habe ich ja in diesen Tagen zur Genüge erfahren, als ich alles für gänzlich falsch annahm, an dessen Wahrheit ich früher ganz fest geglaubt hatte, und zwar aus dem einen Grunde, weil ich fand, man könne irgendwie daran zweifeln!

Wenn ich nun die Wahrheit nicht klar und deutlich genug erkenne, und ich enthalte mich des Urteils, so handle ich offenbar recht und bin vor Irrtum bewahrt. Urteile ich aber »so ist es« oder »es ist nicht so«, dann mache ich einen verkehrten Gebrauch von meiner Willensfreiheit! Wende ich mich dabei dem Falschen zu, so irre ich eben. Im anderen Falle treffe ich zwar zufällig das Richtige, bin aber doch nicht ohne Schuld, da mir die Vernunft sagt, daß die geistige Auffassung stets der Entscheidung des Willens vorausgehen müsse.

Diese verkehrte Anwendung der Willensfreiheit schließt jenen Mangel in sich, der das Wesen des Irrtums ausmacht. In der Anwendung, sage ich, die von mir ausgeht, liegt jener Mangel, nicht aber in dem Vermögen selbst, das ich von Gott empfing; auch nicht in dem Gebrauche desselben, soweit er von Gott abhängig ist!

Daß Gott mir keine größere Verstandeskraft, keine größere natürliche Einsicht verliehen, als ich nun einmal habe, darüber kann ich mich in keiner Weise beklagen, denn es liegt im Wesen des endlichen Verstandes, vieles nicht zu erkennen, und im Wesen des geschaffenen Verstandes, endlich zu sein. Ich bin dem, der mir nie was schuldig war, zu Dank verpflichtet für das, was er mir schenkte, und ich darf nicht etwa meinen, er hätte mir das vorenthalten, was er mir nicht gab, oder er hätte es mir weggenommen!

Auch darüber darf ich mich nicht beklagen, daß er meinem Willen eine größere Ausdehnung gegeben als meinem Verstande. Da nämlich der Wille Eins und gleichsam unteilbar ist, so scheint es seiner Natur zu widersprechen, daß von ihm etwas weggenommen wird, und fürwahr, je größer er ist, umsomehr bin ich seinem Geber zu Dank verpflichtet!

Schließlich darf ich auch darüber nicht klagen, daß Gott beim Zustandekommen jener Willensakte – jener Urteile, in denen ich irre – mitwirkt. Jene Akte sind, soweit sie von Gott abhängen, durchaus wahr und gut, und meine Vollkommenheit ist in gewissem Sinne größer, weil ich sie hervorzurufen vermag, als wenn ich dies nicht vermöchte, der Mangel aber, in dem allein das eigentliche Wesen des Irrtums und der Schuld besteht, bedarf keiner Mitwirkung Gottes, denn sie sind nichts Positives, und können, in Beziehung auf Gott als ihre Ursache nicht als ein Fehler, sondern nur als etwas Negatives bezeichnet werden. Es ist keine Unvollkommenheit Gottes, daß er mir die Freiheit gab, auch Dingen zuzustimmen oder nicht, deren klare und deutliche Erkenntnis er meinem Verstande versagte. Zweifelsohne aber ist es eine Unvollkommenheit meinerseits, wenn ich jene Freiheit mißbrauche und über Dinge urteile, die ich nicht recht verstehe.

Doch meine ich, Gott hätte es wohl leicht so einrichten können, daß ich nicht irrte und dabei doch frei und von beschränkter Erkenntnis bliebe. Er hätte nur meinem Verstande eine klare und deutliche Auffassung alles dessen zu geben brauchen, das ich je in Erwägung ziehen könnte; oder er hätte es nur meinem Gedächtnis unvergeßlich einprägen sollen, daß ich nie über etwas ohne klare und deutliche Einsicht urteilen dürfe. Hätte Gott mich so geschaffen, so ist leicht einzusehen, daß ich, wenigstens als Ganzes für sich betrachtet, viel vollkommener wäre, als ich jetzt bin!

Gleichwohl aber kann ich nicht leugnen, daß das All der Dinge, wenn einige seiner Glieder nicht frei sind von Irrtum, andere aber frei sind, eine größere Vollkommenheit besitzt, als wenn alle einander ganz ähnlich wären,Es ist schwer verständlich, warum ein Ganzes, um vollkommner zu sein, unvollkommnere Teile enthalten soll. Das Ganze verliert offenbar nichts von seiner Vollkommenheit, wenn seine Teile vollkommen sind; zudem schließt ja auch das Vollkommnere implicite das Unvollkommnere schon in sich. Descartes scheint die Mannigfaltigkeit als zur Vollkommenheit des Weltganzen erforderlich anzusehen. Angenommen, das wäre richtig, so könnte doch diese Mannigfaltigkeit auch in anderer Weise erzeugt werden, als durch Einfügung von Unvollkommnem zwischen das Vollkommne. (Ein solches Verfahren widerspräche dem Wesen eines allervollkommensten Gottes offenbar am allermeisten!) Müssen denn Dinge, die auf gleicher Stufe der Vollkommenheit stehen, einander notwendig »ganz ähnlich« sein? Kann man sich nicht denken, Gott habe Wesen ganz verschiedener Art schaffen können, die dennoch jedes für sich den höchsten Grad der ihm, seinem Wesen nach, möglichen Vollkommenheiten besäße? und ich habe kein Recht, mich zu beschweren, weil Gott wollte, daß ich in der Welt nicht das vorzüglichste und vollkommenste Wesen darstelle.

Kann ich nun aber auch nicht auf jene erste Weise mich vor Irrtum bewahren, nämlich durch den klaren Einblick in alles, worüber ich mich zu entscheiden habe, so kann ich es doch auf die andere Art, indem ich nämlich darauf achte, mich stets des Urteils zu enthalten, wenn ich mir über die Wahrheit der Sache nicht ganz klar bin. Wenngleich ich mich auch zu schwach fühle, um stets mein Augenmerk auf einen und denselben Punkt zu richten, so kann ich es doch durch aufmerksame und oft wiederholte Betrachtung dahin bringen, daß ich daran denke, sobald es nötig wird, und mich so gleichsam daran gewöhne, nicht zu irren.

Darin nun besteht die größte und hauptsächlichste menschliche Vollkommenheit, und ich glaube daher, nicht wenig durch meine heutige Betrachtung gewonnen zu haben, da ich die Ursache des Irrtums und der Falschheit erforschte. Diese Ursache kann gar keine andere sein, als die oben entwickelte, denn sowie ich den Willen beim Urteilen so zügele, daß er nur auf das klar und deutlich Erkannte sich erstreckt, so ist ein Irrtum gänzlich unmöglich; denn eine jede klare und deutliche Vorstellung ist ohne Zweifel doch Etwas, kann also nicht von Nichts kommen, sondern hat notwendigerweise Gott zum Urheber, – Gott, das vollkommenste Wesen, das weder irren noch lügen kann!Hier bezeichnet Descartes Gott als Urheber unserer Vorstellungen. Es entstand nun bald die Frage, ob Gott jede einzelne Vorstellung durch einen besonderen Akt in uns errege und uns gewissermaßen fortwährend mitteile, was außer uns vorgehe, oder ob er uns von vornherein so geschaffen habe, daß jene bestimmte Folge von Vorstellungen in steter Übereinstimmung mit den äußeren Vorgängen in uns sich entwickeln müsse. Ersteres behauptete der Occasionalismus, letzteres die Lehre von der prästabilierten Harmonie.

Eine gewisse Einschränkung erleidet übrigens die Descartes'sche Behauptung durch die Ausführungen der letzten Betrachtung. (Vgl. bes. p. 97.)

Und somit ist die Vorstellung ganz unzweifelhaft wahr.

Ich habe nun heute nicht nur gelernt, wovor ich mich zu hüten habe, um nie zu irren, sondern auch, was ich zu thun habe, um zur Wahrheit zu gelangen. Ich werde dahin gelangen, wenn ich nur auf alles hinreichend achte, was ich völlig einsehe, und dies von dem anderen absondere, das ich weniger klar und deutlich erfasse. Dies soll in Zukunft mein ernstes Bestreben sein!


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