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Als der Bewohner des einsamen kleinen Hauses zwischen Strand und Heide von seinem gewohnten Gang ins Dorf zurückkehrte und von der Landstraße in den Weg einbog, der zum Meer hinunterführt, sah er zwei Männer, die mit großen Schritten ein an sein Gärtchen grenzendes Grundstück ausmaßen.

Betroffen blieb er stehen, mit einem Gefühl von Neugierde, durchzittert von zorniger Erregung. Er erinnerte sich, daß Ghiana, eine junge Bäuerin, die ihm von Zeit zu Zeit Milch und Eier von einer Sennhütte auf den Hügeln brachte, ihm vor kurzem von dem Verkauf des Grundstücks erzählt hatte, auf dem ein Haus gebaut werden sollte.

Jetzt soll die Drohung also Wahrheit werden. Die beiden Männer, die mit langen Schritten die Wiese ausmessen, gefolgt von ihren riesigen Schatten, im abendübersonnten Gras, sehen wie Arbeiter aus: der größere, ein stämmiger Geselle mit ziegelrotem Gesicht, ist sicher ein Bauführer. Und letzten Endes ist das Grundstück ja wie geschaffen zum Bau eines Hauses. Im Schatten einer Piniengruppe gelegen, mit einem Trinkwasserbrunnen daneben, wirkt es fast wie eine Oase in der Sand- und Ginsterwüste, die sich von den Hügeln im Norden bis ans Meer erstreckt. Nur etwas weiter unten grünt noch ein kleines Gehölz, aber die Bäume dort sind niedrig und verkrüppelt, und pfeifend fegt der Meerwind über sie hinweg.

Der Mann, der aus dem Dorfe kommt, geht jetzt eiligen Schrittes auf dies grüne Fleckchen zu.

»Laß sie doch bauen!« murmelt er mit gesenktem Kopf, als spreche er mit dem Bündel in seiner Hand. »Geduld, Christian! Was können sie dir schließlich anhaben – in deinem Hause dort?«

Tief war dies Haus in dem kleinen Gehölz versteckt, das umgeben war von einer schwarzen Hecke, hoch und undurchdringlich wie eine Mauer. Das Ganze sah aus wie ein großer Korb voll Laub, aus dem das steile, rote Dach mit dem grauen First kaum hervorlugte.

Der Mann ging an der Hecke entlang, sich fast zärtlich an sie schmiegend wie ein Hund, der seinen Herrn wiedergefunden hat. Nein, dort drinnen konnte ihn niemand stören. Trotzdem blickte er sich, an dem dicht mit Stacheldraht umwickelten Holzgatter angelangt, noch einmal argwöhnisch um, ob ihn die Männer auf der Wiese nicht sahen.

Nein, sie sahen weder ihn, noch sah er sie. Beruhigt ließ er seine Blicke über die Landschaft gleiten.

Die Einsamkeit und die Stille waren so groß, daß er die Spinnen und die Heuschrecken zwischen den Blättern rascheln hörte. Wie ein großer Glassturz wölbte sich der wolkenlose Aprilhimmel über dem Land, das schimmernd unter ihm dalag, in ungetrübter Klarheit. Am Ende des kleinen Pfades fiel die Sonne auf einen nadelfeinen, leuchtenden Streifen des Meeres.

Zögernd öffnete der Mann das Gatter. Ihm war, als lächle die verwitterte Tür des Häuschens ihm erwartungsvoll am Ende des sandigen Gartenweges entgegen, ihm ganz allein; denn wie die gelb getünchte Vorderwand verbarg auch sie sich argwöhnisch unter den rotbraunen Fittichen des weit vorspringenden Daches.

Die Bäume – es waren zumeist Obstbäume – warfen ihre Schatten auf den sandigen Boden, auf die vereinzelten Gemüsepflanzen und die wild rankenden Reben: alles machte den trostlosen Eindruck einer Gegend mit wenig Wasser und viel, viel Wind. Aber jetzt lag der Glanz der sinkenden Sonne sanft über allen Dingen. Die Kronen der Bäume erglühten in dunklem Rot, die gelben Blumen im Hintergrund des Gartens leuchteten wie kleine Flammen, und der weiße Kater, der auf seinen Herrn zulief, hatte ein rosig schimmerndes Fell.

Auch im Innern des Hauses funkelte und blitzte alles, als der Mann die Tür öffnete. Die untergehende Sonne streute rote Lichter über die Wand im Hintergrund und über das Gebälk der roh gezimmerten Decke.

Nur der Mann blieb ernst und finster wie zuvor. Rasch machte er die Türe hinter sich zu, als hätte er schon wieder Angst, man könne ihn stören. Dann sah er sich argwöhnisch um, ob auch nichts fehle. Nein, alles war noch beim alten in dem großen Raum, der zu gleicher Zeit als Diele, Eßzimmer und Küche diente; und ebenso in der kleinen Kammer nebenan. Alles war noch an seinem Platz: der Schrank in der Ecke und der Tisch mit der schwarzen, gelbgeränderten Wachstuchdecke, auf der in großen Buchstaben »New York City« geschrieben stand.

Ja, alles war noch hübsch säuberlich auf seinem Platz, mit einer grauen Staubschicht darüber, wie in einem lange Zeit geschlossenen Hause.

Zwischen dem Herd und der Tür war zum Schutz gegen den Luftzug ein großes Segeltuch ausgespannt, das eine kleine Küche abtrennte, mit einem Waschgestell und einem Marmortischchen. Auf dieses Tischchen legte der Mann nun sein Bündel und begann es auszupacken.

Neugierig sah ihm der Kater dabei zu. Mit seinem Pfötchen, weich wie Samt, aus dem die kleinen Krallen verlangend hervorsahen, schien er ihm beim Auspacken helfen zu wollen, fast betrübt auf all die Schätze starrend, die zum Vorschein kamen: nahrhafte und verführerisch duftende Dinge, gedörrtes Fleisch, geräucherte Fische, Konservenbüchsen und anderes mehr. Aber sein Herr schob ihn ärgerlich mit der mageren Hand von sich. Seine Unruhe wurde immer größer, hinderte ihn aber nicht daran, die Schnur in die Tasche zu stecken, das fettige Papier, das ihm noch gute Dienste beim Anmachen des Feuers leisten konnte, sorgfältig aufzuheben und schließlich die Vorräte, Stück für Stück, im Schrank zu verstauen, wo sie vor der Feuchtigkeit und den Gelüsten des Katers geschützt waren.

Nun versuchte der Kater auf andere Weise zum Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Schmeichelnd rieb er das zitternde Köpfchen am Arm seines Herrn. Aber eine zornige Handbewegung – und er landete enttäuscht auf dem Boden.

»Merkst du denn nicht, daß du mir lästig bist? Daß ich von niemand mehr gestört sein will?«

Auch die Schranktür und der Stuhl vor dem kleinen Fenster, auf den der Mann sich müde niedersinken ließ, bekamen ein paar Stöße ab. Es war fast, als wollte er die Dinge ringsum entgelten lassen, daß sie so wenig übrig hatten für seinen Gram.

»Aber ich kann ja auch verkaufen und fortgehen,« sagte er schließlich zornig; aber selbst der Klang der eigenen Stimme kam ihm fremd vor in dem tiefen Schweigen – wie ein Echo, wie ein Laut, der nicht aus seinem Innern kam.

Dann versuchte er, sich zur Ruhe zu zwingen.

»Verkaufen und fortgehen – das ist leicht gesagt, Christian. Das Verkaufen ist das Wenigste. Die gleichen Bauern, von denen du das Haus vor zwei Jahren übernommen hast, wollen es jetzt zurückerwerben. Du weißt doch – die aus der Sennhütte auf dem Hügel. Ja, das Verkaufen ist das Wenigste. Das Schwierige ist das Fortgehen.«

*

Wohin sollte er denn gehen? Sollte er sich von neuem ein einsames Fleckchen Erde suchen, stets auf die Gefahr hin, später wieder Nachbarn zu bekommen und wieder fliehen zu müssen?

Zwar hatte er dieses Plätzchen nicht etwa lieb gewonnen – nein, lieb gewinnen wollte er überhaupt nichts mehr, weder eine Gegend noch irgend ein Ding, ja nicht einmal den einzigen Gefährten seiner Einsamkeit, den Kater, der auf seine Schulter geklettert war und wieder sein weiches Köpfchen an seiner Wange rieb, so daß ihm ganz traurig zumute wurde – aber ihm war, als hätte er endlich die ersehnte Ruhe gefunden in dieser Gegend, als sei sie wie ein tiefes Grab, und deshalb wollte er nicht mehr fort von hier. Tot war es in seinem Innern, tot sollte es auch um ihn her sein. Das Leben hatte ihm soviel Leid bereitet, daß schon der bloße Gedanke, vielleicht wieder in die Gemeinschaft der Menschen zurückkehren zu müssen, ihn erschreckte.

Wieder begann er laut mit sich selbst zu sprechen, wie um sich Mut einzuflößen:

»Bedenke doch, wenn du nicht willst, kann niemand in dein Haus! Also – bleib ruhig hier.«

Und wieder glitten seine Augen durch das Zimmer, mit sanftem Blick, als wollten sie sich versöhnen mit den vertrauten Gegenständen. Ihm war nun, als hätten diese Gegenstände, auf denen da und dort noch der Schein der untergegangenen Sonne nachglühte, Augen wie er, als erwiderten sie zärtlich seinen Blick. Dann hatte er wie so oft den Eindruck, sie seien voll heimlichem Leben, seien ihm eng verbunden, wie durch zarte Bande des Bluts. Er brauchte sie nur anzusehen, die irdene Tasse dort, das Messer und den Eimer, – und er fühlte ihre Form in seiner Hand. Und sollte er eines Nachts erblinden, so würden diese Gegenstände, die schon seit zwei Jahren seine Einsamkeit teilten, sich von ihrem Platz erheben, würden auf ihn zukommen und ihm helfen.

»Ja, bleib' ruhig hier. Wenn du nicht willst, kann keine Menschenseele in dein Haus!«

Wenn du nicht willst! Aber warum lauschst du dann so ängstlich, ob nicht irgend jemand draußen ans Gatter klopft? Hörst du schon, wie die Leute von dem Grundstück nebenan kommen und dich stören wollen? Jäh sprang er auf, eilte an die Tür, sah die Gestalt einer Frau mit einem Korbe auf dem Kopf durch das Laub am Gatter schimmern und beruhigte sich rasch wieder. Es war nur Ghiana, die Bäuerin aus der Sennhütte.

*

Ghiana versuchte die Hand durch das Laub und den Stacheldraht zu schieben, um den schweren Riegel von innen zu öffnen. Als sie den Herrn kommen hörte, zog sie sie rasch zurück und zupfte das Laub wieder zurecht. Als er dann das Gatter öffnete, sah sie ihn verstohlen mit ihren hellgrünen, scheuen und zugleich tückischen Augen an, um zu erraten, wie seine Laune heute sei.

Scheinbar war er ganz gut aufgelegt. Überrascht, fast freudig erstaunt, blickte er sie an. Aber gleich darauf nahm er wieder einen düsteren und verschlossenen Ausdruck an, als er sah, wie ein Hauch von Röte, von heimlicher Freude auf ihrem müden, bräunlichen Gesicht erschien.

Nein, er wollte keinem Menschen eine Freude machen, wollte niemand auch nur den leisesten Vorwand zur Vertraulichkeit geben. Und so begrüßte er die Frau absichtlich nur mit höflicher Zurückhaltung, ließ sie eintreten und bat sie, weiter zu gehen. Dann schob er den Riegel vor und folgte ihr, den Blick auf ihre Schultern gerichtet.

Sie war noch eine ziemlich junge Frau und hatte fast etwas von einem schönen Tier, mit ihren geraden, sehnigen Beinen und ihren breiten, wiegenden Hüften unter dem bauschigen, langen, dunkelblauen Rock. Aber ihr Leib war weich und biegsam, und der Stoff des roten Mieders schmiegte sich eng an ihren schönen Rücken an, war gleichsam wie verwachsen mit ihm.

Vor der Tür angelangt, stellte sie den Korb auf den Boden und setzte sich auf die Stufen vor der Schwelle, das Tragpolster mit einer kurzen Kopfbewegung abschüttelnd. Dann deckte sie langsam den Korb auf, in dem neben einer Flasche Milch ein schwarzes Huhn mit rotem Kamm auftauchte, das ein Schock Eier auszubrüten schien.

Ein letzter Widerschein der untergegangenen Sonne fiel auf die in der Dämmerung verschwimmende Gestalt der Frau, auf ihr dunkel glänzendes, glatt gekämmtes Haar und die unechte Bernsteinkette, die wie ein Kranz aus kleinen reifen Trauben ihren Hals umgab.

Der Mann war vor ihr stehen geblieben und sah von oben in den Korb. Auch der Kater schielte lüstern nach dem Huhn, schnupperte aber nur an dem Glas der Flasche und zuckte dann erschrocken zurück.

Nachdenklich, fast traurig sah die Frau zu Boden. Schweigend nahm sie die Flasche aus dem Korb und dann ein kleines Bündel, das sie in ihren Schoß legte. Dann zählte sie vorsichtig die Eier mit ihren breiten, verarbeiteten Fingern. Nach und nach schien sie wieder Mut zu fassen: sie hob das Gesicht und starrte den Mann mit ihren hellen Augen an. Vergebens versuchte er ihrem Blick auszuweichen: ganz allmählich ließ er sich einspinnen von ihm, vergaß sich. Seine Augen glitten ihren zarten, bräunlichen Hals herab, bis zu der Halskette, bis zu dem Ansatz ihrer Brüste.

»Die Alte schickt mich her,« sagte sie mit langsamer, matter Stimme, stets in gleichem Tonfall, aber mit einem immer leidenschaftlicher, immer tückischer werdenden Schimmer in den Augen. »Heute früh ist wieder Geld von drüben eingetroffen, und er, mein Alexander, schreibt: Liebe Frau und liebe Eltern, ich schicke euch anbei wieder etwas Geld und bringe noch mehr mit, wenn ich im Herbst nach Hause komme. Denn das Jahr ist besonders gut, es fehlt überall an Arbeitskräften, und die Löhne werden immer höher. Niemand will sich hier als Knecht verdingen und die Herren müssen alles selbst besorgen: die jungen Mädchen melken, wenn sie aufstehen, zuerst die Kühe und gehen erst dann zur Schule, in ein entlegenes Dorf, und die Plantagenbesitzer backen sich selbst ihr Brot. Jetzt sind wir gerade mitten in der Zuckerrohrernte. Den ganzen Tag wird nur gemäht, und die unermeßlichen Felder verfolgen mich sogar in meine Träume. Liebe Frau und liebe Eltern, legt das Geld so an, wie ihr es für richtig haltet. Ja, kauft das Haus mit dem Grundstück ruhig zurück, wenn ihr wollt. Und du, liebe Frau, tu bitte alles, was die Alten dir raten. – Nun, und die Alten – die wollen das Haus schon lange zurückkaufen. Deshalb schickten sie meinen Alexander ja auch nach Australien, damit er Geld verdienen sollte. Und heute morgen sagte die Alte zu mir: Geh, bringe deinem Herrn die Sachen hier, Ghiana, und erkundige dich einmal nach dem Haus.«

Obwohl ihn das leere Geschwätz im Grunde langweilte, fragte der Mann in ziemlich schroffem Ton:

»Wieviel hat er euch denn geschickt?«

Da ließ die Frau erschrocken und betrübt das Gesicht wieder sinken.

»Es ist recht wenig –« sagte sie mit zitternder Stimme; dann setzte sie leise, wie zu sich selbst, hinzu: »Sie wollen das Haus also doch wieder verkaufen? Neulich sagten Sie doch nein.«

Da begann er laut zu toben, als wollte er sie verantwortlich machen für die Gefahr, die ihn bedrohte. »Hast du denn nicht gesehen, daß sie das Grundstück dort drüben schon ausmessen? Es ist also wahr, daß es verkauft ist! Es ist wahr, daß dort gebaut werden soll! Und nur aus diesem Grunde wollen deine Alten jetzt das Haus hier zurückkaufen; denn jetzt steigt es ja für euch im Werte. O, ihr wißt ganz genau, was ihr wollt! Ihr seid eine ganz durchtriebene Sippschaft! Ja, ihr alle! Deine Alten und du auch, Ghiana!«

Ghiana ließ den Kopf immer tiefer sinken und zählte verwirrt noch einmal die Eier, ohne sie anzusehen. Zaghaft gab sie zu:

»Ja, ganz richtig. Nur weil dort drüben gebaut werden soll, wollen die Alten jetzt zurückkaufen.«

»Und du weißt doch, daß ich mein Trinkwasser am Brunnen holen muß, weil es hier nur Salzwasser gibt. Ziehen aber Leute hierher, so hat das ein Ende. Und deshalb will ich lieber fortgehen, Ghiana.«

Die Frau schöpfte wieder Mut. Mit geröteten Wangen und großen Augen, die jetzt ganz dunkel wirkten, richtete sie sich auf, und sagte schließlich:

»Aber dort drüben soll doch nur ein kleines Sommerhaus gebaut werden – für die Ferienzeit!«

»Um so schlimmer! Dann wird es auch nicht an Kindern fehlen.«

»Was tun Ihnen denn die Kinder? Es ist doch nur für den Sommer. Zudem ist der Käufer des Grundstücks ein alleinstehender Mann ohne Familie. Der Alte kennt ihn. Es ist ein reicher Herr, der noch eine Reihe anderer Landhäuser besitzt und vielleicht nicht einmal hier wohnen wird.«

»Ach so, er baut das Haus wohl nur zu seinem Vergnügen, um sein Geld los zu werden!«

»Ja,« erwiderte sie treuherzig, »er ist so reich, daß er gar nicht weiß, was er anfangen soll mit seinem Geld.«

»Wie dem auch sei,« sagte er, neuen Mut schöpfend bei dem Gedanken, daß eine reiche Familie wohl kaum das ganze Jahr in dieser Einöde wohnen würde, »ich ziehe fort, sobald ich hier Nachbarn bekomme. Das kannst du deinen Schwiegereltern sagen. Übrigens wäre es ganz gut, wenn sie selbst einmal herkämen und mit mir sprächen.«

Wieder sank die Frau demütig in sich zusammen, nahm das Huhn aus dem Korb und wog es auf der Hand. Aber als er sie anschrie: »Was soll ich denn damit? Ich will es nicht!« – ließ sie es rasch los. Erschrocken spreizte das Huhn den einen Flügel und fiel schwerfällig in den Korb zurück.

»Dann lasse ich eben nur die Milch hier und die Eier,« murmelte die Bäuerin kleinlaut, aufstehend und die einzelnen Sachen auf den Tisch legend. »Die Alte hoffte allerdings, Sie würden auch das Huhn nehmen. Hier ist auch noch Brot – oh, es ist noch ganz warm, aber das sollen Sie so dazu bekommen. Das übrige macht genau drei Franken.«

Er nahm das Geld aus der Tasche. Während er es ihr mit der einen Hand gab, umklammerte er mit der anderen ihren Arm und zog sie auf die Kammer zu. Sie stellte den Korb wieder auf den Boden und folgte ihm schweigend, mit zitternden Fingern das Geld in die Tasche schiebend.

*

Der Abend dämmerte durch das hohe, von grünen Zweiglein fast ganz zugerankte Fensterchen in die kleine Kammer, und in diesem grünlichen Zwielicht erschien das Gesicht der Frau, die in müder Haltung auf dem schmalen Bett saß, noch blasser, aber auch noch jünger, wie das Gesicht einer schönen, trauernden Sklavin. Auf ihrem bräunlichen, halb entblößten Busen zeichnete sich eine Ader ab, grünlich schimmernd wie eines von den Zweiglein draußen vor dem Fenster.

Langsam nestelte sie ihr Mieder wieder zu, strich das Haar glatt und sah dann mit einem Seufzer auf. Sie mußte jetzt gehen. Ungeduldig, fast argwöhnisch warteten die Alten jedesmal auf ihre Rückkunft. Aber sie machten ihr keine Vorwürfe, denn sie wußten, daß sie auf sie angewiesen waren.

Sie mußte jetzt daran denken, daß Christian nun, wo sie ihm zu Willen gewesen war, das Huhn doch wohl nehmen würde. Nie hatte sie freilich gewagt, ihn darum zu bitten. Sie wußte, wie er war. Er hatte seinen eigenen Kopf und ließ sich niemals durch die Worte eines anderen rühren.

Inzwischen war er aufgestanden und trat fast zornig von ihr weg; aber als er sie dann so demütig und so traurig auf dem Bett kauern sah, ging er wieder auf sie zu und setzte sich neben sie. Auch sein Gesicht wirkte in dem grünlichen Schein vom Fenster her zart und blaß, wie verfeinert durch eine sanfte Schwermut, die nichts mit dem düsteren Gram zu tun hatte, der sonst aus seinen Zügen sprach.

Und wieder hoffte die Frau, er würde ihr sein Herz erschließen, würde ihr ein wenig Zuneigung und Vertrauen entgegenbringen; aber es war unklug, daß sie mit ihm zu sprechen begann.

»Es ist spät geworden,« sagte sie, nach dem Fensterchen blickend. »Ich muß jetzt gehen. Die Alten warten sicher schon. Er kommt mir jetzt sogar meistens bis zur Brücke entgegen, wenn ich mich verspäte, und dann sehe ich seine Augen schon von weitem zornig blitzen. Ja – sie müssen Verdacht geschöpft haben; aber das macht nichts, wenn –«

Sie unterbrach sich plötzlich, weil sie fühlte, daß sie einen Fehler begangen hatte.

»Wenn –?« fragte er, wieder finster die Stirn runzelnd.

Sie schlug die Augen nieder und wurde dunkelrot wie ein junges Mädchen.

»Wenn – wenn Sie nur froh sind.«

Schweigend blieben sie noch eine Weile nebeneinander sitzen. Aber er sagte nichts. Nein, er würde nie von sich erzählen. Genau so wenig wie in den schweren Tagen seiner Krankheit, als die Frau ihn eines Abends fiebernd auf seinem Lager fand, einsam und verlassen wie einen Aussätzigen, als sie bei ihm blieb und ihn mit aufopfernder Liebe pflegte. Genau so wenig wie in den Tagen nach seiner Genesung, den ersten schönen Februartagen, als er sie, entflammt von ihren sehnsüchtig verlangenden Blicken, hinnahm.

Sie stand auf und strich die Schürze glatt.

»So, ich gehe jetzt. Am Montagmorgen komme ich wieder.«

Zögernd kehrte sie ins andere Zimmer zurück, hob den Korb absichtlich etwas mühsam vom Boden auf und schwenkte ihn, um das Huhn aufzuscheuchen. Ängstlich schlug es nun auch mit den Flügeln, während Ghiana eine Verwünschung gegen die Schwiegermutter vor sich hinbrummte.

Der Mann verstand sie.

»Laß es ruhig da! Aber schlachte es gleich draußen vor der Tür.«

Eilig schritt sie zur Tür hinaus, packte das Huhn bei den Flügeln und drehte ihm den Hals um. Dann hing sie es an den Pfoten an einem Nagel in der Wand auf, und der rote Kamm leuchtete wie frisch geronnenes Blut auf seinem Kopf, der noch ein paar Mal im Todesschmerz zusammenzuckte.

*

Dann ging sie fort, mit der Hand in der Rocktasche, in der das Geld fröhlich klimperte. Rasch und beschwingt, mit wiegenden Hüften schritt sie dahin, und ihre Mattigkeit von vorhin war plötzlich wie fortgeblasen.

Als der Mann wieder allein war, kochte er sich sein Abendbrot. Er hielt das Feuer im Herd immer gut zugedeckt, brauchte also nur ein wenig dürres Reisig aufzulegen, damit die Glut hell aufloderte.

Dann richtete er das Marmortischchen, das zwischen dem Herd und dem Fenster stand.

Langsam ging er hin und her, vom Schrank zum Tisch – vom Tisch zum Herd, alles mit größter Sorgfalt vorbereitend, als gäbe er heute abend eine große Einladung.

Zuletzt fiel ihm ein, daß er noch Wasser holen mußte. Wieder glitt ein düsterer Schatten über sein Gesicht, als breche ein kurze Zeit vergessener Schmerz plötzlich mit aller Macht wieder über ihn herein.

In seinem Vertrage stand wohl, daß er Wasser von dem Brunnen auf dem Grundstück nebenan holen durfte; aber zu diesem Zwecke mußte er ja erst sein Haus verlassen.

Er ging also vor die Tür, mit einer Kanne und einem Schöpfeimer, die beide aus Kupferblech waren, sehr leicht und glockenhell im Ton. Mühsam zwang er sich zur Ruhe, aber schon der bloße Gedanke, daß er vielleicht den zwei Arbeitern begegnen könnte, erfüllte ihn mit heimlicher Furcht.

Als er vor die Hecke trat, atmete er erleichtert auf. Einsam und verlassen lag die Gegend vor ihm da. Das Abendrot im Westen ruhte wie der Widerschein eines erlöschenden Feuers auf den Pinien, der Wiese und dem Gemäuer des Brunnens, und die tiefe Stille ringsum, die so groß war, daß man die Telegraphendrähte an der Landstraße drüben summen hörte, gab dem Manne neue Zuversicht.

Er schöpfte Wasser mit dem Eimer, der klirrend, mit gläsernem Ton, gegen die Brunnenwand schlug; und als er auch noch die Kanne gefüllt hatte, ging er geraden Weges auf das Grundstück zu, das die beiden Männer vorhin ausgemessen hatten.

Er sah ihre Spuren noch auf dem Boden, und während er unwillkürlich mit dem Fuß das niedergetretene Gras wieder aufzurichten versuchte, ließ er den Blick auf seiner Hecke ruhen, um sich zu vergewissern, ob sie wirklich undurchsichtig sei.

Ja, das war sie. Drohend, wie eine schwarze Festungsmauer mit vielen Zinnen und Zacken, ragte sie in den flammenden Abendhimmel.

Trotzdem kehrte er verdrossen an den Brunnen zurück, ergriff die Kanne und den Eimer und sagte sich, daß eine Hecke eben doch stets eine Hecke bleibt, eine lächerliche Schutzwehr, vor allem gegen Frauen und Kinder, gegen deren Neugierde man nicht einmal durch eine wirkliche Mauer gefeit ist.

*

Aber Christian gab die Hoffnung nicht verloren, bis er eines Morgens helles Schellengeläut hörte, und das laute Geschrei der Fuhrknechte, die Kalksäcke, Steine und Holz brachten.

Das war das Ende! Auch die Stimmen der Heide verstummten, erschreckt durch dies rohe Geschrei – nur vom Meer her antwortete klagend ein Echo.

Und er ging erst an den Brunnen, um Wasser zu schöpfen, als wieder tiefes Schweigen über dem Lande lagerte wie zuvor. Nachts erwachte er mit einem dumpfen Angstgefühl, nachdem er geträumt hatte, die Fuhrknechte führen quer durch seinen Garten. Dann fügte er sich in das Unabänderliche. Niemand störte ihn in seiner Einsamkeit, und wenn er die Fenster zumachte, drangen die rauhen Rufe und der Gesang der Arbeiter nur noch wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

Mußte er an der Wiese vorbeigehen, so blickte er geflissentlich von der Baustelle weg. Aber er sah, daß der Boden ringsumher zerstampft, der Zaun zur Durchfahrt für die Fuhrwerke abgerissen und der Weg von tiefen Furchen durchzogen war. Er zitterte heimlich vor Zorn, als hätte man ein Stück von seinem eigenen Grund und Boden zerstört, und murmelte halblaute Flüche vor sich hin, die er von den Fuhrknechten und Maurergesellen gehört hatte.

Auch nachts war die Einsamkeit nicht mehr ganz ungestört. Die Arbeiter hatten einen Bretterschuppen unter den Bäumen errichtet. Dort übernachtete der größte Teil von ihnen. Mitunter klagten wehmütige Klänge einer Ziehharmonika durch den milden Abend. Nur Samstags gingen sie gegen Abend alle von dannen. Dann wagte sich Christian mit seiner Kanne und seinem Schöpfeimer ins Freie, und nachdem er sie auf den Brunnenrand gestellt hatte, ging er vorsichtig auf die Baustelle zu, um sie zu besichtigen. Große Haufen von Ziegelsteinen und Brettern versperrten ihm überall den Weg. In einer Grube kochte noch der Kalk, der grell im Licht der untergehenden Sonne leuchtete und den Augen wehtat. Der Grundstock war schon ausgemauert und die Grundmauer ragte wie eine erst vor kurzem ausgegrabene Ruine aus dem Boden.

Er setzte sich auf einen Bretterhaufen, starrte nachdenklich und neugierig wie ein kleines Kind vor sich hin, im Geiste ungefähr ausrechnend, wieviel Räume vorgesehen waren für das Haus und wo der Flur, die Küche und das Eßzimmer liegen würden.

Der Bauplatz war herrlich gelegen, das ließ sich nicht leugnen. Von den Fenstern des Hauses würde man auf das Meer sehen, ferner auf den kleinen Weg, der einen weiten Bogen durch die Landschaft machte und schließlich mit der Landstraße verschmolz, die schnurgerade auf den Horizont zuführte. Und dort, in weiter Ferne, schimmerte es weiß und rot, wie mit vielen goldenen Pünktchen durchs grüne Gras der Heide; das war das Dorf mit seinen in der Abendsonne blinkenden Fenstern.

Von seinem Haus aus sah Christian nur die Bäume des undurchdringlichen Gehölzes. Und während er hier auf dem Bauholz, unter den hohen, rauschenden, blauschattigen Pinien saß, das weite Land zu seinen Füßen, ahnte er bereits, daß die zukünftigen Bewohner dieses Sommerhäuschens gesellige Leute sein würden, daß das Leben der anderen Menschen ganz anders verlief als seines.

Und dabei hatte auch er vor langer, langer Zeit – – Aber nein, er wollte der Vergangenheit nicht nachtrauern. Er stand auf und zuckte erschrocken zusammen. Ihm war, als sähe er plötzlich den struppigen Kopf eines Ebers zwischen den Steinen auftauchen.

Es war ein alter Arbeiter, der zur Bewachung des Materials zurückgeblieben war. Er kniete in dem Schuppen auf dem Boden, um das Feuer anzufachen, und hob von Zeit zu Zeit den Kopf, mit zwei kleinen Schweinsäuglein um sich blickend.

Christian schritt rasch davon. Er schämte sich, daß man ihn hier ertappt hatte, und füllte seine Kanne am Brunnen; aber er bemerkte, daß der Alte inzwischen ins Freie getreten war und ihm mit argwöhnischen Blicken nachsah.

Da nahm er sich vor, den Bauplatz in Zukunft nie mehr zu betreten. Nur beim Wasserholen sah er, wie die Arbeiter emsig zwischen den Bäumen hin und her liefen und wie die Mauern von Tag zu Tag höher wurden. Die Fenster und der Eingang waren nun schon deutlich zu erkennen, die Tür lag ausgerechnet an dem Wege zum Brunnen. Dann wuchs ein Gerüst mit vielen kleinen Leitern aus dem Boden. Mit affenartiger Behendigkeit kletterten die Mörtelträger zwischen den Stangen herum, die Kalktröge auf der Schulter. Und das Schreien und Fluchen wurde immer schlimmer.

Eines Tages tauchte Ghiana mit einem Korb voll Eier auf und sagte, sie wolle sie an die Arbeiter verkaufen.

»Das hat mir der Alte geraten.«

Aber da packte Christian plötzlich wilde Eifersucht, und es gelang ihm nicht, sie zu verhehlen.

»Untersteh' dich ja nicht, dort hinüber zu gehen, Ghiana. Sonst nehme ich dir nie mehr etwas ab.«

Dankbar sahen die Katzenaugen der Frau ihn an, dennoch funkelte es falsch in ihnen.

Er kaufte ihr viel mehr Eier ab, als er gebrauchen konnte. Alle konnte er sie freilich doch nicht nehmen, weil sie sonst schlecht geworden wären; denn es war schon ziemlich warm, obwohl es erst Ende April war. Bedächtig zählte Ghiana sie auf den Tisch und sagte wieder:

»Es wäre der Alten freilich lieber, wenn ich sie alle los würde.«

Da schrie der Mann sie zornig an:

»Ach was! Bist du vielleicht die Sklavin dieser Kuppelmutter?«

Und seine Stimme hallte so fremd durch das Schweigen, daß die Dinge ringsherum überrascht aus ihrer Ruhe aufschreckten. Der Kater machte einen Buckel und streckte sich dann mit einem zufriedenen Gähnen.

Ghiana aber nahm wieder einen verschlossenen, demütigen Gesichtsausdruck an. Sie klaubte die Eier zusammen, nickte stumm und ging fort.

Der Mann begann sich über sich selbst zu ärgern, daß er in seinem Zorn soweit gegangen war, eine alte, noch dazu abwesende Frau zu beleidigen; aber das zornige Gefühl von Eifersucht wich nicht von ihm. Er ging auf die Hecke zu, spähte ins Freie und sah, wie Ghiana, starr zu Boden blickend, den Weg entlangschritt. Aber da trat plötzlich der alte Arbeiter mit den Schweinsäuglein aus dem Schuppen und eilte der Bäuerin nach, ihr laut zurufend, sie solle stehen bleiben. Er hatte noch recht flinke Füße und holte sie bald ein. Zunächst schüttelte sie zwar verneinend den Kopf; aber dann ließ sie sich alle Eier abkaufen und lächelte sogar über irgend etwas, was der Alte zu ihr sagte, mit der Hand nach dem Häuschen hinter der Hecke deutend. Und schließlich entfernte sie sich mit wiegenden Hüften, fröhlich beschwingten Schrittes wie immer, wenn sie ihre Ware gut verkauft hatte.

Und wieder zitterte Christian heftig vor Wut. Ihm war fast, als wäre Ghiana seine Magd, als hätte sie seinem Befehl getrotzt. Aber dann schämte er sich plötzlich seiner zornigen Erregung und beschloß, der Frau in Zukunft überhaupt nicht mehr zu öffnen.

Trotzdem kam sie regelmäßig wieder und verkaufte ihre Ware an die Arbeiter.

*

Gegen Ende Juni war das Landhäuschen unter den Pinien fertig. Weiß und klein, nur einen Stock hoch, mit zwei Fensterchen in jedem Flügel, mit einem Dach auf der einen und einer Terrasse auf der anderen Seite, wie ein Kinderspielzeug, ein schmuckes Puppenhäuschen stand es unter den mächtigen Bäumen da.

Der Zaun wurde rings um das Grundstück wieder aufgerichtet, genau wie früher, mit einem kleinen Gatter, durch das man ungehindert eintreten und Wasser am Brunnen holen konnte.

Die Arbeiter verschwanden, der Schuppen wurde abgerissen. Erst einige Tage später hörte man fröhlichen Gesang aus den offenen Fenstern tönen und durch die leeren Räume schmettern. Es war der Malermeister, der die Zimmerdecken weißte. Aber auch sein Gesang verstummte wieder.

Leuchtendweiß stand das Häuschen in der prallen Sommersonne, nur Kalkspuren, alte Bretter und leere Blechbüchsen waren noch auf dem Boden ringsumher zu sehen, und die frische Tünche roch man bis zum Brunnen.

Aber niemand zog in das Häuschen ein. Im Gras sangen schon die Zikaden, Christian hatte sogar schon ein Bad im Meer genommen, kurzum es war inzwischen Hochsommer geworden – und immer kam noch niemand.

Manchmal ging Christian um das kleine Haus herum und setzte sich auf die Stufen vor der Türe rückwärts, durch die es in die Küche ging. Es war kühl und schattig unter ihrem kleinen Schutzdach. Unter den blauschwarzen Pinien wuchs das Gras; Zikaden, Heuschrecken und Zitronenfalter belebten dieses malerische Plätzchen; und er freute sich wie ein Kind bei dem Gedanken, daß dies vielleicht immer so bleiben würde, daß er zu jeder Zeit und Stunde hier aus und ein gehen, sich auf diese Stufe setzen und sich an diesem Fleckchen Erde erquicken dürfte, das nicht einmal sein eigen war.

Aber eines Morgens sah er auf der flimmernden Landstraße einen großen, gelben Wagen auftauchen, der fast aussah wie ein wandelndes Haus, mit Tischen, Stühlen, Matratzen und Kisten im Innern. Die Fenster des Häuschens standen weit offen, und drinnen in den Zimmern schlug irgend jemand Nägel in die Wand.

*

In den nächsten Tagen lagerte wieder tiefe Stille über dem Land. Vielleicht hatten die Besitzer das Haus nur eingerichtet, um es leichter vermieten zu können.

Und wirklich kam eines Morgens ein offener Wagen angerollt, mit großen und kleinen Koffern und einigen Leuten. Eine graue Staubwolke wehte hinter ihm her. Christian zog sich hinter seine Hecke zurück und begann verstimmt mit ein wenig Salzwasser das Basilienbeet vor seiner Tür zu gießen. Um sich selbst zu überzeugen, daß er keine Angst vor seinen Nachbarn habe, hatte er das Gatter halb offen gelassen. Da zuckte er plötzlich erschrocken zusammen. Ein großer Wolfshund ohne Maulkorb, mit einem Stahlhalsband, auf dem ein Namen eingraviert war, kam laut keuchend in den Garten gestürmt und lief schnuppernd hin und her, als wittere er eine Beute. Er hatte einen langen schmalen Kopf, hellbraune leuchtende Augen und einen großen, graubuschigen, schwarz und gelb gesprenkelten Schweif.

Christian war bei sich unschlüssig, ob er ihn verjagen oder lieber warten sollte, bis er von selbst wieder fortlief. Da sah er auf einmal den Kater wütend aus dem Haus hervorschießen und auf den Hund zueilen. Ein Augenblick noch – und etwas Schreckliches mußte geschehen. Nun eilte er auch herbei, laut rufend und in die Hände klatschend, um den Zusammenstoß der beiden Tiere zu verhüten; und wirklich wich der Kater langsam, mit gesträubtem Schweif ins Haus zurück. Aber dadurch wurde die Lage nur noch schlimmer; denn der Wolfshund folgte ihm mit dumpfem, heiserem Gebell, das drohend durch die Stille hallte.

Christian packte einen Knüppel, wagte sich aber nicht ins Haus. Er hatte Angst, der Hund könnte ihn anfallen und beißen. Und das Tier schien wirklich außer sich zu sein vor Wut: aufgeregt rannte es im Zimmer hin und her, mit erhobenem Kopf und steil aufgerichtetem Schweif, der heftig hin und herschlug, wie im Winde. Aber da der Kater sich klugerweise verkrochen hatte, beruhigte es sich wieder, rannte von neuem in den Garten, blieb noch eine Weile auf dem Sandweg stehen, den Mann mit dem Knüppel drohend anbellend und entfernte sich schließlich.

Christian machte rasch das Gatter hinter ihm zu. Seine Hand zitterte vor Wut.

»Das sah ja fast so aus, als wäre er hier der Herr!« rief er mit lauter Stimme. »Er sollte sich nur nicht unterstehen, ein zweites Mal herzukommen.«

Und er war fest entschlossen, ihn zu töten, falls er wieder kommen sollte. Dann überlegte er, ob er nicht gleich zu den Nachbarn gehen, ihnen seinen Entschluß mitteilen und sie auffordern sollte, den Hund an die Kette zu legen. Nein, damit wartete er wohl besser noch, bis er wieder etwas ruhiger war; denn er wollte nicht erregt und wütend vor sie hintreten, wie der Hund vor ihn.

Aber den ganzen Tag hörte er keinen Laut mehr, sah auch niemanden. Gegen Abend trat er vor die Hecke, um ein wenig Umschau zu halten. Die Türe und die Fenster des Häuschens waren dicht geschlossen, und ihm war fast, als sei er noch allein wie früher. Unbekümmert holte er also seine Kanne und seinen Schöpfeimer und ging an den Brunnen.

Es war ein warmer, farbentrunkener Abend. Im Westen war der Himmel in ein leuchtendes Orangerot getaucht und auf der anderen Seite verschwamm der große gelbe Mond im rosablauen Dunst der Heide. Die Dinge ringsumher, das Häuschen, die regungslosen Bäume, der Brunnen, das Gras der Wiese – alles schillerte metallen im bunten Widerschein des Himmels.

Christian beugte sich über den Brunnen, um den Eimer in die Tiefe hinabzulassen, richtete sich aber gleich wieder erschrocken, mit einem kalten Schauder auf. Ihm war, als töne die Stimme eines Ungeheuers ihm aus dem Brunnen entgegen.

Es war der Hund. Lautbellend, mit goldgefleckten Augen kam er hinter dem Hause hervorgestürzt; und er hätte sicher Christian angefallen, wäre nicht eine weißgekleidete Frau mit Sandalen an den nackten Füßen, wie ein schönes Trugbild, herbeigeeilt, ihn am Halsband fassend.

»Fido! Fido!« rief sie bittend und vorwurfsvoll. Und dabei beugte sie sich über das Tier und streichelte besänftigend seinen wilden Kopf, damit er nicht weiter laufe. Der Hund versuchte auch nicht, sich loszureißen, er bellte aber wütend weiter.

In einer goldenen Wolke von Licht sah Christian die beiden auf der schimmernden Wiese stehen. Durch das durchsichtige Gewand hindurch sah er die langen, schlanken Beine der Frau; während er sich eingeschüchtert fühlte von dem halb neugierigen, halb erschrockenen Blick ihrer Augen – großen dunklen Augen in einem bleichen Gesicht –, während er sich schämte, daß er wie ein armer Teufel, mit dem Eimer in der Hand, am Brunnen stand, drängten beleidigende Worte über seine Lippen.

Seinen Zorn bezwingend, sagte er schließlich:

»Der Hund gehört an die Kette!«

Ohne das Tier loszulassen, richtete die Frau sich auf und kam ein paar Schritte näher.

»Ja, wir werden ihn an die Kette legen. Aber er beißt gar nicht, er jagt den Leuten nur Schrecken ein. Außer wenn er merkt, daß sie stehlen wollen.«

Ihre wohlklingende, bewegte Stimme hätte selbst einen Wegelagerer gerührt. Aber Christian sagte schroff:

»Heute Morgen ist er in meinen Garten eingedrungen und hat alles zertreten.«

Und er freute sich, als er sah, daß die Frau ein bekümmertes Gesicht machte.

»Ich werde ihn gleich an die Kette legen lassen. Und wenn Sie irgendeinen Schaden haben – so lassen Sie mich das wissen –«

»Ach!« unterbrach Christian sie achzelzuckend. Und er wurde noch wütender, weil er sich sogar zu einer Lüge hatte hinreißen lassen.

Aber die Frau wollte auch ihn besänftigen.

»Wohnen Sie dort drüben?«

Schweigend nickte er mit dem Kopf, mit einem Gefühl gekränkten Stolzes auf den Eimer zu seinen Füßen blickend. Er wagte nicht mehr, die Frau anzusehen, fühlte aber, daß sie langsam näherglitt, wie ein leuchtender Schatten – eine heimliche Gefahr.

Jetzt stand sie dicht vor ihm. Sie war größer als er, ihre rosig schimmernden Füße waren mit gelben Sandalen bekleidet, und die weichen Formen ihres Leibes schimmerten dunkel, wie aus Marmor, durch das weiße, duftige Gewand.

Christian faßte sich ein Herz und hob die Kanne vom Boden auf. Dann stellte er sie wieder hin, ergriff sie von neuem, versuchte sich aufzuraffen und fortzugehen. Aber er hatte das Gefühl, daß die Frau auf ihn herabsah, daß ihre hochgeschwungenen, schwarzen Brauen über den kastanienbraunen Augen, ihre fein gezeichnete Nase, ihr vorspringendes Kinn und ihre schwellenden Lippen wie aus Stein gemeißelt waren. Und dabei sprach sie doch so ungezwungen und so kindlich, ohne die Bestürzung zu bemerken, die sie in ihm auslöste, keinen Blick von dem Hund wendend, der jetzt friedlich, mit eingezogenem Schweif neben ihr stand.

»Der Eigentümer des Sommerhäuschens erzählte uns schon von Ihnen. Wir suchen schon lange ein einsames Plätzchen in der Nähe des Meeres, und kamen schließlich auch hierher. Leider ist das Häuschen noch nicht gut ausgetrocknet, und ich fürchte, die Feuchtigkeit wird uns schaden. Sind Sie eigentlich auch gleich in Ihr Haus dort eingezogen?«

Er sah hartnäckig zu Boden.

»Ich? – Ich habe es so gekauft. Es ist ein altes Bauernhaus. – Sind Sie eigentlich ganz allein hier?« fragte er dann in einem Ton, der eine andere Frau erschreckt hätte.

»Nein. Ich wohne hier mit meinem kranken Mann und einer Dienerin.«

Der Gedanke, daß sie wenigstens keine Kinder hatte, war ein leichter Trost für ihn. Aber gleich darauf sagte er sich, daß der Kranke vermutlich – nein, ganz sicher schwindsüchtig war. Die Frau erriet seine Besorgnis und beruhigte ihn.

»Das heißt – eigentlich ist mein Mann gar nicht krank. Er hat nur ein schweres Nervenfieber hinter sich und ist noch ziemlich schwach. Er braucht viel, viel Ruhe – und deshalb zogen wir hierher –. Aber hier ist die Stille fast zu groß«, setzte sie mit besorgter Miene hinzu; und es war, als fiele ihr plötzlich ein, daß ihr Mann dort in dem Häuschen auf sie wartete. Sie packte den Hund wieder am Halsband, schickte sich an zurückzukehren und sagte zuletzt hastig: »Übrigens darf mein Mann noch nicht einmal ausgehen. Er ist auch schon ziemlich alt. Also entschuldigen Sie nochmals – wegen des Hundes, ich werde ihn gleich an die Kette legen lassen. Aber jetzt können Sie ganz unbesorgt sein, er ist inzwischen ihr Freund geworden. Nicht wahr, Fido? Du weißt doch, daß der Herr ein Freund von uns ist.«

Das Tier wedelte mit dem Schweif und winselte leise zum Zeichen seiner Zustimmung. Unwillkürlich beugte Christian sich zu ihm herab, streichelte seinen Kopf und las dabei auf dem blitzenden Halsband einen Namen:

» Sarini«

»Das ist unser Name,« sagte sie mit wachsender Unruhe und wartete, daß er ihr nun auch den seinen nennen sollte. Aber da er schwieg, nickte sie freundlich zum Abschied und eilte über die helle, leuchtende Wiese auf ihr Häuschen zu.

Und auch er griff wieder nach seiner Kanne und nach seinem Eimer und merkte erst nach einigen Schritten, daß sie noch leer waren.

*

Zu Hause nahm er gleich den Hut ab, seine Stirn war feucht, als wäre er durch die glühende Sonne gelaufen. Und dann betrachtete er ihn nachdenklich – diesen alten, verstaubten Filzhut, der früher einmal grün war und jetzt schmutziggrau, gebleicht und hart geworden durch die salzige Meerluft.

Den noch ziemlich neuen, leichten braunen Tuchanzug hatte er schon auf dem Wege immer wieder gemustert, und auch die abgetretenen gelbgrauen Stoffschuhe, die staubig waren wie die eines Landstreichers.

Dann erriet er den eigentlichen Grund seiner wunderlichen Gedanken und setzte den Hut trotzig wieder auf. Was lag ihm an seinen Kleidern? Schon lange kümmerte er sich nicht mehr um sie, genau so wenig wie ein Tier um sein Fell. Da fiel ihm plötzlich ein, daß auch die Tiere in der Brunstzeit das Verlangen ergreift, sich schön zu machen, ihr Fell zu wechseln für den anderen. Und er nahm sich vor, in Zukunft nur mehr nachts Wasser am Brunnen zu holen und sich nicht mehr in Gespräche mit seiner Nachbarin einzulassen.

Aber leuchtend blieb ihr Bild vor seinen Augen stehen, mit den zarten, nackten Füßen, den schmalen Knien, die kaum durch das duftige Gewand verhüllt wurden, den leidgeprüften schmalen Händen.

Und als es draußen dunkel wurde, glaubte er das Gebell des Hundes und das Stöhnen des Kranken im Rauschen der Bäume und im Brausen der Meeresbrandung zu hören.

Nach dem Abendbrot zündete er die große Petroleumlampe an, wie an den Winterabenden, und schlug ein Buch auf, das auf der schimmernden Wachstuchdecke lag, mit der Inschrift: »New York City«. Der Kater setzte sich neben ihn auf den Tisch und starrte neugierig, mit großen Pupillen auf die Seite, die er las; und blätterte er sie dann um, so sah er ihn forschend an, als wollte er sich überzeugen, was für einen Eindruck der Inhalt des Gelesenen auf ihn machte.

Da ertönte das Gebell des Hundes auf einmal wirklich in nächster Nähe, wie draußen vor der Tür. Irgend jemand klopfte an das Holzgatter.

Der Kater sprang mit einem Satz auf den Boden, der Mann stand erschrocken auf, voll banger Unruhe wie immer. Mein Gott, da fingen die Störungen schon an! Und dabei hatte die Frau ihm doch versprochen, den Hund an die Kette zu legen? Und wenn sie selbst es war; wenn sie irgend etwas brauchte?

Ohne sich über seine Gefühle klar zu sein, öffnete er rasch die Tür und sah sofort, daß alles nur Einbildung war.

Der Hund bellte in der Ferne, hinter dem Zaun, und am Ende des Weges hob sich die Gartentüre schwarz vom mondbeglänzten Kiese ab: schwarz, tot und einsam wie eine Kirchhofspforte.

*

Als Christian zwei Tage später sein Häuschen verließ, um ins Dorf zu gehen, erblickte er Ghiana, die sich heimlich in der Gegend herumzutreiben schien.

Sie machte, als sie ihn sah, zunächst Miene davonzulaufen, kam aber dann mit gesenktem Kopfe auf ihn zu, als sei sie entschlossen, einer drohenden Gefahr die Stirn zu bieten. Schweigend, fast ehrerbietig blieb sie schließlich vor ihm stehen, darauf wartend, daß er etwas sagen sollte, und wäre es auch etwas Unangenehmes.

Aber er freute sich sogar, sie wiederzusehen. Zwei Tage lang hatte er keine Menschenseele gesehen, und die Begegnung mit seiner Nachbarin dünkte ihm fast wie ein Traum. Das Häuschen dort drüben war wie ausgestorben. Der Hund war weder zu hören noch zu sehen, und er hatte fast das Gefühl, wieder allein zu sein in dieser Einöde, auf die die Augustsonne erbarmungslos herniedersengte.

»Ah – Ghiana! Was willst du denn hier?«

»Dort drüben,« sagte sie, mit dem Kopf auf das Sommerhäuschen deutend, ohne die Augen aufzuschlagen, »wohnt jetzt ein Kranker. Und da ich zufällig vorbeikam, wollte ich einmal sehen, ob sie mir vielleicht dort drüben etwas von meinen Sachen abkaufen.«

»Was hast du denn Gutes bei dir?«

Rasch stellte sie den Korb auf den Boden und nahm das Tuch ab, das ihn bedeckte. Er war voll guter Sachen: rötlich schimmernder Eier, goldbrauner Hühner, Butter und Zwiebeln.

»Hm – das sieht wirklich recht verlockend aus. Kann ich nicht auch etwas davon bekommen, Ghiana?«

Starr und unbeweglich stand sie noch immer vor ihm, in ihrem bauschigen, dunkelblauem Rock. Sie bewegte keine Miene, als er sich über den Korb beugte, um die Eier auszusuchen, als er sie fragte, was die Hühner kosten sollten und ob ihr Mann schon wieder geschrieben hätte. Nein, sie gab ihm keine Antwort.

Er blickte auf, sah sie blaß, mit Tränen in den Augen vor sich stehen, und lachte plötzlich laut auf. Ghiana hatte ihn noch nie so fröhlich lachen gesehen. Aber sie war nicht etwa beleidigt, sondern eher froh.

»Also – was gibt's Neues, Ghiana? Hat dein Mann schon wieder geschrieben?«

»Ja, er hat geschrieben.«

»Und hat er auch wieder Geld geschickt?«

Sie schien zu zögern, vielleicht auch, weil seine Frage etwas spöttisch klang, sagte dann: Ja, er habe wieder Geld geschickt.

»Und habt ihr schon ein Haus gefunden?«

»Nein, noch nicht. Aber vielleicht bauen wir selber eines, wenn wir ein geeignetes Grundstück bekommen können.«

»Hör' zu, Ghiana: wenn du zu den Leuten in dem Häuschen dort drüben willst, gehst du, glaube ich, am besten um den Zaun herum und klopfst an die Küchentür. Auf dieser Seite ist nämlich immer alles geschlossen. Und auf dem Rückweg kannst du ja noch einmal zu mir kommen. Also – geh jetzt!«

Und ohne noch ein Wort an ihn zu richten, ging sie fort, kam aber bald darauf wieder zurück.

Ganz außer Atem, den jetzt fast ganz leeren Korb am Arm, die eine Hand in der Rocktasche, in der eine Menge Kleingeld klimperte, – stieß sie hervor, daß man ihr dort droben, in dem Häuschen, ihre ganze Ware abgekauft und noch mehr bestellt habe.

»Ich soll ihnen jeden Tag frische Milch bringen – und Eier und junge Hühner und auch Brot. – Ich werde also jetzt öfter herkommen können. Und sauber machen soll ich auch bei ihnen. Davon wollte der Alte zwar zunächst nichts wissen, aber mit Hilfe der Mutter ist es mir schließlich doch geglückt, ihn zu überreden. Also – ich werde jetzt öfter herkommen,« wiederholte sie mit einem Seufzer der Erleichterung und setzte dann leise hinzu: »– und die Dame des Hauses hab ich heute auch gesehen.«

»Sie ist sehr hübsch,« fuhr sie nach einem anderen, leicht gezwungen klingenden Seufzer fort, ermutigt durch das Schweigen des Mannes. »Ja – nicht mehr ganz jung, etwa so alt wie ich, aber sehr, sehr schön. Ein heller Glanz liegt über ihrem Gesicht.«

Christian ließ sie reden; ihr Geschwätz langweilte ihn schon wieder.

»Auch die Magd sieht recht gut aus. Sie ist zwar schon älter, aber noch immer eine gesunde, rüstige Frau mit zwei derben Armen. Und geizig ist sie! Genau wie meine Alte. Nach Ihnen haben sie mich übrigens auch gefragt!«

Nach kurzem Schweigen klang es gereizt und verächtlich, aber auch leicht betroffen zurück:

»Was wollen sie denn von mir?«

»Ach – sie fragten mich wohl nur aus Neugierde. Die Dame sagte: Lebt dieser Mann denn immer allein?«

»Dieser Mann?«

»Dieser Herr,« verbesserte sich Ghiana rasch. »Ja, ganz allein, erwiderte ich. Seit drei Jahren – so lange kenne ich ihn schon – lebt er ganz allein und will von niemand gestört sein. Und darauf die Dame: Was ist er denn? ein Maler? – Nein, sage ich, er ist ein feiner Herr, der von niemand gestört sein will. Sonst verkauft er ohne weiteres sein Häuschen und zieht fort von hier.«

»Du tätest besser daran, nicht soviel über mich zu klatschen! Und dann – was weißt du schon von mir? Sieh lieber zu, daß du selbst mir nicht auf die Dauer lästig wirst!«

»Ich glaubte, Ihnen einen Gefallen damit zu tun,« sagte sie kleinlaut, aber nicht ohne Bosheit, und schickte sich an, wieder fortzugehen. Er bat sie, ihm vorher noch Wasser zu holen, und als sie vom Brunnen zurückkam, fragte er sie, ob sie nicht auch bei ihm sauber machen könnte.

Aber natürlich, sie stand Tag und Nacht ganz zu seinen Diensten. Mißtrauisch und glücklich lächelte sie ihn an, und er fühlte, wie sie ihn ausforschen, wie sie mit ihren tückisch schimmernden Augen bis auf den Grund seiner Seele blicken wollte.

Und wie um sie zu ärgern, sagte er, daß er doch schließlich nicht alles selber machen könnte – wie ein Siedler im australischen Busch. Besonders jetzt nicht, wo ihn jemand sehen und auslachen könnte.

*

Aber nichts regt sich in der tiefen Einsamkeit ringsum. Eintönig verstreichen die Tage, einer wie der andere, und alles erschien genau wie vor dem Bau des kleinen Hauses.

Auf dem Garten, in dem die Früchte reifen, lastete eine feuchte Treibhausschwüle. Nur die Bäuerin tauchte von Zeit zu Zeit in der eintönigen Stille auf, müde und schweißbedeckt, zusehends magerer werdend infolge der beschwerlichen Arbeit, der Hitze und eines heimlichen Grams, den sie vergeblich zu verbergen versuchte.

Der Mann kaufte ihr nach wie vor die Lebensmittel ab, die sie mitbrachte, richtete aber kein freundliches Wort mehr an sie, wie er dies früher manchmal tat. Er schien höchstens zuweilen darauf zu warten, daß sie ihm irgend etwas erzählen sollte. Und dann kam sie unwillkürlich immer wieder auf die Leute in dem kleinen Landhaus zu sprechen.

»Es müssen recht wohlhabende Leute sein. Der Mann ist Arzt und niemand weiß, was ihm eigentlich fehlt. Ich habe ihn noch nie gesehen. Er darf sich nur in den oberen Zimmern aufhalten, oder auf dem Dachgarten, wo sie zum Schutz gegen die Sonne ein großes Segel ausgespannt haben. Und die Dame ist immer bei ihm. Neulich erzählte mir die Magd einmal, ihr Herr sei gelähmt, würde aber hoffentlich bald wieder aus dem Krankenstuhle aufstehen. Und dann würden sie wieder fortziehen von hier. Aber wie kann ein Gelähmter denn wieder aufstehen? Mein armer Großvater war sieben Jahre gelähmt, bis unser Herrgott ihn schließlich zu sich nahm. Ich glaube, es fehlt dem Kranken ganz wo anders. Hier,« setzte sie hinzu, mit dem Zeigefinger auf die Stirne deutend, und grübelte eine Weile ernst und schweigend über ihre Vermutung nach. Dann sagte sie: »Neulich hörte ich ihn einmal in seinem Zimmer oben schreien. Die Magd wurde leichenblaß und eilte gleich nach oben; und die gnädige Frau ließ sogar die Fensterläden herunter. Das tut man doch nicht bei einem Gelähmten – Gott soll mich schützen! – nein, das tut man höchstens bei einem Geisteskranken.«

Diese Vermutung erklärte freilich viele Dinge: das Schweigen und das Geheimnis, das auf dem Hause lastete, daß die Dame sich fast überhaupt nicht sehen ließ, daß sie so traurig war –.

Und ihre Traurigkeit schien jäh um sich zu greifen, schien sich auf alles auszubreiten, auf die Landschaft, auf das Wetter.

Fast jeden Abend wehte jetzt ein heftiger Sturm, der aber keine Kühle mit sich brachte, sondern nur die Zweige von den Bäumen knickte. Glutheiß kam er aus Südwesten angebraust, und das Heulen des sturmgepeitschten Meeres ließ nicht einmal am Tage nach, wenn die Sonne schien.

Es war fast, als sollte die sanfte Stille und Abgeklärtheit, die Christian an der Landschaft liebte, nie mehr wiederkehren. Wer weiß – vielleicht ist die Natur gar nicht so unempfindlich für das Leid der Menschen, wie man glaubt. Vielleicht ist ihre Unruhe zuweilen nur ein Ausdruck unserer eigenen Not.

Wie im Winter verließ Christian sein Haus am Tage fast überhaupt nicht mehr; und abends las er meistens bis tief in die Nacht hinein.

Regungslos saß er beim Schein der einsamen Lampe an seinem Tisch. Draußen rauschten die Bäume im Wind, und hin und wieder schien in der Ferne ein Zug vorüberzubrausen. Aber es war nur ein Regenschauer, der über das Land hinwegfegte.

Und zu seiner Verwunderung mußte er sehen, wie er mit freudig klopfendem Herzen rührselige Bücher las wie früher: Bücher, die die ganze Freude und das ganze Leid seiner Jugend gewesen waren. Zarte, längst vergessene Gedichte, die er einmal irgendwo gelesen oder gehört hatte, tauchten jetzt plötzlich wieder in seinem Geiste auf, wie Staubflecken, die scheinbar verschwunden waren, aber jetzt auf einmal wieder sichtbar werden, im Schein der Sonne, im strömenden Regen – –

In den vergangenen Jahren verspürte er immer eine grausame Freude, wenn er es draußen stürmen und regnen hörte und an die armen Menschen dachte, die um diese Stunde vielleicht ohne Obdach durch die Heide irrten. Jetzt aber fühlte er eine bange Unruhe, erinnerte sich an die Worte der Bäuerin: »Neulich hörte ich ihn, einmal in seinem Zimmer oben schreien, und die Magd wurde leichenblaß« –; und ihm war plötzlich, als halle ein lauter Schrei durch die dunkle Nacht. Dort, hinter dem Zaune, sah er die beiden Frauen stehen, die laut um Hilfe riefen: zwei arme schwache Frauen, schutzlos einem Manne preisgegeben, dessen Irrsinn zu jeder Stunde jäh zum Ausbruch kommen konnte.

Ängstlich lauschend hob er den Kopf, beugte ihn aber gleich darauf noch tiefer über das Buch.

Die Bäume ächzten und stöhnten laut im Wind. In den Ruhepausen hörte man zuweilen eine vom Sturm abgerissene Frucht dumpf zu Boden fallen, und die letzten, verwehenden Tropfen eines Regenschauers knisterten und prasselten auf das Dach, als rüttelten gespenstische Hände an seinen Ziegeln und Sparren.

Auch der Kater hob lauschend den Kopf und schoß von Zeit zu Zeit auf die Wand zu, um nach irgend etwas zu haschen; doch es war nur sein eigener Schatten.

Aber zuweilen scheint wirklich die dumpfe Klage eines Menschen sich mit dem Ächzen der Bäume zu vereinen. Wieder lauscht der Mann, sieht dann den Kater am Boden spielen und zuckt die Achseln. Ach, auch er jagt nur hinter den Schatten seiner Träume her.

Was geht es ihn an, wenn dort draußen wirklich jemand klagt? Wer hat jemals nach seinen Klagen gefragt? Erinnerst du dich noch an die ersten Monate in der Hütte, Christian? Damals schriest du genau so in der schweigenden Nacht, und niemand antwortete dir in deiner Not, nicht einmal die Bäume, nicht einmal der Wind – –

Trotzdem stand er schließlich auf und öffnete das Fensterchen seiner kleinen Kammer. Draußen war alles in dichte, brausende Finsternis getaucht, in der die Schatten sich drohend zusammenballten. Erst nach einer Weile erkannte er die Umrisse der Bäume. Aber ihm war, als streiften ihre Kronen bis an den Himmel, und hinter ihnen erhob sich wie ein schwarzer, undurchdringlicher Wall die Hecke.

Der Schrei wiederholte sich nicht mehr. Trotzdem lauschte er angestrengt ins Dunkel und beugte den Kopf weit vor. Die Regentropfen fielen auf sein Haar und seinen Hals und ließen ihn zusammenschaudern, wie unter der Berührung eisigkalter Finger. Er dachte an die zarten, traurigen Hände der Frau am Brunnen, und wich mit einer schroffen Bewegung vom Fenster zurück, als wolle er sich wirklich einer geheimnisvollen, zärtlichen Liebkosung entziehen.

*

Am nächsten Morgen erfuhr er durch Ghiana, daß es dem Kranken in dem Landhaus wirklich ziemlich schlecht gehe.

»Heute war der Dorfarzt da, zusammen mit einem Mann, der nachts bei dem Kranken wachen soll. Die Magd erzählte mir, ihre Dame hätte gestern Nacht große Angst gehabt, weil der Hund immer wieder anschlug, als wären Diebe draußen vor dem Hause. Haben Sie denn nichts gehört?«

Er zuckte die Achseln, schämte sich aber im stillen seiner Gefühllosigkeit.

Dort drüben, in seiner Nähe, lag ein Mensch im Sterben, sogar der Hund bellte laut um Hilfe, und er verkroch sich feig in seinem Hause, wie eine Schnecke in ihrer Schale.

Er fragte Ghiana, ob auch sie weiter bei den Nachbarn bleiben werde.

»Nein, sie haben mich gleich fortgeschickt. Es liegt ihnen wohl daran, daß niemand den Herrn sieht. Ich habe heute nicht einmal die Dame zu Gesicht bekommen.«

Auch Christian schickte sie bald wieder fort, trat aber nach einer Weile vors Haus und sah vom Wege aus, wie sie an der Straßenbiegung wartend stehen blieb. Er hatte den Eindruck, sie wollte ihn beobachten, und ging deshalb absichtlich weiter, bis zur Wiese. Und nun eilte Ghiana rasch davon, sich in den Hüften wiegend wie immer, mit gesenktem Kopf, so daß man die Bernsteinkette auf ihrem braunen Nacken glitzern sah. Langsam umschritt Christian die Wiese und wartete, bis sie verschwunden war.

Das Wetter hatte sich endlich wieder aufgeklärt. Leuchtend, wie neu geboren, lag das Land zwischen den blaudunstigen Hügeln und dem silbernen Meere da. Auf den Sträuchern funkelten noch die Regentropfen in allen Farben, und in den Pfützen auf der Wiese spiegelte sich blitzend die Sonne.

Lautlos wie in weichem, tiefem Schnee ging er auf dem Sand des Weges dahin, den Duft der wilden Nelken einatmend, der von den Pinien herüberwehte.

Weiter, immer weiter schlenderte er, wie angelockt von diesem süßen Duft. Als er in den leuchtenden Schatten der Pinien trat, fiel ihm ein, daß er unlängst noch dort zwischen den Ziegelsteinen saß. Auch heute sah er, wie zwei Augen ihn aus einer kleinen Holzhütte anstarrten, die neben der hinteren Türe des Landhäuschens stand. Es war der Hund.

Aber er bellte heute nicht, sondern kam an seiner langen Kette aus der Hütte, streckte sich und hob den Kopf mit einem leisen, freudigen Winseln.

Da erinnerte Christian sich, daß sie sich schon kannten, und er nickte ihm freundlich zu, als wäre er ein Mensch.

Dann klopfte er an die Tür des Häuschens.

*

Eine wohlbeleibte, aber flinke kleine Frau mit runden, rosig schimmernden Bäckchen, schwarzen Augensternen und einem kleinen Schnurrbärtchen über dem roten Mund, tauchte auf, mit einem Staubtuch in der Hand.

Es war die Magd, von der Ghiana immer sprach.

Erstaunt, fast überrascht durch seine Freundschaft mit dem Hund, sah sie den Mann zunächst an, lächelte ihm dann aber freundlich zu, wie einem alten Bekannten.

Höflich, aber auch mit einer gewissen Zurückhaltung zog er den Hut: er liebte es nicht, wenn Dienstmädchen ihm so vertraulich zulächelten.

»Ich wollte nur einmal hören, wie es dem Kranken geht, ob sie vielleicht irgend etwas brauchen – – Ihre Dame kennt mich – –«

Gleich darauf bereute er seine Worte, weil er glaubte, er habe schon zuviel gesagt. Aber die Magd achtete nicht auf solche Feinheiten und forderte ihn ohne weiteres auf, einzutreten.

»Treten Sie doch näher! Ich rufe sofort die gnädige Frau. Vielleicht nehmen Sie inzwischen Platz –.«

Mit diesen Worten trat sie ins Haus zurück, das Staubtuch in der Luft schwenkend, als winke sie dem Zögernden zu, ihr doch zu folgen.

»Und entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie nur hier hereinführe.«

Bevor er sich umsehen konnte, stand er in einem kleinen Salon, der ihn wie ein Aquarium anmutete. Der Fußboden schillerte wie ein tiefes, dunkles Wasser im grünlichen Licht, das durch die geschlossenen Fensterläden fiel, und die grünen Korbmöbel spiegelten sich in ihm und schienen auf ihm zu schwimmen wie große Weidenkörbe.

Vorsicht, Christian, daß du nicht ausgleitest! Bleib' an der Türe stehen und bereue weiter, daß du hergekommen bist. Warum bist du überhaupt hierher gegangen? Ach, wenn du doch wenigstens entwischen könntest, wie ein Fisch aus dem Netz!

Draußen – im Freien, in der Sonne war es so schön, und hier so kalt und düster, fast unheimlich. Und was gingen ihn schließlich diese fremden Leute an? Er fing an, sich ernstlich über sich selbst zu ärgern, als die Frau des Hauses eintrat. Sofort nahm er eine steife, abweisende Haltung an, aus Angst, sie könnte ihn bitten, Platz zu nehmen. Nein, er wollte sich nicht auf diese Sessel setzen, die aussahen, als müßte man in ihnen versinken, wie in einem tiefen Wasser. Er wollte sich nicht setzen, nein, er wollte fortgehen und nicht mehr wiederkommen.

Aber die Frau bat ihn nicht, Platz zu nehmen. Sie sagte nur, ihn mit unsteten, müden Augen anblickend: »Ich danke Ihnen. Meinem Mann geht es jetzt besser. Er hatte zwar heute Nacht einen schweren Anfall, aber das kam wohl mehr vom Wetter.«

Und er machte sofort Miene, wieder zu gehen, im stillen gekränkt, daß sie ihn nicht zum Bleiben aufforderte.

»Ich kam zufällig auf dem Weg ins Dorf vorbei,« sagte er, um ihr klar zu machen, daß es sich nicht um einen offiziellen Besuch handelte. »Wenn Sie also irgend etwas brauchen sollten – –«

»Danke, heute nicht. Unser Mädchen war schon im Dorf. Außerdem ließen wir heute einen Mann herkommen – nicht etwa, weil es dem Kranken schlechter geht, sondern weil es hier so tot und einsam ist.«

»Haben Sie das denn nicht gleich gesehen?« brummte er, nach dem Ausgang suchend.

»Doch. Aber die Gegend ist so reizvoll,« sagte sie wie zur Entschuldigung, wie um ihn zu besänftigen. »Hier geht's hinaus, wenn ich bitten darf!«

Sie begleitete ihn bis in die Diele, öffnete ihm die Tür, und er verbeugte sich stumm, mit niedergeschlagenen Augen. Dann ging er fort, den Hut tief in die Stirne ziehend, und entfernte sich dem Dorfe zu.

Erst nach einem guten Stück Weges fiel ihm ein, daß er von zuhause mit der Absicht fortgegangen war, gleich wieder umzukehren. Sogar das Gatter hatte er offen gelassen.

Trotzdem machte er nicht kehrt.

Wie ein breites, fleischfarbenes Band schlängelte sich die Landstraße zwischen grünen Büschen dahin, hinter denen auf der rechten Seite das tiefe Blau des Meeres erglänzte.

An der Straßenbiegung blickte er sich um. Dort hinten, in weiter Ferne, lag die Baumgruppe, die das weiße Landhäuschen umgab, und dieses und sein eigenes, von dem nur noch das feucht schimmernde Dach zu sehen war, ragten wie zwei kleine Inseln aus dem grünen Meer der Heide.

Dort hinten – – Er fühlte, wie er plötzlich rot wurde, als hätte irgend jemand gesehen, daß er sich umblickte, und eiligen Schrittes ging er weiter.

Jetzt bereute er doch, daß er nicht gleich nach Hause zurückgekehrt war. Und er fragte sich, warum er überhaupt ins Dorf ging, zumal er doch gar nichts brauchte und niemand ihn darum gebeten hatte. Warum wanderst du diese Straße entlang, Christian? Plan- und ziellos, nur um zu laufen, um den Überschuß an Leben loszuwerden, das sich stürmisch wieder in dir regt. Warum all das? Weil eine Frau dort in das Häuschen in deiner Nähe eingezogen ist –?

Er zuckte die Achseln, kehrte aber doch nicht um, und so gelangte er zuletzt ins Dorf.

*

Ohne breiter zu werden, ohne den Farbton zu wechseln, führte die helle, aufgeweichte Straße mitten durch das kleine Dorf und verlor sich schließlich zwischen dem Strand und einer Fläche bebauten Landes. Am Ufer des Meeres erhoben sich schmucke, weiße Sommerhäuschen, mit blühenden Oleandersträuchern in den kleinen Gärten davor, während das Dorf selbst nur aus ärmlichen, niedrigen, grauroten Fischerhütten bestand mit weit geöffneten Türen und einem kleinen Laden hinter jeder Tür. In der Luft mischte sich der Duft von frisch gebackenem Brot mit dem Tang- und Fischgeruch des Meeres. Alte Seeleute, gedrungene, wettergebräunte Gestalten, lungerten müßig, die Mützen schief über dem Ohr, da und dort vor einer geschlossenen Tür auf den Stufen herum. Die Fischer hingegen rührten trotz ihrem Alter fleißig die Hände, um den kleinen Marktplatz herumsitzend, den die Chaussee mit der an den kleinen Hafen hinabführenden Straße bildete. Emsig flickten sie ihre Netze, die sie mit der großen Zehe des rechten Fußes festhielten, und warfen sich ab und zu ein Scherzwort zu, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken, als sprächen sie mit der Holznadel in ihrer Hand. Fröhlich sprudelten die Worte über ihre Lippen und verklangen sanft und schwebend in der leuchtenden Luft; und auch die lauten Rufe der Kinder, die auf den Gassen spielten, verloren sich wie Vogelschreie in der Stille.

Auf dem kleinen Marktplatz angelangt, bog Christian in die Straße zum Meer ein. Sonst machte er seine Einkäufe allerdings meistens in den kleinen Läden im Dorfe, und er wußte selbst nicht, warum er heute seine Schritte zu dem großen Geschäft am Hafen unten lenkte. Verlassen lag die Straße vor ihm da, mit dem blauen Meer und all den Segeln und ragenden Masten im Hintergrund.

Durch die offene Tür des Ladens fiel der Blick auf die mit roten Tüchern zugedeckten Heringsfässer und die hell glitzernden Konfektgläser auf dem sauberen Ladentisch; noch mehr wurde er freilich durch ein weißes Schild über der Türe angezogen, auf dem in großen, schwarzen Buchstaben stand:

Wohnungen und Sommerhäuschen
zu vermieten oder zu verkaufen!

Als Christian stehen blieb, um das Schild aufmerksam zu lesen, trat ein altes Weiblein mit einem wächsernen Gesicht und einem schwarzen Kopftuch aus dem Ladenzimmer auf die Straße; und obwohl er keine Frage an die Alte richtete, begann sie ihm da und dort verschiedene Sommerhäuschen mit geschlossenen Fenstern zu zeigen.

»Die sind alle noch zu vermieten oder zu verkaufen.«

Er starrte noch immer auf das kleine Schild, als wollte er eine geheimnisvolle Inschrift auf ihm entziffern.

»Ja, deshalb bist du hergekommen, Christian. Weil du wußtest, daß dieses Schild hier hängt, weil du schon lange vorhast, umzuziehen. Du witterst im stillen die Gefahr. Aber das hier ist ja alles noch viel zu nahe.«

»Hören Sie, liebe Frau, das ist alles viel zu nahe.«

»Nun, wo möchten Sie denn gerne wohnen?«

Mit einer unbestimmten Geste deutete er in die Ferne, in das unermeßlich weite Land hinein.

»Dort hinten bei den Feldern – oder noch weiter weg – Aber es muß etwas Kleines und Abgeschlossenes sein – meinetwegen auch nur ein Bauernhäuschen – aber möglichst einsam gelegen und weit, weit weg –« Und er ließ die Alte mitten auf der Straße stehen, ließ sie verwundert in die Ferne starren und das Häuschen suchen, in das er sich flüchten wollte vor der drohenden Gefahr.

*

Und die Gefahr wurde immer fühlbarer, rückte drohend immer näher.

An einem drückend heißen, stillen Nachmittag, einem von jenen Sommernachmittagen, die voll Langeweile sind und den Menschen nach Zerstreuung suchen lassen, besuchte die Dame aus dem weißen Landhäuschen ihren Nachbarn.

Wenn sie wenigstens irgend etwas gebraucht hätte! Aber nein, sie ging ganz einfach so zu ihm, ohne Vorwand, vielleicht aus reiner Neugierde oder eben aus Langeweile.

Sie war die erste Frau, die nach der jungen Bäuerin eindrang in sein einsames Reich, und Christian empfing sie mit fast finsterer Miene, wie ein Einsiedler, der sich in Versuchung geführt sieht in seiner abgeschiedenen Klause.

Aber die Frau sah nicht so aus, als ob sie ihn verführen wollte. Ungezwungen, ohne sich allzu neugierig umzublicken, ging sie auf den kleinen freien Platz vor dem Hause zu, und da dort zufällig eine Bank stand, nahm sie auf ihr Platz, mit matt herabhängenden Armen. Sie sah heute fast so abgespannt aus, wie Ghiana an besonders schwülen Tagen, und zum erstenmal konnte er sie genau betrachten, vielleicht, weil er nicht zu ihr aufzusehen brauchte. Er überlegte, was er ihr anbieten könnte.

»Hübsch ist es aber hier,« sagte sie, die Hände müde in den Schoß legend. »Ich beneide sie fast um diese Einsamkeit und Stille. Und jetzt verstehe ich auch, wie Sie es hier so lange aushalten konnten. Es ist wirklich ein entzückendes Plätzchen, so geschützt und abgeschieden. Und welch wundervolle Birnen Sie dort haben! Und sogar Trauben! Wissen Sie übrigens, daß ich eines Abends schon einmal bis an ihr Gatter kam und klopfte. Aber da Sie nicht öffneten, wagte ich nicht, weiter zu gehen.«

Er sah sie an und hörte ihr erleichtert zu. Nein, sie war keine gefährliche Frau. Ein Hauch von Ruhe, von Vertrauen ging von ihrem sanft gewellten, schimmernden, kastanienbraunen Haar aus.

Aber Vorsicht kann nie schaden, Christian! Zuweilen trügt der Augenschein.

»Ja, ich hörte es und öffnete sogar. Aber da waren Sie schon fort.«

Mit einem schelmischen Lächeln, wie ein kleines Kind sah die Frau zu ihm auf.

»Ach, haben Sie wirklich aufgemacht? Glauben Sie mir, ich fürchtete mich hier an den ersten Abenden. Und meine Dienerin erst recht. So einsam hatte ich mir die Gegend doch nicht vorgestellt; denn das Dorf ist eigentlich verhältnismäßig nahe. Als wir im Juni im Wagen des Arztes zum erstenmal herfuhren, kam mir der Weg recht kurz vor; aber später hatte ich das Gefühl, in einer trostlosen Einöde zu sein. Sagen Sie, wohnen Sie eigentlich schon lange hier?«

»Ja,« erwiderte er in ziemlich schroffem Ton, der jede weitere Frage abschnitt. Dann fragte er: »Und wie geht es Ihrem Gatten?«

Fast erschrocken richtete sie sich auf, als hätte irgend jemand ihre Schulter berührt. Die Frage schien ihr einen kurze Zeit vergessenen Gedanken ins Gedächtnis zurückzurufen. Ihre Augen, sogar ihr Haar erschienen auf einmal viel dunkler.

»Danke, es geht ihm besser. Nur schläft er nachts fast gar nicht, holt es aber am Tage nach. Als ich fortging, schlief er auch gerade. Und Sie,« fragte sie nach kurzem Schweigen, »Sie gehen wohl jeden Tag ins Dorf?«

»Oh nein! manchmal sogar wochenlang nicht. Aber warum lassen Sie ihn am Tage schlafen?«

Leicht verwundert blickte sie wieder zu ihm auf, senkte die Augen aber gleich wieder, weil sein Blick etwas Feindseliges hatte.

Es war fast, als täten sie sich beide weh bei dem Versuche, in das Leben des anderen einzudringen.

Da entschloß sie sich plötzlich, zuerst ein bißchen mehr aus sich herauszugehen.

»Mein Mann hat ein schweres Nervenleiden, das eines Tages jäh zum Ausbruch kam – niemand weiß eigentlich, warum. Es ließ sich weder auf Überarbeitung zurückführen noch auf ein ausschweifendes Leben. Ganz plötzlich brach es über ihn herein – wie irgendeine andere Krankheit. Und dabei führten wir ein so stilles und zufriedenes Leben. Er war Bezirksarzt in einem kleinen ruhigen Ort. Auch mein Vater war als Bezirksarzt in dem gleichen Orte tätig, aber vor ihm. Sein Alter war heiter und gesund, ich möchte fast sagen: er starb mit einem Lächeln auf den Lippen. Er war ein schlichter, bescheidener Mann, immer guter Laune, ein wenig schwärmerisch veranlagt, aber durchaus nicht beschränkt. Das setze ich hinzu, weil man heutzutage der Meinung ist, alle klugen Leute seien Melancholiker oder Zyniker. Auch mein Mann ist ziemlich klug, aber sehr ernst und ein wenig eigenbrötlerisch. Vor seiner Krankheit hatte er freilich einen klaren, gesunden Blick für alle Dinge und verlor niemals die Ruhe. Dann wurde er auf einmal von einer grundlosen Schwermut befallen, von fixen Ideen, Schlaflosigkeit, dem quälenden Verlangen, niemand mehr zu sehen. Deshalb zogen wir hierher. Zunächst wollte ich zwar mit ihm ins Gebirge fahren; aber dort ist es, glaube ich, lange nicht so still und einsam wie hier. Außerdem muß man ja auch an den Winter denken.«

»Natürlich« sagte Christian verlegen. »Aber es heißt doch immer, die Meerluft sei nicht gut für Nervenleidende.«

»Ja, das heißt es. Aber denken Sie an, seitdem wir hier sind, ist mein Mann viel ruhiger, viel zufriedener. Nur zuweilen hat er noch einen kleinen Anfall, wenn das Wetter sehr stürmisch ist. Ruhig war er übrigens schon immer: Er spricht nicht, er rührt sich nicht und merkt doch alles. In den ersten Monaten seiner Krankheit nahm ich ihn oft auf Spaziergängen mit. Er war so sehr gealtert, daß er fast wie mein Vater aussah, und die Leute, die uns begegneten, betrachteten ihn voll Mitleid. Er fühlte es sofort, noch schneller als ich, und wollte das Haus nicht mehr verlassen. Da rieten mir die Ärzte, die ihn behandelten, ich solle ihn fortbringen, in eine ganz andere Umgebung. Eigentlich hätte ich ihn allein lassen sollen; denn es ist bei solchen Leiden wohl am besten, wenn man den Kranken seine frühere Umgebung, die Menschen mit denen er zusammenlebte, ganz vergessen läßt. Aber wie konnte ich ihn denn verlassen? Wohin hätte ich ihn denn bringen sollen?«

»In ein Sanatorium.«

»Nein! Niemals!« rief sie erschrocken. »Lieber will ich ihn sterben sehen. Und so zog ich mit hierher. Ich hatte keinen Menschen in dem kleinen Ort, und nicht einmal das Haus gehörte uns. Wie konnte ich also allein dort bleiben? Ich fürchtete mich ja schon, mit ihm noch länger dort zu bleiben. Ja, ich hatte Angst. Im Grunde ist ein Ort, in dem man lebt, ja nur ein großes Haus, eine große Familie. Einer kennt den anderen, seine Sorgen, seine Schwächen, und nichts ist peinlicher als das Urteil von Leuten, die uns so gut kennen. Ständig fühlt man sich bevormundet und beobachtet, bis einen schließlich das Verlangen ergreift, zu fliehen, wieder frei zu sein. Das Verlangen, seinem Schmerze freien Lauf zu lassen, sich ihm offen hinzugeben wie einem Laster, ohne daß das Mitleid der anderen ihm eine Grenze zieht.«

»Das ist wahr,« sagte er leise.

»Zwar hatte ich dort keine Verwandten, aber alle taten so, als wenn sie eng mit mir verschwägert wären. In der ersten Zeit – wir gingen damals allerdings schon nicht mehr aus – wollten alle meinen Mann besuchen, und sie unterhielten sich mit ihm wie mit einem Gesunden, machten ihm seine Krankheit aber stillschweigend zum Vorwurf. Einige kehrten auch den Arzt heraus, und alle waren ganz erstaunt, daß er nicht von selbst wieder gesund werden wollte. Jeder hatte einen guten Rat für mich. Und dazu die Gassenjungen, die draußen vor den Fenstern lungerten, in der Erwartung, daß sie ihn sehen oder schreien hören könnten. Ach Gott, ach Gott, es war grauenvoll! Mir war fast, als müßte auch ich den Verstand verlieren. Die Fenster mußten auf seinen ausdrücklichen Wunsch stets geschlossen bleiben, und das verlangt er auch jetzt noch. Die Klatschbasen erzählten sich, er sei vom Teufel besessen. Tausend lächerliche und grauenhafte Gerüchte waren im Umlauf. Es hieß, er sei tiefsinnig geworden, weil er einen Patienten durch ein Versehen getötet habe – oder auch, weil ich ihn wegen seines Alters verlassen wolle und ihm sogar sein Geld aus dem Geheimfach in der Wand gestohlen habe. Aber ich langweile Sie sicher. Entschuldigen Sie bitte. Wollen Sie mir nicht ihren Garten zeigen.«

Sie stand plötzlich auf und warf trotzig den Kopf zurück, wie um die düsteren Erinnerungen abzuschütteln; dann schritt sie rasch quer durch den Garten.

Schweigend und verwirrter denn je folgte Christian ihr. Von Zeit zu Zeit schob er die Hände in die Taschen, als suche er etwas, könne es aber nicht finden; dann blieb er wieder unter irgendeinem Strauch stehen und starrte abwesend in die Höhe. Sie hingegen kannte alle Bäume und Sträucher und nannte ihre Namen, während sie zärtlich mit der Hand über einen Baumstamm strich oder ein Blatt abzupfte. Aber sie sah sie traurig an, wie alte Bekannte, die man zufällig wiedertrifft, die an eine glücklichere Zeit erinnern.

»Früher,« sagte sie, unwillkürlich wieder in die Vergangenheit zurückschweifend, »gab ich mich viel mit den Bäumen ab. Ist es nicht wundervoll, zu sehen, wie sie knospen, wie sie blühen und Früchte tragen und sich im Herbst verfärben, als zehre eine Krankheit an ihnen? Vor meinem Fenster stand eine große Platane, deren Blätter im November auch abends in allen Farben funkelten, gelb und rot, wie in der strahlenden Sonne. Und ich bildete mir ein, sie sei verliebt – unglücklich verliebt – und sterbe an gebrochenem Herzen.«

»Ach – Redensarten, lauter Literatur!« dachte Christian, aber er wagte nicht, es laut zu sagen, vielleicht auch, weil die seltsamen Worte der Frau ihm im Grunde doch gefielen.

»Auch wir hatten einen Weinstock,« fuhr sie fort, mit der blassen Hand das Weinlaub kosend. »Hohe Bäume standen ringsumher, und der Wein rankte sich von Stamm zu Stamm, mit seinen schwer herabhängenden Reben. Daß ich ihn verlassen mußte, tat mir wirklich leid: unter ihm verbrachte ich meine Kindheit, ich wuchs sozusagen mit ihm auf. Aber jetzt hat die Natur mir fast nichts mehr zu sagen. Hat man erst einmal in die Tiefen der eigenen Seele hinabgeblickt, so verlieren die Dinge um uns her ihre Bedeutung. Alles erscheint dann plötzlich blaß und durchschnittlich im Vergleich zu dem, was in uns selber vorgeht.«

Sie blieb unter der runden Akazie am Ende des Gartens stehen, den schmalen Rücken an den Stamm lehnend, den Kopf leicht vorgebeugt, träumerisch ins Weite schauend. Hell hob ihre Gestalt sich gegen den dunklen Hintergrund der Hecke ab, und der Baum beschattete sie mit seinen grünen, tief herabhängenden Zweigen.

Christian folgte ihr, die Hände in den Taschen, blieb jedesmal stehen, wenn sie stehen blieb, und hörte ihr schweigend zu. Manchmal machte er sich im stillen lustig über das, was sie sagte. Manchmal sehnte er sich aber auch, ihr selber irgend ein tröstliches Wort sagen zu können.

Schließlich faßte er sich ein Herz.

»Ja, und dann kommt eines Tages eine Stunde –« sagte er, wie sie zu Boden sehend, »eine Stunde, wo uns alles gleichgültig wird – auch die Dinge in uns selbst.«

»Nein, das nicht! Das nicht! Das ist wohl erst der Fall, wenn wir den Tod schon in uns fühlen, wenn wir schon sehr, sehr alt sind – –«

»Nun, wer viel leidet, der altert schnell. Da zählen Tage manchmal für Jahrzehnte.«

»Das ist wahr. Aber es ist nur eine Täuschung. Man ist erst alt, wenn man es wirklich ist.«

Nachdenklich sah er noch immer zu Boden, spürte aber, wie sie ihn forschend ansah, und dachte: Wenn du jetzt aufblickst, wirst du deine eigene Seele wie in einem Spiegel in den Augen dort sehen, die dich anstarren.

»Übrigens,« sagte er, die Achseln zuckend, »ist es stets das alte Lied. Wir reden und reden und glauben mehr zu leiden als die anderen, und dabei ist das Leid doch allen Menschen eigen, genau so wie die Liebe.«

Die Frau erwiderte nichts, sagte aber auch nicht Ja. Wie vorhin, schien sie wieder ihren Erinnerungen nachzuhängen, und alle äußeren Dinge schienen sie nicht zu berühren, nicht einmal seine Worte.

Schweigend gingen sie wieder auf das Häuschen zu. Beruhigt durch ihre Gleichgültigkeit, und noch mehr durch seine eigene, forderte er sie auf einzutreten.

Und ohne Mißtrauen, fast mit betonter Selbstverständlichkeit ging sie ins Haus und streichelte nur versonnen das Fell des Katers, der auf einer Tischecke saß und schlief.

»Sie sieht sich absichtlich nicht um, weil sie mich nicht beschämen will,« dachte Christian. Aber das wäre ihr auch kaum gelungen. Nein, er schämte sich seines armseligen kleinen Hauses nicht. Er hatte nur das Gefühl, daß ihre Blicke mitleidig auf der Wachstuchdecke ruhten.

Aber sie beneidete ihn nur um seinen Kater.

»Wie hübsch er ist! Sein Fell ist wie aus Hermelin. Es hat etwas unsäglich Beruhigendes, ihn zu streicheln. Wir können uns leider keine Katzen halten, weil der Hund ihnen allen die Kehle durchbeißt. Nicht aus Grausamkeit, sondern aus Eifersucht. Neulich versuchte ich einmal, ihm ein neugeborenes Kätzchen zu zeigen, mit noch blinden Augen. Aber er bellte es noch wütender an als die anderen.«

»Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Frau –«

Er wußte ihren Namen noch immer nicht.

»– Sarina,« sagte sie mit sanfter Stimme und setzte sich neben den Tisch, die Hand auf dem gekrümmten Rücken des Katers, noch immer von ihrem Hund erzählend.

*

Und so verdrängte, als sie fortgegangen war, die Sorge um den Kater die heimliche Angst vor ihr aus seinem Herzen. Der Gedanke, daß der Hund ja an der Kette lag, beruhigte ihn wieder. Da sah er ihn ein paar Tage später eines Morgens plötzlich vor sich auftauchen. Aber nicht zu Hause, denn er hielt sein Gatter jetzt stets sorgfältig geschlossen.

Er hatte im Meer gebadet und lag lang ausgestreckt hinter hohen Binsen im Sand.

Hinter dem Binsengebüsch, das wie ein Kornfeld im sanften Winde wogte, ragte eine Reihe Klippen steil und dunkel in den zartblauen Himmel. Kleine, schaumgekrönte Wellen bewegten sich hüpfend von allen Seiten auf sie zu, wie viele winzigkleine, weiße Kaninchen. Hurtig schlüpften sie in alle Spalten und Ritzen, aus denen sie gleich darauf erschrocken wieder zurückfluteten, auf die neu ankommenden Wellen stoßend. Sie versuchten sie zurückzudrängen, aber diese eilten trotzig weiter ihres Weges auf die Klippen zu, sich in kühnen Sprüngen überstürzend und gleich darauf ebenso erschrocken wieder flüchtend. Es war ein ruheloses, sich in gleichmäßigen Zwischenräumen wiederholendes Spiel, sanft ausgeglichen, ja fast eintönig in seiner zitternden Bewegtheit. Mit fröhlichen Blicken verfolgte es der Mann, tief eingegraben im warmen Sand, in den er seine Hände wühlte, mit einem fast wollüstigen Gefühl, als greife er nach etwas Lebendigem, nach einem bebenden, unsäglich zarten Leib, der zwischen seinen Fingern zu nichts zerrann.

Und dazu die Sonne und die reine Luft, die beseligend durch seine Poren flutete und ihn ganz trunken machte. Aber da tauchte plötzlich der Hund hinter ihm auf und zerstörte jäh den zarten Traum.

Erschrocken richtete er sich auf, vergrub das Gesicht aber gleich darauf noch tiefer im Sand und schloß die Augen wie ein kleines Kind, das sich verstecken will. Lieber hätte er sich lebendig begraben lassen, als sich so in seiner Nacktheit der Frau zu zeigen, die rasch näher kam.

Leuchtendweiß schritt ihre Gestalt am blauen Meer entlang, und ihm war, als müßte sie in wenigen Augenblicken vor ihm stehen, drohend aufgerichtet, mit dem wütenden Tier zur Seite, das nur auf einen Wink wartete, um ihn zu zerreißen.

Zornig erregt, aber auch mit einem beklemmenden Gefühl von Furcht schlug sein Herz unter dem Sand. Er hörte die Stimme der Frau, die den Hund zum Laufen, zum wilden Jagen anzufeuern schien, aber sich mehr und mehr entfernte. Auch das Rascheln im Gebüsch war verstummt. Da richtete er sich vorsichtig wieder auf und sah, wie der Hund im Meer schwamm, den nassen, struppigen Kopf suchend über den Wellen hin und her bewegend. Seine Herrin stand am Ufer und ermunterte ihn, noch weiter hinauszuschwimmen; dann rief sie ihn solange zurück, bis das Tier mit glänzendem, tropfnassem Fell wieder auf den Sand sprang, und dann begann sie leichtfüßig mit ihm um die Wette zu laufen, wie ein junges Mädchen. Die Hoffnung, daß sie fortgehen möge, stritt in der Brust des Mannes mit der Wiedersehensfreude. Denn alles Leugnen ist umsonst, Christian! Du freust dich ja doch, sie wiederzusehen, und deine Angst, von ihr gesehen zu werden, ist letzten Endes nichts anderes als die Angst, einen ungünstigen Eindruck auf sie zu machen.

Aber sie ging nicht fort. Nachdem sie eine Weile mit dem Hund herumgetollt hatte, warf auch sie sich in den Sand, das Tier kauerte sich neben sie, und beide schienen langsam einzuschlummern.

Regungslos, wie betäubt vom Sonnenschein lagen sie so alle geraume Zeit am schimmernden Strand. Und ganz allmählich beruhigte sich Christian, schloß die Augen, ließ den Sand von neuem durch die Finger gleiten. Ganz sacht und leise hellip;

Auch mit geschlossenen Augen sah er die Frau auf ihrem dunklen Schatten liegen, in ihrem leuchtenden Gewand, das sich im Lichte aufzulösen schien. Ganz sacht und leise hellip;

Sein Herz schlug ruhiger. Er trachtete jetzt nicht mehr, sich zu verstecken wie vorhin. Sie suchte ihn nicht, sie sah ihn nicht einmal. Unbeweglich lag sie dort im Sand, so nah und doch so fern. Fern wie das Licht der Sonne, wie die weiße Wolke, die das Meer dort an den Himmelsrand hauchte.

Ganz sacht und leise hüllte der wollüstige Schlummer ihn wieder ein, aus dem der Hund ihn vorhin aufgeschreckt hatte. Ihm war, als sollte er zeitlebens so liegen bleiben, gleichsam zwischen Himmel und Erde schwebend wie das Licht, wie jene Wolke.

Da erbebte er plötzlich unter einem heißen Schauer, wie die Binsen im Winde, aber sein Schlaf wurde nur noch tiefer. Und dann – – Ist es nur ein Traum, oder ist die Frau dort wirklich aufgestanden, kommt sie wirklich auf ihn zu, in ihrem leuchtenden Gewand, auf das die Binsen zarte Schatten weben?

Ja, sie kommt langsam näher, sie beugt sich über ihn, Sand rieselt aus ihren Händen über seine Glieder, weich und zart wie laues Wasser, noch sanfter als die Sonnenwärme, sanft wie ihr eigener Leib.

Bestürzt schreckte er aus dem Schlafe auf. Er sah, daß sie wirklich aufgestanden war, daß sie den schimmernden Sand von ihrem Kleide schüttelte, und schloß die Augen wieder, in der Hoffnung, der Traum möge zur Wahrheit werden.

Aber da ergriff ihn plötzlich eine wilde Angst, ein sehnsüchtiges Verlangen, laut aufzuschreien und sich mit Fäusten zu schlagen. Nein, nein und nochmals nein! Er wollte nicht wie früher törichten Traumgespinsten nachjagen, die das Leben nur erschweren, unnötig erschweren.

Zum Glück entfernte sie sich, ohne ihn überhaupt zu sehen, und er atmete erleichtert auf, als er wieder allein war: ganz allein und einsamer denn je.

*

In diesem Jahr wurde es noch früher Herbst als sonst. Auf einen trüben, stürmischen August folgte ein kalter, regnerischer September. Über den Bäumen und Sträuchern lag es schon wie ein Hauch von Alter und von Tod. Aber an den schönen Tagen schienen sie sich aufzulehnen gegen den Gedanken, daß alles nun zu Ende sei, und prangten in den freudigsten Farben, in leuchtendem Gold und Rot. Des Menschen Auge sieht sie, ohne sich täuschen zu lassen durch den schönen Trug. Dort wirbelt ein Blatt von einem Baum herab, sich schimmernd im Kreise drehend wie ein bunter Falter, aber es hat den Boden kaum berührt, da taucht es schon sterbend unter im feuchten Dunkel.

Und bei seinem Rascheln geht es wie ein leises Stöhnen durch den ganzen Baum, und dieses Stöhnen pflanzt sich fort von einem Ast zum andern. Der ganze Garten gerät plötzlich in Bewegung, und es ist fast, als rüttele nicht der Sturm an seinen Bäumen, sondern eine innere Gewalt: Furcht und zornige Empörung. Fort mit dem welken Laub! Wozu noch länger seine Bürde tragen, wenn es nicht mehr lebendig ist? Und mit den Blättern fällt da und dort auch eine Frucht zu Boden. Der Pinienzapfen birst, die Samen kollern ins Gras, wie Zähne aus dem Munde eines Greises. Die obersten Zweige, die noch voll grüner Blätter sind, ringen noch mit sich selbst: die einen sagen Ja, die anderen Nein. Heftig, fast grausam peitschen sie im Winde gegeneinander, wie um sich rascher in den Tod zu hetzen. Dann tritt plötzlich wieder tiefe Stille ein: sanfte, ergebene Müdigkeit lagert über dem Garten wie zuvor.

Aber wenn die Dämmerung dann alles einhüllt, hebt das dumpfe Stöhnen und Ächzen von neuem an, als sei die Natur tatsächlich krank, als könne sie ihren Schmerz nicht länger schweigend ertragen.

Christian ist nicht abergläubisch, aber er hat seine eigenen Gedanken über die Dinge. Zum Beispiel den, daß der tiefe Frieden ringsum nur durch die Gegenwart der Leute in dem kleinen weißen Häuschen gestört werde. Noch nie war der Herbst so früh und stürmisch ins Land gezogen. An manchen Abenden fühlte auch er sich fortgerissen von dieser Verzweiflung: er kann nicht anders, er muß sein Haus verlassen, er muß durch den Garten streifen und seine innere Unruhe hineintragen in die äußere der Schöpfung. Scheu zuckt er zusammen, wenn ein herabwirbelndes Blatt seine Schulter streift. Jetzt steht er neben der Hecke und lauscht auf das Heulen des Hundes. Dann geht er auf das Gatter zu, weil er zu fühlen glaubt, wie jemand draußen steht und nicht anzuklopfen wagt – –

In früheren Jahren war das alles anders, nichts störte damals seine Einsamkeit.

Zuweilen übermannte ihn dumpfer Zorn gegen seine Nachbarn. Und trotzdem trieb ihn an den endlos langen Abenden ein seltsames Verlangen, wieder Menschen zu sehen, zu ihrem Häuschen.

An einem stürmischen Abend ging er einmal Wasser holen wie so oft. Lange stand er dort am Brunnen, starrte auf die geschlossenen, dunklen Fenster und hatte wieder das Gefühl, das Haus sei unbewohnt.

Der Wind wehte so heftig, daß der Eimer gegen seine Beine schlug. Er riß ihm den Hut vom Kopfe, der eilig davonwirbelte, seltsamerweise auf die Tür des Hauses zu. Und ein geheimnisvolles Etwas schien auch ihn nach dieser Tür zu ziehen.

So leise er auch auf den Zehenspitzen schlich, der Hund hörte ihn doch und schlug ein lautes Gebell an. Ein Fenster öffnete sich, eine Stimme fragte, wer draußen sei.

Ihm blieb nichts weiter übrig, er mußte Antwort geben.

Die kleine, dralle Frau mit dem Schnurrbärtchen machte ihm auf. Zutraulich nickte sie ihm zu und schloß die Tür gleich wieder ab.

»Sie fürchten sich wohl garnicht vor der Dunkelheit und vor dem Sturm! Treten Sie bitte näher, die Dame kommt sofort – –«

*

Wieder fühlte er sich wie in einem Netz gefangen in dem kleinen Salon, in dem ein eisiger Hauch auf allen Dingen lag: auf den Korbsesseln, auf dem lackierten Tischchen, auf den dünnen Vorhängen am Fenster.

Draußen brauste der Sturm ums Haus.

Christian mußte an das Feuer denken, das in seinem Herde brannte. Ach, bei ihm zu Hause war es viel behaglicher als hier.

Aber da tritt schon Frau Sarina ein, die offenbar auch erfreut ist, ein lebendiges Wesen zu sehen in dieser Einsamkeit. Sie gibt ihm die Hand, die ganz warm ist.

Ihr Händedruck und das leuchtende Rot des Jäckchens, das sie über ihrem Kleide trägt, überströmen auch ihn mit einem neuen Gefühl von Wärme, von Helligkeit.

»Wie nett von Ihnen, daß Sie mich besuchen! Aber wir wollen dort hineingehen. Dort drinnen ist geheizt.«

Ja, auch in diesem Hause, das von außen so tot aussah, brannte ein Feuer: ein großer Kamin in einem winzigkleinen Zimmerchen. Und auf dem Tisch dort stand eine Lampe, und neben ihr lag ein aufgeschlagenes Buch, fast genau so wie in seinem Hause.

Er sah alles wie in einem dunkelroten Licht. Es war ihm jetzt fast zu heiß, er hatte Angst vor dem Feuer, vor dem viel zu kleinen Zimmer und dem riesigen Kamin, der die Wand in Brand zu stecken drohte.

»Mir ist nicht kalt,« sagte er ziemlich schroff und wich gegen die Tür zurück. »Ich wollte eigentlich nur Wasser vom Brunnen holen, und dann wehte der Wind meinen Hut bis vor Ihre Tür. Aber ich möchte Sie nicht stören.«

»Nicht doch, ich freue mich über Ihren Besuch. Ich las gerade. Meinem Mann geht es jetzt übrigens besser, er ist viel ruhiger geworden. Aber das ist immer so: sobald es kalt wird, fühlt er sich besser.«

Sie deutete auf einen Stuhl neben dem Tisch und sah ihn an, halb neugierig, halb befremdet durch seine übertriebene Scheu. Und er erriet, daß sie die Erzählung von dem Hut nur für einen Vorwand hielt.

»Ich muß gleich wieder gehen, es ist schon ziemlich spät.«

»Ach, wollen Sie auch heute etwa noch ins Dorf?« fragte sie mit leisem Spott.

Und schweigend nahm er Platz, verstimmt und freudig zugleich.

*

Über was sie an diesem Abend eigentlich sprachen, ja sogar stritten, wußte er selbst nicht recht, als er später durch den Sturm nach Hause ging, mit dem kalten Eimer und der kalten Kanne. Sie waren ihm auf einmal wieder eingefallen, als warteten sie draußen frierend auf ihn.

Über was können zwei Menschen, die sich außerdem nur flüchtig kennen, denn überhaupt streiten in einer solchen Einöde?

Trotzdem hatte er einen ganz wirren Kopf und ein so erhitztes Gesicht, daß er den Wind und das kalte Blech des Eimers und der Kanne wie eine ordentliche Wohltat empfand.

Ach, auch in einer Einöde gibt es Dinge, über die zwei Menschen, die sich nur flüchtig kennen, plaudern und streiten können: über das Wetter zum Beispiel, über den Krieg, über Gott, über gut und böse, über die Vergangenheit – –

Und die Frau ließ sich nicht lange bitten, von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Im Gegenteil, sie erzählte eher zu viel von ihr, vermied es aber, die Gegenwart und Zukunft zu berühren.

Ach ja, die Zukunft! An sie mußte er jetzt denken, nachdem er den Wasserkessel aufgefüllt, das Feuer zugedeckt hatte und nun fröstelnd in seinem kalten, kleinen Bett lag. Ja, was würde der morgige Tag wohl bringen?

Er drehte sich unter seinen schweren, dicken Decken um und lächelte genau so, wie er vorhin Sarina – jetzt nannte er sie schon bei ihrem Namen – lächeln gesehen hatte, als sie sich ein wenig lustig machte über ihn. Auch er machte sich lustig über sich selbst. Was wird der morgige Tag wohl bringen? Nicht mehr, nicht weniger als der heutige, Christian. In deine Träume versponnen wirst du fortgehen und erst bei Nacht und Nebel wieder heimkehren – –.

*

Da tauchte am nächsten Tage plötzlich Ghiana wieder auf. Sie machte sich nicht lustig über ihn. Im Gegenteil. Finster, noch müder und vergrämter als sonst, sah ihr Gesicht ihn an, und in ihren Augen blitzte es kalt und feindselig.

Er empfand ein ganz neues Gefühl bei ihrem Anblick, etwas wie Furcht, aber auch wie Hoffnung, daß sie ihm mit ihrer Eifersucht, mit ihrem Argwohn helfen möge und ihn schützen vor der anderen. Er versuchte sogar, mit ihr zu scherzen.

»Hat dein Mann denn kein Geld mehr geschickt, daß du so ein betrübtes Gesicht machst?«

»Mein Mann wird in wenigen Tagen hier sein. Er schrieb, daß er eine Woche nach Abgang seines Briefes nach Hause fahren würde. Sein Brief kam gestern an. – Liebe Frau, schreibt er, halte bitte eine Strickweste für mich bereit, denn ich habe mich hier an die Wärme gewöhnt, und hier ist es ja selbst im Winter ziemlich warm. – Das Geld will er selbst mitbringen,« setzte sie traurig hinzu, die Eier in dem Korbe zählend, den sie auf den Tisch gestellt hatte. »Es tut mir leid,« fuhr sie dann fort, neugierig zu ihm aufblickend, »daß ich jetzt nicht mehr herkommen kann. Aber jetzt brauchen Sie mich ja wohl auch nicht mehr. Dort drüben ist jetzt der Mann, der den Kranken betreut, und die Magd kann jetzt jederzeit ins Dorf gehen, um einzukaufen. Da kann sie Ihre Einkäufe ja gleich mit erledigen.

»Ich brauche überhaupt niemand! Du hättest auch heute nicht herzukommen brauchen.«

Ghiana schien sofort zu bereuen, daß sie ihn erzürnt hatte. Langsam nahm sie die Hände vom Korb, legte sie zögernd auf seine Schultern und sah ihm tief in die Augen, ängstlich zitternd, daß er sie von sich stoßen könnte.

»Ja, ich weiß, daß Sie nachts – dort hinüber gehen – daß Sie mit der Dame plaudern. – Der Hund kennt Sie jetzt schon. Ja, selbst mit dem Hund sind Sie befreundet. Und dabei tobten Sie zuerst: Sobald ich hier Nachbarn bekomme, ziehe ich fort!«

»Was geht denn dich das an?« schrie er, sie bei den Handgelenken packend. Sein Zorn gab ihr neuen Mut. »Gewiß, Sie können gehen, wohin Sie wollen – aber Sie hätten es lieber nicht tun sollen. – Es wäre besser gewesen, diese Leute wären überhaupt nicht hergezogen. Ein Wahnsinniger ist kein angenehmer Nachbar – und wenn Sie – wenn Sie das Häuschen wieder verkaufen wollen, so ist das Geld dafür jetzt da. Wenn Sie wollen, kauft die Alte es sogar mit den Möbeln. Ich erzählte ihr schon, wie hübsch es jetzt hier ist, mit dem Schrank dort – und der Tischdecke hier –«

»Wenn die Decke dir so gut gefällt, will ich sie dir gerne schenken. – Da! nimm sie dir, aber laß mich gefälligst in Ruhe! Oder bist du etwa eifersüchtig?«

Er ließ sie los, um die Lampe aufzuheben und die Tischdecke zusammenzurollen; aber er kam nicht dazu, weil sie ihn mit zitternden Händen zurückhielt.

Mit bleichem, trotzig erhobenem Gesicht und flehenden, aber feindseligen Augen schrie auch sie: »Und wenn ich eifersüchtig wäre? Habe ich nicht das Recht dazu? Bin ich vielleicht für Geld hierhergekommen?«

»Was fällt dir eigentlich ein?« rief er zornig.

»Garnichts fällt mir ein. Aber ich gebe zu, ich bin traurig, daß Sie dort hinübergehen. Aber nicht etwa meinetwegen. Für mich selbst verlange ich garnichts. Oder habe ich Sie jemals um etwas gebeten? Sie schenkten mir einmal einen Ring – hier ist er –« sagte sie, ihn aus der Tasche nehmend »– und ich nahm ihn zum Zeichen Ihrer Treue. Da – da haben Sie ihn wieder.«

Sie legte ihn auf den Tisch und fuhr fort:

»Hätten Sie zu mir gesagt: Komm, Ghiana, folge mir als meine Magd, ich wäre Ihnen blindlings, mit geschlossenen Augen gefolgt – bis ans Ende der Welt – und ohne irgend etwas zu verlangen –«

Langsam breitete er die Decke wieder über den Tisch und dachte, daß er sie letzten Endes nur verschenken wollte, weil er hoffte, bald wieder Besuch zu bekommen, weil er seit neulich den heimlichen Wunsch hatte, sein armseliges Häuschen etwas geschmackvoller einzurichten.

»Ghiana,« sagte er mit versöhnlicher Stimme, »steck diesen Ring wieder ein und laß mich in Frieden. Ich weiß, daß du ein gutes Mädchen bist, und bin dir dankbar für alles. Du allein hast mich gepflegt, hast mich täglich besucht, als ich mutterseelenallein hier lag. Du kannst auch fortan jederzeit zu mir kommen, wenn du willst. Ich bin vielleicht mitunter etwas jähzornig und behandle dich schlecht, aber im Grunde habe ich dich doch sehr, sehr gern. Und wenn du ledig gewesen wärst, hätte ich vielleicht sogar – –. Aber du bist es ja nicht. Und du weißt doch ganz genau, daß ich nur hier bin, weil ich in Frieden leben will –«

»Ja, das weiß ich,« murmelte sie mit einem leisen Seufzer, der ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Mit einem flüchtigen Stirnrunzeln sah er sie an, wollte sie aber, falls sie wirklich etwas ahnen sollte, nicht noch in ihrem Verdacht bestärken. Nein, sie konnte seine Vergangenheit unmöglich kennen.

»Also – steck diesen Ring wieder ein und geh jetzt! Mein Gott, was hast du denn nun schon wieder?«

Ihm war, als schluchzte Ghiana leise vor sich hin. Aber sie steckte nur den Ring wieder ein, ohne ihn anzusehen, ganz langsam, mit gesenktem Kopf.

Doch sie ging noch immer nicht.

Da beschlich ihn plötzlich eine leise Angst, wie vor einem drohenden Verhängnis. Ihr Gram war zu tief, um nur auf Eifersucht zu beruhen. Dahinter steckte etwas anderes.

»Nun, was gibt es noch, Ghiana?«

»Ach –« seufzte sie, ohne den Kopf zu heben. »Der Alte hat Verdacht geschöpft. Er will nicht, daß ich noch weiter hierher komme. Die Alte würde es vielleicht erlauben; die ist zufrieden, wenn ich meine Ware gut verkaufe, aber er nicht. Ein Mann sieht eben schärfer als eine Frau.«

»Aber was soll der Alte denn sehen?«

»Daß – daß –« stammelte sie, einen Schritt zurückweichend und demütig vor ihm niedersinkend, als hätte sie Angst, er könnte sie schlagen »– ich – ich glaube, ich werde Mutter.«

Da trat auch er einen Schritt zurück, griff in die Luft und taumelte, als müßte er zu Boden stürzen.

*

Wieder versuchte Christian sich von der Welt abzuschließen, noch mehr als zuvor. Die Eröffnung Ghianas beunruhigte ihn. Er dachte, sie sei vielleicht garnicht wahr; die Bäuerin mache ihn aus Eifersucht oder auch nur aus List für eine Vaterschaft verantwortlich, für die er gar nichts könne. Aber im Grunde seines Gewissens gab er sich keinen Täuschungen hin. Nein, die Nachricht war wahr, und er fragte sich, was er tun sollte.

Ghiana war fortgegangen, ohne noch ein Wort an ihn zu richten, ohne sich wieder sehen zu lassen. All das machte ihn noch unruhiger und bestürzter.

Da fingen die Sorgen des Lebens also wieder an, all die häßlichen und kleinlichen Dinge, die Lügen, deretwegen er geflohen war aus der Gemeinschaft der Menschen. Bis ans Ende der Welt verfolgte ihn das Leben.

Mit banger Unruhe wartete er auf Ghianas Rückkehr. Er wollte sich seiner Verantwortung nicht feig entziehen, aber er wußte nicht, wie sich verhalten, und wünschte, daß die Frau selbst ihm raten sollte. Sie war doch schlau genug, war sicher nicht um einen Rat verlegen. Am meisten aber schmerzte es ihn fühlen zu müssen, wie eine so erhabene Sache, die ihn früher zuweilen leidenschaftlich beschäftigt hatte, ihn jetzt nur beunruhigte, ja sogar bedrückte.

Auch vor der Ankunft des Mannes fürchtete er sich. Weiß Gott, was noch geschehen würde: vielleicht sogar ein großes Unglück. Aber es vergingen drei Tage, es verging eine ganze Woche – und niemand kam. Auch zu seinen Nachbarn ging er jetzt nicht mehr. Der alte Groll gegen die ganze Menschheit übermannte ihn wieder.

Daß ihm sogar die notwendigsten Dinge fehlten, die Ghiana ihm sonst immer gebracht hatte, verstärkte seine Trauer noch; er mußte jetzt öfter ins Dorf gehen und alles selbst einkaufen. Da sah er eines Tages, wie seine Nachbarin ihn vom Fenster ihres Häuschens aus beobachtete, und fortan machte er immer einen Umweg, um nicht an der Wiese vorbeigehen zu müssen. Auch sein Wasser holte er jetzt an einer entlegenen Quelle, nur um sich nicht am Brunnen blicken zu lassen.

Inzwischen war der Herbst wirklich ins Land gezogen mit endlos langen Regentagen. Der Garten war mit moderndem Laub bedeckt, unter dem es von Fröschen wimmelte. Der Sand schimmerte feucht und dunkelbraun, der Wind heulte ums Haus, gewaltige Wolkenungeheuer stürmten ständig auf die Hecke zu: Elephanten, große drohende Vögel, wild dahinjagende Rosse.

Wenn die Dämmerung auf das Land herabsank, schloß er sich in seinem Hause ein, zündete die Petroleumlampe an und las die eine Woche alten Zeitungen. Aber auch durch die gedruckten Seiten ging ein dumpfes Dröhnen, ein Hauch von Tod, ein Schimmer von Blut. Not und Elend walteten in der Welt.

Da ergriff ihn plötzlich ein Gefühl, das er schon jahrelang nicht mehr verspürt hatte: ein wildes Verlangen, laut aufzuschluchzen. Er zergliederte es, deutete es als ein Zeichen von Schwäche, weil er schon mehrere Tage sehr wenig gegessen hatte, und spottete über sich selbst. Tüchtig essen mußt du, Christian, und deinen Körper stählen, dem die Seele nur ein klägliches Werkzeug ist! Aber alles half nichts, das quälende Verlangen, laut aufzuschluchzen, wich nicht aus seinem Herzen. Und dann dachte er an Ghiana, die so demütig war, so unterwürfig und gefügig, und ihm war fast, als liebte er sie doch, vielleicht nur, weil sie bisher noch nicht wiedergekommen war.

Aber weil es in seinem Wesen lag, stets zornig und verbittert zu sein, richtete sein Groll sich gegen seine Nachbarin. Tagelang hatte sie ihn schon nicht mehr gesehen und nahm sich nicht einmal die Mühe, sich nach ihm zu erkundigen. Er konnte krank sein, konnte sterben, kein Mensch kümmerte sich darum.

Wie ein trotziger kleiner Junge hatte er den Wunsch, wirklich krank zu werden und einsam und verlassen zu sterben. Wozu noch weiter leben? Der Versuch, allein zu hausen, war fehlgeschlagen. In den Tiefen seiner Seele fühlte er, daß es ihn wieder nach Menschen verlangte, nach ein wenig Liebe. Noch war er lebendig, und das Alleinsein ist schlimmer als der Tod.

Und wieder begann er auf Ghiana zu warten, fest entschlossen, selbst zu ihr zu gehen, wenn sie nicht wiederkommen sollte. Nur die Angst, daß er dadurch erst recht den Argwohn ihrer Eltern erwecken und ihr schaden könnte, hielt ihn noch zurück.

Da glaubte er eines Abends – es war schon ziemlich spät – zu hören, wie jemand draußen vor der Hecke nach ihm rief. Heulend übertönte der Sturm die fremde Stimme und verwehte sie in der Luft. Und wieder hörte er seinen Namen: Christian! – ganz fern und seltsam: Christian! – als kenne sie ihn nur vom Hörensagen. Christian! – da ruft es zum drittenmal. Ja, es ist wirklich sein Name.

Ein Gefühl von Angst beschlich ihn. Er war nicht abergläubisch, aber diese Stimme hatte keinen menschlichen Klang.

Er dachte an die Eltern der Bäuerin, an ihren Mann, der sicher inzwischen aus Australien zurückgekehrt war.

»Christian!«

Er schämte sich seiner Angst und trat vors Haus.

Gelbe Wolken jagten durch die Nacht, vom warmen Wind dahingetrieben. Die letzten, großen Blätter wirbelten durch die Luft, sich gespenstisch im Kreise drehend wie Fledermäuse.

Die Stimme war inzwischen verstummt. Er ging auf die Hecke zu, auf die Stelle, von der die Rufe vorhin zu kommen schienen, und fragte, wer da sei. Keine Antwort. Aber er hörte ganz deutlich ein Rascheln, das nicht vom Wind herrührte: ein leises Rascheln wie von einem flüchtigen Wild, das im Gebüsch aufsprang und rasch flüchtete.

Und gleich darauf schlug auch das Gebell des Hundes an sein Ohr. Dann erschollen andere Stimmen, aber wie aus weiter Ferne. Zuletzt erkannte er die Stimme Sarinas, die laut rief:

»Georg? Georg? Wo bist du?«

Unheimlich hallte der bange Ruf durch die Nacht.

Er eilte aus seinem Garten – quer über den Weg auf die Wiese zu. – Eine bange Ahnung in seinem Herzen verriet ihm, was geschehen sein mußte, und als er einige schwarze Gestalten – wie Gespenster im Wind – durch das gelbliche Dunkel irren und aufgeregt suchen sah, begann auch er zu suchen und näherte sich wieder seiner Hecke.

Eine der Gestalten hielt eine Laterne in der Hand und leuchtete mit ihr nach allen Seiten, dicht am Zaun entlanglaufend; aber der blasse Schein huschte nur über Brombeersträucher, Büsche und Steine.

»Hallo, Frau Sarina!« rief Christian, um sich bemerkbar zu machen.

Verworrene Rufe kreuzten sich in der Luft, und auch das dürre Laub stob wirbelnd über das Gras der Wiese, als reiße die allgemeine Angst es mit sich fort.

Da rief Sarinas Stimme:

»Mein Mann hat das Haus verlassen. Er ist entflohen. Wir suchen ihn.«

»Der Brunnen! Haben sie schon im Brunnen nachgesehen?«

»Ja –! Dort ist er nicht.«

»Ich hörte vorhin jemand rufen.«

»Rufen? Wieso?«

»Ja – nach mir rufen! Dort hinter der Hecke!«

»Wo denn? Wo?«

Entsetzt, mit aufgeregt im Winde flatterndem Gewand und Haar kam die Frau auf ihn zugeeilt, während die Magd rief:

»Ich glaube, er ist ans Meer gegangen. Ich sah vorhin eine weiße Gestalt den Weg entlang laufen –«

»Und der Hund? Warum machen Sie den Hund nicht von der Kette los?«

»Nein, nein! Er könnte ihn erschrecken!«

»Frank! Der Teufel soll Sie holen! Warum laufen Sie denn nicht ans Meer?« rief die Magd noch einmal, hinter dem Mann mit der Laterne hereilend.

Aber dieser suchte noch immer schweigend den Zaun ab, sorgfältig unter jeden Strauch leuchtend, und statt ans Meer hinabzueilen, wandte er sich auf die Heide zu.

»Ja,« sagte Christian zu der Frau, die sich fast verzweifelt an ihn klammerte, »ich hörte vorhin wirklich, wie jemand meinen Namen rief. Erschrocken eile ich sofort hinaus, frage wer da ist, höre aber nur ein leises Rascheln – einen fliehenden Schritt. – Dort – fast am Ende der Hecke. – Auch ich bin der Meinung, er hat sich im Gebüsch versteckt. Jedenfalls würde ich Ihnen raten, den Hund doch loszumachen.«

Sie gingen zusammen auf das Häuschen zu, um den Hund von der Kette loszumachen. Zitternd beugte die Frau sich über ihn, streichelte seinen Kopf, flüsterte ihm leise etwas ins Ohr. Das Tier flog am ganzen Leibe. Es richtete sich auf, als wollte es sie umarmen, leckte ihre Hand und rannte dann lautlos in der Richtung auf das Meer davon.

Wieder hallte ihre Stimme verzweifelt, wieder liefen sie alle suchend, wie Irrlichter durch die bleiche, ruhelose Nacht.

In kurzen abgerissenen Sätzen erzählte die Frau, wie ihr Mann entflohen sei. Erzählte es Christian, schien es aber auch allen Dingen ringsum zuzuschreien, und je mehr sie sich dem Meere näherten, desto gewaltiger übertönte das Geheul des Sturmes und der Brandung ihre Stimme.

»Er schlummerte ganz friedlich, als ich ihn verließ. Der Wärter, der im gleichen Zimmer schläft, machte gerade sein Bett zurecht. Ach, ich baute so felsenfest auf ihn! Er ist doch ein gesetzter Mann, ist doch schon ziemlich alt, hat Weib und Kind. – Er erschien mir so besorgt, so zuverlässig. – Allerdings fiel mir schon seit mehreren Tagen auf, daß er zuviel in der Küche steckte – bei meinem Mädchen. – Ich lag bereits im Bett – da höre ich plötzlich eine Türe knarren. – Lauschend richte ich mich auf. – Tiefe Stille! – Dann schlägt der Hund an – laut und wütend. – Erschrocken springe ich auf, eile auf den Flur, finde Georgs Bett leer – die Haustür unten offen. – – Und erst auf meine Rufe hin kommt der Wärter herbeigerannt – aus der Küche – wo er bei dem Mädchen steckte – –«

Von Zeit zu Zeit unterbrach sie sich, um wieder laut und bang zu rufen:

»Georg? Georg?«

Der Sturm riß ihr die Worte vom Munde und mit sich fort.

Als sie am Ende des Weges angelangt waren, eilte sie über den feinen, knirschenden Sand auf die graue Brandung zu.

»Weh mir, wenn wir ihn nicht wiederfinden!« schrie sie. »Dann gehe ich ins Wasser!«

Rasch lief Christian ihr nach, um zu verhüten, daß sie Ernst mache. Aber sie eilte mit so verwirrender Schnelligkeit vor ihm her, daß er zu träumen, daß auch er den Verstand zu verlieren glaubte.

Er fühlte, wie der Sand unter seinen Füßen nachgab, wie der Sturm den Gischt der Brandung gegen sein Gesicht peitschte, und ihm war fast, als wate er schon durch die Flut, als folge er durch die gewaltig anstürmenden Wogen der Gestalt der Frau, die dort vor ihm im grauen Dunkel verschwamm.

Da tauchte plötzlich ein schwarzer Wall vor ihnen auf: das Meer.

Und schaurig, wie ein dumpfes Hohngelächter über ihre Angst, über ihr vergebliches Suchen tönte das Gebrüll der Brandung ihnen entgegen. Aber gleich darauf wehte der Sturm einen zuversichtlich klingenden Ruf aus der Ferne herüber:

»Gnädige Frau! Gnädige Frau!«

»Da – der Wärter ruft! Er muß ihn gefunden haben. Auch der Hund hat kehrtgemacht,« sagte sie und eilte davon, so hastig, daß Christian nur noch spürte, wie ihr Kleid ihn streifte.

Freudig kam der Hund ihnen entgegengesprungen, leckte wieder die Hand seiner Herrin und lief dann voraus, auf eine gespenstische Gruppe im Dunkeln zu: den Wärter mit der Laterne, der eine weiße Gestalt neben sich herzog, einen kleinen Mann, der zart und schmächtig aussah, fast wie ein Knabe.

Der Schein der Laterne huschte vor ihnen her, über das dunkle Gras der Wiese.

Im Nu stand die Frau neben den beiden Männern, ergriff den Arm ihres Gatten, streichelte seine Hand und flüsterte ihm etwas ins Ohr, ganz leise, als wende sie sich an einen Schlafwandler, als habe sie Angst, ihn aufzuwecken.

»Warum hast du das getan, Georg? Ach, wenn du wüßtest, welche Angst wir deinetwegen ausgestanden haben!«

Der Mann hatte wirklich etwas von einem Schlafwandler, in seinem weißen Gewand, mit den geschlossenen Augen, dem bleichen, steinernen Gesicht. Nur seine Zähne schlugen unter den schmalen Lippen leise gegeneinander.

Christian trat neben die Frau und bot ihr schweigend seine Hilfe an. Aber sie schob ihn sanft von sich, winkte ihm zu, zurückzubleiben. Da wich er beschämt zurück. Als sie schließlich wieder in dem Häuschen standen und die anderen langsam die Treppe hinaufgingen, blieb er in der Diele stehen und fragte sich, was er tun sollte.

Er machte die Haustüre zu, stellte die Laterne beiseite, die die Magd dem Wärter aus der Hand genommen und auf der untersten Treppenstufe stehen gelassen hatte. Dann faßte er Mut und ging leise, auf den Fußspitzen, auch nach oben, aber nur bis zum Treppenabsatz.

Er kam sich wie ein Eindringling vor, wie ein Neugieriger, der hier auf dem Flur stand und sich in die Angelegenheiten seiner Nachbarn mischte, die ihn doch garnichts angingen.

Durch die offenen Türen fiel sein Blick in die hell erleuchteten Zimmer, mit den zerwühlten Betten und den zu Boden hängenden Daunendecken. Rechts, in dem größten Zimmer, waren die beiden Frauen und der Wärter bemüht, den Kranken wieder ins Bett zu bringen. Vor der Flucht hatte der Unglückliche noch Zeit gehabt, seine Stiefel anzuziehen: ein Zeichen, daß er ziemlich lang allein war. Die Frau zog sie ihm jetzt wieder aus, mühsam ihre Empörung über den Wärter bezwingend. Aber ihre Augen funkelten zornig, und strenge Entschlossenheit prägte sich in ihrem Kinn.

Als der Kranke – gut zugedeckt – wieder im Bett lag, schob sie die Hand unter das Laken, faßte seine Füße an und sagte dann zu der Magd:

»Er ist kalt wie Eis. Wir müssen gleich Wasser aufsetzen und ihm ein paar Wärmflaschen an den Leib legen.«

Eilig ging die Magd nach unten. Als sie an Christian vorbeikam, raunte sie ihm zu:

»Gehen Sie doch bitte zu ihr. Ich habe Angst, sie begeht sonst eine Torheit!«

Er ging bis an die Tür und sah, daß Sarina wirklich erregt im Zimmer hin und herging, um aufzuräumen, und daß sie den Wärter zornig anfunkelte, der in einer kleinen Tasse auf dem Nachtkästchen irgend etwas zurecht machte. Als sie Christian erblickte, schien sie sich plötzlich wieder an seine Gegenwart zu erinnern und atmete erleichtert auf.

»Warum treten Sie denn nicht näher?« sagte sie. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie sogar bitten, einen Augenblick hier zu bleiben. Setzen Sie sich dort auf den Diwan. Und Sie, Frank, kommen mit mir nach unten. Ich habe mit Ihnen zu reden.«

Schweigend gehorchte Christian und sah, wie der Wärter sich rasch umdrehte, mit blassem, finsterem Gesicht, als wollte er etwas entgegnen; aber die Frau stand bereits auf dem Treppenabsatz und winkte ihm zu, ihr zu folgen und still zu sein, damit der Kranke nicht gestört werde. Zunächst zögerte der Mann noch einen Augenblick, dann folgte er ihr, den Kopf schüttelnd und wütend die Augen verdrehend.

Nun sah Christian sich im Zimmer um. Nach all der Aufregung hätte er jetzt am liebsten laut aufgelacht. Wieder mußte er an das seltsame Spiel des Lebens denken. Nicht nur, daß er jetzt ganz allein in dem geheimnisvollen Zimmer sitzt – nein, er soll sogar den Krankenwärter spielen! Übrigens sieht dieses geheimnisvolle Zimmer wie jeder andere Wohnraum aus, mit der weiß gestreiften Silbertapete an den Wänden, dem blauen Schlafdivan, dem mit einer Serviette zugedeckten Nachtkästchen, auf dem eine Reihe Arzneifläschchen stehen, halb gefüllt mit dunklen Flüssigkeiten.

Nur das Fenster ohne Vorhänge bietet einen etwas sonderbaren Anblick, mit den beiden Eisenringen an den Fensterpfosten und der schweren, durch ein Vorlegschloß gesicherten Sperrkette. Man sollte meinen, das sei ein besserer Verschluß als das Gitter einer Kerkerzelle und trotzdem konnte er die Flucht des Kranken nicht verhindern. Ja, ja, das Spiel des Lebens! Aber jetzt liegt der Flüchtling ja wieder dort in seinem Bett, bis zur Stirne zugedeckt und ohne sich zu rühren. Friedlich scheint er zu schlummern, scheint sein nächtliches Abenteuer schon wieder vergessen zu haben.

Christian kann die Blicke nicht von diesem regungslosen Körper lösen, der so zart ist, der sich kaum abzeichnet unter der Decke, und ganz allmählich ergreift ihn das Verlangen, aufzustehen, an des Kranken Bett zu treten, sein Gesicht aufzudecken, ihn zu fragen, ob wirklich er ihn hinter der Hecke gerufen habe und woher er seinen Namen wisse.

Aber da trat die Magd schon wieder ein, und unbeweglich blieb er sitzen.

Die Frau kniete sich neben das Bett, um ihrem Herrn die Wärmflaschen besser unter die Füße und an die Seiten legen zu können. Dann hob sie die Decke ein wenig auf und sah ihn an, vorsichtig, fast zärtlich, wie man ein schlafendes Kind ansieht. Schließlich hüllte sie ihn wieder gut ein und hauchte einen Kuß auf die Bettdecke – auf die Stelle, wo seine Hand lag.

Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie wieder aufstand und zögernd, fast verstört setzte sie sich neben Christian auf das andere Ende des Divans nur eben auf die Ecke.

»Sie schickt ihn fort – –« murmelte sie, sich zu ihm beugend. »Sie ging nur mit ihm nach unten, damit wir nichts hören sollen. Aber ihr Entschluß steht unerschütterlich fest. Ja, so ist sie: gut, aber streng und unversöhnlich, wenn man gegen seine Pflicht verstößt –«

Durch Christians Schweigen ermutigt, rückte sie näher an ihn heran und fuhr in vertraulichem Tone fort:

»Meine Schuld war es bestimmt nicht! Sie gibt selbst zu, daß sie an allem schuld ist, daß sie nicht wachsam genug war. Sie will von heute an selbst hier schlafen, um besser achtgeben zu können auf den gnädigen Herrn.«

Christian blickte sie an und schwieg. Er sah nur ihre plumpen Füße, sah, wie ihre kurzen, dicken Beine sich unter dem Stoff des engen Rockes abzeichneten, wie ihre roten Hände auf dem runden Leibe ruhten, und er wäre am liebsten aufgestanden, fühlte sich aber wie angeschmiedet auf dem Divan.

Vergebens wartete sie, daß er etwas sagen sollte. Dann seufzte sie leise und fuhr wie zu sich selbst fort:

»Ja, sie ist gut, aber unversöhnlich. Sie läßt sich selber nichts zuschulden kommen und verlangt, daß die anderen es ebenso machen. Übrigens ist der gnädige Herr ja heute nicht zum erstenmal entflohen. In den ersten Tagen seiner Krankheit fanden wir ihn einmal im Hause eines Küfers, den Kopf in einen Bottich gezwängt, den er für einen Brunnen gehalten hatte.«

Christian hörte dem Schwatzen der Magd scheinbar nur gezwungen und widerwillig zu.

»Wird dieser Bursche ihrer Dame auch nichts tun? Mich dünkt, ich höre ihn unten schimpfen,« sagte er leise, um ihren Redefluß zu unterbrechen.

»Nein, er wird ihr bestimmt nichts tun. Er ist ein Dummkopf, der ohne weiteres seiner Wege gehen wird. Und das Ende vom Lied wird sein, daß wir wieder allein in dieser gottverlassenen Gegend sitzen. Denn einen anderen Mann wird die gnädige Frau wohl nicht mehr ins Haus nehmen. Aber ich schwöre Ihnen, es war nicht meine Schuld. Der alte Dummkopf kam von selbst in die Küche. Ach ja, die Einsamkeit!« setzte sie mit einem kurzen, leisen Lachen hinzu, das unheimlich durch die Stille flackerte. »Solang' man lebt, will man auch seine Lippen rühren. Und hier werden wir zuguterletzt mit unseren Schatten an der Wand reden. Mir ist das übrigens ganz gleich. Mir tut nur die gnädige Frau leid, die schließlich auch noch den Verstand verlieren wird.«

»Sind Sie schon lange bei den Herrschaften?« fragte er nach langem Schweigen.

Und als die Frau erwiderte: »Fast vierzig Jahre,« blickte er sie ganz überrascht an, weil sie noch so blühend und so rüstig aussah. Sie lächelte geschmeichelt, seinen Blick bereitwillig, fast verliebt erwidernd. »Ja – wirklich! Ich war schon als Kind bei ihnen, um das Milchschwesterchen des Herrn Doktor zu hüten, oder vielmehr – um die Fliegen von seiner Wiege zu verjagen. Ich spreche von ihm,« sagte sie, auf den Kranken deutend, »nicht von dem Vater der gnädigen Frau. Sie waren zwölf Kinder – Gott erhalte sie! – und alle leben noch. Ja, zehn Mädchen und zwei Jungen. Aber die Eltern hatten ihre Freude an ihnen. Mittags mußten sie alle mit am Tisch sitzen, wenn der Vater vom Feld zurückkehrte – er war ein einfacher Bauer wie wir – und wehe, wenn die Frau dann jammerte. Klagen wollte er nicht hören. Auch die Frau war übrigens glücklich und zufrieden. Sonntags ging sie immer zur Kirche mit ihren zehn Töchtern, die schmuck und niedlich aussahen in ihren weißen Kleidchen, als sollten sie eingesegnet werden. Sie dagegen war spindeldürr, wie ausgesogen von dem vielen Kindersegen. Und sie starb auch bald – Gott sei ihrer Seele gnädig! – an einem ähnlichen Leiden wie mein Herr dort. Ja, sie schwätzte den ganzen Tag verworrenes Zeug, als wäre sie hundert Jahre alt. Von den beiden Söhnen studierte der eine, und zwar mein Herr dort. Lange Zeit war er als Bezirksarzt in unserer Gemeinde tätig, aber dann zog es ihn plötzlich mit aller Macht fort. Er hatte sich mit seinem Bruder und seinen Schwägern gezankt und wollte nicht länger mit ihnen zusammen hausen. Als es schließlich fortgehen sollte, sagte er zu mir: Willst du mich begleiten? Und darauf ich: Also – gehen wir! Und so blieb ich stets bei ihm, auch nach seiner Heirat. Aber er war nicht zur Ehe geschaffen, er hätte lieber allein bleiben sollen – in seiner Studierstube, bei seinen Büchern. Statt dessen mußte er, um Geld zu verdienen, oft mitten in der Nacht aufstehen, sogar im Winter, und weit, weit laufen, zu den entlegensten Gehöften und Ställen. Er war kein Freund der Menschen, nein – und trotzdem machte er sich schwere Gewissensbisse, wenn einmal einer starb – aus Angst, er könnte durch seine Schuld gestorben sein. Als er das Fräulein heiratete, war er schon ziemlich alt,« fuhr die Magd fort, als sie sah, daß er ihr jetzt willig zuhörte. »Das Fräulein wohnte mit ihrem Vater in einem kleinen Haus, das die Dorfgemeinde dem Bezirksarzt jeweils zur Verfügung stellte. Dort hausten sie schon viele Jahre, das Häuschen war sozusagen ihr Eigentum geworden, sie hatten es mit ihrem eigenen Hausrat eingerichtet. Da starb der alte Doktor eines Tages, wir kamen ins Dorf, und das Fräulein sollte ausziehen, sollte das Haus, den Garten und das kleine Grundstück daneben räumen, das sie inzwischen dazu erworben hatten. Mein Herr und ich wohnten in der ersten Zeit in zwei bescheidenen, möblierten Zimmerchen, damit das Fräulein sich eine andere Wohnung suchen und ihre Möbel in aller Ruhe fortbringen könnte. Aber sie fand keine. Ach, sie war so verzweifelt! Schließlich wurde sie sogar krank, und mein Herr behandelte und pflegte sie. Ich erinnere mich noch, wie er eines Tages seufzend nach Hause kam und zu mir sagte: Vielleicht ist es am besten, wenn ich sie heirate. Dann vertreibe ich sie wenigstens nicht aus ihrem Heim. Und so nahm er sie zur Frau. Kinder hatte er nicht – gleichsam wie zur Strafe für den Kindersegen seiner Eltern. Aber er war froh, daß er keine hatte,« fuhr sie nach kurzem Schweigen fort, nachdem sowohl Christian als sie eine Weile besorgt gelauscht hatten, obwohl die erregten Stimmen im Erdgeschoß inzwischen verstummt waren. »Er erzählte mir, daß er noch mit Entsetzen an sein Elternhaus zurückdenke, an all die kleinen, schreienden Wesen, von denen fast immer eines krank war. Nein, er liebte keinen Lärm, und in seinem Hause ging es jetzt desto ruhiger zu. Und trotzdem wurde auch er krank und – –«

Christian wandte die ganze Zeit nicht einen Blick von dem Kranken. Ihm war fast, als sei er schon gestorben. Und erzählte nicht auch die Magd wie von einem längst Gestorbenen von ihm? Da verstummte sie plötzlich, rückte von ihm ab und vergrub das Gesicht zwischen den Händen, als wollte sie sich verstecken. Die Tür war aufgegangen: Die Dame des Hauses trat wieder ein, gefolgt von dem Wärter. Der Mann machte ein finsteres, verdrossenes Gesicht, sagte aber kein Wort, sondern suchte schweigend seine Sachen zusammen und warf sie so, wie sie ihm in die Hände kamen, über die Schultern und über den Arm. Manchmal glitt ein Stück zu Boden und er bückte sich, um es wieder aufzuheben, mit einem zornigen Schnauben, das Christian mit neuer Besorgnis erfüllte. Und diese Besorgnis verlor sich auch nicht, als der Mann wieder hinausging und ins Erdgeschoß hinabstieg, stets von der Dame gefolgt und bewacht, die ihm ihren Willen aufzuzwingen schien, wie eine Tierbändigerin, voll unerschütterlicher Ruhe.

»Er geht fort,« tuschelte die Magd.

Da konnte Christian nicht länger an sich halten. Er trat auf den Flur hinaus und beugte sich über das Treppengeländer, bereit Sarina zu verteidigen, wenn es nötig sein sollte.

Draußen brauste der Sturm ums Haus.

In der Diele unten verbreitete die Laterne einen bläulichen Lichtkreis. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, am Rande eines Brunnens zu lehnen und in die Tiefe zu blicken. Die tiefe Stille im Haus steigerte seine Besorgnis bis zur Angst.

Laut, fast erschrocken begann sein Herz zu schlagen. Trotzdem fühlte er, daß all das übertrieben war, daß in Wirklichkeit gar keine Gefahr bestand, weder für die Frau noch für irgend einen anderen. Aber es war, als stände er vor einem großen Geheimnis.

Schließlich sah er Sarina allein wieder heraufkommen, und lautlos zog er sich auf seinen Platz zurück. Aber er wußte nicht, weshalb – er war nicht mehr der alte.

*

»Er will gleich gehen,« sagte sie leise, nachdem sie einen Blick auf den Kranken geworfen hatte, der noch immer regungslos unter der Decke lag. »Selbstverständlich habe ich ihm nur gekündigt, ihn nicht etwa aus dem Hause gejagt. Ich sagte ihm, er könnte ruhig bis morgen hier bleiben, aber er will gleich gehen. Nun um so besser.«

Sie setzte sich auf den Divan, zwischen Christian und die Magd; und als diese Miene machte aufzustehen, hielt sie sie fest und schien sich sogar ängstlich an sie zu klammern, als suche sie einen Halt bei ihr.

»Nein, nein, bleib' sitzen – –«

Und Christian dachte: sie muß sich sehr einsam, sehr hilfsbedürftig fühlen, wenn sie dies tut. Und seine Trauer wurde noch größer.

Schweigend saßen sie eine Weile da und lauschten. Die Tür stand offen. Jetzt hörte man den Mann ganz deutlich in den unteren Zimmern und in der Diele hin und her gehen. Schließlich öffnete er die Haustür und stellte irgend etwas ins Freie.

»Ich könnte ihm ja sagen, er soll in meinem Hause schlafen,« murmelte Christian.

»Nein, nein, bleiben Sie bitte sitzen!« bat Sarina und streckte den Arm aus, um ihn am Aufstehen zu hindern. Er sah sie jetzt am ganzen Leibe vor Erregung beben, und es drängte ihn, diese blasse Hand zu ergreifen, die wie ein Blatt im Winde zitterte.

Dies Zittern tat ihm fast weh; es schwang in seinem Herzen nach.

Ja, sogar sein hartes Herz erschauert vor Mitleid, vor heimlicher Angst. Aber es ist nicht mehr die Angst vor einem Geheimnis, oder doch zum mindesten die Angst vor einem ziemlich durchsichtigen Geheimnis.

*

Plötzlich ließ Sarina die Hand schwer in den Schoß sinken und atmete erleichtert auf.

Der Mann unten war fortgegangen, die Haustür laut ins Schloß werfend.

Und dann sah Christian etwas ganz Seltsames.

Vorsichtig streckte der Kranke den Kopf unter der Bettdecke hervor: einen gedrungenen Kopf, der wie eine Gipsmaske aussah durch das weiße, kurzgeschnittene Haar und das kantige Bauernprofil. Eine Weile lag er ganz ruhig, mit geschlossenen Augen da. Aber dann schlug er sie plötzlich auf – diese großen dunkelblauen, starren Augen, die tief in den Höhlen lagen, fast wie aus Glas. Dann streckte er auch einen Fuß unter der Decke hervor, einen kleinen, weißen Fuß, der mager war wie eine Hand, aber zitternd zur Flucht gestrafft. Und sein ganzer Körper duckte sich zusammen. Er versuchte sich aufzurichten, als habe er geduldig auf diesen Augenblick gewartet, um aufzuspringen, um einen neuen Fluchtversuch zu wagen – jetzt wo der Wärter ihn nicht mehr festhalten konnte.

Mit einem Sprung standen die Frauen neben ihm, nötigten ihn, sich wieder hinzulegen, deckten ihn sorgfältig wieder zu. Und willig gehorchte er. Aber Sarina traute ihm nicht mehr, und während die Magd hinunterging, um heißes Wasser in die Wärmflaschen zu füllen, setzte sie sich neben das Bett, beugte sich über den Kranken und sprach besänftigend auf ihn ein wie auf ein kleines Kind.

Und er schien jetzt wieder ganz sanft, ganz ruhig mit geschlossenen Augen da zu liegen. Aber von seinem Platz aus sah Christian etwas, was ihn noch mehr erschütterte als alles andere, was er heute Abend erlebt: der Kranke versuchte die Hand zu beißen, die ihn zärtlich streichelte. Und es schien, als wollte er dies ganz heimlich tun, als sollten die anderen es nicht bemerken. Er hatte fast etwas von einem Gefangenen, der in stummem, ohnmächtigem Grimm an den Gitterstäben seiner Zelle nagt.

Und dann entdeckte Christian auch noch etwas anderes, etwas viel Schlimmeres. Daß er litt. Der Schmerz, die Unruhe, all die Gefühle, die er bisher nur oberflächlich empfunden hatte, strömten jetzt in die Tiefen seiner Seele hinab, und er litt jetzt wirklich, als wären das Leid und die Verwirrung, die ihn umgaben, auf einmal in ihn selber eingekehrt.

*

Mehr und mehr fühlte er, wie dieses Leid, diese Verwirrung sein Leben wieder erfüllten. Es war, als hätte der Sturm, der in jener Nacht in sein offen gebliebenes Haus eingedrungen war, dort alles verwüstet und zerstört, als sollte es ihm nie mehr gelingen, die alte Ordnung wieder herzustellen.

Er begann seinen Haushalt und seine Tätigkeit wirklich zu vernachlässigen. Morgens lag er lange im Bett, versteckte den Kopf unter dem Kissen, um den schwachen Lichtschimmer vom Fenster her nicht zu sehen, und versuchte so zu vergessen, daß es kalt war draußen, daß er aufstehen und sich nach seinen Nachbarn erkundigen mußte.

Nein, er wollte nicht mehr an diese Leute denken, vor allem nicht an sie. Aber da stand sie schon wieder neben ihm, war in seinem Kämmerchen, an seinem Bett, in seinem Herzen – – –

Hastig stand er auf, lief unbekleidet hin und her, tauchte den Kopf ins eisige Wasser, wie um sich zu betäuben. Schließlich zog er sich an, und ging fort zu seinen Nachbarn. Die Angst, der Kranke könnte wieder entfliehen, beunruhigte ihn noch immer. Aber dieser war inzwischen in eine tiefe Schwermut verfallen und konnte nicht einmal mehr das Bett verlassen.

Damit Sarina nicht allein mit ihm im Hause bleiben sollte, übernahm er es, ins Dorf zu gehen, einzukaufen und den Arzt zu benachrichtigen, daß es dem Kranken schlechter gehe.

Beladen und behangen mit allerlei Paketen und einer Markttasche, mit einer Flasche Milch darin, so kehrt er aus dem Dorf zurück. Ja, wie ein emsiger Diener kommt er dort die Straße entlanggerannt, auf der er schon so manches Mal dahinschritt, viel ruhiger, aber auch viel weniger beschwingt.

Im Grunde ließ er sich nicht einen Augenblick aus den Augen. Er beobachtete sich zu jeder Zeit und Stunde, als wäre der Erdboden ein Spiegel und sein Schatten sein eigenes Spiegelbild. Zuweilen kam er sich albern und lächerlich vor in seiner Geschäftigkeit und Menschenliebe, zuweilen aber auch besser, fast wie geläutert. Sogar seine Sorge um Ghiana hatte er vergessen, und er sehnte ihre Rückkehr jetzt nicht mehr herbei. Jetzt ging ihm ja die Magd der Nachbarsleute bei seiner Arbeit zur Hand oder vielmehr: sie halfen sich gegenseitig.

Während er mit den Einkäufen aus dem Dorf zurückkehrt, schöpft sie unermüdlich Wasser am Brunnen, auch für ihn.

Und sie empfängt ihn mit einem fröhlichen Lächeln, wie ein junges Mädchen, zeigt ihm schon von weitem ihre weißen, schimmernden Zähne unter der roten, von einem dunklen Flaum beschatteten Lippe, aber so, daß ihre Herrin es nicht sieht, die in der Krankenstube am Fenster steht.

Verwirrt schlägt der Mann die Augen nieder. Nicht etwa, weil die Magd ihn anlächelt, sondern weil er sich einbildet, die Herrin dort am Fenster halte nach seiner Rückkehr Ausschau.

Und wirklich eilte sie ihm bis in die Diele entgegen und bat ihn, mit ihr nach oben zu kommen.

»Da – schauen Sie her,« sagte sie, den Kranken aufdeckend, der sich wie gewöhnlich ängstlich unter der Bettdecke versteckte. »Es ist, als sei er plötzlich ein anderer geworden.«

Und der Kranke sah wirklich ganz verändert aus, dick und aufgedunsen, mit einem roten, seltsam aufgeschwemmten Gesicht. Sarina preßte einen Finger auf seine Hand, und in dem weißen Fleisch blieb eine kleine, bläulich schimmernde Vertiefung zurück. Ängstlich nahm sie dann diese schwere, weiche, wie mit Wasser vollgesogene Hand zwischen ihre eigenen Hände.

»Georg! Georg!«

Der Kranke versuchte seine geschwollenen Lider aufzuschlagen. Erschrocken, wie in dumpfer Ergebung in das Schicksal glitten seine blauen Augen auf und wieder zu. Christian erinnerte sich einmal gehört zu haben, daß die Wahnsinnigen kurz vor dem Tod den Verstand wieder erlangen.

Aber er ließ den Gedanken gleich wieder fallen. Der Kranke versuchte noch immer die Hand zu beißen, die zärtlich über sein Gesicht strich, und verworrene Laute kamen über seine Lippen: ein dumpfes, trotziges, fast drohendes Murren. Es war, als bäte er darum, man möge ihn friedlich im Dunkeln sterben lassen, als quälte es ihn, daß die Frau sich über ihn beugte, daß sie ihn so ängstlich ansah, und vor allem daß sie ihn immer wieder wie aus der Tiefe eines Abgrunds rief:

»Georg? Georg?«

Genau so rief sie ihn vielleicht auch früher, in glücklicheren Tagen, um ihn aufzuwecken, um ihn aus dem friedlichen Schlummer zur Arbeit aufzurütteln; oder auch später, in den Tagen des Leides und der Entfremdung, um ihn zurückzurufen aus dem Dunkel, das sich trennend zwischen sie schob.

Schließlich gelang es ihm, die Decke wieder über sich zu ziehen, sich von neuem zu verstecken.

Da richtete sie sich mit tief verzweifelten Augen auf und sah Christian noch immer neben sich stehn. Fragend, als müßte sie sich erst besinnen, wer er sei, blickte sie ihn eine Weile an.

Er war ein lebendiger Mensch, und sie – sie lebte schon so lang mit einem Toten.

Bittend streckte sie auf einmal die Hand nach ihm aus, als flehte sie ihn an, sie zu entführen aus diesem Reich des Todes. Und er zögerte zunächst, als hätte er Angst, sie könnte ihn zu sich hinüberziehen – in das grauenvolle Dunkel. Dann ergriff er ihre Band und drückte sie sanft, wie mit leisem Mißtrauen. Aber in den Tiefen seiner Seele zitterte er vor Freude, weil die Hand der Frau ja ihn aus seinem Reich des Todes entführte. Ja – ins Licht entführte.

*

Noch einmal schien in diesen Tagen die Liebe zu den Menschen in ihm aufzublühen, wie eine späte Rose in einem längst verdorrten Garten.

Er war voller Mißtrauen. Voll Mißtrauen gegen die Frau, aber vor allem gegen sich selbst, und er verbohrte sich von Tag zu Tag mehr in den Gedanken, der Anfechtung zu widerstehen. Aber er fühlte, daß er in dem Kranken nur sie bemitleidete, die so allein war, die so ängstlich zitterte, daß ihr Gatte sterben, und so freudig hoffte, daß er doch noch genesen könnte. Ständig eilte er zwischen seinem Hause und dem weißen Nachbarshäuschen hin und her, und von dort ins Dorf, um Arzneien und Lebensmittel einzukaufen, um den Arzt zu holen, um der Magd zur Hand zu gehen bei ihrer mühseligen Arbeit.

Und die Magd belohnte ihn wenigstens mit einem verheißungsvollen Lächeln, während ihre Herrin sich nach jenem ersten Anflug von Vertrauen wieder in ihren Schmerz vergrub.

Er traf sie jetzt immer in dem dunklen Zimmer, wo sie neben dem Sterbenden saß, starr auf seinen regungslosen, aufgedunsenen Leib blickend und sich hin und wieder über ihn beugend, um ihm etwas ins Ohr zu raunen, aber ganz, ganz leise, als hätte sie Angst, ihn aufzuwecken.

Es war fast, als sei auch ihr Geist leicht umnachtet.

Eines Morgens fragte Christian sie, warum sie nicht wenigstens das Fenster öffne.

»Draußen ist der herrlichste Sonnenschein. Darf ich öffnen?«

»Nein, nein,« sagte sie, ihn an der Hand zurückhaltend. Und er spürte, daß ihre Hand eiskalt, wie abgestorben war. Trotzdem erschauerte sein Blut bei der Berührung.

Es war nicht Liebe, war auch nicht Leidenschaft, sondern etwas viel Tieferes: ein Gefühl von Zärtlichkeit, ein Gefühl, dies arme, hilflose Wesen schüren zu müssen gegen die drohenden Schatten des Wahnsinns und des Todes.

Rasch riß er das Fenster auf und sah im hell hereinflutenden Licht, daß Sarina ganz klein geworden war, fast alt, daß ihr Haar wirr und glanzlos um ein bleiches Gesicht fiel.

Und als sie aufstand und das Fenster wieder zu schließen versuchte, hielt er sie seinerseits zurück.

»Hören Sie, tun Sie lieber etwas anderes. Gehen Sie ins Freie, machen sie einen kleinen Spaziergang. Ich werde inzwischen hier bleiben.«

Sie beugte sich aus dem Fenster und winkte ihn zu sich. »Aber begreifen Sie denn nicht, daß er aufstehn, daß er sich aus dem Fenster stürzen kann?« flüsterte sie mit erregter Stimme.

»Ach – er wird aufstehn! Wo er sich kaum bewegen kann, wo – –« sagte er, wagte seinen Gedanken aber nicht ganz auszusprechen. Ihn dünkte, der Kranke liege schon wie ein Leichnam dort unter der Decke, regungslos, aufgedunsen, mit starrem Gesicht, das er nicht einmal mehr zu verstecken versuchte, das wie eine Totenmaske aussah, über dessen Lidern und Nasenflügel bläuliche Schatten lagerten und auf dessen Wangen der Bart wie graues Moos wuchs.

»Trotzdem versuchte er schon öfter aufzustehn – auch heute nacht,« fuhr sie leise fort. »Er scheint zu schlummern wie ein Toter, aber sobald er sich unbewacht sieht, versucht er aufzustehen und zu fliehen. Und er fühlt alles, hört alles, versteht alles. Erinnern Sie sich noch, daß er neulich Ihren Namen hinter der Hecke rief? Nun also. Er muß gehört haben, wie ich einmal mit dem Mädchen über Sie sprach, und wußte, wer Sie sind. Ich bin überzeugt, er hört und belauscht uns auch jetzt. Es ist nicht wahr, daß der Geist bei diesen Krankheiten erlischt. Er ist wie begraben unter den Trümmern des morschen Leibes, aber er lebt weiter und wacht und sieht vielleicht mehr als unser gesunder Verstand. Ja, wie die Gestorbenen im Jenseits sieht und erwägt er alles in seiner Umnachtung. Und deshalb,« – setzte sie hinzu, ihr Gesicht Christian zuwendend, der sie mit mitleidigen und erstaunten Blicken ansah, aber auch voll Unruhe, mit jenem rätselhaften Furchtgefühl, das besonders die Kranken, von denen sie sprach, erwecken, – »deshalb verließ ich ihn auch nie, duldete nicht, daß man ihn einsperrte! Ach, wenn Sie wüßten, wie grauenhaft diese Sanatorien sind! Sie behandeln die Irren dort wie Besessene, und dabei sind sie doch – ich glaube es fest – der Wahrheit manchmal näher als wir selbst. Warum läßt man sie nicht sterben, wenn sie sterben wollen? Wie oft trug ich mich schon mit dem Gedanken, ihn und mich zu töten!« – flüsterte sie, ihr Gesicht weit aus dem Fenster beugend. »Ja – mich auch zu töten, um mich so den Folgen meiner Tat zu entziehen! Aus keinem anderen Grunde! Denn ich hänge am Leben. Ach, Sie wissen ja nicht, wie sehr ich an ihm hänge! Starren Sie mich nicht so entsetzt an! Halten Sie mich nicht auch für wahnsinnig! Ich bin nur müde – ach, so unsäglich müde – –«

»Sie müssen ein wenig ins Freie gehn,« sagte Christian; und auch er beugte den Kopf weit aus dem Fenster und preßte die Hand gegen die Stirn. »Kommen Sie, Frau Sarina, wir wollen einen kleinen Spaziergang machen. Ins Dorf – oder wenigstens bis ans Meer –«

Sie sagte nicht nein, aber sie verharrte unbeweglich in ihrer gebeugten Haltung. Und dann sah er auf einmal große Tränen auf das Fensterblech tropfen und in der Sonne glitzern. Langsam und schwer rollten sie ihre Finger entlang, als hätten die Perlen von ihren Ringen sich gelöst, und er betrachtete sie verwirrt, als hätte er noch nie einen Menschen weinen gesehen.

»Mut –« flüsterte er. »Alles geht vorüber – –«

Da fühlte er, wie ein Schleier über seine Augen sank. Aber er schämte sich, auch zu weinen wie sie.

*

Schließlich gelang es ihm doch, sie zu bewegen, ein wenig an die Luft zu gehen. Das Fenster wurde geschlossen, die Sperrkette vorgelegt, und die Magd schwor bei ihren toten Eltern, daß sie das Haus in der Abwesenheit ihrer Dame nicht verlassen würde.

Auch der Hund, der etwas Trauriges hatte und gealtert war wie seine Herrin, wurde von der Kette losgemacht. Verdrießlich gähnend, lief er ihr ein gutes Stück weit auf der Straße nach, bis sie sich schließlich über ihn beugte, seinen Kopf zwischen die Hände nahm und leise zu ihm sagte:

»Nein, nein, du mußt da bleiben und die Tür bewachen. Und wenn das Mädchen dir sagt, du sollst Frauchen holen, so holst du mich. Aber nur, wenn sie's dir sagt. Also sei hübsch brav!«

Sie nahm ihn am Halsband und führte ihn zur Tür zurück. Er winselte leise und versuchte ihre Hand zu lecken. Aber sobald sie sich wieder entfernte, um Christian einzuholen, folgte er ihr von neuem, freilich nur zögernd, als wüßte er nicht recht, was seine Pflicht sei: ob er das Haus bewachen solle oder seine Herrin. Doch ein kurzer zorniger Wink, und er machte kehrt und kauerte sich vor die Tür.

*

Auf dem Wege unten holte sie Christian ein. Sie war jetzt auf einmal wieder fast heiter und hatte sanft gerötete Wangen, als hätte die reine Luft des klaren Sonnentages die dunklen Schatten zerstreut, die sie verfolgten.

»Ah,« sagte sie, tief Atem holend, »am liebsten würde ich jetzt wie ein junges Mädchen mit dem Winde um die Wette laufen!«

Aber der Mann schritt ernst und gedankenverloren neben ihr her, und er, der sie doch selbst veranlaßt hatte, fortzugehen, um sie abzulenken von ihren düsteren Gedanken, schien sie jetzt daran erinnern zu wollen.

»Ja,« murmelte er, traurig den gesenkten Kopf schüttelnd, »Sie sind nicht die erste, die sagt, man sollte die Kranken ruhig töten dürfen. Sollte sich befreien von ihnen – ja, die Lebenden befreien von der Bürde der bereits Gestorbenen. Aber wozu? Das Leben verrinnt so schnell, und einmal ereilt der Tod uns alle, macht alle Dinge gleich.«

»Aber weshalb versuchen wir nicht gerade, weil das Leben so rasch verrinnt und keiner dem Tod entgeht, uns vom Leide zu befreien? Mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln!«

»Darüber ließe sich gar vieles sagen, und viele haben es vor uns getan, aber umsonst. Ja – ganz umsonst! Das Leid! Angenommen, ich töte einen Menschen, und sei's auch nur, weil er an einer unheilbaren Krankheit leidet, – werde ich deshalb weniger Schmerz empfinden, weniger Kummer als in den Jahren oder Monaten, in denen ich mit ihm zusammen lebte?«

»Solange man jung ist, zählen ein paar Jahre, ja sogar schon ein paar Monate für eine Ewigkeit. Hat man sie erst einmal verloren, ans Leid vergeudet, so kehren sie nie mehr wieder. Außerdem wollte ich nur andeuten, daß man die unheilbar Erkrankten töten solle, um sie von ihren Qualen zu erlösen. Um nicht nur uns zu befreien, sondern auch sie.«

»Freiheit? Gibt es das überhaupt? Wissen wir denn, ob wir nach dem Tode frei sein werden? Auch im Leben wiegen wir uns in der Hoffnung, einmal zur Freiheit hinzufinden. Wo ist sie denn? Verzweifelt schlägt man um sich und läuft und flieht – und rennt doch immer wieder in das Netz, das alle Menschen umstrickt, sie aneinander fesselt, nur weil sie Menschen sind. Sie töten einen Kranken – und werden sich gleich darauf an einen anderen gebunden fühlen. Wir sind doch alle Kranke, sind alle Gefesselte unseres Ich – –«

»Und trotzdem haben auch Sie –« begann die Frau, wagte aber nicht, fortzufahren. Nein, es war zwecklos, in ihn dringen zu wollen.

Er verstand sie und schwieg.

Schweigend gelangten sie an den Strand. Alles war heute so rein – von einer kalten, fast unerbittlichen Reinheit. Die Erde war wie neu geschaffen – mit dem wolkenlosen Himmel, dem blanken Sand, dem stillen, leuchtenden Meer, das wie versunken war in seiner Schönheit.

Die Frau ging bis an den Rand der Wellen. Wieder schienen schwere Sorgen sie zu bedrücken, aber andere als sonst.

Auf einmal wendete sie sich und ging langsam wieder zurück, bis an den Weg. Vor dem Gatter, das Christian nur angelehnt hatte, blieb sie plötzlich stehen, wartete, bis er sie eingeholt hatte, und fragte dann, ob er nichts mehr von Ghiana gehört hätte.

Er brummte irgend etwas vor sich hin, und sie drang nicht auf eine klarere Antwort. Stumm stand sie vor dem Gatter, die Hand zwischen den welken Blättern, blickte auf das Häuschen und wartete scheinbar, daß er sie auffordern sollte einzutreten.

Und das tat er auch. Warum auch nicht? Ihm war, als ginge eine große Klarheit, eine fast kalte Ruhe von ihr aus, obwohl sie ihm immer mehr Mitleid einflößte, ein immer stärker werdendes Gefühl von Zärtlichkeit. Und als sie dann im Zimmer standen, warf die Frau ihm einen Blick zu, dessen Bedeutung ihr selbst aufzufallen schien. Denn sie gab ihm rasch eine andere Richtung, ließ ihn nachdenklich auf den Dingen ringsum ruhen.

Es war ein Blick voll tiefen Mitleids.

Da sah auch er sich wie ein Fremder in seinem Häuschen um und fühlte, wie einsam und wie kalt es war. Das Zimmer starrte von Unordnung und Schmutz. Große modernde Blätter, die da und dort in den Ecken umherlagen, gemahnten an den Herbst. Der Kater mit dem von Asche bestäubten Fell schlummerte neben dem erloschenen Herd. Als sein Herr eintrat, öffnete er nur ein Auge und schloß es dann gleich wieder.

Auch der Garten draußen, die kahlen Bäume, die schwarze Hecke, die Rosmarinbüsche in den dunklen, moosbedeckten Winkeln, der Himmel, der auf einmal etwas unsäglich Trauriges hatte in seiner schwärzlichen Bläue, – alles erinnerte an eine verwilderte Grabstätte.

Man fühlte sich an das äußerste Ende der Welt verbannt, in eine armselige Hütte, unter heimatlose, ausgestoßene Menschen.

Nicht einmal Sarinas Gegenwart verbreitete einen Hauch von Wärme, und so begann Christian fast unbewußt das Feuer wieder in Brand zu stecken.

Während er sich über den Herd beugte, hörte er ihre Stimme, die ihn irgend etwas fragte, aber wie aus weiter Ferne. Er blickte auf und sah, daß sie in das Kämmerchen nebenan gegangen war. Ihre Stimme klang unsicher, neugierig, fast kindlich.

»Und – und werden Sie auch im Alter noch immer hier so – so hausen?«

Er antwortete nicht gleich, sondern schichtete erst die Holzscheite sorgfältig in den Herd.

»Wie meinen Sie das?« fragte er dann.

»Ich meine, so – einsam, so – wie ein Bauer.«

Er sah, wie die rötliche Flamme gespenstisch nach ihm griff – fast wie eine Hand. Sah, wie die glühenden Finger ihm geheimnisvoll zuwinkten, wie sie seltsame, närrische Worte auf den schwarzen Hintergrund des Herdes malten.

»Dort drüben, Christian, ist die Frau und ruft dich. Aus Mitleid, aus Sehnsucht, aus Neugier oder aus Liebe? Aus all diesen Gründen zugleich, vor allem aber, weil ihr so allein seid in der Einsamkeit. Geh, geh zu ihr! Das Leben selber ruft dich! Nun nicht mehr mit der Stimme einer Bäuerin, einer rauhen Stimme voll Selbstsucht, voll Tierheit – nein, mit der zarten Stimme einer fühlenden Frau, die vielleicht schon morgen frei sein wird. – Geh, geh zu ihr! Auch dir ist es vergönnt, von neuem zu lieben und geliebt zu werden, dir ein neues Heim zu schaffen, wieder ein Mensch zu sein. – Geh, geh zu ihr! Warum zögerst du noch? Du kannst Besseres tun, als hier ein elendes Reisigbündel anzuzünden – du kannst die Glut in deiner Seele zu neuem Brand entfachen. Also geh!«

Aber er ging doch nicht.

Beim Aufstehn sah er, daß die Frau sich auf das kleine Bett gesetzt hatte und in dem Buch blätterte, das er auf dem Tischchen daneben hatte liegen lassen. Und er fühlte plötzlich sein Gesicht und seine Brust erglühen, als sei die Flamme aus dem Herd auf ihn übergesprungen, als dränge sie ihn, zu der Frau zu eilen. Aber er ging wiederum nicht.

Verstört lehnte er am Herd und sah ins Freie, in den kalten Himmel, der ihm jetzt fast weiß erschien. Dann strich er mit der Hand über das Gesicht, wie um die roten Schatten der Versuchung zu verjagen.

»Kommen Sie doch hier herein,« sagte er. »Ans Feuer.«

Sofort sprang sie auf, legte das Buch aus der Hand, kam herüber, trat aber nicht an den Herd.

»Es ist schon spät, ich muß jetzt gehen.«

»Nicht doch! Warten Sie noch einen Augenblick! Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig – auf Ihre Frage. Nun, ich könnte Ihnen antworten, ich bin ja schon alt. Aber das tue ich nicht, weil es im Grunde nicht wahr ist. Und was das übrige betrifft – so werde ich vielleicht zeitlebens hier bleiben, vielleicht über auch eines Tages wieder fortgehen – ich weiß es nicht. Ein Bauer aber werde ich immer sein.«

Darüber mußte sie hell lachen, wie ein Kind. Aber ihre Stimme klang ein wenig spöttisch, als sie ihn leise, fast verwirrt fragte:

»Ach – ich habe Sie wohl gekränkt?«

»Nein, durchaus nicht! Ich bin wirklich ein Bauer. Das wollte ich mit meinen Worten sagen. Ich bin zwar in der Großstadt geboren – in einer jener grauenvollen Mietskasernen, die fein säuberlich numeriert in einer langen Reihe nebeneinander liegen, eine dicht an der anderen, fast wie Gräber auf den Stadtfriedhöfen, wo die braven Bürger, ihrer Gewohnheit treu, auch nach dem Tode hübsch ordentlich nebeneinander ruhen. Und ich will nicht behaupten, daß ich unzufrieden war mit diesem Leben. Nein, es mißfiel mir weder, noch gefiel es mir. Ich nahm es eben hin und sagte mir, die Leute auf dem Lande oder in der Kleinstadt seien in dieser Hinsicht wohl auch nicht besser oder schlechter daran als die in der Großstadt. Alles ging gut, solange ich mit meiner Mutter zusammen lebte – ja, ganz allein mit ihr, in einer Dachwohnung, im vierten Stock. Sie machte alles selbst, und ich ging ihr dabei zur Hand. Und so lernte ich viele Dinge, die mir jetzt zugute kommen. Wir waren sehr glücklich, meine Mutter und ich, waren stets frohen Mutes wie die Vögel auf den Dächern. Später freilich, als ich größer wurde, wollte ich höher hinaus und ließ mich auch nicht halten. Ich heiratete eine reiche Frau, und damit fing mein Unglück an. All diese Menschen, all diese fremden Gesichter um mich her – das war zuviel!

Ich fühlte, ich war nicht mehr mein eigener Herr – nicht etwa, weil ich eine Frau hatte, sondern weil ich so viele Dienstboten hatte. Einen ganzen Stab von Dienstboten. Ich war zu sehr daran gewöhnt, alles selbst zu machen, und das ärgerte meine Frau. Ja, damit fing unsere Entfremdung an. Auch sagte sie mir eines Tages, ich sei ein Bauer. Damals war ich tief gekränkt. Nicht weil das Wort an sich etwas Beleidigendes hat, sondern weil meine Frau es in der Absicht sagte, mich zu beleidigen. Jetzt, in Ihrem Munde, Frau Sarina, gefällt es mir sogar. Ja, ich bin ein Bauer, sofern man unter einem Bauern einen Menschen versteht, der nur ein Fleckchen Erde – eine winzigkleine, eigene Scholle braucht, um glücklich zu sein.«

Flüchtig über seine Betrachtungen hinweggleitend, fast ausweichend fragte die Stimme der Frau:

»Und – wo ist Ihre Frau jetzt?«

»Sie ist tot.«

»Und Ihre Mutter?«

»Meine Mutter? Die lebt noch. Ja,« fuhr er dann fort, im gleichen Tonfall, wie sie flüchtig über ihre letzten Worte hinweggleitend und wieder an das vorige Thema anknüpfend, aber lebhafter und nicht ohne eine feine Spitze gegen sich selbst, »ich bin wirklich ein Bauer. Freilich nur in mancher Hinsicht. Mein Garten dort draußen ist zum Beispiel recht schlecht gepflegt. Aber ich scheue keine Arbeit. Haben Sie noch nie beobachtet, wie gut ich Holz spalten kann? Auch gestern morgen – Sie lagen noch im Bett – habe ich einen hübschen kleinen Berg für Ihre Magd gespalten.«

Das von ihm angeschlagene Thema nachdenklich fortspinnend, erwiderte die Stimme der Frau:

»Ja, ich habe es gehört. Mir war im Halbschlaf, als sei ich noch immer in meinem Elternhaus, als spalte der Großknecht im Hof unten Holz. Ach, wie schön war es doch, morgens noch im Bett zu liegen, noch ein wenig zu schlummern und den vertrauten Klängen ringsum zu lauschen und alle Dinge wie im Traum zu sehen! Alles ist ja schön und herrlich, solange man jung ist, und auch die unbedeutendsten Dinge unserer Kindheit berühren uns wehmütig in der Erinnerung. Warum eigentlich? Ich weiß es nicht. Aber ich muß wirklich jeden Morgen an den hellen Schlag der Axt im Hofe unten denken – ich glaube zu sehen, wie der alte Knecht sich bückt, wie er die schwarzen, graubemoosten Äste vom Boden aufhebt. Ich höre noch die alte Haustür knarren, höre den Eimer gegen die Brunnenwand klirren, höre die Magd Kaffee mahlen. – Ich spreche von meiner frühesten Kindheit, und die Erinnerung an diese Stimmen, an diese wohl vertrauten Klänge erfüllt mich mit einem solchen Jubel, daß mir fast ist, als läge der anbrechende Tag noch hell und freudig vor mir wie in jener Zeit. So glücklich waren diese Tage übrigens gar nicht. Aber sie waren voller Hoffnung, voll glücklicher Träume. Selbstverständlich träumte ich von der großen Stadt. Alle aufgeweckten jungen Mädchen, die auf dem Lande leben, träumen von ihr. Und das tue ich sogar heute noch, weil ich sie ja nicht kenne. Nur ein einziges Mal, als Kind, war ich in einer großen Hafenstadt. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich beim Anblick des sanft gekräuselten Meeres zunächst glaubte, die Bewegung der Wellen rühre von den Fischen her! Nie werde ich diese Stunde vergessen: meine Bestürzung, mein freudiges Erstaunen! Heute lache ich darüber, und trotzdem habe ich das Gefühl, daß etwas Wahres daran war. Die ganze Stadt erschien mir wie in einem verklärten Licht, mit ihren Schieferdächern, die in der Sonne glänzten. Mir war fast, als sei sie gerade erst aus den Fluten aufgetaucht, als sei sie noch bedeckt vom blauen Schaum der Wogen. Aber es war mir nicht vergönnt, in der Stadt zu leben. Mein Vater liebte sein Dorf, das weite Land, seine unglückseligen Kranken. Und so blieb es bei den Träumen. Träume, die niemals in Erfüllung gingen, aber an sich so schön waren, daß mein Herz bei der Erinnerung an sie noch heute freudig schlägt.«

Inzwischen hatte Christian sich ihr zugewandt, um ihr besser zuhören zu können. Er sah, wie sie mit dem Rücken am Tisch lehnte, wie sie das Gesicht dem schmalen Fenster zugekehrt hielt. Das helle, kalte Tageslicht ließ es noch blasser erscheinen als sonst, machte es weicher, fast wie das eines jungen Mädchens.

»Sie sind noch jung, Sie hoffen und träumen noch immer. Deshalb erscheinen die Erinnerungen Ihnen so schön.«

»Ach, sagen Sie das nicht! Ich fühle mich so alt. Auf was sollte ich wohl noch hoffen?«

»Auf alles! Eines Tages werden Sie wieder frei sein, werden Sie von neuem lieben und geliebt werden. Ja, auch Ihnen wird es vergönnt sein, sich wieder ein Heim zu schaffen, wieder Frau zu sein wie früher – ich meine, Sie werden dann Besseres zu tun haben als nur einen kranken Gatten zu betreuen – so – so wie jetzt hellip; Kurzum, Sie werden wieder aufleben, werden die Glut in ihrer Seele zu neuem Brand entfachen.«

Da verstummte er plötzlich und wandte sich wieder dem Feuer zu. Hatte er nicht eben genau die gleichen Worte zu der Frau gesagt, wie die Flamme kurz vorher zu ihm? Und ganz, ganz langsam glitt die Frau nun auf ihn zu, wie ein Falter auf das Licht.

Jetzt steht sie hinter ihm. Er fühlt, wie sie die Hand ausstreckt, wie sie nur auf ein weiteres Wort aus seinem Munde wartet, um zärtlich sein Haar zu streicheln.

Ein einziges Wort nur, und die Einsamkeit ringsum erwacht zu neuem Leben!

Aber er sagt dieses Wort nicht. Einen Augenblick lang flimmerte es rot und schwarz vor seinen Augen, als reiße eine gewaltige Woge ihn mit sich in die Tiefe und schleuderte ihn dann wieder in die Höhe – an den rettenden Strand.

Er drehte sich wieder um, sah den bleichen Himmel und seufzte laut auf.

»Ihr Hund bellt,« sagte er dann.

Und er fühlte, wie Frau Sarina sich starr aufrichtete, wie sie jäh wieder in die Wirklichkeit zurückglitt.

*

Als das Gatter hinter ihr ins Schloß fiel, fühlte er sich fast glücklich und zufrieden.

Nicht etwa, weil er der Versuchung, ins Leben zurückzukehren und sich wieder in den Strudel der Alltagssorgen zu stürzen, widerstanden hatte, sondern weil er sich überzeugt hatte, daß er die Kraft dazu besaß.

Im Grunde gab er sich freilich keiner Täuschung hin. Zurückgewiesen hatte er die Frau ja nur, weil er auch eine zärtliche Freundschaft für sie empfand. Und Freundschaft verhüllt die Liebe wie ein Gewand den nackten Leib.

Deshalb verlor sich seine Zufriedenheit allmählich wieder, das Feuer im Herd verglühte, eine weiße Wolkenwand stieg vor dem schmalen Fenster auf.

Unerschütterlich, in tiefem Schweigen glitten die Stunden wieder durch die Einsamkeit.

»Freude!« flüsterte er vor sich hin. »Wir leugnen, wir verschmähen dich, wie der Fuchs die Traube. Zu oft hast du dich uns versagt, zu oft versuchten wir umsonst nach dir zu haschen! So lernten wir dich mit den Jahren hassen. Und winkst du nun am Wege, so schreiten wir an dir vorbei – nicht etwa, weil wir nicht an dich glauben, sondern weil wir nicht mehr imstande sind, nach dir zu greifen.«

Dann versuchte er, wie alle Tage seiner Arbeit nachzugehen, hob aber immer wieder das Gesicht, um nach der Wolkenwand zu sehen, mit besorgtem Blick, fast wie ein um die Ernte bangender Bauer.

»Du mußt zuhause bleiben, Christian. Und glaube mir, du hättest gut daran getan, auch bisher zuhause zu bleiben.«

Und während er Holz spaltete und sein Mahl kochte, hatte er das Gefühl, die Frau in dem roten Kleid stehe noch immer hinter ihm und spreche mit ihrer sanften, schwebenden Stimme auf ihn ein. Dann setzte auch er sich auf das kleine Bett, auf dem sie vorhin saß, und ergriff das Buch.

Aber da war ihm auf einmal, als fügten sich die gelesenen Sätze nicht zu einem Sinn, als hätten die gedruckten Worte keine Bedeutung mehr für ihn. Er legte das Buch weg, genau so wie sie vorhin, als er sie anrief, und streichelte das warme Fell des Katers, der zu einem Knäuel zusammengerollt nun auf dem Bett lag. Aber auch das Tier war schon so sehr an seine Gleichgültigkeit gewöhnt, daß es sich nicht einmal rührte. So blieb er den ganzen Nachmittag dort sitzen und starrte unverwandt auf die weiße Wolkenwand am Fenster – wie auf ein Leichentuch.

*

Drei Tage harrte er aus, ohne wieder zu dem kleinen weißen Nachbarhaus zu gehen.

Der Entschluß, die Besuche zu beschränken oder gar ganz abzubrechen, war freilich nicht ruhig und bestimmt wie seine sonstigen Entschlüsse. Er murrte:

»Vielleicht ist es viel schlimmer, wenn du nicht hingehst, Christian. Weshalb sollst du denn nicht hingehen? Wärest du wirklich ganz unbefangen, wie du immer wähnst, so würdest du nicht so lange zaudern.« Wie um seine Unruhe zu vermehren, entlud sich wieder ein heftiges Gewitter über dem Land, das zwei Tage anhielt. Es regnete in Strömen, als hätte der Himmel wirklich all seine Schleusen aufgetan. Das Grollen des Donners verstummte nicht einen Augenblick, und in diesem Aufruhr wechselten grelle Blitze mit der tiefsten Finsternis, als wären Tag und Nacht wie vor der Schöpfung wieder unlösbar verbunden zu einer wogenden Flut von Licht und Dunkel. Der Mann erbebte mit den Naturgewalten. Ihn quälten die Erinnerungen an die Vergangenheit, die ungewisse Zukunft, ein Gefühl von zorniger Zerknirschung – er wußte selbst nicht, ob es Bedauern darüber war, daß er die Frau sich hatte entgleiten lassen, oder Reue darüber, daß er nicht noch kühler zu ihr gewesen war. Vor allem aber beunruhigte die Erkenntnis, daß all seine Vorsätze, in der Einsamkeit unterzutauchen, umsonst gewesen waren.

Und diese Einsamkeit bedrückte ihn jetzt. Ihm war fast, als wenn die Dinge ringsum mit ihren geheimnisvollen Augen ihn höhnisch anstarrten. Fremd, fast eisig fühlten sie sich an.

Sie waren ihm nicht mehr zugetan wie früher – all diese kleinen Dinge um ihn her. Und er dachte von neuem daran, die Gegend zu verlassen.

Hatte das Unwetter erst nachgelassen, so würde er sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung machen. Aber das Unwetter ließ nicht nach, und wieder begann er sich um seine Nachbarn zu sorgen. Wer weiß – vielleicht rang der Kranke wieder mit einem Anfall, vielleicht überschwemmte das Wasser das Haus. Und die beiden Frauen waren ganz allein. Aber das sind nur Vorwände, Christian: Entschuldigungen vor dir selbst, der du zurückzukehren wünschst.

Nachts richtete er sich lauschend auf. Er glaubte zu hören, wie die seltsame Stimme des Kranken ihn hinter der Hecke rief, wie die Frau hilfeflehend am Gatter rüttelte.

Er wußte, daß er sich täuschte, und horchte trotzdem bang ins Dunkel. Warum sollte sein Wahn nicht Wirklichkeit sein? Höhnisch lachte er auf, warf sich hin und her in seinem kleinen Bett, während die Gegenstände ringsum im Schein der Blitze aufleuchteten und wieder verschwanden. Nichts war wahr, alles war nur ein Traum!

»Ach Gott, ach Gott,« seufzte er, den Kopf unter dem Kissen vergrabend und fest die Augen schließend, »könnte ich doch wieder glauben und lieben! So kann ich nicht weiter leben, so bin ich wie ein Gewicht auf einer leeren Wage.«

Und im stillen war er froh – wie ein erhabenes Wissen brach es in ihm auf – daß er zurückgefunden hatte zu seinem Gott.

»Laß mich noch einmal lieben! Denn das Leben ist Liebe und ohne Liebe gleichbedeutend mit dem Tod. Es kommt nicht darauf an, daß ich geliebt werde, oder geliebt und dann betrogen. Es kommt nur darauf an, daß ich selber liebe, daß mein Leid nicht mehr so unfruchtbar und ohne Inhalt ist.«

Drei Tage wütete das Unwetter nun schon. Er hatte nicht mehr ein Stückchen Brot und dachte, daß dort drüben wohl erst recht alles fehlen würde, Öffnete er die Türe, so trieb ihn der Regen wieder ins Zimmer zurück, und noch mehr die Angst, daß er wieder zu dem kleinen Haus dort gehen könnte. Aber er fühlte, je länger er zögerte, desto schlimmer war es. Schlimmer oder besser – ganz wie man es nahm. Am dritten Abend tobte das Unwetter noch heftiger als zuvor. Das Brüllen des Donners und das Geheul des Sturmes und der Brandung verschmolzen zu einem dumpfen Brausen, und die Blitze waren ganz fahl, als könnten sie nur mühsam die Finsternis und den Sturm durchdringen.

Christian hoffte, das Unwetter würde wie gewöhnlich am dritten Tage nachlassen, und wirklich trat am vierten hin und wieder eine Ruhepause ein. Aber Sturm und Regen setzten gleich darauf noch wütender wieder ein, als hätten sie nur frische Kraft gesammelt. Eine ganze Woche verstrich so. In den letzten Tagen blies der Wind von allen Seiten und peitschte das Wasser durch die Türe und die Fenster. Auch das Dach tropfte, und Christian mußte überall Gefäße aufstellen, um das Wasser aufzufangen.

»Wenigstens brauche ich jetzt nicht an den Brunnen zu gehen,« verspottete er sich selbst.

Im ganzen Hause war es feucht und naß, das Holz brannte schlecht, die Vorräte gingen zu Ende. Auch er selbst fühlte sich ganz zermürbt, wie angefault von tiefer, verzweifelter Traurigkeit.

Ihm war, als sei er ganz allein über den Wassern, ganz allein auf der im Strudel der Sintflut verschwundenen Welt. Geschieht dir ganz recht, Christian! Das hast du dir doch selbst gewünscht!

*

Nicht einmal den Hund der Nachbarn hörte er bellen. Vielleicht hatten sie das Häuschen auch schon verlassen. Mit dieser bangen Hoffnung machte er sich Mut, warf seinen Regenmantel über und trat vors Haus.

Das Unwetter hatte die Hecke zerrissen und den Weg in einen Bach verwandelt. An seinem Ende, unter den grünlichschwarzen tiefjagenden Wolken erblickte man wie ein Rudel wütend ineinander verbissener Hunde und gelbbrauner Rosse das Meer.

Auf der anderen Seite aber hatte sich der Himmel ein wenig aufgehellt, und über dem schmalen First des weißen Häuschens schwebte eine große graublaue Rauchfahne. Bei ihrem Anblick zitterte Christian vor Freude.

Menschen – lebendige Wesen wohnten also noch dort drüben und unter ihnen weilte die Frau, die die Hoffnung in seinem Herzen wieder geweckt hatte.

Ihm war plötzlich, als sei er wirklich der Sintflut entronnen, als habe Gott seine Bitte erhört. Mit einem frommen Schauer ging er auf das Häuschen zu.

Als er an die Tür klopfte, war er schon ganz durchnäßt vom Regen. Trotzdem schwitzte er und fühlte sein Blut laut pochen, als wäre er durch die glühende Sonne gelaufen.

*

Die Magd öffnete. Dir Gesicht war auffallend bleich und verstört, und sie betrachtete den Mann mit finsteren Blicken:

»Na endlich! Sterben hätten wir hier können, bevor die lieben Nachbarn uns geholfen hätten!«

»Das kann ich schließlich ebenso gut behaupten,« brummte er, den Fuß auf die Schwelle setzend, wagte aber nicht einzutreten. »Ich war krank.«

»Hm, Sie sind wirklich recht mager geworden und sehen fast wie ein Höhlenbär aus – mit all den Stoppeln im Gesicht. Aber weshalb treten Sie nicht ein?«

Zögernd, fast genau so scheu wie bei seinem ersten Besuch, trat er ein, und statt gleich nach oben zu gehen, begab er sich in die Küche und setzte sich in einen Winkel wie ein Knecht.

»Wie geht es den Herrschaften?« fragte er leise.

»Dem Herrn geht es scheinbar etwas besser. Die Geschwulst ist ein wenig zurückgegangen. Aber der Arzt behauptet, er habe eine Nierenentzündung und sei noch nicht außer Gefahr. Wenn die Krankheit sich zum Herzen zieht, kann er doch noch sterben.«

Christian seufzte leise, das dunkle bärtige Gesicht zwischen den feuchten Händen verbergend. Anscheinend hatte er die Worte der Magd ganz überhört; denn er fragte:

»War der Arzt inzwischen wieder da?«

»Freilich. Ich sagte Ihnen doch gerade, daß er da war. Was hätten wir ohne ihn tun sollen? Als er sah, daß wir so allein und so verzweifelt waren, schickte er uns einen Mann mit Lebensmitteln. Aber er riet der Dame selbst, sie solle nicht länger hier in dieser Einöde bleiben, und sobald das Wetter sich gebessert hat, werden wir versuchen umzuziehen. Es ist ja auch wirklich heller Wahnsinn, hier zu wohnen.«

»Wahnsinn – ja, das ist es. Auch ich trage mich mit dem Gedanken, fortzuziehen.«

Dann schwieg er und kümmerte sich auch nicht mehr um die Magd, die lustig weiter plauderte, während sie irgend etwas auf dem Herd zubereitete. Er lauschte nur ängstlich auf einen leisen Schritt im Hause.

Aber es blieb totenstill, und das Rauschen des Regens und des Windes draußen ließ das Schweigen im Hause noch viel tiefer erscheinen.

Sie gingen also fort. Er konnte ruhig hier bleiben. Warum hatte er also das Gegenteil behauptet? Er mußte, er wollte hier bleiben. Ganz langsam würde er wieder zurückgleiten in seine Einsamkeit, würde glauben, er habe nur geträumt. Er sehnte sich nicht einmal danach, sie wiederzusehen. Warum sollte er sie noch einmal einen flüchtigen Augenblick lang sehen, wo sie doch bald für immer fortziehen mußte? Er sehnte sich nur danach, ihr durch irgend etwas seine Ergebung, seine tiefe Verehrung zu beweisen. Sie sollte nicht glauben, er habe sie aus Gleichgültigkeit verschmäht.

Er fragte:

»Kann ich nicht irgend etwas tun? Wenn ihr etwas brauchen solltet, kann ich ja ins Dorf gehen.«

»Brauchen würden wir alles Mögliche. Es fehlen uns gar viele Dinge. Aber wie wollen Sie denn bei diesem Wetter ins Dorf gelangen?«

Er stand auf. Doch die Magd sah ihn spöttisch an.

»Sind Sie auch schon wahnsinnig? Wohin wollen Sie denn gehen? Sind Sie nicht schon naß genug? Hacken Sie lieber, wenn Sie wollen und die Kraft dazu haben, etwas Holz für mich.«

Und sofort trat er unter das kleine Schutzdach vor der Küchentür, ergriff die Axt und beugte sich über einen großen Wurzelstock, den die Magd dorthin geschleppt hatte.

»Mir ist, als sei ich noch immer in meinem Elternhaus, als spalte der Großknecht im Hofe unten Holz – –« sang es in seinen Ohren, und mit beiden Händen ließ er die Axt auf den Wurzelstock herabsausen, in der Hoffnung, sie könnte den Axtschlag vielleicht hören, könnte herunterkommen und ihn bei seiner Arbeit sehen.

Aber sie kam nicht. Vielleicht hörte sie den Schlag der Axt überhaupt nicht, oder sie hörte ihn und kam doch nicht herunter. Er richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirne, während er grübelte, daß es recht töricht sei, so seinen Träumen nachzuhängen. Aber als die Magd ihn bat, zu der Dame hinaufzugehen, ging er mit zitternden Knien nach oben.

*

Die Tür der Krankenstube war geschlossen. Ein grauer Lichtschimmer fiel durch das Glasdach, gegen das der Regen prasselte. Christian getraute sich nicht, anzuklopfen. Scheu wie ein Dieb stand er auf dem Treppenflur. Trotzdem verspürte er eine schmerzliche Freude bei dem Gedanken, daß sie dort hinter jener Türe war, daß er diese nur aufzustoßen brauchte, um sie wiederzusehen. Und statt in seine Einsamkeit zurückzukehren, in die Trostlosigkeit der vergangenen Tage, wäre er lieber zeitlebens hier gestanden, vor der Wand des Zimmers, in dem sie atmete.

Schließlich fühlte sie vielleicht, daß jemand draußen auf dem Flur war, denn sie öffnete die Tür und sah heraus. Auch ihr graute vor der Einsamkeit, aber bei Christians Anblick verdüsterte ihr Gesicht sich noch mehr.

»Ich wollte mich nur von Ihnen verabschieden,« sagte er verlegen, wie ein Bettler seinen Hut in der Hand drehend. »Ich muß fort von hier.«

»Ach, Sie gehen fort? Wohin denn?« fragte sie mit plötzlich erwachender Neugierde. »Auch wir möchten gerne fort von hier. Man hat mir neulich einmal ein ganz neues Landhäuschen empfohlen – am Ende der Eichenallee, im Dorf unten. Ein Wirtshaus soll dicht daneben sein, was ja nur angenehm wäre. Kennen Sie die Gegend vielleicht?«

»Flüchtig,« erwiderte er leise und wagte endlich, sie wieder anzusehen. Sie war noch schmaler, noch trauriger und blasser als neulich, und wieder verwirrte ein Gefühl von tiefer Zärtlichkeit ihn so heftig, daß sie stutzig wurde.

Dann forderte sie ihn auf, einzutreten.

Der Kranke, der noch immer regungslos auf seinem kleinen Bett ruhte, war nicht mehr so aufgedunsen; aber das Weiß seines Haars und seiner Haut spielte ins Gelbliche; und die Art, wie er dalag, starr und schweigend ausgestreckt, mit bläulichen Lidern und Nasenflügeln, erschütterte Christian. Diesmal sah er wirklich wie ein Sterbender aus.

Trotzdem schien die Frau sich noch immer trügerischen Hoffnungen über seinen Zustand hinzugeben.

»Es geht ihm besser. Ja, viel besser. Ich hoffe sogar, daß er in ein paar Tagen aufstehen kann.«

Dann beugte sie sich ganz dicht über sein Gesicht, rief: »Georg! Georg!« – und raunte ihm dann etwas ins Ohr, was Christian nicht verstand. Und nicht einmal der Kranke schien sie zu verstehen; denn er gab kein Lebenszeichen, obwohl sie weiter auf ihn einredete und auf Antwort wartete.

In Wirklichkeit hatte freilich auch sie der Hoffnung auf seine Genesung längst entsagt. Aber sie schien ihn vor dem Entschlummern bewahren zu wollen, versuchte ihn mit ihrem warmen Atem am Leben zu erhalten.

Und eifersüchtige Trauer beschattete das Gesicht des Mannes, der ihr bei ihrem verzweifelten Bemühen zusah.

*

Zwei Tage später besuchte die Magd ihn in seinem Häuschen.

»Warum haben Sie sich inzwischen nicht mehr sehen lassen? Ich dachte schon, Sie seien wieder krank!« sagte sie.

Aber über ihrem Gesicht lag ein Schimmer von Verständnis, während sie ihn halb mitleidig, halb boshaft anzusehen schien. Er würdigte sie nicht einmal einer Antwort und sah wirklich wie ein Kranker aus. Stumm und fröstelnd kauerte er unter dem Rauchfang in der Ecke, während draußen endlich wieder die Sonne strahlte und die Fensterscheiben in allen Farben blitzten.

Auch der Kater war ins Freie gegangen. Unordnung und trostlose Stille lagerten über dem Raum, und der Mann antwortete nicht einmal auf die besorgten Fragen der Magd, die im Zimmer hin- und herging und wie in Gedanken da und dort einen Gegenstand an seinen Platz stellte. Aber er hörte sie und dachte mehr aus Bosheit als aus wirklicher Überzeugung, auch sie sei nur zu ihm gekommen, um ihn in Versuchung zu führen. Im Grunde fühlte er freilich genau, daß er, wenn sie sich wirklich dazu erdreistet hätte, mit einem wilden Schrei aufgesprungen wäre, um sie zur Tür hinauszujagen.

Übrigens schien die Magd nur aus Schwatzsucht so lange zu verweilen.

»Meinem Herrn geht es viel besser, aber er ist noch recht schwach. Jetzt, wo die Geschwulst zurückgegangen ist, sieht man erst, wie dünn er geworden ist. Dünn wie ein Streichholz. Er erinnert mich fast an ein kleines Kind, trotz seinem weißen Haar. Auch sein Geist ist schon viel klarer. Gestern war der Arzt da und fragte ihn, was er sich wünsche. Fortzuziehen! sagte er. Und jetzt ist die gnädige Frau nur noch von dem Wunsch besessen, ihn möglichst schnell fortzubringen. Den ganzen Tag spricht sie davon. Heute will sie sich das Landhäuschen im Dorf ansehen, und dann werden Sie hier wieder ganz allein sein wie ein Einsiedler. Es sei denn, Sie entschlössen sich, auch fortzuziehen und sich ein anderes Heim zu suchen.«

Da drehte er sich plötzlich um und sah, wie sie gedankenverloren mit ihrer Schürze den Tisch abwischte. Aber bei seiner jähen Bewegung wandte auch sie ihm rasch das Gesicht zu und blinzelte mit den Augen.

»Aber schließlich kann ja auch Ghiana wieder herkommen und Ihnen Gesellschaft leisten –«

»Geh jetzt!« schrie er mit wütender Stimme wie früher und kehrte ihr wieder den Rücken zu.

Aber als sie fort war, stand er plötzlich auf, wie neu belebt, trat vor die Tür, blickte in den Himmel und holte tief Atem. Ach, endlich gingen sie also fort! Welche Erlösung, welche Freude! Wie weit, wie geräumig erschien die Welt auf einmal wieder!

Und er schloß die Türe ab und wanderte ins Dorf.

*

Er ging Einkäufe machen, nicht etwa eine andere Wohnung suchen, wie die Magd vielleicht hätte vermuten können. Und der Weg ins Dorf war ihm noch nie so hübsch erschienen.

Wie auf einem Samtband glaubte er am Rand der aufgeweichten, mit zartem, taubeperltem Grase eingesäumten Landstraße in die blaue Ferne hineinzuschreiten. Der warme Sonnenschein, der milde Hauch des schönen Tages durchtränkten die Luft mit milchigem Dunst. Das Dorf lag schmuck und friedlich da wie ein kleines Alpendörfchen. Seine Bewohner waren dem Anschein nach meist fortgezogen. Denn die im Sommer geöffneten kleinen Läden waren fast alle geschlossen. Geschlossen waren auch die Landhäuschen am Meer, und das Gras wuchs lustig auf dem Marktplatz. Nur die alten Fischer waren noch an ihrem Platz in der Sonne, unbeweglich an den Mauern lehnend oder in den schwarzen schmalen Türen stehend, fast wie bunt bemalte Holzfiguren. Auch die alten Matrosen saßen noch, mit dem Rücken zum Meer, auf dem kleinen Hafendamm. Aber auch sie verschwammen mit ihren rotbraunen Gesichtern und blonden, graugesprenkelten Bärten im sonnigen Dunst, genau so wie das Gemäuer der Mole und alle Dinge in der Runde. Christian blieb vor der Tür des Lädchens stehen, in dem er meistens einzukaufen pflegte, sah aber Leute vor dem Ladentisch und ging weiter, auf das andere große Geschäft am Ende der Straße zu. Dieses war zwar leer, bis auf die mit roten Tüchern zugedeckten Heringsfässer und die hell glitzernden Konfektgläser auf dem blankgescheuerten Ladentisch. Trotzdem trat er nicht ein.

Nachdenklich starrte er auf das vergilbte Schild über der Tür, das gelangweilt im Winde hin und her schwankte.

Wohnungen und Sommerhäuschen
zu vermieten oder zu verkaufen!

Wie damals trat die Alte mit dem wächsernen Gesicht aus dem Ladenzimmer auf die Straße, und obwohl inzwischen mehrere Monate vergangen waren, erkannte sie den Mann wieder und erinnerte sich sogar an seinen Wunsch.

»Suchten Sie nicht einmal ein kleines Bauernhaus, in einer möglichst abgelegenen Gegend? Ich wüßte jetzt etwas für Sie. Wollen Sie hingehen und es sich ansehen?«

»Man hat mir neulich einmal von einem Landhäuschen am Ende der Eichenallee erzählt – ein Gasthaus soll dicht daneben sein –«

»Ja, ich weiß. Das ist aber, glaube ich, schon vermietet. Das Haus, das ich meine, liegt noch etwas weiter gegen die Weinberge zu. Wenn Sie es sich ansehen wollen, schicke ich den Jungen mit.«

Forschend sah er sie an. Er hatte das Gefühl, sie wolle sich nur lustig machen über ihn.

»Ich finde schon selbst hin,« sagte er. »Ich weiß, wo es liegt.«

Aber die Alte ließ es sich nicht nehmen, ihm noch ein paar Winke zu geben.

»Also Sie gehen diese Straße dort hinauf, biegen dann rechts ab und gehen geradeaus weiter, die ganze Eichenallee entlang. Ich warte inzwischen hier auf Antwort.«

Und er ging die Straße hinauf, bog dann rechts ab und ging geradeaus weiter, die Eichenallee entlang. Nachdem er lange durch den kühlen, feuchten Schatten geschritten war, fast wie durch ein kleines Wäldchen, gelangte er plötzlich ins Freie, in eine reich bebaute Gegend. Die rötlich schimmernde, unermeßlich weite Landschaft mit den grünen Sträuchern, den leuchtenden Wasserläufen und den vereinzelten Hütten zwischen den Weinstöcken dünkte ihn fast wie ein fremdes, neues Land.

Er glaubte, noch mitten im Herbst zu sein. Auf den grünen Matten weideten Rinder im Schatten mächtiger Eichen, die noch im goldenen Schmuck der Blätter prangten. Ein Eisenbahnzug rollte durch die Gegend, eine lange blaue Rauchfahne zurücklassend, man fühlte den Boden unter seinen Rädern zittern. Erstaunt ließ der Mann seine Blicke auf allen Dingen ruhen. Er hatte fast vergessen, daß es außer der Heide und dem Meer und außer der trostlosen, öden Welt in seinem Innern auch noch andere Landschaften auf der Erde gab. Und das Gasthaus mit den von Wasser und Wein durchtränkten Tischen, mit den vielen Hühnern und Katzen, mit den unter der kahlen Laube herumliegenden Federbüscheln, mit den rauhen Stimmen und dem dröhnenden Gelächter der Fuhrleute, die in der Küche aßen und tranken, dieses Gasthaus erschien ihm unendlich laut und lärmend.

Hinter der Schenke sah man eine kaum ausgespurte Straße und einige noch im Bau befindliche Häuschen. Nur eines war schon fertig: ein kleines, rosarot getünchtes Haus.

Langsam ging er darauf zu, obwohl die Alte ihm eine ganz andere Richtung angegeben hatte, blieb aber plötzlich wieder stehn und drehte sich um, als hätte jemand ihn gerufen. Und wirklich sah er aus dem Schatten der Allee, wie aus einem hoch gewölbten Wandelgang eine dunkel gekleidete Frau, mit einem kurzen Rock und einem dünnen schwarzen Schleier vor den Augen, auftauchen.

Ja, das war sie wirklich. Zwar konnte er ihre Züge in der Ferne nicht deutlich unterscheiden. Aber er erkannte sie am stürmischen Pochen seines Blutes, an einer leisen Stimme in seinem Herzen, die ihm zurief, rasch hinter eine halb fertige Mauer zu flüchten.

Von dort aus sah er, wie sie auf das Gasthaus zuging, eintrat und gleich darauf in Begleitung eines Mannes wieder auftauchte, der seine Hände an einer schmutzigen Schürze abwischte und mit einem Schlüssel auf die neuen Häuschen deutete. Dann sah er, wie sie beide über die Wiese gingen, die Straße entlang, und wie die Gestalt der Frau bald darauf auf die kleine Altane des rosaroten Häuschens trat.

Da kehrte er um und setzte sich an einen Tisch unter der Laube. Er wußte selbst nicht recht, weshalb er eigentlich hier war. Um sie wiederzusehen? Er wußte es nicht. Um sich auch eine andere Wohnung zu suchen? Er wußte es nicht. Und er dachte, er müsse wohl einen ziemlich bestürzten Eindruck machen, weil der junge Bursche, der mit einem Tuch in der Hand aus dem Gasthaus trat, den Tisch abwischte und ihn nach seinen Wünschen fragte, ihn mit argwöhnischen Blicken musterte.

Er bestellte ein Glas Wein, obwohl er gar keinen trank. Dann fragte er den jungen Burschen, ob die Leute in der Schenke dort die Schlüssel zu dem neuen Häuschen hätten und ob sie beauftragt seien, sie demjenigen auszuhändigen, der es zu besichtigen wünsche.

»Ja. Eine Dame ist soeben mit meinem Herrn hingegangen. Da kommen sie schon wieder.«

Und wirklich kamen sie schon wieder zurück. Leichtfüßig eilte die Frau über das Gras, in ihrem kurzen Rock, der fröhlich um die hohen kleinen Stiefel wehte und ihr fast etwas von einem jungen Mädchen gab. Vor der Laube angelangt, erblickte sie Christian, der aufgestanden war, um sie zu begrüßen, und sah ihn halb zerstreut, halb überrascht an, als versuche sie sich vergeblich an ihn zu erinnern. Dann glitt ihr Schatten durch das zarte Schattengitter der kahlen Reben auf ihn zu.

Als sie sich seinem Tisch näherte, wurde Christian rot und blaß. Am liebsten hätte er sich versteckt, obwohl er im stillen jubelte, als er sah, daß seine Absicht ihm geglückt war. Denn jetzt fühlte er deutlich, daß er nur hier war, um sie wiederzusehen.

»Was tun denn Sie hier?« fragte sie, ohne ihm die Hand zu geben.

»Ach – – ich bin ganz zufällig hier. Ich habe einen Spaziergang gemacht. Und Sie haben sich wohl das Haus dort drüben angesehen?«

»Ja.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Ja, es gefällt mir. Ich nehme es,« sagte sie fast schroff. Da konnte er nicht länger an sich halten. Mit zitternden Knien sank er auf seinen Stuhl zurück und sagte zornig:

»Ach, Sie ziehen ja nur fort, um mir weh zu tun, um sich zu rächen an mir. Das ist nicht nett von Ihnen.« Und er sah, wie sie jäh erstarrte, wie sie die Hände auf die Tischplatte preßte, mit bösem Gesicht, das noch düsterer wirkte als das kahle Geäst ringsum. Der Blick, den sie ihm zuwarf, war so verächtlich, daß er das Gesicht senkte und zwischen den Händen verbarg.

Jetzt würde sie wirklich fortgehen und nie mehr wiederkommen. Sie stand stumm und unbeweglich vor ihm, sah hochmütig auf ihn herab, damit er den Blick nicht noch einmal zu ihr erheben und nicht lautlos davoneilen könne wie die Schatten der Zugvögel, die über die Laube und über ihre Hände glitten. Und ihm war auf einmal, als löse das Herz in seiner Brust sich auf in einer Flut von Tränen, die in seiner Kehle brannten, die ihm aus den Augen stürzten. Trotzdem erschauerte er wie in namenloser Freude und war fast traurig, als die Stimme der Frau ihn zurückrief in die Wirklichkeit. »Christian? Was tun Sie denn, Christian?«

Sie rief ihn, sich zärtlich über ihn beugend, rief ihn genau so wie sonst den anderen.

Langsam richtete er den Kopf auf. Aber da sah er, wie der junge Bursche aus der Schenke auf sie zukam, und schwieg.

*

Sie gingen zusammen zurück.

Ein leichter Wind hatte sich plötzlich erhoben, und unter dem langen, dunklen Laubgang der Allee huschten die Schatten und Sonnenlichter unruhig über den Boden. Man hatte fast das Gefühl, über ein Wasser zu schreiten, und so setzte Christian die Füße unwillkürlich immer auf die breitesten Schatten wie auf die Steinblöcke einer Furt.

Schweigend ging die Frau neben ihm her, mit schwebenden, raschen Schritten, so daß sie ihn zuweilen sogar überholte.

Wie zwei Fremde, die den gleichen Weg haben, schritten sie dahin. Er erblickte sie bald dunkel im Schatten, bald leuchtend in der Sonne, und versuchte ihre Gedanken zu erraten. Sicher wartete sie darauf, daß er wieder ein Gespräch anknüpfe. Aber er wollte und konnte nicht sprechen. War es denn überhaupt möglich, das zu sagen, was er fühlte? Nein, wenn sie ihn nicht so verstand, auch durch das tiefste Schweigen hindurch, war es zwecklos, überhaupt den tiefen Zauber zu zerbrechen, der um sie wob.

Als sie schließlich ins Dorf kamen, sagte sie, sie müsse leider noch eine Weile hier bleiben, um das Haus endgültig zu mieten und ein paar Einkäufe zu machen, und verabschiedete sich ziemlich kühl von ihm, fast ein wenig spöttisch, wie ihn dünkte.

Und wieder sah er, wie sie ihm enteilte, mit ihren langen, raschen Schritten. Schimmernd schmiegte das Gras auf dem Dorfplatz sich an ihre kleine Stiefel, ließ sich willig von ihr treten. Die alten Fischer blickten von ihren Netzen auf, und ihre Gesichter schienen freudig aufzuleuchten, als sie vorüberging. Und dann sah Christian, der ihr langsam folgte, wie ihre hohe Gestalt sich zwischen dem hellen Grün des kleinen Hafens verlor.

Wohin ging sie wohl? Schließlich konnte sie ja auch zu irgend einem Manne gehen. Und er bereute auf einmal, daß er sie neulich fast gezwungen hatte, von der Seite des Kranken zu weichen und ein wenig ins Freie zu gehen.

Ihre Worte: »Ich hänge am Leben! Ach, Sie ahnen nicht, wie sehr ich an ihm hänge!« fielen ihm wieder ein. Und auch, wie leicht sie ihren Schmerz vergaß. Aber das mißfiel ihm eigentlich nicht. Im Gegenteil. Gerade das gefiel ihm so an ihr: daß sie das verkörperte Leben war, daß sie sich beugte unter dem Leid, aber auch stets gewillt war, es abzuschütteln und die Freude zu suchen, wo sie sich auch immer bot. Am Rande des Dorfes wartete er auf sie. Aber sie kam nicht. Wohin war sie wohl gegangen? Etwa gar zum Arzt?

Dieser Arzt, ein junger reicher Junggeselle, war viel zu aufmerksam zu ihr, viel zu besorgt; und er besuchte auch viel zu oft den Kranken. Christian fühlte plötzlich etwas wie heimlichen Haß. Er glaubte ihn in seinem Korbwägelchen zu sehen: blond und rotbackig, wie ein Apfel im Korb.

Er war auch ein Mensch voll Leben – dieser Arzt, und ohne törichte Hirngespinste. Ein Mensch von Fleisch und Blut, der die Erde, die Dinge und seine Mitmenschen gründlich schröpfte, um so glücklich zu leben als nur immer möglich. Und Christian fühlte, daß er ihn leidenschaftlich haßte, so wie die Mageren die Wohlgenährten hassen.

Aber die Frau kam nicht wieder.

*

Der Einsame ging langsam weiter. Warum sollte er auf sie warten? Was ging sie ihn denn schließlich an? Leben konnte er auch ohne sie.

Jetzt erschien die Straße ihm ganz anders als am Morgen. Die rötlich strahlenden Sträucher zitterten im Wind, überflutet von den schrägen Strahlen der Abendsonne, die sich gegen das sanft gekräuselte Meer zuneigte. Ein kalter Schauer glitt über das Land, wie über einen nackten, rosig schimmernden Leib, der friert.

Auch er fror ein wenig. Und auch sein Haus dort drüben lag düster zwischen den kahlen Bäumen, fast wie ein erloschenes Feuer zwischen verkohlten Aststümpfen.

Trotzdem hatte er noch nie so stark empfunden wie in dieser Stunde, daß er seine Hütte liebte. Gerade weil sie eine Hütte war: armselig, kalt und traurig. Aber nicht nur deshalb. Nein, der wahre Grund war ein anderer. Er liebte sein Häuschen, weil er alle Dinge des Lebens von neuem zu lieben begann, die schönen und die häßlichen. Ja, alle Dinge auf der Welt, die großen und die kleinen. Kurzum, weil er wieder lieben konnte.

*

Da war ihm plötzlich, als hörte er ihren Schritt hinter sich. Einen leisen Schritt, der trotzdem laut in seinen Ohren dröhnte. Aber er drehte sich nicht um, sondern ging noch schneller. Mochte sie ihn einholen, wenn sie wollte! Aber wollte sie das denn überhaupt? Oder war alles nur ein Trug der eigenen Einbildung?

Jetzt hörte er den Schritt ganz deutlich. Er verfolgte, er begleitete ihn. Lauschend blieb er stehen, und sofort verstummte auch der Schritt, hallte aber noch immer in seinem Innern nach. Der eigene Herzschlag hatte ihn genarrt!

Da setzte er sich an den Rand der Straße, angesichts der roten Sonne, die am blauen Himmel auf ihr Ebenbild zuwanderte, das aus den Tiefen des blauen Meeres aufzutauchen schien. Und während er wieder auf die Frau wartete, begann er leise vor sich hinzusprechen, als säße sie an seiner Seite im warmen Gras.

– »Sarina!« – Endlich wagte er sie bei ihrem Namen zu rufen, der in seinem Munde zerging wie etwas unsäglich Zartes. – »Sarina, mir ist fast, als wären wir einander schon einmal begegnet. Vor langer, langer Zeit – als Kinder – am Ufer des Meeres. – Damals, weißt du, als meine gute Mutter, nachdem sie elf Monate allem entsagt hatte, auf einen Monat mit mir ans Meer fuhr, das mir fast wunderbar erschien, fast wie die Grenze zwischen der wirklichen Welt und einer Welt der Träume. Noch weiter konnte man nicht gehen, man wäre sonst vor Glück gestorben. Dort begegnete ich dir – damals vielleicht, als auch du zum erstenmal das Meer erblicktest und glaubtest, die Wellen rührten von den Fischen her. Und wie im Spiel gelobten wir einander, am Ufer des Meeres entlang zu eilen, du nach der einen, ich nach der anderen Seite – um die ganze Erde herum, bis wir uns wieder begegneten. Und da sitzen wir nun wirklich wieder am Meeresufer, an der Grenze von Wirklichkeit und Traum. Noch weiter können wir nicht gehen, sonst würden wir sterben vor Glück. Ja, da sitzen wir nun wieder, Kinder wie damals, trunken vom Spiel der Liebe.«

Dann ging die Sonne unter, der Wind verwehte, ein kühler Schleier lagerte sich beruhigend über das Land. Sie aber kam noch immer nicht.

Aber gerade weil sie nicht kam, wartete er hartnäckig auf sie. Er wollte ihr vorhalten, daß sie ihren Mann allein gelassen hatte, wollte sie an ihre Pflicht mahnen. Dann begann er plötzlich zu fürchten, ein Unglück sei ihr zugestoßen.

Es war schon fast Abend und ziemlich kalt. Ein Stern schimmerte in der Ferne über den Hügeln. Immer lebhafter, immer heller, als sauge er alles Tageslicht auf.

Genau so schimmerte der Gedanke an sie in seinem Geiste, sog alle anderen Gedanken auf. Aber sie kam nicht. Es war schon fast dunkel, als endlich ein Schritt in der Ferne ertönte; aber je näher er kam, desto leichter wurde er, fast verstohlen, als wollte sie unbemerkt vorbeieilen. Nicht doch, er selbst war von der Straße fortgeglitten, hatte sich flach ins Gras geworfen, damit sie ihn nicht sehen sollte.

Rasch ging sie vorüber, und er blieb noch eine Weile so liegen, mit dem Mund am Boden, dem wirren Haar im Gras; traurig und selig zugleich, als wäre die Erde ihr Leib, das Gras ihr weiches Haar.

*

Dann stand er auf und lief schnell weiter, bis er sie auf der Wiese vor dem Häuschen einholte. Er sagte kein Wort zu ihr, richtete auch keine Frage an sie. Vielleicht auch, weil er jetzt, wo er wieder neben ihr stand, nicht mehr jene heftige Erregung fühlte, jenes Gefühl von Eifersucht und Sehnsucht, das ihn vorhin am Rande der Straße überwältigt hatte. Auch sie schwieg. Rasch schritt sie dahin, um die verlorene Zeit einzuholen und möglichst schnell nach Hause zu kommen. In der Hand hielt sie zwei kleine Pakete und einen Strauß weißer Blumen, der hell durch die Dämmerung leuchtete.

Die Eingangstür war geschlossen. Sie mußten also um das Häuschen herumgehen und durch die Küchentür eintreten. Aber auch diese war geschlossen.

Der Hund schlug an, wie beim Anblick eines Fremden, und er bellte nur noch wütender, als er Christians Stimme hörte.

Sie klopften zweimal, aber die Tür öffnete sich nicht. »Was ist geschehen?« fragte Sarina und starrte Christian erschrocken an, als könne er es ihr sagen. Auch er sah sie an. Schweigend lehnten sie an der Tür, unter dem kleinen Dach, auf dem noch ein letzter, grünlicher Dämmerschein ruhte. Ein geheimnisvolles Gefühl schien sie einander endlich näherzubringen: ein leises Grauen, wie vor einem drohenden Unheil, das zwei fremde Menschen drängt, sich ängstlich zu umklammern. Er näherte sein Gesicht dem ihren, bis er den Duft ihrer samtenen Haut verspürte; und auch sie verspürte den Erd- und Grasgeruch, der noch an ihm haftete. Aber sie kamen nicht dazu, sich zu küssen, weil die Türe plötzlich aufsprang.

Trotzdem sah die Magd sie verständnisinnig an, als hätten sie sich schon geküßt. Halb spöttisch, halb neidisch, mit einem Blick voll Tadel und voll Mitleid. »Wo steckst du eigentlich?« sagte die Herrin ärgerlich. Wer weiß, warum sie so wütend war. Vielleicht, weil die Magd so lange auf sich hatte warten lassen, vielleicht aber auch, weil sie zu schnell gekommen war.

Schweigend trat die Magd ins Haus zurück, umflutet vom Dämmerschein, der ihre Gestalt gegen den düsteren Hintergrund der Küche abhob. »Dem gnädigen Herrn geht es sehr schlecht,« sagte sie dann. »Ich habe ihn nicht einen Augenblick allein gelassen, als Sie fortgegangen waren. Er hat sich nicht mehr gerührt – ich fürchte fast –«

Erschrocken ließ die Herrin die Pakete und die Blumen fallen und eilte nach oben. Der Mann folgte ihr, wagte aber wie beim erstenmal nicht das Zimmer zu betreten. Zögernd blieb er auf dem Treppenflur stehn, im grünlichen Schein des Glasdaches. Und einen kurzen Augenblick lang hatte er das Gefühl, hoch über einem Abgrund zu schweben. Alles war in geheimnisvolle Dämmerung getaucht.

Im Zimmer drinnen rief die Frau, über das kleine Bett gebeugt, mit leiser Stimme:

»Georg? Georg?«

»Georg!« schrie sie dann plötzlich auf und warf sich krampfhaft schluchzend über das Lager, den Kopf auf der Brust des Gatten, als halte er sie an den Haaren fest und zerre sie mit sich hinab in den Abgrund des Todes.

Dann kam die Magd mit den weißen Blumen herauf, die sie vom Boden aufgelesen hatte, und langsam streute sie sie über den Leichnam ihres Herrn.

»Während ich hinunterging und öffnete, ist er gestorben,« flüsterte sie verstört. »Als hätte er nur auf einen Augenblick gewartet, wo er allein war.«

*

Am nächsten Tage tauchte im Morgengrauen ein schwarzgekleideter Mann mit fünf schwarzen Säcken auf. Ganz plötzlich, als hätte die sich allmählich lichtende Nacht ihn hergesandt.

Als er das Sterbezimmer betreten und sich ehrerbietig, aber gleichgültig vor dem Toten und den Lebenden verneigt hatte, öffnete er rasch einen der Säcke. Ein blitzender Gegenstand kam zum Vorschein.

Die Magd wollte ihm helfen, aber der Mann schob sie schweigend mit der Hand beiseite. Dann zog er auf einmal, fast wie einen Degen aus der Scheide, ein langes, goldenes, auf einem kahlen Sockel befestigtes Kruzifix aus dem Sack.

Er stellte es am Fußende des Bettes auf, sorgfältig darauf achtend, daß es genau in der Mitte stand, in einer Linie mit den Füßen und dem Haupt des Toten. Dann nahm er aus den anderen Säcken vier große, goldene Armleuchter und vier dicke, glatte, weiße Wachskerzen, die er auf den Leuchtern befestigte. Eine nach der anderen zündete er sie an, mit dem gleichen Streichholz, das er zuletzt aus dem Fenster warf.

Endlich war dieses nun geöffnet, und an dem Vorlegeschloß, das auf dem betauten Fensterblech lag, klammerte eine Ameise sich fest, als wollte sie in ihrer Einfalt versuchen, es zu packen und fortzuschleppen. Die Luft war kühl und silbrig. Im Zimmer drinnen warfen die vier Kerzenflammen, die wie aus Gold getrieben waren, so schwer und unbeweglich, einen rötlichen Schein an die grauen Wände.

Alles war in kaltes, leuchtendes Schweigen getaucht. Auch der Tote in seinem schwarzen Gewand, mit den glänzenden Stiefeln, dem steif gestärkten Hemd und dem kleinen silbernen Kreuz zwischen den starren Fingern, sah wie eine Marmorstatue aus, der man die viel zu langen Kleider eines Lebenden angezogen hat. Weiße Blumen lagen unbeweglich, wie gemalt auf seinem dunklen Anzug und umkränzten sein bleiches Haupt.

Ihr Duft glitt zum Fenster wie ein fliehender Gedanke, Übrigens kümmerte sich der Tote nicht um all die Dinge, die ihn umhüllten und umgaben. Schweigend ruhte er auf seinem Lager, wie in ernstem Nachdenken, mit geschlossenen Lidern, bläulichen, leicht geblähten Nasenflügeln und schmalem, eingefallenem Mund.

Er regte sich auch nicht, als der schwarz gekleidete Mann, der lautlos, flink, ja fast verstohlen wie ein Dieb im Zimmer hin und her glitt, jetzt ein Metermaß herauszog und rasch, aber peinlich genau, seine Körperlänge maß. Übrigens geschah dies so schnell, das hellgraue Metermaß klappte so geschwind und heimlich auf und wieder zu, daß nicht einmal die Lebenden im Zimmer es bemerkten. Dann hob der Schwarze die Säcke vom Boden auf und schloß sie in einer Schublade ein, die die Magd ihm öffnete, genau so flink und so verstohlen wie er, genau so lautlos und so zielbewußt. Es war fast, als wollte er seine Bewegungen verbergen. Vor wem verbergen? Vor niemand. In Wirklichkeit tat er nur seine Pflicht.

Schließlich verneigte er sich ehrerbietig, aber gleichgültig wie vorhin und ging fort.

Da sprang die Witwe, die in einer Ecke des Diwans lehnte, noch in den gleichen Kleidern wie am Tag zuvor, plötzlich auf und beugte sich über den Toten, zwischen die beiden Armleuchter tretend, die an seinem Lager standen. Ängstlich blickte sie ihn an, wie um auf seinen starren Zügen zu lesen, ob er sich nicht heimlich ärgere über dieses alberne Gepränge, mit dem man sein Ableben umgab. Ja, er runzelte ärgerlich, fast zornig die Brauen. Aber diese zornige Entrüstung, die auf seiner Stirn geschrieben stand, rührte wie aus früheren Tagen her, und sie würde wohl erst mit dieser Stirn verschwinden und zu Staub zerfallen.

Die Witwe berührte seine Finger, die sich wie Eis anfühlten, und ordnete die Blumen auf seiner Brust. Noch blasser und starrer als die Kerzen an ihrer Seite richtete sie sich dann wieder auf und blickte eine Weile unbeweglich auf das Lager, wie in rätselhafter Scheu, als stünde sie am Tor der Ewigkeit. Die Magd nahm sie behutsam beim Arm und führte sie an ihren Platz in der Diwanecke zurück.

In der anderen Ecke lehnte Christian mit müdem, übernächtigtem Gesicht, aber der gute Wille leuchtete aus seinen Augen. Auch er hatte die ganze Nacht bei dem Toten gewacht, nachdem er vorher noch einmal im Dorf gewesen war, um den Arzt zu benachrichtigen und den Leichenwagen zu bestellen.

Er hatte dem Toten auch den Bart gestutzt, hatte beim Ankleiden des Leichnams geholfen. Dann hatte er noch im Mondschein die letzten Blumen in seinem kahlen Garten gepflückt, um ihn damit zu schmücken. Jetzt brauchten sie nur noch auf den Arzt zu warten, der die Sterbeurkunde ausstellen mußte. In erwartungsvollem Schweigen, starr wie die Kerzen an dem Sterbelager, saßen er und die Witwe auf dem gleichen Diwan, ganz von dem Gedanken erfüllt, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen und dem Bewußtsein der eigenen Pflicht zu genügen.

Aber ihre Herzen schlugen rastlos weiter und zuckten von Zeit zu Zeit erschrocken zusammen, wie die Kerzenflammen im Wind.

Da sah Christian plötzlich den Arzt eintreten, diesen von Gesundheit strotzenden, rotwangigen Mann, der einen Hauch von Leben auszuatmen schien. Er sah, wie die Witwe rasch, fast lebhaft auf ihn zueilte, wie ein Falter an der Wand, der beim Anzünden der Lampe aufwacht und auf das Licht zutaumelt.

Der Arzt nahm ihre Hände und streichelte sie. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete ihre Augen, ihre Lippen, ihren Hals mit dem prüfenden Blick des Arztes, der dennoch Christians Eifersucht erregte. Ohne sich von der Stelle zu rühren, sah er, wie die beiden auf den Toten zugingen, wie sie sich über ihn beugten und leise sprachen, wie sie sich schließlich wieder aufrichteten und zwischen den Armleuchtern weiter sprachen. Er wurde ganz einfach beiseitegeschoben, in den Hintergrund gedrängt. Und auch dies erregte seine Eifersucht, als wenn der Tote ihm gehörte. Ja – ihm ganz allein.

Der Arzt befaßte sich nicht nur damit, die Sterbeurkunde auszustellen, sondern machte sich auch sonst noch wichtig: bezüglich der Beerdigung und aller möglichen anderen Dinge. Erleichtert dankte ihm die Witwe, als hätte niemand ihr bisher zur Seite gestanden. Sogar den Toten schien sie zu vergessen, denn sie begleitete den Lebenden bis auf den Treppenflur. Christian, der trotz oder vielleicht sogar infolge seiner Eifersucht aufgestanden war und jetzt langsam auf die Tür zuging, als warte er auf einen Befehl oder als wolle er sich bemerkbar machen, blieb allein bei dem Toten zurück.

Der Arzt war hinausgegangen, ohne ihn überhaupt zu begrüßen. Allerdings hatte er ihn ja auch nicht begrüßt; aber angesichts der Toten gibt es keine Förmlichkeit. Da muß alles seinen stillen, gleichförmigen Lauf nehmen. Trotzdem verspürte er ein wildes Verlangen, an dem Bett zu rütteln, die Leuchter umzustoßen, die Blumen aus seinem Garten herabzureißen. – Ihm war, als packe eine gewaltige Hand seinen Schädel und lasse ihn mit rasender Geschwindigkeit auf dem Hals kreisen. Tausend Dinge wirbelten durch diesen Schädel.

Aber als die Witwe zurückkam, saß er schon wieder auf seinem Platz, noch regungsloser als der Tote.

Über ihrem Gesicht dagegen lag noch ein warmer Hauch von Leben, den der Besuch des anderen auf sie ausgestrahlt hatte. Auch sie setzte sich wieder auf ihren Platz, war aber längst nicht mehr so still wie vorhin. Unruhig glitten ihre Beine und ihre schmalen Füße hin und her, ohne daß sie selbst es merkte. Christian aber starrte in die Sonne, die schon ins Zimmer schien, roch das frische Grün in der Luft, sah wieder die weite, Leben atmende Landschaft von gestern vor sich und dachte:

»Morgen wird sie fortgehen. Sie kann nicht anders, sie muß die Welt durcheilen mit ihren schmalen hohen Beinen – –«

Morgen – ja, morgen würde die Welt von neuem tot und einsam für ihn sein, es sei denn, er entschlösse sich, ihr nachzueilen.

Aber vorerst saßen sie ja noch hier, ohne sich anzusehen, und ließen sich treiben von der Zeit. Bis schließlich ein schwarzer, leuchtender, goldverzierter Wagen vor dem Hause hielt, mit zwei Rappen, die einander so ähnlich sahen, daß sie fast künstlich wirkten, fast wie zwei Holzpferde mit einer dünnen Lackschicht auf dem Rücken und den Weichen, zierlich gedrechselten Füßen und einer buschigen Mähne auf der Stirn. Alle beide hielten den Kopf nach der gleichen Seite geneigt und scharrten hin und wieder mit dem rechten Fuß im Gras der Wiese vor dem Häuschen, während zwei schwarz gekleidete Männer – auch sie sahen sich ähnlich – den Nußbaumsarg abluden und in das Sterbezimmer hinauftrugen.

Christian war ihnen entgegengeeilt und begleitete sie wieder nach oben.

Der leichte, fest gezimmerte Sarg öffnete und schloß sich lautlos wie ein Koffer. Er wurde mitten ins Zimmer gestellt, in den strahlenden Sonnenschein, und sah, als er nun geöffnet wurde, fast wie ein großer Schrein aus, mit dem schönen weißen Atlasfutter und dem weich gepolsterten Boden.

Die Witwe kniete sich neben ihn, um ein kleines Kissen hineinzulegen, das sie immer wieder von einer Seite auf die andere drehte, bis es schließlich die richtige Lage hatte. Dann strich sie mit der Hand über den Boden des Sarges, wie um sich zu überzeugen, daß er nicht hart sei. Nein, er fühlte sich ganz weich an, wie von der Sonne angewärmt. Befriedigt stand sie wieder auf.

Dann hoben Christian, die Magd und sie den Toten auf, ganz behutsam, wie um ihn nicht zu wecken, und betteten ihn in den Sarg.

Und wieder kniete sie sich neben ihn und gab den Füßen, den Kleidern und den Händen des Toten, die schon so steif waren, daß die Finger sich nicht mehr bewegen ließen, die richtige Lage. Dann schmückte sie ihn mit den Blumen, die die Magd Stück für Stück vom Bett nahm und ihr reichte. Und diese Blumen waren mit den Tränen der Magd benetzt.

Die Augen der Witwe aber schimmerten nach wie vor klar und trocken in dem immer bleicher werdenden Gesicht. Erst als der Tote gut gebettet war, streichelte sie zärtlich sein Haar und beugte sich über ihn, um ihn auf die Stirn zu küssen. Eine ganze Weile verharrte sie in dieser Haltung. Es war fast, als hätten der Tote und sie sich noch etwas zu sagen. Schließlich richtete sie sich wieder auf und erbebte wie unter einem krampfhaften Lachen: Sie weinte.

*

Niemand schien freilich auf ihren Schmerz zu achten. Alle waren jetzt nur bemüht, den Sarg zu schließen. Einer von den beiden Männern war nach unten gegangen, tauchte aber gleich darauf wieder auf, mit einem flachen Zinkkästchen, wie die Lötarbeiter es bei sich tragen. Aus ihm nahm er jetzt ein kleines Spirituslämpchen, zündete es an und hielt es wie eine wirkliche Lampe in der Hand. Pfauchend schoß die schräge Stichflamme empor, und mit ihr lötete der Mann den Zinkverschluß rings um den Sarg herum zu. Die vier Kerzen, die noch an dem einsamen Bett brannten, flackerten unruhig hin und her, als weigerten sie sich, noch länger nutzlos dort zu stehen. Inzwischen waren unten zwei schwarze Wagen vorgefahren, und aus einem von ihnen stiegen jetzt drei kleine Mönche in dunkelbraunen Kutten, mit nackten Füßen, die in durchlöcherten Sandalen steckten, und langen Kapuzen, die weit über ihre Schultern herabhingen, fast bis zum Gürtel.

Singend gingen sie in das Sterbezimmer hinauf, wo sie jeder eine Kerze erhielten. Die vierte Kerze nahm die Magd an sich, die noch immer leise schluchzte, aber sorgfältig acht gab, daß kein Wachs auf den Fußboden tropfte.

Singend standen die Mönche um die Bahre herum. Es war fast, als hätten sie diese dumpfe, eintönige Totenklage, die, sanft und ernst, wie eine traurige Mahnung klang, schon in aller Ewigkeit gesungen und müßten sie immer weiter singen. Die sanfte Trauer und die stille Mahnung lagen freilich nur im Klang der Worte und kamen wie von weit, weit her, nicht aus dem Herzen und der gleichgültigen Stimme der Mönche. Es war die Stimme Gottes selbst, die aber nicht zu dem Toten sprach, sondern zu den Lebenden, als wären sie die wahren Toten und sollten wieder auferstehn. Da traten plötzlich auch Christian, den bisher nur das Leid der anderen erschüttert hatte, große Tränen in die Augen. Er weinte jetzt über sich selbst, und ihm dünkte, sein Herz antworte an Stelle des Toten auf den klagenden Gesang.

Dann half er die Bahre aufheben, hinuntertragen und auf den Leichenwagen laden. Ein Kranz aus Palmzweigen und leuchtenden, in ihrer Schönheit fast künstlich wirkenden Rosen wurde darauf gelegt, und die schwarzen Männer strichen fein säuberlich das breite schwarze Band glatt, das auf beiden Seiten herabhing und auf dem in großen goldenen Lettern stand:

»Dem Teuren Toten! Die Witwe!«

Unter dem dichten schwarzen Schleier, der ihr Gesicht verhüllte, starrte Sarina traurig vor sich hin. Sie sagte, sie wolle dem Leichnam zu Fuße folgen. Aber Christian nahm sie am Arm und schob sie in einen von den zwei geschlossenen Wagen, die vor der Türe standen.

In den anderen stiegen die Mönche wieder ein, die zu gleicher Zeit ihre Kerzen ausgeblasen hatten, sie aber noch immer wie Stöcke in der Hand hielten.

Die vierte Kerze flackerte noch in der Hand der Magd, die regungslos zwischen den anderen stand, wie um das düstere Bild zu beleuchten. Sie hoffte, ihrem Herrn das Geleit zum Friedhof geben zu dürfen. Als sie sah, daß ihr dies nicht vergönnt war, löschte auch sie ihre Kerze aus und nahm sie mit ins Haus. Wer weiß – vielleicht konnte sie ihr noch einmal gute Dienste leisten. Aber einer von den schwarzen Männern nahm sie ihr ab, und steckte sie nebst den Leuchtern und dem Kruzifix in die Säcke. Wie zum Troste flüsterte er ihr dann eine Schmeichelei ins Ohr, und sie lächelte ihn unter Tränen an.

Durch das leere Sterbezimmer ging es plötzlich wie ein Aufatmen, wie ein Hauch von Freude und Erlösung. Vom Fenster aus sah die Magd, wie der Leichenzug sich auf der sonnigen Straße in Bewegung setzte, mit dem leuchtenden Totenwagen an der Spitze, der die zwei geschlossenen Wagen gleichsam hinter sich herzuschleppen schien.

Ganz langsam fuhren sie durch die Gegend. So langsam, daß die Witwe in dem geschlossenen Wagen fast den Eindruck hatte, sie blicke durch ein schmales Fenster, vor dessen beschlagener Scheibe die Landschaft wie in zwei lichten Streifen vorüberglitt: dem hellblau schimmernden Streifen des Himmels und dem dunkler getönten des Meeres.

Christian saß neben ihr. Sie berührten sich nicht, sahen sich nicht, sprachen nicht miteinander, fühlten aber beide, daß sie am Anfang einer weiten Reise standen, die sie nach dem Tod ins Leben führen würde.

*

Der Winter breitete seine dichten Wolkenfittiche über die Heide und das Meer.

Die Witwe hatte das Häuschen nicht verlassen, aber jede Beziehung zwischen ihr und Christian war wieder wie abgeschnitten. Die Fenster blieben geschlossen wie zu Lebzeiten des Gestorbenen.

Christian begnügte sich damit, auf dem Wege ins Dorf ab und zu einen Blick auf die zarte graublaue Rauchfahne zu werfen, die über den Dachfirst wehte. Es war das einzige Lebenszeichen in der tiefen Einsamkeit.

Zuweilen klopfte er auch an die Tür, um zu fragen, ob die beiden Frauen irgend etwas aus dem Dorf brauchten. Die Magd öffnete und gab ihm freundlich zur Antwort, sie müsse auch noch ins Dorf gehen, sie könne also, sofern es ihm recht sei, auch seine Besorgungen erledigen. Und sie forderte ihn auf, einzutreten, und erbot sich, ihre Dame herbeizuholen. Aber er lehnte dankend ab und eilte rasch davon. Er ging ins Dorf, und unterwegs fiel ihm auf, daß die Magd sich nie zu einer Zeit dorthin begab, wo sie ihm begegnen konnte. Nur einmal sah er, wie sie nachdenklich und ganz langsam, mit dem dunklen Marktkorb zurückkam. Von ferne erinnerte sie ihn an Ghiana, und er erschrak fast bei dieser Erinnerung, bei der Erkenntnis, daß er die Bäuerin vollkommen vergessen hatte.

Die Magd blieb stehen, um ihn zu begrüßen. Sie deckte den Korb auf, in dem zwischen dem blassen Gelb der Pakete das frische Grün des Gemüses und das helle Rot der Äpfel schimmerten, und nannte ihm den Preis der verschiedenen Lebensmittel. Dann fragte sie ihn, ob er inzwischen bei ihrer Herrin gewesen sei.

Mißtrauisch sah er sie an. Nein, die Frage enthielt keine Bosheit. Im Gegenteil. Eine gewisse Besorgtheit, aufrichtiges Wohlwollen für die Herrin sprach aus dem Gesicht der Magd. Und es fiel Christian auf, daß sie jünger, fast hübsch geworden war.

»Sag' mal, du hast doch nicht etwa einen Liebsten im Dorf?« fragte er sie, ihr vertraulich zublinzelnd.

Und sie errötete, über das ganze Gesicht strahlend. Dann eilte sie davon, sich fröhlich in den Hüften wiegend, genau wie Ghiana.

Ein paar Tage darauf sah Christian in der Ferne einen Mann auf der Landstraße, der ins Dorf zurückkehrte, nachdem er die Magd scheinbar ein Stück weit begleitet hatte. Er glaubte ihn wiederzuerkennen und beschleunigte seinen Schritt. Ja, es war der Lötarbeiter, der den Sarg der Toten unlängst zugeschmolzen hatte.

Gegen Abend sah er, wie die Magd auf sein Häuschen zukam und ihm anscheinend etwas in ihrer Schürze brachte. Aber auch auf seinem Herde prasselte ein helles Feuer und der kleine Kochtopf summte eine wehmütige Weise, an dem Eisenhaken hängend und in der offenen Flamme hin und her schwingend, fast wie ein schwarzer Griffel in einer windbewegten Blüte. Alles ringsum war sauber aufgeräumt.

Ganz behutsam, fast zaghaft öffnete die Frau ihre Schürze, hob einen weißen Teller auf, der einen anderen bedeckte, und unter ihm tauchte auf dem dampfenden Steingut ein fetter, goldbrauner Hühnerschenkel auf.

Christian bedankte sich halb gerührt, halb beschämt, weil er nicht wußte, ob die Magd oder ihre Herrin ihm diese kleine Kostprobe zukommen ließen. Auf jeden Fall war er gerührt und beschämt.

»0, wie lecker!« sagte er. Dann fragte er, ob die Frauen schon zu Abend gegessen hätten.

»Nein, noch nicht. Die gnädige Frau macht gerade eine süße Speise. Sagen Sie – wollen Sie nicht heute abend ein bißchen zu uns kommen?«

Ah – sie machte gerade eine süße Speise? Also war die Magd auf den Gedanken gekommen, ihm diese Kostprobe zu bringen. Sonst hätte ihre Dame wohl auch eine Probe von der Speise mitgeschickt. Aber sicher begrüßte auch sie die kleine Aufmerksamkeit der Magd. Und daß sie selbst eine Süßspeise machte, war ein Zeichen, daß sie sich aufgerafft hatte aus ihrer Schwermut, daß es ihr besser ging.

»Nein, ich werde nicht kommen. Ich bin ja nicht aufgefordert.«

»Ach, sie fordert Sie nur nicht auf, weil sie Angst hat, Sie könnten trotzdem nicht kommen.«

»Hat sie das selbst gesagt?«

»Gesagt hat sie es nicht, aber ich fühle es. Sie ist eben so. Zudem ist sie so traurig, so verzweifelt. – Einmal sagt sie, sie will ihr ganzes Leben hier bleiben, und dann möchte sie wieder am liebsten gleich fortgehen von hier.«

»Und was meinst du dazu?« fragte er boshaft.

Die Frau sah ihn an; aber sie blinzelte ihm jetzt nicht vertraulich zu. Im Gegenteil, sie hatte einen scheuen Blick, fast wie ein junges Mädchen. Sie wollte etwas sagen, wagte es aber nicht.

Unwillkürlich, wie aus angeborenem Ordnungssinn rückte sie da und dort einen Gegenstand zurecht. Schließlich faßte sie Mut und sagte:

»Wenn Sie heute abend – oder ein andermal – zu uns kommen, so sagen Sie der gnädigen Frau bitte nichts.«

»Aber ich weiß doch gar nichts!« rief er fast entrüstet, während er sich über den kleinen Kessel beugte und den Deckel aufhob. Dabei sah die Magd, wie aus der dampfenden Brühe in dem Topf die gelben Pfoten eines Suppenhuhns zum Vorschein kamen.

*

Nach dem einsamen Abendbrot ging er ins Freie, in seinen Garten.

Es war die Nacht vor Ostern: eine laue, stille, wie in weiche, seidig schimmernde Wolken gebettete Märznacht.

Es war eigentlich seine Absicht gewesen, Ostern auch dieses Jahr nicht zu feiern. Aber unwillkürlich regte ein Hauch von Wehmut sich in seinem Herzen und trieb ihn aus seiner Behausung ins Freie, wie ein Tier nach dem tiefen Winterschlaf. Vor allem aber drängte es ihn, draußen umherzustreifen, drängte ihn, etwas zu suchen, was er sich zu verschweigen trachtete, aber im stillen deutlich fühlte.

Mit schweren Schritten stampfte er durch seinen Garten, aber seine Nagelschuhe versanken lautlos in dem feuchten, vom Frühlingsregen aufgeweichten Erdreich. Und wieder blickte er zu den Kronen der Bäume empor, wie damals, als sie noch voller Früchte waren. Tief hingen die Wolken auf sie herab, so tief, daß sie fast auf dem zierlichen Geäst der Zweige zu ruhen schienen, an denen schon die ersten Triebe grünten. Ringsum zeichnete sich die Hecke schwarz gegen den hell schimmernden Hintergrund ab: ein gespenstischer Wall mit vielen Zinnen und Zacken.

Da ergriff ihn plötzlich das ungestüme Verlangen, hinauszutreten aus diesem abgeschiedenen Reich. Er ging vor das Gatter, und als er auf dem Weg stand, warf er einen Blick auf das Meer und schritt dann auf das Nachbarhäuschen zu. Aber er sah Licht hinter dem Fenster des kleinen Salons und glaubte Stimmen im Innern zu hören.

Wer mochte wohl dort drinnen sein? Sein Herz schlug heftig vor Neugierde, vor Eifersucht, vor Schmerz – dem Schmerz, wie ein Ausgestoßener vor diesem Zimmer, vor dem Leben dort zu stehn. Aber vielleicht täuschte er sich auch, vielleicht plauderten nur die Herrin und die Magd dort drinnen.

Er wagte nicht, noch näher an das Fenster zu treten, sondern ging um das Häuschen herum. Der Hund schlug an, und unter dem Schutzdach vor der Küchentür erblickte er zwei Gestalten, die leise miteinander sprachen, sich eng umschlungen haltend.

Beim Klang seiner Schritte fuhren sie auseinander. Aber er kehrte gleich wieder um, verfolgt von dem Gebell des Hundes. Dieses heisere, abgehackte, wütende Gebell prallte gegen seine Schultern, gegen seinen Kopf. Es war wie ein Steinhagel, der ihn verjagte, der ihn mit Schlimmerem bedrohte, wenn er nicht schleunigst entfloh, und ihn zugleich zornig und traurig stimmte.

Und wirklich eilte er davon und machte erst wieder Halt, als die Brandung, die brausend gegen den Sand, gegen die Spitze seines Fußes schlug, ihm ein Ziel setzte.

Keuchend stand er vor dem aufgewühlten Meer, wie vor einem Spiegel, aus dem seine Seele ihn anblickte, so wie sie in dieser Stunde war, voller Aufruhr, roll dunkler Leidenschaft.

Wie fern dünkten ihm jetzt die stillen Sommertage, an denen das Meer leuchtend und tot vor seinen Blicken dalag – ein Spiegel seiner inneren Ruhe! Und er war zunächst fast zornig, als er merkte, daß er dieser Ruhe gar nicht nachtrauerte, daß die Erinnerung an diese Tage eher ein Gefühl von Selbstbedauern in ihm auslöste. Dann aber verspürte er eine gewaltige, wie von Furcht und Freude durchzitterte Erregung: die Gewißheit, daß er wirklich liebte, daß seine Liebe der Eifersucht, dem Zweifel, der bangen Sorge trotzte.

»Ja, es ist wahr: ich liebe sie wirklich!« rief er mit lauter Stimme und senkte den Kopf.

Und er beschloß, zu der Frau zu gehen und sich ihr anzuvertrauen. Dieser Entschluß genügte schon, um ihn froh zu stimmen, um ihn mit einem frommen Schauer von Glück zu erfüllen, so daß er sich unwillkürlich bückte, die Hand in die Flut tauchte und sich bekreuzte.

*

Er machte kehrt, aber ihm war, als schreite er jetzt durch eine ganz andere Gegend als vorhin.

Ein warmer, silbergrauer Nebel, der sich plötzlich vom Boden erhoben hatte, hüllte ihn ein. Es schien fast, als hätten die Wolken sich inzwischen bis auf die Erde herabgesenkt.

Er sah nicht einmal mehr sein Haus, er fühlte nur seine Hecke, an der er sich durch den Nebel entlang tastete.

Dann glaubte er auf einmal am Rande eines Sees zu stehen. Am anderen Ufer schimmerte ein Licht – Sarinas Fenster.

Und während er über die Wiese schritt, entsann er sich mancher Abende aus seiner Kindheit, in der großen Stadt, wie er im Nebel durch die leeren Vorstadtstraßen ging, und die Laternen wie seltsame Gestirne auf ihn zuzuwandern schienen, und alles so schön und märchenhaft war – ja, von einer traumhaften Schönheit, die wie aus seinem Innern kam. Auch damals schritt er auf das Leben zu – genau wie heute. Ja, auch heute fühlte er sich jung und reinen Herzens – genau wie damals.

Wieder ging er um das Haus herum, auf die Küchentüre zu. Die dunklen Gestalten waren verschwunden, der Hund schwieg und bellte nicht einmal mehr, als er auf ihn zuging. Er fühlte, daß der Mann nunmehr als Freund kam, mit aufrichtigem Herzen.

Erst das argwöhnische Gesicht der Magd, die ihm öffnete, beunruhigte Christian wieder.

»Ist die gnädige Frau allein?«

»Wer soll denn bei ihr sein?«

»Nun, dann wird sie mich ja wohl empfangen.«

»Wer weiß? Jetzt – zu so später Stunde –«

»Aber du hast mich doch selbst gebeten, herzukommen. Geh und sag ihr, ich sei hier.«

Er wartete eine Weile in der warmen Küche, neben dem brennenden Herd. Es sah recht unordentlich in ihr aus, aber es war eine fröhliche Unordnung, wie sie zu den Festtagen gehört, an denen ein jeder nur ans Feiern denkt.

Am liebsten hätte er sich neben das Feuer gesetzt und sich hier mit Sarina ausgesprochen. Aber er mußte in den Salon gehen.

Und der ungeheizte Salon war wie immer hell und kalt, als scheine der Mond in ihn. Sarina saß neben dem Tisch und las, und die Hand, die sie ihm reichte, fühlte sich ganz warm an.

Sie brauchte kein geheiztes Zimmer, sie war ja noch jung – so jung.

»Vorhin,« sagte er in steifer Haltung vor ihr stehend, »war ich schon einmal an Ihrer Tür und hätte Ihnen gerne guten Abend gesagt. Aber ich trat nicht ein, weil ich Stimmen hörte und glaubte, Sie wären nicht allein.«

»Ach, das war ich selbst. Ich las mit lauter Stimme. Setzen Sie sich doch bitte.«

Er nahm in einiger Entfernung von ihr Platz.

»Das ist eine Gewohnheit, die ich schon in meiner Jugend hatte. Wenn ich allein zuhause war, an den langen Winterabenden – oder auch an den Sommerabenden, die noch viel länger sind, las ich meistens. Vor allem Theaterstücke. Meine Stimme erschien mir wie die der einzelnen Personen und leistete mir Gesellschaft. Außerdem träumte ich natürlich auch davon, einmal eine berühmte Schauspielerin zu werden.«

»Das ist der Traum aller jungen Mädchen, die nichts zu tun haben,« sagte er verdrossen. Dann fürchtete er plötzlich, sie gekränkt zu haben, und fragte sie, was für ein Buch sie gerade lese.

»Lesen Sie mir doch die eine oder andere Seite daraus vor.«

Sie betrachtete den Deckel des Buches, als wüßte sie seinen Titel noch nicht, klappte es dann zu und legte es auf ein Fach unter dem kleinen Tisch.

Als sie den Kopf wieder aufrichtete, erstrahlten ihre Augen in einem geheimnisvollen, spöttischen und leidenschaftlichen Glanz und suchten die seinen.

»Ich lese genug, wenn ich nichts zu tun habe – ich meine, wenn ich allein bin – jetzt –«

Er wich diesem Blick nun nicht mehr aus, der bis in seine Seele drang und sie mit einer Flut von Licht erfüllte. Schweigend sahen sie sich in die Augen – wie lange, wußte er selbst nicht. Er wußte überhaupt nichts mehr. Ihm war nur, als stehe er wieder am Ufer des Meeres und habe jetzt die Kraft, weiter zu geben, dahinzuschreiten über die Wasser und die Wolken, sich zu verlieren in der Unendlichkeit.

»Sarina,« sagte er verwirrt, »sagen Sie mir, daß ich nicht nur träume.«

Wie zur Antwort rückte sie ihren Stuhl neben den seinen und reichte ihm die Hand, und schon bei dieser zarten Berührung durchströmte ihn und sie ein heißer Schauer.

»Ich danke Ihnen,« flüsterte er, »Sie geben mir neue Lebenskraft. Denn ich war tot – ja noch mehr als tot. – Und jetzt sitze ich hier – gehöre Ihnen ganz allein. Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Aber sagen Sie mir gleich, Sarina, was Sie vorhaben mit mir. Ich werde in jedem Falle glücklich sein, wenn Sie es nur auch sind und mich wirklich lieben.«

»Wenn ich Sie nicht liebte, wäre ich längst schon nicht mehr hier,« sagte sie leise und sah sich ängstlich um, als könnte irgend jemand sie hören. Er küßte ihre Hand, voll Dankbarkeit, aber auch schon mit der leisen Angst, er könne sie vielleicht wieder verlieren.

»Sie sind so gut,« flüsterte sie, gerührt durch seine Demut.

»Nein, nein, das bin ich nicht. Wenigstens nicht zu den anderen. Gut war ich wohl einmal, aber –«

Nachdenklich, durch ein Gefühl fast kindlicher Neugier zu ihm hingezogen, hörte die Frau ihm zu.

Er preßte ihre Hände an sein Gesicht, und einen Augenblick lang schien es fast, als wolle er ihr sein Geheimnis enthüllen. Dann fuhr er fort:

»Nein, gut sind Sie. Nur eine so reine Güte wie die Ihre konnte so schwere Opfer bringen, wie Sie sie brachten. Und deshalb liebte ich Sie auch von der ersten Stunde an. Erinnern Sie sich noch an sie? Es war am Brunnen unten – Sie erzählten mir gleich von Ihrem kranken Manne, und ich erriet, wie traurig Ihr ganzes Leben war – ein einziges, schweres Opfer. – Und lächeln Sie nicht über mich, Sarina, wenn ich Ihnen sage, daß dies meine erste Liebe ist. – Ja, das ist sie. – Und das ist das Erhabene, das mich fast bange macht – bange um mein Glück. – Denn ich glaubte, es sei mir nicht vergönnt, zu lieben, geliebt zu werden. Ich glaubte nicht mehr an die Liebe, glaubte nicht mehr an die Menschen. Ich lebte nur meinem Groll und meinem Haß. – Da kamen Sie, und das Leben wandelte sich unter meinen Augen –«

Aber schon der flüchtige Hinweis auf die traurige Vergangenheit warf einen Schatten in ihre Seele, und Christian, der sie mit fiebernden Augen ansah, fühlte es und verstummte.

Ganz allmählich entzog sie ihm ihre Hände, ganz allmählich trat das Gefühl eines Geheimnisses wieder zwischen sie. Eines Geheimnisses, das schließlich sogar die Kraft der Sinne überwog. Und sie versuchte es zu deuten.

»Morgen früh werde ich zu Ihnen kommen, und dann wird uns das Reden leichter werden – hier – hier ist es unmöglich, von Liebe und von Glück zu reden. Mir ist fast, als läge er noch immer dort oben in seiner Stube und litte. Auch er glaubte nicht mehr an die Liebe und die Menschen, das war sein schlimmstes Leiden. Und er hat soviel Dunkel um mich her zurückgelassen, daß es mir noch immer nicht gelingen will, mich selbst wiederzufinden. Denn Sie wissen noch lange nicht alles, Christian. Er lebte in dem Glauben, daß ich ihn haßte. Mehr als einmal versuchte er mich zu töten – –«

Christian erbleichte. Er senkte den Kopf, und Sarina sah, daß er die Augen schloß, um nicht in Tränen auszubrechen. Da tat es ihr plötzlich leid, daß sie ihn wieder so traurig gemacht hatte, und um den düsteren Eindruck ihrer letzten Worte ein wenig zu mildern, sagte sie:

»Ich will Ihnen nicht verschweigen, Christian, daß ich auf Sie gewartet habe. Nur Ihretwegen blieb ich hier – in dieser Einsamkeit. Auch Sie bedeuten Leben für mich – ja, den Anfang eines neuen Lebens – eines schöneren Lebens als bisher. – Vielleicht können Sie mir all das geben, was ich als Mädchen erträumte, und ich Ihnen all das, was Sie bisher entbehrten. Aber lassen Sie mich noch ein wenig nachdenken, bevor ich über unser Los entscheide.«

»So lange Sie so denken, lieben Sie mich noch nicht genug,« sagte er leise.

»Mag sein – aber der Schatten – der Schatten –« sagte sie, scheu um sich blickend. »Mir ist, als sähe ich noch immer seinen Schatten. Aber morgen früh werde ich ja zu Ihnen kommen, und dann wird uns das Reden leichter werden –«

Und er drang nicht weiter in sie. Denn auch er sah plötzlich wieder den Schatten, der ihn vom Leben trennte, und dachte:

»Sie muß mich schon sehr, sehr innig – fast blindlings lieben, um mich auch noch zu lieben, wenn ich ihr sage, wer ich bin.«

*

Am nächsten Morgen zündete er schon in aller Frühe ein großes Feuer in seinem Herd an, um das Haus gut zu durchwärmen. Dichter, weißgrauer Nebel umhüllte die Fensterchen. Es war nicht kalt, und trotzdem schauderte er von Zeit zu Zeit zusammen. Er hatte Angst, Sarina könne doch nicht kommen, wegen des Wetters, oder weil sie überhaupt nicht kommen wollte. Aber warum sollte sie nicht kommen? Sie hatte es doch fest versprochen, und es handelte sich doch schließlich nicht um ein heimliches Stelldichein. Trotzdem hatte er Angst. – Aber er ging ihr nicht entgegen, damit sie seine Angst nicht merken sollte.

Da trat sie endlich über die Schwelle, in einer schwarzen Pelzjacke, die die schimmernde Blässe ihres Gesichts und das helle Rot ihres Mundes noch mehr hervorhob.

Diese leuchtende Blässe, der helle Glanz ihrer Augen, ja sogar die Pelzjacke, auf der viele, winzigkleine Nebeltröpfchen glitzerten wie auf dem Fell eines Tieres, das durch den Regen gelaufen ist, all das zusammen steigerte seine freudige Erregung und sein Mißtrauen noch mehr.

Rasch eilte er auf sie zu, legte den Arm um ihre Schulter und führte sie an den Herd, unwillkürlich den Ärmel ihrer Pelzjacke streifend, und bei dieser Berührung durchflutete ihn ein wollüstiger Schauer. Wieder begegneten sich ihre Blicke, und zitternd suchten sich ihre Lippen. Sie fragten nicht mehr, alles, aber auch alles war vergessen –

*

Und dennoch geschah etwas ganz Seltsames.

Während die Frau auf sein kleines Kämmerchen zustrebte, zog er sie auf den Herd zu. Und er löste auch zuerst seine Lippen von den ihren, darauf wartend, daß sie etwas sagen sollte.

Immer dichter ballte sich der Nebel vor dem Fenster zusammen und begrub das Häuschen. Er dachte daran, daß seinem Glück jetzt nichts mehr im Wege stehe, daß er es nur mit beiden Händen zu greifen brauche, und dennoch wollte er nicht.

Die Hingabe der Frau erzürnte ihn sogar. Er witterte etwas Unergründliches, Tierhaftes in ihr, fühlte, daß nur ihr Körper ihm nahe war, nicht ihre Seele.

»Die ganze Nacht hab' ich an dich gedacht,« sagte sie, »die ganze, lange Nacht. – Ich bin glücklich über unsere Liebe und danke dir. Hörst du, ich danke dir und willige ein in deinen Vorschlag.«

»In welchen?« dachte er. »Nur zwei kommen in Frage: Geliebter oder Gatte.«

»Aber wir müssen uns erst noch besser kennen lernen, Christian –«

»Ach,« dachte er, »da wären wir genau so weit wie vorher.«

»Ich glaube, ich kenne dich schon ganz,« sagte er traurig. »Ja, ich kenne dich, weil ich dich liebe. Du aber – du liebst mich eben nicht genug.«

»Kann ich denn noch mehr tun, als ich schon getan habe?« sagte sie fast verzweifelt. »Ich bin hier – ich liebe dich – und wenn dich das noch nicht genug dünkt, so liegt es doch nur an dir, zu – –«

»Aber was – was kann ich denn tun?« wehrte er sich nun. »Kann ich dich denn noch mehr lieben, als ich dich schon liebe?«

Und wieder küßte er sie und sah, wie ihre Augen dunkel wurden vor Zärtlichkeit, wie aber auch ein leiser Gram um ihre Lippen spielte.

»Ach, ich weiß schon, was du willst,« dachte er. »Du willst wissen, wer ich bin. Aber wenn ich es dir sage, wirst du mich nur noch zum Geliebten nehmen, niemals zum Mann. Du wirst dich dann nicht mehr an mich binden wollen, wirst dich nur satt trinken an mir und mich dann verlassen. Und ich will dich doch ganz – für mein ganzes Leben. Nein, du liebst mich noch nicht genug, als daß ich dir sagen könnte, wer ich bin.«

Trotzdem war er nahe daran, sie in seine Arme zu reißen und ihr sein Geheimnis zu verraten. Es war ein banger Augenblick, wie man ihn auf dem ragenden Gipfel eines Berges empfinden mag: trunken von der Unendlichkeit und doch erschauernd vor des Abgrunds Tiefen.

»Was soll ich dir von mir erzählen?« seufzte er, ganz nahe an ihrem Gesicht. »Ich habe dir doch schon alles erzählt – hier in dieser Stube – erinnerst du dich daran? Ich habe keine Eltern. Nur noch eine Mutter. Aber die lebt im Ausland, in Argentinien, und kümmert sich fast nicht um mich. Sie hat zum zweitenmal geheiratet und ist ziemlich wohlhabend. Auch ich besitze genug, um dir ein ebenso gutes Leben bieten zu können wie bisher. Nach der zweiten Heirat meiner Mutter und dem Tode meiner Frau machte ich so bittere, so traurige Zeiten durch, daß ich die Menschen fast hassen lernte. Drei Jahre oder gar noch länger suchte ich nach einem abgeschiedenen, einsamen Häuschen, wo ich ein paar Monate in tiefster Ruhe verleben konnte. Schließlich fand ich dieses, und wie du siehst, bin ich noch immer hier.«

»Und dann? Und dann?« drang sie in ihn, sein Gesicht mit ihrem heißen Atem streifend. Er erschrak fast vor dessen Glut und fuhr fort, ihr von seinem Leben zu erzählen. Aber das eigentliche Geheimnis blieb in ihm verborgen, und es schmerzte und beglückte ihn zugleich, daß die Frau keine Ahnung davon hatte, auch nicht die leiseste Ahnung.

*

Es verging ein Tag – es verging eine Nacht. Wie eingefangen in dem Schweigen seines Häuschens, hörte Christian das Meer in der Ferne klagen, und diese einsame Klage war wie das Seufzen seines glücklichen Herzens.

Als er dann am nächsten Morgen in seinem schmalen Bett erwachte, erschrak er fast über die lautlose Stille ringsumher.

Nur ein Vogelschrei glitt hin und wieder durch die Luft. In schimmernder Klarheit, wie eine weiße Blüte, die sich allmählich rötet, leuchtete der Tag durch das Fensterchen in seine Kammer.

Und wie ein Knabe eilte Christian an das Fenster, öffnete es und jubelte im stillen vor Freude. Die Pfirsichblüten hatten sich in der Nacht geöffnet, auf jeder Blüte funkelte ein zartes Taugespinst, und glitzernde Fäden spannen sich vom einen Rand der Hecke zum anderen.

Die Luft roch nach Harz und Minze. Es war Frühling geworden, und Christian wäre am liebsten an den Strand hinabgeeilt, hätte sich zwischen die Binsen geworfen und sein Gesicht in Tau gebadet.

Der Gedanke, daß er Sarina bald wiedersehen würde, berührte ihn fast schmerzlich. Dann begann er seiner Arbeit nachzugehen wie immer. Da tönte plötzlich ein leises Pochen am Gitter draußen durch die Morgenstille an sein Ohr und erinnerte ihn an die traurige Vergangenheit. Sarina konnte es noch nicht sein, dazu war es noch zu früh. Es mußte Ghiana sein.

*

Mit dem Korb auf dem Kopf, stand Ghiana vor dem Gatter, aber sie hatte sich inzwischen so sehr verändert, daß sie fast nicht wiederzuerkennen war. Ein geblümtes Tuch umhüllte ihr aufgedunsenes Gesicht, das voll brauner Flecken war wie eine verdorbene Frucht. Über dem Busen war es zusammengesteckt, die Fransen hingen auf den schweren Leib herab. Unter dem kurzen Rock waren die plumpen Beine in den blauen Strümpfen zu sehen und die schmutzigen Schuhe.

Ihr Blick war scheu und verstört, ihr Atem ging schwer und keuchend. Sie war wie ein gehetztes Tier.

Entschlossen trat sie ein, wartete aber dann, daß Christian das Gatter schließen und vorausgehen sollte wie immer. Und wirklich machte er das Gatter zu und ging voraus wie immer, erschien aber fast noch verstörter als sie. Er fühlte, wie sie ihm folgte, keuchend – mit schweren Schritten, und beugte den Kopf wie unter einer Bürde.

Verflogen war die fröhliche Stimmung von vorhin. Die alten Schatten drangen wieder auf ihn ein.

Als sie an die Tür gelangten, wollte Ghiana sich auf die Schwelle setzen. Da befahl er ihr fast barsch, einzutreten, und nötigte sie, am Tisch Platz zu nehmen.

»Nun,« sagte er dann und schüttelte mißbilligend den Kopf, »was gibt es? Was willst du hier?«

Mit gesenktem Kopf schien sie nach einer Antwort zu suchen, ängstlich mit den Zipfeln des Tuches den Leib verhüllend, der sich langsam hob und senkte. Aber die Antwort lag schon in dieser ängstlichen Gebärde, und Christian fühlte, wie er im Innern zitterte, nicht mehr vor Wut wie neulich, aber auch nicht vor Freude. Er versuchte sie nicht anzusehen, brachte es aber nicht über sich. Obwohl sie so entstellt, so bleich und leidend aussah zwischen dem roten Blumenmuster ihres Tuchs, war ihm fast, als gehörte auch sie zum Frühling. Ja, auch sie, mit der reifenden Frucht im Schoß. Und wieder zählte er die Monate nach, klammerte sich an den Glauben, daß Ghiana ihn betrogen habe, daß das Kind gar nicht von ihm sei.

Sie erriet diesen Gedanken und sagte in demütigem Ton wie immer:

»Es ist jetzt fast sieben Monate her, daß mein Alexander wieder im Lande ist. Ja, am nächsten Dritten werden es genau sieben Monate, und in dieser Zeit wird, so Gott will, auch das kleine Wesen zur Welt kommen. Man wird es für ein Siebenmonatskind halten. Ich habe die Hebamme schon ins Vertrauen gezogen, eine gute Seele, die Mitleid mit mir hat. Außerdem habe ich ihr auch Ihren Ring geschenkt. Ich hatte nichts anderes, und tragen hätte ich ihn jetzt ja doch nicht können. Auch die Alte glaubt, ich sei erst im siebten Monat, oder stellt sich wenigstens so. Mit Gottes Hilfe wird also alles gut gehen. Auch mein Alexander ist zufrieden.«

Sie wartete, daß er etwas zu ihr sagen sollte. Aber er schwieg mit gesenktem Kopf wie sie.

»Nur der Alte ist scheinbar nicht ganz einverstanden. Er sagt zwar nichts, zählt aber immer wieder irgendetwas an den Fingern ab, und wenn er mit mir spricht, sieht er mich überhaupt nicht an. Er ist argwöhnisch – ich habe Angst vor ihm, habe Angst davor, daß Gott mich durch die Hand des Alten strafen könnte. Jetzt liegt er schon drei Tage lang mit Fieber danieder, und auch mein Alexander ist fort, bei der Musterung in der Stadt. Hoffentlich läßt Gott ihn bei mir und nimmt ihn mir nicht zur Strafe ein zweites Mal. Er ist so gut, der arme Junge. Er gehorcht seinen Eltern noch heute wie ein kleines Kind. Und er glaubt an Gott, betet alle Tage und hat mich wirklich lieb. Ich glaube, er würde mir sogar verzeihen, wenn er erführe – – aber ich will ihm nicht wehtun, obwohl es mich zuweilen drängt, ihm alles zu gestehen. Ja, mir würde er vielleicht verzeihen,« setzte sie scheu hinzu, »aber nie und nimmer Ihnen.«

Er lächelte spöttisch.

»Ach, bist du etwa nur hergekommen, um mir dies zu sagen, nachdem du dich so lange nicht mehr sehen ließest?« fragte er noch schroffer als vorhin. Und er begann zu glauben, daß sie nur Geld wolle von ihm.

»Was ich hier will, fragen Sie? Nun, wie es um mich steht, das wußten Sie ja selbst. Und es wäre eigentlich Ihre Pflicht gewesen, zu mir zu kommen. Aber das macht nichts, es ist besser so. Nein, ich will nichts von Ihnen. Gar nichts. Ich – ich habe nur Angst, ich könnte sterben, und wollte Ihnen vorher noch Lebwohl sagen und Sie um Verzeihung bitten.«

»Um Verzeihung? Wieso denn um Verzeihung?«

»Nun – weil auch ich Ihnen Sorgen machte. Sicher wäre es besser, das kleine Wesen würde überhaupt nicht geboren. Wer weiß, ob alles gut gehen wird bei der Geburt, ob das Kindchen gesund sein wird und gut. Auch in ihm kann Gott mich strafen.«

Ein Schatten glitt über die Augen des Mannes wie ein heimliches Zittern. Er glaubte Ghianas stille Angst zu erraten. Kannte sie sein Geheimnis wirklich und hatte sie Angst, das Kind könne die gleichen Fehler haben wie sein Vater?

Schatten, nichts als Schatten! Unruhig begann er im Zimmer hin und her zu gehen, wie um sie zu verscheuchen.

»Aber wir wollen auf Gott vertrauen und das Beste hoffen,« sagte sie. »Und machen Sie sich keine Gedanken, was auch immer geschieht. Wenn ich wirklich sterben sollte, wird mein Alexander für das kleine Wesen sorgen und wenn er in den Krieg hinaus muß, sind ja noch immer die Alten da.«

»Warum willst du denn sterben?« fragte er, immer nachdenklicher gestimmt. »Warum nur?«

»Ich will doch gar nicht sterben. Aber schließlich bin ich doch nicht mehr die Jüngste, und das ist mein erstes Kind. Aber das ist eigentlich nicht der Grund meiner Sorge. Der Grund ist ein anderer. Ein dunkles Gefühl sagt mir, daß mir etwas zustoßen muß. Und das deutet mir auch stets der Alte an und bestärkt mich so in meiner Furcht. Jeden Tag erklärt er, daß alle Sünden sich rächen; jeden Tag erzählt er mir Beispiele von Kindern, die die Schuld der Väter büßten. – Zuweilen wache ich mitten in der Nacht auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich habe sogar Angst, daß er – der Alte – meinem Kinde etwas antun wird, daß er es sogar töten kann in meinem Leibe.«

»Du bist krank, Ghiana,« sagte er etwas sanfter. »Du machst dir törichte Gedanken. Warum? Das tatest du doch früher nie. Vielleicht schadet dein Mann mit seiner Frömmelei dir mehr, als er dir hilft. Laß den Herrgott einen guten Mann sein und denke lieber mehr an dich und pflege dich.«

Diese Worte schienen sie zu kränken. Ganz langsam hob sie den Kopf, zunächst fast mühsam, dann mit einem heftigen Ruck. Und nun ließ sie ihn nicht mehr sinken, sah ihn aber noch immer nicht an.

»Ich kam aus einem anderen Grunde her,« sagte sie nach kurzem Schweigen. »Die Alte fragt immer wieder, ob Sie das Haus nicht verkaufen wollen.«

Er gab ihr keine Antwort.

»Das Geld liegt schon längst bereit. Schon seit sieben Monaten.«

»Schon seit sieben Monaten,« wiederholte er wie zu sich selbst, dann sagte er wieder barsch wie zuvor: »Findet ihr denn kein anderes im Dorf.«

»Wir hätten eben gerne dieses.«

Wieder begann er durch das Zimmer zu gehen, hin und her – her und hin. Und er spürte jetzt, wie die Frau ihn betrachtete, mit finsteren, forschenden Blicken.

Da blieb er auf einmal drohend vor ihr stehn. Im Grunde fühlte er, daß Ghiana von seiner Liebe wußte, daß sie nur aus Eifersucht hergekommen war, um ihm die Freude an einem neuen Leben zu verbittern und ihn zu trennen von der geliebten Frau. Aber er wollte an alles andere glauben, an ihre Habgier, an ihre Tücke, nur nicht daran.

»Sag' doch schon die Wahrheit!« rief er unwirsch. »Ich soll dir das Haus schenken, nicht wahr?«

Ein überraschter, fast erschrockener Ausdruck prägte sich in Ghianas Zügen. Sie begriff nicht, oder vielmehr sie wollte nicht begreifen.

»Sie wollen mir das Haus schenken? Warum denn? Dann würde Alexander doch sofort Verdacht schöpfen – und auch die Alten –«

Da übermannte sie plötzlich der Zorn, trieb ihr die Röte ins Gesicht.

»Ach, anspucken könnte ich dich!« schrie sie und sprang auf, die Fäuste unter dem Tuch ballend. »Du glaubst also, ich sei hergekommen, um dich anzubetteln? Als ob ich dich jemals um etwas gebeten hätte! Pfui, schäme dich, du bist einer von den Feinen, den Gebildeten – und doch ein Elender in meinen Augen! Und trotzdem habe ich Mitleid mit Ihnen, weil – weil –«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Krampfhaft schluchzend, ohne eine Träne in den Augen, umklammerte sie die Lehne des Stuhls. Auch er fühlte sich in seinen Tiefen aufgewühlt. Daß sie unmittelbar nach dem Zornausbruch wieder Sie zu ihm sagte, erschütterte ihn noch mehr als ihr Zorn. Er fühlte, daß sie es aus Achtung vor sich selbst tat, daß sie schon wieder bereute, ihn beschimpft zu haben. Und zum erstenmal empfand auch er etwas wie Achtung vor ihr. Aber das änderte nichts an seiner Empörung.

»Du hast Mitleid mit mir? Du? Warum denn?« schrie er. »So sag doch schon: Warum!«

Schluchzend beugte sie sich über den Stuhl und hatte scheinbar Angst, er könne sie schlagen.

»Du hast Mitleid mit mir? Warum denn?« schrie er noch einmal, ohne eigentlich zu wissen, warum ihr Mitleid ihn so erbitterte. Oder vielmehr, er wußte es doch und wollte, daß sie sich deutlicher erklären, daß sie ihm endlich sagen sollte: Ich weiß, wer Sie sind! Gleichzeitig wollte er sie mit seiner drohenden Haltung aber auch am Sprechen hindern.

»Geh mir aus den Augen und komme nie mehr wieder! Sonst weiß ich nicht, was ich tue! Sonst vergreife ich mich an dir in meiner Wut!«

»Tun Sie's doch! Ich habe keine Angst,« antwortete sie rasch, sich noch tiefer über den Stuhl beugend, als wolle sie sich von ihm schlagen lassen.

Diese Demut besänftigte ihn wieder.

Er packte sie bei den Armen, drückte sie wieder auf den Stuhl und begann wie vorhin, rastlos auf und ab zu gehen.

In dem Schweigen hörte er ihre schweren Atemzüge und hätte sie so gern getröstet. Aber er konnte es beim besten Willen nicht, es war zu spät dazu.

»Ich errate deine Gedanken. Aber warum willst du, daß ich fortgehe von hier?« sagte er schließlich, ohne stehen zu bleiben. »Das – was geschehen soll, wird auf jeden Fall geschehen. Wo anders genau so gut wie hier. Übrigens habe nicht ich dich im Stiche gelassen, Ghiana. Du bist diejenige, die nicht mehr kam, und ich konnte dich doch nicht aufsuchen. Denn du hast mir selbst erzählt, deine Eltern hätten Verdacht geschöpft. Und da ich dich nicht mehr sah, glaubte ich, du wünschtest selbst, daß alles aus sei zwischen uns. Und ich glaubte auch, du hättest dich getäuscht über deinen Zustand. Weshalb soll ich also jetzt – wo ich doch weiß, wie die Dinge liegen – fortgehen von hier? Nein, ich werde dir helfen, werde sorgen für dein Kind. Du darfst mich nicht für gewissenlos halten!«

Ghiana schüttelte den Kopf. Nein, nein, das wollte sie keinesfalls.

»Ich begehre keine Hilfe. Weder für mich, noch für das Kind. Zudem ließe Alexander sich wohl auch kaum zum zweitenmal täuschen. Ich will nichts – gar nichts. Ich bin nur traurig, daß Sie mir nicht mehr gut sind.«

»Weshalb behauptest du das? Habe ich dich etwa jemals lieblos behandelt? Du bist diejenige, wiederhole ich, die nicht mehr kam.«

»Nun, dann hätten ja Sie zu mir kommen können. Ein Mensch mit Gefühl findet stets einen Weg, das Gute und Richtige zu tun. Und wenn Sie nur ein einziges Mal zu uns gekommen wären – sagen wir, mit der Ausrede, daß Sie über den Verkauf des Hauses zu sprechen wünschten. Aber Sie taten nichts dergleichen, als wären wir einander nie begegnet. Ja noch schlimmer, als wären wir einander nur begegnet wie zwei Hunde. So handelt kein fühlender Mensch. Ich weiß, ich bin nur eine ungebildete Frau, und Sie – Sie sind aus gutem Hause, sind ein reicher Mann. Aber wenn erst einmal ein Kindchen da ist, sind wir alle gleich. Das glaubte ich wenigstens. Aber Sie haben mich ja niemals lieb gehabt, Sie sahen immer nur das Tier in mir. Aber auch ein Tier verdient ein ganz klein wenig Achtung –«

»Das ist wahr,« sagte er sich im stillen; und wieder dachte er daran, wie kläglich sein Versuch gescheitert war. Nein, die Einsamkeit genügt nicht, um den Menschen zu läutern.

»Nur einen Trost könnten Sie mir noch gewähren,« fuhr Ghiana leise fort, als hätte sie Angst, sich selber ihren sehnsüchtigen Wunsch zu gestehen. »Ich meine – daß Sie fortgehen von hier. Ja – für immer fortgehen.«

»Wohin soll ich denn gehen? Glaubst du wirklich, Ghiana, es sei so leicht für einen Mann wie mich, dies Haus zu verkaufen und wieder durch die Welt zu irren und ein anderes zu suchen? Ein Haus, wie ich es brauche?«

»Jetzt, wo Ihnen nichts mehr daran liegt, einsam zu sein – jetzt dürfte es wohl ziemlich leicht sein, eines zu finden,« sagte sie bitter.

»Jetzt? Jetzt liegt mir mehr daran als je!« schrie er mit einem neuen Wutausbruch. »Wenn ich wirklich fortgehe von hier, werde ich auf den höchsten Gipfel eines Berges flüchten. Ach, warum kann der Mensch niemals allein sein – ganz allein und frei?«

»Weil Gott nicht will, daß er allein sei.«

Nach diesen Worten stand sie wieder auf, und es war fast, als hätte auch sie aus ihnen die Überzeugung gewonnen, daß man sich in den Willen Gottes fügen, daß man sich seinem Ratschluß anvertrauen müsse.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute,« sagte sie, »aber nehmen Sie sich in acht, daß die andere Sie Ihre Schuld nicht entgelten läßt. Leben Sie wohl.«

Aber er ließ sie nicht gehen. Ein abergläubisches Furchtgefühl beschlich ihn plötzlich. Ja, er fühlte, daß er eine Schuld auf sich geladen hatte, daß er die Hand nach der Frau des anderen ausgestreckt hatte wie nach einer verbotenen Frucht und das köstlichste Gut seines Lebens achtlos verschleudert wie ein Samenkorn in den Wind. Und er hatte Angst, daß er all dies würde sühnen müssen.

»Geh bitte nicht so fort, Ghiana. Nimm erst noch etwas zu dir. Komm, ich werde dir schnell eine Tasse Kaffee warm machen. Setz dich und bleib hier. Ich kann dich nicht fortgehen lassen, bevor du mir nicht sagst, was ich in Zukunft tun kann – für dich und für das kleine, unschuldige Wesen.«

Sie blickte auf und sah ihn an, mit einem starren, unsäglich traurigen Blick.

»Ich habe erfahren, daß Sie die andere zu Ihrer Frau machen wollen – ja tun Sie's meinetwegen, aber gehen Sie fort von hier – weit, weit fort, damit ich nie mehr etwas von Ihnen höre –«

Und wieder senkte er den Kopf. Er wußte nicht, weshalb – sein Glück dünkte ihm jetzt auf einmal viel geringer als zuvor.

»Und wenn ich mich nun wirklich entschlösse, fortzugehen von hier, weit, weit fort, an eine Stätte, wo man nichts mehr wüßte von dieser Gegend und den Menschen, die wir kennen – sag, würdest du dann mit mir gehen?« fragte er sie und wußte selbst nicht, ob er mit voller Überzeugung sprach oder ob er die Frau nur auf die Probe stellen wollte.

Rasch und ganz leise gab sie zur Antwort:

»Ja, ich würde mitgehen.«

»Und dein Mann? Sagtest du nicht eben, du möchtest ihm nicht wehtun?«

»Sie stehen meinem Herzen näher als er.«

»Vielleicht wäre ich aber schlecht zu dir, Ghiana. Du weißt doch, wie ich bin! Du kennst mich doch.«

»Gerade weil ich Sie kenne, habe ich keine Angst vor Ihnen.«

»Du kennst mich!« sagte er wie zu sich selbst. »Ist das auch wahr? Weißt du wirklich, wer ich bin?«

»Ja« sagte sie schließlich.

»Wer hat es dir gesagt?«

»Der Alte.«

»Und von wem hat er es erfahren?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er es mir öfter sagte, vielleicht auch nur um mich zu warnen, um zu verhüten, daß ich weiter zu Ihnen ging.«

»Nun, wer weiß, Ghiana, ob ich deiner nicht eines Tages wirklich noch bedarf. Geh jetzt, sei ruhigen Mutes und sieh zu, daß unser Kindchen glücklich zur Welt kommt. Vielleicht ist dies in der Tat der Wille Gottes. Auch ich beginne, allmählich wieder an ihn zu glauben. Vielleicht« – setzte er leise hinzu, – »bist du der Faden, der mich zurückführt zu ihm.«

Sie öffnete weit die Augen, wie um seine rätselhaften Worte besser zu verstehn, und eine wilde Freude durchströmte ihr Herz. Ihr war fast, als hätte sie den Mann nun endgültig für sich gewonnen, als könne sie nun mit ihm fortgehen in die weite Welt und ihn wie einen Blinden führen, wohin sie wolle. Ja, sie fühlte all diese Dinge, wenn auch nur ganz dunkel und verworren, und mit Freude dachte sie an ihre neue Lage, an die Gefahren, die ihr drohten, aber vor allem an das, was der Alte ihr einmal anvertraut hatte: daß Christian reich war – sehr, sehr reich.

*

Er machte ihr eine Tasse Kaffee warm, reichte sie ihr fast schüchtern, und all das gab ihr neuen Mut. Langsam schlürfte sie den heißen Trank und suchte wie früher seine Augen mit einem zärtlich verlangenden Blick voll Sehnsucht und voll Wollust. Aber das erregte schon wieder seinen Zorn, flößte ihm fast ein Gefühl des Abscheus ein.

Und wieder sah er auch in Ghiana das Tier, obwohl sie ihm gerade etwas wie eine Seele enthüllt hatte.

Als sie schließlich aufstand, um fortzugehen, hielt er sie nicht länger zurück. Er begleitete sie sogar bis ans Gatter und ließ einen Beutel mit Geld in die Tasche ihrer Schürze gleiten. Sie ließ ihn gewähren, und er sah ihr noch eine Weile nach, während sie sich entfernte.

Ganz langsam schritt sie dahin, mit dem Korb auf dem Kopf, sich in den Hüften wiegend wie immer. Von rückwärts gesehen, war sie noch immer die gleiche wie früher. Christian atmete erleichtert auf bei dem Gedanken, daß sie im Grunde gut war und sich nicht an ihn ketten würde.

Und er fand seine Ruhe vollends wieder, als er sah, wie sie an der Wegbiegung stehen blieb, den Beutel aus der Tasche zog und langsam das Geld in ihm zählte.

*

Später kam die andere zu ihm, und damit lösten sich die letzten Schatten auf.

Tage-, ja wochenlang war die Erde wie in eine Flut von Licht getaucht. Auch die Nächte waren ganz hell, erfüllt vom silbernen Glanz des klaren Mondes, der etwas Fremdes hatte, wenn er abends aus der rosagrauen Dämmerung emporstieg, groß und leuchtend, fast wie eine neue Sonne.

Wie erlöst atmete das Land im warmen Schein der Sonne, bedeckte sich wieder mit lichtem Grün, mit zarten Blumen. Auch das Meer lag still und friedlich da und errötete gegen Abend sanft im Hauch des jungen Jahres.

Die zwei Vereinsamten lebten ganz ihrer Liebe, ohne sich freilich ihrer Freiheit zu begeben; denn jeder wohnte ja, vom anderen getrennt, in seinem Hause, und sie sahen sich nur in den Stunden, in denen die Sehnsucht sie rief und zueinander trieb.

So wandten alle Dinge sich zum Guten, und dennoch war Christian nicht glücklich.

Ghianas Besuch hatte einen Schatten um ihn her zurückgelassen, und er war fest entschlossen, der anderen alles zu gestehen. Aber nicht einmal in den inbrünstigsten Stunden ihrer Liebe vermochte er ihr seine wahren Gedanken zu enthüllen, und später fühlte er sich meistens einsamer denn je.

*

Eines Tages ging sie mit ihm zusammen ein wenig ins Freie. Schweigend schritten sie in der Sonne dahin, in den leuchtenden Morgen hinein, einander fast noch näher, noch inniger verbunden als im Innern ihrer Häuschen.

Der Hund wedelte mit dem Schweif, als er sie fortgehen sah, und die Magd blickte ihnen von der Tür aus nach, wie einem jungen Brautpaar.

Etwas weiter unten, auf dem Wege nahm er ihren Arm und preßte ihre Hand zärtlich gegen seine Brust. Sie ließ es zu, ging aber nachdenklich, fast zerstreut neben ihm her und ließ sich von ihm führen. Erst als sie um die Hecke bogen, machte sie unwillkürlich eine Bewegung, als wolle sie auf das Gatter seines Gartens zugehen. Er aber zog sie sanft weiter.

Sie lenkten ihre Schritte auf das Meer zu.

»Erinnerst du dich noch,« sagte er zu ihr, »wie wir uns zum erstenmal begegneten? Ich sehe dich noch immer vor mir stehen – wie in einem hellen Glanze, so daß ich dich kaum ansehen konnte. Du hingegen – du sahst mich ganz genau, mit meinem Eimer und meiner Kanne, und glaubtest sicher, ich sei ein armer Teufel.«

Sie lachte fröhlich auf, noch immer ein wenig in ihre Gedanken versponnen. Dann näherte sie ihr Gesicht dem seinen, zog seine Augen gleichsam an sich mit ihrem unergründlichen Blick, der bis in die Tiefe seiner Seele drang.

»Ob arm, ob reich – weißt du, was du vom ersten Augenblick an für mich warst? Ein Mensch – ja, ein lebendiger Mensch.«

»So schnell warst du mit deinem Urteil fertig?« fragte er mit rauher Stimme. »Dachtest du denn nicht daran, daß ein Mensch auch Fehler und Schwächen hat in seinem Leben, wie alle Menschen?«

»Das weiß ich nicht. Nein, daran dachte ich damals nicht.«

»Und denkst du jetzt daran? Sag mir die Wahrheit, Sarina, sprich deine Gedanken ruhig aus. Wenn wir nicht versuchen, uns jetzt kennenzulernen, werden wir uns vielleicht überhaupt nie kennenlernen. Du hattest ganz recht, als du neulich zu mir sagtest: Wir müssen uns erst noch näher kennenlernen. Im Grunde weiß ja auch ich fast nichts von dir.«

»Was willst du denn von mir wissen?« fragte sie, mit einem fröhlichen Lachen wie vorhin. »Ich bin wie eine Puppe, wie ein zerbrechliches Spielzeug in deiner Hand. Zerbrich mich, und du wirst sehen, daß ich kein Geheimnis vor dir habe. Hundertmal hab' ich dir schon alles von mir erzählt. Wie alle jungen Mädchen träumte ich in meiner Kindheit von Liebe, von Reichtum, von einem Leben in einer großen Stadt. – Aber daraus wurde leider nichts. Ich heiratete einen Mann, der schon lange vor seinem Tode in meinen Armen starb, und so mußte ich die schönsten Jahre meiner Jugend neben einem Leichnam zubringen. Trotzdem hatte ich ihn lieb – das hast du selbst gesehen. Das Mitleid brachte ihn mir nahe, er war zuletzt fast wie ein Sohn für mich. Aber daneben sehnte ich mich auch noch nach etwas anderem! Ich sehnte mich nach einem lebendigen Menschen, weil auch ich lebendig war. Und da tratest du auf einmal in mein einsames Leben –«

»Ach, nur aus diesem Grunde fiel deine Wahl also auf mich? Hätte irgend ein anderer Mann deinen Weg gekreuzt, so –«

»Nein, du hattest etwas Besonderes an dir. Ich wußte, daß du ganz allein hier lebtest. Etwas – wie ein Geheimnis umhüllte dich.«

»Ich konnte aber doch, ganz abgesehen von meiner Armut, auch ein schlechter Mensch sein.«

»Oh nein! Etwas in deinem Gesicht verriet mir, daß du gut warst. Offen gestanden glaubte ich zunächst, du seiest ein Künstler. Bei einem Künstler ist es doch wohl am leichtesten verständlich, daß er sich eines Tages von allem abzuschließen und das Leben eines Einsiedlers zu führen versucht.«

Schweigend schritt er eine Weile neben ihr her, noch immer ihre Hand an seine Brust pressend, am liebsten wäre er zeitlebens so – an ihrer Seite weitergegangen. Da hielt sie ihn plötzlich zurück. Sie waren am Ufer des Meeres angelangt und konnten nicht weiter; aber es sah fast so aus, als blieben sie ganz unbewußt, – wie auf der Straße – stehen, um sich besser unterhalten zu können.

»Ghiana – du weißt doch, die Bäuerin, die eine Weile bei uns sauber machte – erzählte immer von dir, in einer seltsam befangenen und doch fast aufdringlichen Weise. Es schien fast, als wäre sie verliebt in dich, wollte dich aber trotzdem nicht in einem allzu günstigen Lichte schildern – vielleicht aus Eifersucht. Jedenfalls hatte sie das Bedürfnis, von dir zu sprechen, und ging nie fort, bevor sie mich nicht gesehen und mir irgend etwas von dir erzählt hatte. So erfuhr ich nach und nach, wie es in deinem Hause aussah, wie deine Lebensgewohnheiten waren und dein Charakter. Sie erklärte, du seiest aus reichem Hause, und es gäbe ein Geheimnis in deiner Vergangenheit. Sie ließ auch durchblicken, daß sie dies Geheimnis kannte, wollte es aber nicht verraten. Nur ein einziges Mal deutete sie an, daß du dieses Leben nicht aus freien Stücken führtest, sondern aus anderen Gründen – gleichsam gezwungenermaßen.«

»Aus was für Gründen denn?« fragte er fast schroff wie früher und ließ sie los.

»Das weiß ich nicht. Sie behauptete es jedenfalls.«

»Was weiß denn dieses Bauernweib von mir? Ich habe mich ihr doch niemals anvertraut.«

»Bist du dessen ganz sicher?« fragte sie mit einem spöttischen Seitenblick. »Es gibt Stunden, in denen man von sich erzählt, ohne es zu merken –«

Da wurde er auf einmal ganz bleich und ernst.

»Nein, ich weiß genau, daß ich ihr nie etwas erzählte.«

Stolz richtete Sarina den Kopf auf. Ein kalter, argwöhnischer Glanz trat in ihre Augen.

»Wenn ich jetzt zu ihr spreche, wird sie mich sofort verlassen,« dachte Christian. »Aber es muß sein.«

»Ich muß dir etwas sagen,« begann er ganz ruhig. »Bevor ich dich kennenlernte, stand ich in einem ziemlich vertrauten Verhältnis zu Ghiana. Ich liebte sie nicht etwa – aber sie kam oft zu mir, und da ich so allein war – –«

Sarina schlug die Augen nieder, als schäme sie sich seiner, aber sie entrüstete sich nicht.

»Auch ich bin nur ein Mensch – du selbst hast es vorhin gesagt. Und jetzt ist alles längst zu Ende zwischen Ghiana und mir. Für immer zu Ende. Schon seit der Stunde, in der ich fühlte, daß ich dich lieben müsse. Ich hoffe, du trägst es mir nicht nach, Sarina.«

Statt einer Antwort gab sie ihm nur die Hand, wie an dem Abend, da er zum erstenmal von seiner Liebe zu ihr sprach. Aber er ergriff sie nicht.

»Hör' zu, das ist noch nicht alles. Ghiana erwartet ein Kindchen und behauptet, es sei von mir. Sie verlangt zwar nichts von mir, wünscht sogar selbst, ich soll darüber schweigen. Aber ich bin mir trotzdem meiner Vaterpflicht bewußt. Ich werde diesem armen, unschuldigen Geschöpfchen helfen müssen. Ich weiß zwar noch nicht, wie; aber ich weiß, daß ich ihm helfen muß, genau so wie ich dir jetzt nichts verheimlichen durfte.«

Langsam hatte sie ihre Hand zurückgezogen, reichte sie ihm aber plötzlich wieder. Und er ergriff sie erleichtert, fast erfreut.

Wenn Sarina ihm diese Verirrung verzieh – eine Verirrung, die noch so lebendig, so nahe war, – so war dies ein Zeichen, daß sie ihn wirklich liebte. Nur eine Frau, die liebt, ist einer so selbstlosen Verzeihung fähig.

*

Ein paar Tage später brachte sie zuerst die Rede auf die Hochzeit.

Auf was warteten sie eigentlich noch? Er hatte ihr Einblick in seine Einkünfte gewährt, und diese ließen sie ruhig in die Zukunft sehen. Übrigens hoffte sie, ihn aufzurütteln aus seinem müßigen Leben. Auch er selbst schmiedete Pläne über Pläne, die jeden Tag wechselten. Aber es gelang ihm nicht, ihr sein Bangen von der Zukunft zu verheimlichen, die sich ja in einer ganz anderen Umgebung abspielen sollte, im lärmenden Getriebe der großen Stadt. Und es eilte ihm nicht mit der Heirat.

»Hoffentlich hast du nicht doch noch eine Frau,« sagte Sarina in scherzendem Ton, in dem aber eine leise Furcht mitklang.

Da ließ er seine Papiere kommen, und sie die ihrigen.

*

Und dann trafen die Papiere ein, und sie gingen zusammen ins Dörfchen, um sie dem Pfarrer und dem Amtmann vorzulegen.

Sarina lachte und eilte leichtfüßig des Weges, fast wie eine junge Schwalbe. Der Mann aber war traurig, als bereue er seinen Entschluß.

Während sie am Strand entlang zurückkehrten, sagte er:

»Sarina – ich muß dir etwas sagen. Ghiana ließ mich in diesen Tagen wissen, daß sie ein Kindchen bekommen hat. Der Alte, vor dem sie solche Angst hatte, ist inzwischen gestorben – ihr Mann mußte einrücken –«

»Willst du sie besuchen?«

»Nimm die Dinge doch nicht so von der leichten Seite,« sagte er, mit schweren Schritten neben ihr hergehend, als sinke er in den Sand ein. »Zwischen ihr und mir ist alles zu Ende, darüber brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren. Aber das Kindchen macht mir Sorgen – auch deinetwegen.«

»Meinetwegen? Nun, wenn wir keine Kinder bekommen sollten, werden wir es zu uns nehmen.«

War das ihr Ernst? Zuweilen war sie unbekümmert wie ein junges Mädchen: alles erschien ihr dann so einfach, alles so leicht zu regeln.

»Ich bin fast zornig, daß du nicht ein bißchen eifersüchtig bist,« sagte Christian, ihren Arm ergreifend. »Man möchte fast meinen, du liebst mich nicht.«

»Wer wirklich liebt und fühlt, daß er auch geliebt wird, kennt keine Eifersucht. Zudem nehme ich doch gar nichts von der leichten Seite, Christian. Ich erkenne alle deine Pflichten durchaus an. Wenn dein Gewissen es verlangt, sollst du dem kleinen Wesen helfen. Und nicht nur das – auch ich werde dir dabei helfen, wenn du es wünschst.«

Eine Weile sagte er gar nichts. Stumm ging er neben ihr her, sich schwer auf ihren Arm stützend, als wollte er sie gleichsam fühlen lassen, wie bang und schwer ihm im Innern zumute war.

Als sie an den Rand der Straße gelangten, wo er sich eines Abends bei der Rückkehr aus dem Dorfe versteckt hatte, blieb er stehen, blickte sich um und seufzte.

»Komm, wir wollen uns ein wenig setzen,« sagte er. »Fühl' doch nur, wie warm das Gras ist – weich wie Samt. Ich muß dir etwas sagen,« fuhr er fort, als sie sich neben ihn gesetzt hatte. Und als er bei dem Hinweis auf ein neues Geständnis ein spöttisches Lächeln ihre Lippen kräuseln sah, verdüsterte sich sein Gesicht.

»Vor einiger Zeit, vor wenigen Wochen, ja vor wenigen Stunden noch war mir, als könnte ich mit keinem Menschen mehr durchs Leben gehen. Nicht einmal mit dir. Mit dir vielleicht sogar noch weniger als mit einem anderen. Nicht aus Stolz, nicht aus Hochmut, sondern aus Verzweiflung. Auch jetzt bin ich der festen Überzeugung, daß du aufstehen und fortgehen wirst, wenn ich dir alles sage, was ich dir sagen will und hoffentlich auch sagen werde. Du bist schon jetzt für mich wie eine Traumgestalt, die bald zerrinnen wird im Nichts.«

Sie erbleichte, sagte aber nichts.

»Ja, das glaube ich ganz bestimmt. Und dennoch hoffe ich noch immer das Gegenteil, und deshalb spreche ich auch zu dir. Nein, du wirst mich nicht verlassen. Denn du bist kein Traum, nein, du bist Wirklichkeit, bist eine Frau voll Liebe und voll Mitleid, bist meine Sarina, meine innig geliebte Sarina –«

Er beugte sich zu ihr hin, ergriff ihre Hände und küßte sie verzweifelt, die Augen schließend, wie um sie nicht zu sehen. Aber er fühlte, wie sie unter einem Schauer rätselhafter Furcht erbebte, und wagte nicht, fortzufahren.

»Nicht doch, nicht doch,« flüsterte sie, einen Kuß auf sein Haar hauchend. »Du machst mich ganz bange, erinnerst mich fast an den anderen. Warum sollte ich dich denn verlassen? Ich verließ doch nicht einmal ihn, den ich nicht liebte. Und da sollte ich dich verlassen, den ich liebe?«

Er richtete sich auf. Die Hoffnung gab ihm neue Kraft.

»Ich bin noch schlimmer als der andere, Sarina. Er war doch wenigstens gut, er tat nichts Böses, ließ dich nur unbewußt leiden. Ich aber – ich tat einem anderen mit Bewußtsein weh, ließ ihn unendlich leiden.«

»Ich erzählte dir schon einmal aus meinem Leben,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, und sah ihr tief in die Augen, über denen schon ein Schleier von Trauer, wenn nicht gar von Argwohn lag. »Aber das ist noch nicht alles. Ich erzählte dir schon, daß ich nach Geld heiratete. Sie – meine Frau – war die Besitzerin des Hauses, in dem wir wohnten. Und sie war viel älter als ich – zehn Jahre älter. Aber warte, ich will dir alles der Reihe nach erzählen. Wir – meine Mutter und ich – waren entfernt mit ihr verwandt, und sie hat sehr gut an uns gehandelt. Als meine Mutter in jungen Jahren Witwe wurde, als sie mittellos zurückblieb, ohne jede Möglichkeit, sich das bißchen Brot zum Leben zu verdienen, da wandte sie sich in ihrer Not an diese Verwandte oder vielmehr an ihren Vater, der doch für einen Geizhals, für einen habgierigen Wucherer galt. Und dieser Mann nahm uns in seinem Hause auf, in einer von jenen riesigen, mit Gesimsen überladenen Mietskasernen, die so traurig anzusehen sind. Die Hausbesitzer, Vater und Tochter, wohnten eine Treppe hoch. Wir dagegen mußten hundertsechzig Stufen steigen, bis zu unserer Wohnung im dritten Stock: einer Küche und zwei bescheidenen Stübchen, von denen man auf den Hof und über die Dächer sah. Abend für Abend ließ meine Mutter mich für unseren Wohltäter und dessen Familie beten. Und was erreichte sie damit? Daß ich die Gebete und frommen Litaneien laut aufsagte, mich aber heimlich darüber lustig machte, und wenn es dunkel war, sogar ganz offen, mit höhnischen Gebärden und Grimassen. Ich fühlte, daß es Sünde war, aber ich konnte der Lockung nicht widerstehen. Ich fühlte, daß ich ein Undankbarer war, aber darüber freute ich mich fast. Und statt gerührt zu sein bei dem Gedanken, daß dieser Mann, den alle Welt für einen Geizhals und Wucherer erklärte, in Wirklichkeit ein guter Mensch war, ließ ich mich zu dem Glauben verleiten, daß alle Leute, die Gutes an den Armen taten und ihnen halfen, im stillen nur Geizhälse und Wucherer seien.«

»Mitunter schien meine Mutter meine Gefühle zu erraten, und wie zur Strafe zwang sie mich von Zeit zu Zeit, ein paar Zeilen des Dankes an meinen Wohltäter zu schreiben. Es waren meistens nur ein paar kühle, förmliche Worte, aber es fiel mir unsäglich schwer, sie zu schreiben, als seien sie ein klares Eingeständnis unserer Armut, unserer Ohnmacht, unserer Erbärmlichkeit. Und ein stürmisches Verlangen ergriff mich jedesmal – das Verlangen, meiner Mutter wehzutun, sie zu quälen.«

»Wenn er stirbt,« sagte ich zu ihr, »wird die Tochter uns aus dem Hause jagen. Sie soll noch viel geiziger sein als ihr Vater.«

»Ach, bis dahin wirst du erwachsen sein, und wir werden ihre Hilfe nicht mehr brauchen. Lerne du nur fleißig, damit wir ihnen – so Gott will – vielleicht selbst noch einmal helfen können.«

»Ja, – aber wenn er vorher stirbt –«

»Ich weiß noch immer nicht, weshalb ich eigentlich wünschte, daß unser Wohltäter bald sterben, daß seine Tochter uns aus dem Hause jagen möge. Vielleicht war es eine Vorahnung, ein dunkles Gefühl von dem, was sonst geschehen würde.«

»Jedoch unser Wohltäter dachte nicht ans Sterben. Fast jeden Tag begegnete ich ihm. Er war ein dicker, kleiner Mann mit einem roten Gesicht, ein wenig asthmatisch vom zu guten Leben. Ich grüßte ihn und eilte rasch an ihm vorbei, aus Angst, er könnte mich ansprechen. Aber im Grunde fühlte ich genau, daß er gar nicht daran dachte, daß er mich so und so oft nicht einmal sah.«

»Im übrigen lernte ich den ganzen Tag. Es war mir freilich weniger um ein gutes Zeugnis zu tun, als um ein Stipendium, und das bekam ich schließlich auch. Auch meine Mutter arbeitete unermüdlich. Oft ging sie am Tage nähen. Dann blieb ich allein zuhause, machte aus freien Stücken die Wohnung sauber, kochte, wusch und plättete, fröhlich pfeifend und singend wie eine Amsel auf dem Dach. Das waren meine glücklichsten Stunden. Denn wenn meine Mutter fort war, fühlte ich erst, wie zärtlich ich sie liebte, und bildete mir ein, ich unterstütze sie mit meiner Arbeit. War sie dagegen zuhause, so litt ich, wenn ich sie arbeiten sah für uns beide.«

»Mir fiel übrigens auf, daß sie nie zu unseren reichen Verwandten arbeiten ging, die doch sicher jeden Tag eine Näherin oder Schneiderin im Hause hatten. Ob sie nicht zu ihnen gehen wollte? Oder ob sie sie nicht aufforderten? Ich fragte sie nie danach, war aber froh, daß es so war.«

»So vergingen die Jahre, und sie vergingen wie im Fluge, vielleicht gerade, weil sie so eintönig waren – ein Tag wie der andere – ein Jahr wie das andere. – Mit einem Mal bin ich achtzehn Jahre und glaube, noch immer zwölf zu sein. Dann werde ich fünfundzwanzig, werde Doktor und glaube, noch immer in der Volksschule zu sitzen. Und dann bewerbe ich mich um einen Posten, werde angestellt, beziehe ein Gehalt und wohne trotzdem immer noch mit meiner Mutter in der bescheidenen Wohnung unter dem Dach, ohne einen Pfennig Miete zu bezahlen. Aber ständig denke ich daran, dies endlich nachzuholen. Ja, es ist mein fester Wille, zu unserem Wohltäter zu gehen, mich bei ihm zu bedanken und ihn zu fragen, was ich ihm schuldig bin. Denn so seltsam es klingen mag, Sarina, ich hatte bisher, im Gefühl der eigenen Dankesschuld, jede Begegnung mit dem Hausherrn ängstlich vermieden, und er selbst hatte nie daran gedacht, mich anzusprechen.«

»Aber als ich schließlich eines Tages auf dem Heimweg den Entschluß fasse, an seiner Türe anzuklopfen, da hängt ein Trauerflor an ihr: der Hausherr war gestorben!«

»Und so ging meine Mutter zu der neuen Hausherrin, bezahlte die Miete und drückte ihr unser herzlichstes Beileid aus. Wie sie mir später erzählte, wußte sie überhaupt nichts von dem guten Werke ihres Vaters. Und ich glaube, das stimmte auch, denn sie warf mir später bei unseren heftigen Auseinandersetzungen nie etwas vor.«

»Was zwischen ihr und meiner Mutter vorfiel, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß meine Mutter noch öfter zu ihr ging und jedesmal freudig erregt zurückkam, fast wie von einem Stelldichein. Sie sprach mit Verehrung, fast mit Stolz von ihr, ohne ein Hehl aus ihren ehrgeizigen Plänen zu machen.«

»Warum hat sie nicht schon früher geheiratet? Jetzt ist sie alt,« sagte ich, »und ich will sie nicht.«

»Ach, du solltest sie nur einmal sehen. Sie ist so allein, so hilflos zwischen all den Dienstboten und Schmarotzern – sie kann einem wirklich in tiefster Seele leid tun.«

»Und ganz allmählich ließ ich mich umgarnen von den feinen Fäden, die meine Mutter sponn. Ja, ganz allmählich ließ ich mich leiten und führen von ihr, fast wie an der Hand, als sei ich noch ein Kind, als führe sie mich wie früher zu den Gärten, wo die warme Sonne schien und wo es sich so fröhlich spielte. Ganz allmählich ließ ich mich bestricken und sah mich eines Tages aus dem letzten in den ersten Stock des Hauses versetzt, in das ich als ein Bettler eingezogen war und das nun mir gehörte.«

»Nur eine Mutter ist zu einem solchen Wunder fähig. Nur die Mutterliebe, die stets das Schlimmste für den Sohn befürchtet, kann ihm soviel Leid bereiten. Als ich mich dann unglücklich zu fühlen begann, ohne besonderen Grund, vielleicht nur aus Stolz, aus gekränktem Ehrgefühl, da ging ich zu meiner Mutter und quälte sie und sagte, sie sei schuld an allem, sie hätte einen einfachen Arbeiter aus mir machen sollen, wie es mein Vater war, hätte mich dort lassen sollen, wo ich mich zu Hause fühlte, statt mich in ein Leben zu stürzen, das nicht das meine war, und so einen Entwurzelten aus mir zu machen – einen Menschen, der ständig seinen Schwerpunkt sucht und nicht mehr findet, bis er tot zu Boden sinkt. Es kam schließlich soweit, Sarina, daß ich meine Mutter um ihr bescheidenes Heim beneidete, in das ich hin und wieder wie ein Rasender trat, mit dem wilden Verlangen, alles zu zerstören. Noch wütender als zuvor kehrte ich dann wieder zu meiner Frau zurück – wütend, daß ich meiner Mutter so weh tat und trotzdem nicht fähig war, ein Ende zu machen mit allem und wieder zurückzufinden in mein einstiges Leben. Das Schlimmste war, daß ich nicht einmal darin eine Rettung sah. Obwohl ich die Kraft dazu in mir fühlte, wußte ich genau, daß ich damit nur in noch tiefere Not geraten wäre.«

»Alles befriedigte und erbitterte mich zugleich an meinem jetzigen Leben, und dieses dünkte mich noch leerer als das Leben meiner Frau, mit ihrem Stab von Schneiderinnen, Putzmacherinnen, Freundinnen und Bekannten, mit ihren lächerlichen und albernen Wohltätigkeitsfesten. Ja, ich beneidete meine Mutter, die immer noch das gleiche Leben führte, mich immer noch genau so zärtlich ansah wie als Kind, als ich noch reinen Herzens in einem Stübchen mit ihr schlief.«

»Auch ich liebte meine Mutter noch, die so jung war, die zuweilen sogar jünger erschien als meine Frau. Jetzt, wo sie allein lebte und sich nicht mehr für mich quälen mußte, blühte sie noch einmal auf, in sanfter, wehmütiger Schönheit, über der ein zarter Schleier lag, ein Hauch von Herbst und Reife. Ein goldener Schimmer spielte um ihr Haar, fast wie um das deine, Sarina. Ihre Augen und ihr Mund hatten etwas Reines, fast Kindliches. Übrigens – was hatte sie denn durchgemacht, um frühzeitig zu altern? Ihr ganzes Leben verlief in klaren, ruhigen Bahnen, kein Leid, kein wirklicher Schmerz hatten es je erschüttert. Auch sie liebte meinen Vater nicht und blieb vielleicht ganz unberührt von seinem Tode. Sie lebte nur für mich, und ich glaube fast, daß eine unbewußte Erwägung, ein Traum, den sie vielleicht schon vom Tage meiner Geburt an hegte, sie damals dazu trieb, den reichen Verwandten um Hilfe zu bitten. Und jetzt war dieser Traum zur Wirklichkeit geworden. Was wollte ich noch mehr? Trotzdem fühlte sie, daß ich litt, und konnte sich den verwickelten Grund dazu nicht erklären. Oder vielmehr, sie wollte ihn sich nicht erklären, um ihr Gewissen nicht zu beschweren.«

»Es geht dir eben zu gut,« sagte sie eines Tages, als ich sie wieder mit meinen Klagen quälte. »Als wir noch arm waren, als du fleißig lerntest und mich in Frieden ließest, weil du wußtest, daß ich für dich arbeiten mußte, – damals warst du viel zärtlicher als jetzt. Ja, es wäre sicher besser gewesen, du hättest eine arme Frau geheiratet.«

»Heiraten hätte ich überhaupt nicht sollen. Zum mindesten aber hätte ich damit warten sollen, bis mir eine Frau begegnet wäre, die mir wirklich gefallen hätte, die mich geliebt hätte –«

»Deine Frau liebt dich doch auch. Aber du liebst sie nicht. Du liebst doch überhaupt niemand.«

»Ja, das ist leider wahr.«

»Und es war auch wirklich so. Außer ihr, meiner Mutter, liebte ich niemand. Warum – das wußte ich nicht, und ich grübelte auch nicht darüber nach. Obwohl ich mich im Innern nach Liebe verzehrte, konnte ich doch nicht lieben, und die Liebe der paar Menschen, die mich wirklich gern hatten, fand keinen Widerhall in mir. Ich fühlte mich stets allein, fühlte mich wie gefangen in meiner grauenvollen Einsamkeit, aus der ich vergeblich zu fliehen versuchte. Ein unergründliches Geheimnis hinderte mich daran.«

»Traurig, fast entsetzt sah meine Mutter mich an, wenn ich ihr davon erzählte und den Grund meines Leides zu erklären versuchte.«

»Wenn wir im Armenviertel geblieben wären, unter Leuten unseresgleichen, wäre ich vielleicht ein anderer geworden. Statt dessen sind wir in dieses Haus gezogen, zu den Reichen, die nichts mit uns gemein hatten. Hier waren und sind wir doch nur Ausgestoßene, hier lebten wir doch stets nur wie im Verborgenen, ganz allein, voll Argwohn, in tiefster Erniedrigung. Und so bin ich allmählich der geworden, der ich heute bin.«

»Und noch immer sah sie mich traurig, fast entsetzt an. In Wirklichkeit war auch sie eine Einsame. Sie kam nie in meine Wohnung, vielleicht aus Stolz genau wie ich. Ihr war bange vor dem vielen Gesinde, aber sie hatte meine Frau gern, und meine Frau auch sie. Oft ging sie zu ihr hinauf, um ihr ihr Leid zu klagen, über mich und mein wunderliches Wesen, und dann brachte sie ihr jedesmal Lebensmittel und Geschenke mit.«

»In meinem Haß verbot ich meiner Mutter zuletzt sogar, diese Gaben anzunehmen, und wurde eifersüchtig auf ihre Zuneigung zu meiner Frau. Obwohl ich wußte, daß sie den lautersten Gefühlen entsprang, warf ich sie ihr vor und deutete sie als Selbstsucht, als Eigennutz.«

»Meine Mutter antwortete mir schon lange nicht mehr, sie wollte nichts mehr wissen von uns. Aber eines Tages traf ich sie nicht daheim an. Sie war fortgegangen, um tagsüber wieder außer dem Hause zu arbeiten. Ach, wie wütend, wie entrüstet war ich damals! Und dann traf ich eines Tages einen blutjungen Menschen bei ihr, den sie in einem Haushalt kennengelernt hatte, in dem sie nähte. Er war Arbeiter von Beruf, schien aber aus besserem Hause zu sein; denn er ging gut gekleidet, hatte ein weißes, glattes Gesicht und blaue, kindliche Augen. Als meine Mutter ihn mir vorstellte, errötete er verlegen. Was wollte dieser Dummkopf bei ihr? Ich erriet es sofort und wurde noch unruhiger und verzweifelter als zuvor. Ich wagte nicht, ihn zu vertreiben, machte mich aber lustig über ihn. Und als er schließlich fortging, machte ich meiner Mutter heftige Vorwürfe, drohte sie in ein Sanatorium zu sperren, wenn sie nicht ein anderes Leben anfange. Kurzum, ich war eifersüchtig auf ihren jungen Freund und ihr heimliches Glück. Ich fühlte, daß die beiden sich liebten, daß sie sich angehörten und ein Glück genossen, das mir versagt war, und das war auch der Schlüssel zu meiner Eifersucht, zu meiner heftigen Empörung.«

»So verwandelte auch meine Mutter sich schließlich in eine Feindin für mich. Ja, noch schlimmer, ich merkte, sie hatte Angst vor mir

»Eines Tages verschwand sie aus dem Hause. Sie war mit ihrem jungen Freunde abgereist, und ich hörte monatelang nichts mehr von ihr, bis sie mir schrieb, daß sie aus Angst geflohen seien. Sie seien nach Amerika ausgewandert, hätten geheiratet, arbeiteten unermüdlich und verdienten viel Geld. – Und jetzt sind sie fast reich.«

»All das machte das Verhältnis zu meiner Frau natürlich noch unerträglicher. Es kam zwar zu keinen Szenen zwischen uns, vielleicht auch, weil ich Angst vor dem Gesinde hatte, besonders nach der Flucht meiner Mutter, deren Beweggrund ein offenes Geheimnis war. Nein, kein Wort fiel zwischen uns; aber zwischen ihr und mir wuchs gleichsam etwas aus dem Boden, etwas wie ein düster drohender Baum, der seinen kalten Schatten auf uns warf, hinter dessen Stamm wir ständig lauerten, uns versteckten und zugleich verfolgten, in lautlosem Schweigen, das grauenvoller war als jedes Wort. Denn im Grunde hatte jeder Angst vor dem anderen.«

»Sie war eine Frau, die unter einem sanften, gleichgültigen Wesen einen harten Willen und einen unbeugsamen Stolz verbarg. Sie ließ sich nicht von mir scheiden, weil sie durch ihre wenig standesgemäße Heirat viel Anstoß erregt hatte, und auch, weil sie mich wirklich liebte. Trotz all meiner Fehler, ja, gerade wegen meiner Fehler liebte sie mich. Mit einer sinnlichen Liebe, die nur zeitweise alles andere überwand, die im Grunde starrte von Erbitterung und Haß, die unbarmherzig, fast grausam war. Aber immerhin, es war Liebe. Gebe Gott, daß deine Liebe nicht auch so ist, Sarina!«

Erschrocken, wie aus einem tiefen Traum erwachend, öffnete die Frau die Augen und richtete sich beschwörend auf.

»Christian!«

Aber schon aus dem bloßen Klang dieser Stimme, die auf einmal etwas fast Heiseres hatte, glaubte er eine erwachende Feindschaft herauszuhören. Vielleicht hatte Sarina schon alles erraten, und einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, seine Erzählung zu bemänteln, noch einmal ihren Schluß zu fälschen. Um so mehr, als sie die andere gleichsam um ihrer selbst willen zu verteidigen versuchte.

»Bist du auch sicher, Christian, daß sie wirklich so war? Ein ewiges Mißverständnis scheint zwischen zwei Liebenden zu bestehn. Irgend etwas treibt sie zueinander hin, und etwas anderes wiederum drängt sich zwischen sie – zwingt sie, einander wehzutun. Und du? Erweckst du nicht auch den Anschein, als wolltest und könntest du dein Herz nicht ganz hingeben? Genau so war es vielleicht auch bei ihr; aber nur dem Anschein nach. Du selbst hast sie vielleicht zugleich gehaßt und geliebt. Sonst hättest du die Kraft gefunden, dich zu trennen von ihr.«

»Ja, das ist wahr! Ich haßte sie, weil ich sie liebte, und mein Schmerz darüber war ein Grund zu neuem Haß. Für mich war sie der Inbegriff des Glückes – eines Glückes, von dem ich als junger Mensch geträumt hatte, in den Tagen meiner Armut. Sie war schön, war reich, war klug – denn das war sie auch – war der ewige Frühling, war vor allem die Liebe, nach der ich mich stets so sehr gesehnt. Und dennoch mußte ich immer wieder fühlen, daß sie mir entglitt, wie Wasser zwischen den Händen, und das erbitterte mich noch mehr. Zuweilen ging ich soweit, sie zu verfluchen, ihr den Tod zu wünschen. Dann sank ich plötzlich erschöpft zusammen, hatte das Gefühl, ich hätte alles um mich her vernichtet und zerstört. Aber da regte sich schon wieder die Leidenschaft in den Tiefen meines Herzens, und ich ging sie suchen, riß sie wieder an mich, begann von neuem sie zu lieben, sie zu hassen und mich und sie zu quälen.«

Er verstummte plötzlich, als hätte er nun alles gesagt.

»Nun,« flüsterte Sarina, »und warum quälst du dich auch jetzt noch immer? All das ist nun doch überwunden, und ich wüßte nicht, warum die Vergangenheit sich in der Zukunft wiederholen sollte. Du wirst doch weder mich so lieben, noch ich dich. Trotzdem –«

»Trotzdem –?«

»– bin ich fast eifersüchtig auf deine frühere Liebe. Denn sie ist noch immer lebendig in deinem Herzen, Christian.«

»Sarina,« sagte er daraufhin, zurückweichend und das Gesicht ins Gras wühlend, »sag' das bitte nicht!«

Da tönte ihre Stimme hell und fragend an sein Ohr, fast wie die Stimme einer Mutter, die ihr Kind in der Ferne ruft:

»Christian?«

»Christian!« wiederholte er, sich auf den Ellenbogen aufrichtend, mit dem Gesicht zwischen den Händen.

»Ich entsinne mich, wie du zuweilen deinen Gatten riefst. Ja, ganz genau so riefst, wie aus der Tiefe eines Abgrunds.«

Die junge Frau erwiderte nichts. Auch sie war wieder in ihre Erinnerungen verstrickt. Und wieder begann er zu erzählen, aber ganz unzusammenhängend, als rufe er sich die Dinge ins Gedächtnis, die ihn am meisten quälten.

»So verging die Zeit. Aber sie linderte mein Leid nicht etwa; nein, sie verschlimmerte es sogar. Glaube nicht, daß ich mich seiner nicht zu erwehren versuchte, aber es war stärker als ich, war mein Schicksal. Vielleicht hatte ich den leeren Tand des Lebens zu sehr geliebt, und dafür strafte das Leben mich jetzt. Du darfst nicht glauben, daß ich mir meines Zustandes nicht bewußt war, daß ich mich nicht aufzuraffen versuchte aus ihm. Aber bei jeder Bewegung sank ich nur noch tiefer.«

»Ich arbeitete, ich verdiente sogar Geld, aber die Arbeit, in der ich mein Leid zu ertränken versuchte, steigerte es noch. Ich war bestrebt, im Leben der anderen Menschen aufzugehen, genau so zu sein wie sie und das zu tun, was ein echter Mensch ihrer Meinung nach zum Nutzen und zum Wohl der Allgemeinheit tun soll. Aber ich sah zu deutlich das Gerippe aller Dinge, sah, wie morsch und wie zerbrechlich sie im Innern waren, wenn sie auch äußerlich noch so schön und unerschütterlich erschienen. Trotzdem versuchte ich, mich selber zu belügen und zu glauben, und beneidete die anderen um ihr Glück, um ihre Liebe. Ich sah die Liebe sogar in jedem Ding, wie den Kern in einer Frucht: in allem Streben, allem Ehrgeiz, allem Laster. Und mein Leid bestand darin, daß ich diesen Kern auch in mir selber fühlte, aber wie eine tote Last. Weil nun aber all meine Versuche, andere Menschen, andere Dinge zu lieben, fehlschlugen, gab ich ihr die Schuld daran und am meisten quälte mich das tief in meiner Seele wurzelnde Bewußtsein, daß meine Beschuldigung ungerecht war. Der wahre Grund war ein anderer, wie ich jetzt weiß und übrigens auch schon damals wußte. Der wahre Grund ist, daß wir die Liebe bei den anderen suchen, während sie doch nur in unserem Innern lebt, daß wir nur Freude von ihr erwarten, während sie doch mehr Leid als Freude in sich trägt.«

»Hätten wir Kinder gehabt,« fuhr er nach bangem Schweigen fort, »so hätte ich sie vielleicht nicht geliebt, aber die Kinder hätten doch verhütet, daß ich ständig in mir wühlte und mich in mir selbst verzehrte. Aber all das sind müßige Betrachtungen, die immer wieder die Qual in meinem Innern schüren und nicht ruhen lassen.«

Schweigend hörte Sarina ihm zu. Sie wartete auf das Ende seiner Beichte und hatte doch Angst davor. Auf einmal fing sie an, zu sprechen, als wollte sie seine quälenden Erinnerungen mit ihren eigenen, nicht minder quälenden verwischen.

»Nun, all das gehört doch der Vergangenheit an. Warum quälst du dich also noch immer? Auch ich litt in meiner Ehe, wie wohl selten eine Frau gelitten hat. Du hast recht: wir suchen die Liebe und die Freude bei den anderen, während sie doch nur in unserem Inneren leben. Auch ich litt unter der wachsenden Entfremdung zwischen mir und meinem Mann. Er zwang mich, in der Einsamkeit zu leben, während ich vor Sehnsucht nach der Welt verging: nach einem Leben unter gleichgesinnten Menschen. Auch ich hatte stets Heimweh nach einem früheren Leben, in dem ich mich glücklich fühlte, zu dem es mich zurückzog – wie das Wasser zum Meer. Und er fühlte dieses Verlangen in mir und litt darunter. Auch ich mache mir zuweilen Vorwürfe – schwere Vorwürfe. Hätte ich ihn zärtlicher geliebt, so wäre er vielleicht niemals krank geworden. Aber schließlich gehört all das nur der Vergangenheit an. Sie sind tot und leiden nicht mehr. Weshalb sollen wir uns also noch immer mit diesem Schattenspiel quälen? Raffe dich auf, Christian, sieh, wie licht es um uns her ist.«

Zärtlich streichelte sie sein Haar und versuchte sein Gesicht aufzurichten. Aber er war wie eingekreist von seinen Erinnerungen.

Schwer sank sein Haupt wieder auf die Brust herab. Ihre Zärtlichkeit schien ihn sogar zu erzürnen. Wieder wich er zurück und sagte mit der rauhen, heftigen Stimme von früher:

»Ich muß dir noch etwas sagen. Berühre mich also nicht, sieh mich nicht einmal an. Unsere Seelen sollen sich so verstehen, durch den bloßen Klang unserer Stimme.«

Und eingeschüchtert, fast ängstlich, wie in erwachendem Argwohn klang es zurück:

»Sprich.«

»Also – höre zu und erschrick nicht: ich war wahnsinnig. Das behauptete wenigstens meine Frau, die mich eines Tages abholen und in eine Irrenanstalt bringen ließ. Sie behauptete, ich hätte sie zu ermorden versucht. Ob es wahr ist, weiß ich nicht. Nein, ich weiß es wirklich nicht, Sarina! Ich erinnere mich nur noch dunkel an diese Zeit, wie an einen grauenhaften Traum. Aber ich war acht Jahre in einem Irrenhaus, bis sie schließlich starb.«

*

Die Frau schwieg.

Er sah sie nicht an, er rührte sich nicht. Aber nach einem bangen Schweigen sagte er mit demütiger, zitternder Stimme:

»Sag mir bitte gleich, was du denkst. Sag es mir getrost, habe keine Angst vor mir!«

Ein ersticktes Schluchzen war die Antwort. Aber wie sollte er es deuten? Als ein Zeichen von Grauen oder von Mitleid?

Und wieder sank er in sich zusammen, mit dem Gefühl, sich selbst eine tiefe Gruft gegraben zu haben, aus der er nie mehr würde entfliehen können.

*

Trotzdem bereute er seine Beichte nicht. Ihm war fast, als habe er eine Maske abgenommen, auch vor sich selbst, als könne er sich nun endlich nackt in seinem tiefen Schmerze zeigen.

Da rief auch sie ihn plötzlich wieder, mit dem gleichen Mitleid, der gleichen verzweifelten Liebe, mit der sie einst den anderen gerufen hatte:

»Christian?«

Er sah auf, begegnete ihrem Blick, aber die Seelen fanden sich nicht mehr: Ein geheimnisvoller Abgrund hatte sich zwischen ihnen aufgetan.

»Steh auf,« sagte sie wieder so gequält, daß er rasch aufstand und eine gemessene, fast steife Haltung einnahm.

Zunächst sah er die Frau mit seltsam funkelnden Augen an: mit einem bösen, fast grausamen Blick, als weidete er sich an dem Schmerz, den er durch seinen eigenen in ihr geweckt. Dann aber verschleierten seine Augen sich plötzlich wieder, und er schien sich an etwas zu erinnern, was er ganz vergessen hatte.

»Verzeihe mir,« sagte er, »ich tue dir so weh.«

*

»Übrigens,« setzte er scheinbar ganz ruhig hinzu, »bin ich jetzt wohl geheilt. Du kennst mich doch und hast doch nie den leisesten Verdacht gehabt. Ich glaube, ich sehe jetzt ganz klar, vielleicht sogar zu klar. Allerdings sagtest du einmal: die Wahnsinnigen sind der Wahrheit vielleicht näher als wir selbst. – Erinnerst du dich noch an all die Dinge, die du sagtest, Sarina? Jedes deiner Worte verwundete mich, und trotzdem schöpftest du keinen Verdacht. Ein Zeichen, daß ich dir gesund erschien.«

»Sarina,« fuhr er fort, als er sah, daß sie ihm mit einer fast krankhaften Unruhe zuhörte, »ich weiß, was du denkst. Du denkst, du müßtest dies grauenvolle Leben von einst vielleicht mit mir von neuem beginnen. Verzeih mir, daß ich nicht früher zu dir sprach. Aber es ist noch immer Zeit. Noch bist du frei, noch kannst du mich verlassen.«

Sie sah ihn mit ernsten, traurigen Augen an, aber jetzt ohne eine Träne. Dann reichte sie ihm plötzlich beide Hände, und er ergriff sie zögernd und küßte sie. Und dabei mußte er wieder daran denken, wie sie sich damals über ihren toten Gatten warf, bevor der Deckel des Sarges sich für immer über ihm schloß.

*

»Und nun?« sagte er leise, mehr wie zu sich selbst.

»Was werden wir nun tun, Sarina?«

Und darauf sagte sie genau so leise:

»Das – was du willst.«

Das – was du willst! Er fühlt sein Herz laut, fast jubelnd schlagen. Das – was du willst! Sie stieß ihn also nicht von sich, liebte ihn noch immer, unterwarf sich ihm sogar. Das – was du willst! Ganz leise, fast ängstlich kam die Antwort über ihre Lippen –

Da strich er sich mit der Hand über die Augen, wie um die düsteren Zweifel zu verscheuchen.

Sarina sah ihn an und begriff alles. Sie fühlte diese Zweifel, sah immer wieder dunkle Schatten über seine Seele gleiten. Tiefe Trauer beugte ihr Haupt zur Erde. Aber die Erde selbst, das Meer, der Wind raunten ihr tröstliche Worte zu. Sie richtete sich wieder auf und lachte plötzlich.

»Wie töricht sind wir alle beide, daß wir uns noch immer quälen!« sagte sie und stand auf. »Die Vergangenheit ist doch nun überwunden. Komm, Christian, wir wollen weitergehen. Alles war nur ein böser Traum.«

Er schüttelte den Sand vom Saume ihres Kleides, hielt ihn mit beiden Händen fest, als wollte er sie wieder zu sich herabziehen. Am liebsten wäre er immer hier geblieben, wie einer, der den Abstieg von einem steilen Gipfel scheut.

Zögernd stand er schließlich auf, ergriff wieder ihre Hand. Zunächst wollte diese ihm entgleiten, aber dann schlangen ihre kühlen Finger sich unwillkürlich fester um die seinen.

Ihm war freilich nichts entgangen. Als sie an das Gatter seines Gartens kamen, versuchte er die Frau ins Haus zu ziehen. Aber diesmal widerstrebte sie und zog ihn langsam weiter.

*

Am Nachmittag ging er wieder ins Dorf. Er wollte ein Geschenk für sie kaufen: das erste Brautgeschenk. Aber soviel er auch umherlief, er konnte nichts Geeignetes für sie finden. Der kleine Goldschmiedeladen war geschlossen, weil sein Inhaber hatte einrücken müssen, und in den anderen Schaufenstern sah er nur ganz billige Kettchen und altmodische Gegenstände. Ihm blieb nichts anderes übrig, er mußte in die Stadt fahren, und dieser Gedanke beunruhigte ihn nicht einmal. Im Gegenteil, aus ihm wuchs allmählich der unbestimmte Plan, endgültig in die Welt zurückzukehren, in die Gemeinschaft der Menschen, zusammen mit ihr, wie sie es wünschte.

Dann wanderte er langsam am Rand der Straße entlang zurück, im warmen Schein der Abendsonne, wieder von der Zukunft träumend wie in seiner Jugend. Als er an das Plätzchen kam, wo er mit Sarina gesessen hatte, blieb er stehn und blickte sich um. Zarte Haufenwolken hoben sich gegen den blaugrünen Himmel ab, wie die Türme und Kuppeln einer Stadt.

Das seltsame Luftgebilde dünkte ihm ein gutes Zeichen. Ja, er sollte wieder zurückkehren zu den Menschen. Lange stand er da und blickte mit fast abergläubischer Scheu nach der fremden Stadt, die ihn mit ihren Türmen rief und lockte. Und auf einmal entdeckte er zwischen ihnen auch ihr künftiges Haus, am Ende einer schmalen, dichtbelaubten Straße, und das Rauschen der Wellen, die gegen das einsame Gestade spülten, brandete wie der ferne Lärm der Stadt herüber.

Es ist ein Abend im Mai. Er und Sarina schlendern durch die belebten Straßen, durch das Gewühl der Menge, eine Woge unter Wogen. – Die Dämmerung lagert wie ein rosagrauer Schleier über allen Dingen, umflutet blau und grün die Brückenbögen und Pfeiler, läßt die Gesimse an den Häusern klar hervortreten, fast wie aus Ebenholz geschnitzt. Lange Lichterketten flammen auf im Dunkel, ein milchigweißer Schein ergießt sich über die Straßen. Es ist fast, als wanderten sie zwischen Tag und Nacht dahin, sanft getragen vom Strom der vielen Menschen, der langsam die spiegelnde Asphaltbahn entlang fließt, an hell erleuchteten Schaufenstern vorbei, hinter denen soviel verlockende Gegenstände winken. Und immer wieder bleibt Sarina stehen, bewundert sie, möchte sie alle haben.

»Ich werde arbeiten, Geliebte,« denkt er in jugendlichem Überschwang. »Unermüdlich arbeiten, damit ich dir jeden Wunsch erfüllen kann.«

*

Schon von weitem sah er, daß die Fenster des weißen Häuschens geschlossen waren. Fest geschlossen, wie in den traurigen Tagen der Vergangenheit. Und obwohl das ganze Haus im rötlichen Schein der Abendsonne erglühte, machte es einen verlassenen, fast ausgestorbenen Eindruck, der ihn an die Stunden seiner Einsamkeit erinnerte.

Er ging ums Haus herum, sah, daß die Küchentür offen war, und atmete erleichtert auf.

Aber da hatte er plötzlich das Gefühl, als lauere irgend jemand im Verborgenen auf ihn und werde sich jeden Augenblick mit lautem Wutgeheul auf ihn stürzen. Es war der Hund. Mit blutunterlaufenen Augen richtete er sich in seiner Hütte auf und bellte ihn an wie in der ersten Zeit, als er ihn noch nicht kannte.

Überrascht, fast erschrocken blieb er stehen und sah ihn an. Ihm war fast, als hätte auch das Tier ihn ergründet.

*

Ein wenig außer Atem, mit schweren Schritten kehrte die Magd schließlich aus dem nahen Gehölz zurück, wo sie gewesen war, um einen Trupp Soldaten vorbeiziehen zu sehen.

»Wo ist deine Dame?« fragte Christian, noch immer ganz befremdet durch das Gebell des Hundes.

»Die Dame ist nicht zuhause. Sie ist wieder ins Dorf gegangen, um etwas zu besorgen.«

»Ich war doch auch im Dorf und habe sie nicht getroffen. Aber was ist denn mit dem Hund los heute?«

»Ich weiß nicht. Er bellt schon den ganzen Tag.«

Langsam ging er wieder fort. Die Frau folgte ihm. Scheinbar wollte sie ihm noch etwas sagen, rückte aber erst damit heraus, als sie auf der anderen Seite des Hauses standen.

»Ich glaube, die gnädige Frau ist fortgegangen, um ein Geschenk für Sie zu kaufen.«

Freudig überrascht blickte er auf. Aber als er das Gesicht der Magd, die im hellen Schein der Abendsonne vor ihm stand, mit dem langen Schatten im Gras der Wiese, dann näher betrachtete, da erschien es ihm seltsam fremd, wie erfüllt von tiefer Traurigkeit und bitterem Spott.

»Hat sie das zu dir gesagt?«

»Nein, sie sagte nur, sie gehe ins Dorf, um ein Geschenk zu kaufen. Ich vermute aber, es ist für Sie, Denn ich weiß, daß Sie und meine Dame heute den Tag der Hochzeit festgelegt haben.«

»Hat sie dir das erzählt?«

»Ja, das hat sie mir erzählt.«

»Nun, es ist auch so. Tut es dir etwa leid?«

Die Magd sah ihn fragend an, überrascht durch den bangen Ton, in dem er mit ihr sprach.

»Warum soll es mir denn leid tun?«

»Nun – weil du doch sicher auch schon weißt, daß wir bald fortziehen werden von hier.«

Da blinzelte sie ihn auf einmal mit vertraulicher, halb trauriger, halb spöttischer Miene an, die einen seltsamen Eindruck auf ihn machte.

»Das ist doch mein größter Wunsch. Fortzugehen von hier! Meinetwegen auch gleich. Wir sind schon viel zu lange in dieser gottverlassenen Gegend.«

»Oho!«

»Ja,« sagte sie fast grob, »dieser Lump hat mich sitzen lassen. Zuerst versprach er mir die Heirat, und jetzt läßt er sich überhaupt nicht mehr sehen. Ich kann ihn nicht einmal finden. Dabei hab' ich ihm auch noch Geld geborgt – der Teufel soll ihn holen!«

Inzwischen waren sie bis an den Zaun gelangt und blickten beide nach der Straße. Aber niemand war zu sehen auf ihr.

Christian tröstete die Magd:

»Kopf hoch! Jetzt ziehen wir ja fort. In die Stadt, wie deine Dame wünscht. Dort wirst du dann genug Ersatz finden für diesen treulosen Gesellen.«

Die Magd schüttelte den Kopf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber nicht einmal die Tränen, die langsam über ihr Gesicht rollten, vermochten den gehässigen Ausdruck aus ihm zu tilgen.

*

Er wartete im Freien auf Sarinas Rückkehr. Langsam schlenderte er die Straße ein Stück entlang und kehrte dann wieder zu der Wiese zurück. Die Sonne ging unter, die Dinge sanken in den Schlaf, die Grashalme zogen, einer nach dem anderen, ihren Schatten ein.

Sarina aber kam noch immer nicht.

Da zweifelte er plötzlich daran, ob sie überhaupt fortgegangen war.

Er betrachtete die geschlossenen Fenster, und wie in gekränktem Stolz entfernte er sich wieder, auf sein Haus zu.

Es war fast schon Abend.

Die Dämmerung, die langsam immer dichter wurde, lagerte nach dem leuchtenden Sonnenuntergang seltsam fahl, fast wie ein feiner Aschenregen über dem Land.

Er fröstelte, während er sein Haus betrat. Der Kater schlummerte auf dem Herd, wie an den Wintertagen. Die Gegenstände im Zimmer, auf denen da und dort noch ein blasser Schimmer spielte, schienen ihn wie früher anzusehen und jede seiner Bewegungen zu belauern.

Und er fühlte, daß irgend etwas in der Luft lag: daß Sarinas Geschenk zeitlebens auf ihm lasten werde.

Er setzte sich auf das schmale Bett, war schon entschlossen, wieder ins Freie zu gehen.

»Wenn sie inzwischen noch nicht zurückgekehrt ist, werde ich sie im Dorfe suchen.«

Und er tat so, als ob er sich nur wegen ihres langen Ausbleibens Sorgen machte. Aber im Grunde spürte er, daß er sich nur täuschen wollte, daß sie längst zuhause war.

Vielleicht war es besser, nicht zu ihr zu gehen. Wenn sie sich vernachlässigt sah von ihm, würde sie ganz von selbst kommen. Aber wozu waren sie dann eigentlich verlobt, wenn sie sich verstecken sollten voreinander wie zwei verliebte Kinder?

Nein, nein, Christian, auch das ist eine Täuschung. Nicht einmal das kindliche Versteckspiel der Liebenden ist euch beiden noch vergönnt. Im Grunde, im tiefsten Grunde deines Herzens fühlst du die Wahrheit: daß Sarina dir nicht mehr gut ist, weil du gefangen bist in dir selbst.

»Ach, warum habe ich nicht geschwiegen?« seufzte er, den Kopf verzweifelt in das Lager wühlend.

Und ihm war als hörte er die vorwurfsvolle und doch so demütige Stimme Ghianas:

»Das, was du mir antatest, wird sie jetzt dir antun.«

Auch Ghiana verließ ihn also jetzt! Aber was kümmerte ihn Ghiana? Um sich dem Banne der gespenstischen Erscheinung zu entziehen, stand er auf. Aber er hatte Angst, sich von der Stelle zu rühren, zuzugehen auf sein Schicksal.

Ja, er hatte Angst, Licht zu machen, hatte Angst vor allem, wie ein allein im Dunkel zurückgebliebenes Kind.

Es war schon Nacht. Da glitt auf einmal ein sanfter Schein über den Himmel wie am Morgen: es wurde wieder hell, die Scheiben des Fensterchens schimmerten wie aus Perlmutter: der Mond war aufgegangen.

Und alle Gegenstände in dem Kämmerchen bekamen etwas Gläsernes, fast Durchsichtiges, als zeigten sie sich erst jetzt in ihrer wirklichen Gestalt. Dann bewegte sich plötzlich etwas zwischen den seltsamen Formen, dem regungslosen Spuk: etwas Kleines, Schwarzes mit funkelnden Augen. Es war der Kater, der im Mondschein spielte. Lautlos und behend, fast wie ein Vogel hüpfte er durch das Zimmer, und nachdem er sich ein paar Mal überzeugt hatte, daß das zierliche Astwerk auf dem Lichtviereck des Fensterchens am Boden nur ein Schatten war, sprang er zu seinem Herrn auf das Bett.

Und dieser nahm ihn auf die Knie und streichelte zärtlich sein Fell. Er hatte das Gefühl, als wären er und dieser einsame Gefährte die letzten Lebewesen auf der Welt. Alles andere war begraben unter einer Flut von Asche, und nur der Mond erfüllte mit seinem kalten, klaren Licht die grauenvolle Leere.

*

Trotzdem stieß er das Tier plötzlich fast heftig von sich – auf den Boden – und richtete sich lauschend auf.

Ein Schritt!

Wie ein Hauch von Leben ging es auf einmal wieder durch den toten Raum. Alles erwachte, alles erglänzte noch heller als zuvor beim bloßen Klange dieses Schrittes.

Nur er blieb unbeweglich sitzen, mit angehaltenem Atem, wie um den schönen Zauber nicht zu stören.

Und in den wenigen Augenblicken, die die Frau bis zur Tür brauchte, warf er sich tausend Dinge vor. Ihm war, als hätte er sie geschlagen, als hätte er sie verleumdet, als wäre er noch grausamer zu ihr gewesen als zu der anderen. Und all das nur, weil er an ihr gezweifelt hatte.

Sie dagegen – sie kam vertrauend zu ihm, um ihn zu trösten, um ihn zu beschenken.

Lautlos und behend, fast wie der Kater glitt sie auf ihn zu, setzte sich neben ihn und öffnete die geschlossene Hand. Auch in ihrer Hand glitzerte es hell. Sie hatte ihm ein Brautgeschenk mitgebracht: ein kleines goldenes Medaillon mit einem Heiligenbild.

Behutsam legte sie es um seinen Hals, und er erschauerte unter der Berührung ihrer zarten Finger.

»Warum kauerst du hier ohne Licht im Dunkeln?« fragte sie dann.

»Ich wartete auf dich.«

»Du hättest doch auch zu mir kommen können.«

»Ich war schon einmal bei dir, aber du warst nicht zuhause.«

»Nun, dann hättest du doch noch einmal kommen können.«

»Ich hatte solche Angst –«

Ein kurzes banges Schweigen. Warum antwortet« sie nicht gleich? Ach, sie schien ihn nicht zu verstehen. Aber im Grunde seines Herzens fühlte er genau, daß sie ihn in Wirklichkeit nur zu gut verstand.

»Angst? Vor was denn Angst?«

»Nun – davor, daß du mich kühl und fremd empfangen könntest.«

»Warum denn das?«

»Christian? Christian?« rief sie zweimal bekümmert und vorwurfsvoll, während er sich scheu zusammenkauerte, als wollte er sich verstecken vor ihr. Da nahm sie seine Hand, legte sie auf ihr Knie, begann sie sanft mit beiden Händen zu streicheln, wie um sie zu wärmen und ihr wieder etwas Leben einzuflößen. Dann drückte sie zärtlich seinen Puls, fühlte das Blut in den Adern pochen, glitt noch höher mit ihren warmen Fingern, berührte seinen Arm, der wie abgestorben war; und auf einmal fühlte er wieder die Kraft in sich, zu glauben, zu lieben, sich selber zu belügen.

Sie liebte ihn, sie war bei ihm. Er konnte sie an sich ziehen, konnte sie für immer an sich fesseln. Das wollte sie vielleicht sogar, nur deshalb war sie vielleicht hergekommen.

Aber er wollte nicht.

»Sarina,« sagte er, den Kopf an ihre Schulter lehnend, »du bist so gut. Ich zweifle nicht an dir. Aber in mir selbst ist es so dunkel, daß schon der bloße Gedanke, du könntest mich vielleicht verlassen, mich mit tödlicher Angst erfüllt. Und deshalb kann und will ich nicht zweifeln an dir. Gewiß, ich bin nicht so wie andere Menschen, ich handele nicht nach ihren Gesetzen. Aber wer hat recht? Ich oder sie? Ein anderer an meiner Stelle würde sein Glück ergreifen, würde dich an sich ziehen und dich für immer an sich binden. – Aber das will ich nicht, verstehst du, All das, was ich dir heute morgen erzählte, soll keinen Schatten werfen zwischen uns. Nein, unser Schicksal soll sich erfüllen, als hätte ich kein Wort gesagt. Wenn du aber glaubst, daß ich noch immer wahnsinnig bin –«

Er sprach nicht weiter, weil sie wieder in Tränen ausbrach wie heute morgen, nach seiner Beichte. Aber statt ihren Tränen freien Lauf zu lassen, verwischte sie sie mit zitternden Händen auf dem Gesicht. Dann strich sie mit diesen von Tränen genäßten Händen über seine Wangen, gleichsam jedes Fältchen, jede einzelne Linie abtastend, wie um sie sich für immer einzuprägen.

Unsäglich viel Mitleid sprach aus dieser rührenden Gebärde, eine Liebe, wie sie vielleicht nur eine Mutter in ihrer schmerzensreichen Stunde für das Wesen fühlt, das sie gebärt. Langsam glitt er von dem Bett zu Boden, sank vor ihr auf die Knie und fragte sich, ob er ihr nicht noch mehr geben könnte, als er ihr schon gegeben hatte.

»Weine nicht,« sagte er. »Solange du weinst, hast du noch Angst, siehst du noch etwas in mir, was ich nicht bin! Sag du mir, was ich tun soll. Mache mit mir, was du willst. Nimm mich, wenn du mich nehmen willst – verlaß mich, wenn du mich verlassen willst. Bestimme über mich, als wärest du mein Schicksal. Denn ich fürchte jetzt, daß alles, was ich tue oder sage, deinen Argwohn weckt. Du selber sollst mir raten, sollst mich als deinen Knecht betrachten –«

»Sei still, ich bitte dich!« rief sie, eher bekümmert als erfreut. »Es bedarf keiner Worte für den, der wirklich liebt. Komm, steh auf.«

Aber er stand nicht auf.

»Du glaubst also nicht an meine Worte, Sarina –«

»Doch, ich glaube dir. Ich glaube an alles, was du sagst, weil du mich liebst, weil all das, was wir in den Stunden der Liebe sagen, tiefste Wahrheit ist. Die Lüge stellt sich erst später ein. Aber was geht uns das an? Solange wir einander nahe sind und uns lieben, ist alles lauterste Wahrheit. Quäle dich nicht meinetwegen. Gewiß, du hast mir weh getan, aber ich dir auch. Um so mehr sollten wir jetzt danach trachten, einander nicht mehr weh zu tun, sollten brechen mit der Vergangenheit und von morgen an ein neues Leben beginnen.«

Aber sogar vor diesen Worten hatte er Angst. Er witterte einen verborgenen Sinn in ihnen, eine heimliche Drohung. Aber er sagte es nicht.

»Ich muß jetzt gehen,« flüsterte sie plötzlich und stand auf. »Die Magd braucht nicht zu merken, daß ich bei dir war. Sie ist so boshaft. Also – begleite mich auch nicht.«

»Hast du den Arzt im Dorf gesehen?«

»Ja, ich – traf ihn ganz zufällig. Warum fragst du danach?«

»Hast du mit ihm über mich gesprochen?«

»Christian!« rief sie halb entrüstet, halb gequält. Sie erriet seinen heimlichen Gedanken.

»Verzeih mir,« murmelte er. »Aber ich habe wirklich Angst, daß ich noch immer wahnsinnig bin, daß ich es vielleicht immer bleibe. Verstehst du, ich habe Angst, dir könnte grauen vor mir, und ich benehme mich nur so – so kindisch, um dir zu beweisen, daß ich klaren Geistes bin wie jeder andere. Jeder andere würde freilich anders handeln. Er würde auf sein Gefühl vertrauen, würde seiner Leidenschaft die Zügel schießen lassen. Aber ich bin eben nicht so wie andere Menschen, und deshalb ist es wohl auch besser, wenn du fortgehst, Sarina, wenn du mich verläßt –«

»Ach Gott, ach Gott,« seufzte sie, hielt aber plötzlich an sich und setzte sich wieder neben ihn.

»Nein, Christian, ich werde dich nie verlassen. Hier bin ich und hier bleibe ich. Und nunmehr bitte ich dich: Mache mit mir, was du willst! Ich fürchte mich vor nichts, nicht einmal vor dem Tod.«

»Wie sonderbar, genau so sprach auch Ghiana –« sagte er bestürzt. »Und auch sie wußte alles. Aber mir graut vor etwas anderem. Mir graut davor, daß auch das Kind umnachtet ist –«

»Ach Gott, ach Gott,« seufzte sie wieder und biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Trotzdem konnte sie nicht fortgehen. Eine rätselhafte Macht hielt sie bei dem Manne zurück, und sie fühlte, daß er, wie sie selbst einmal erraten hatte, der Wahrheit näher war als die Gesunden.

»Geh jetzt,« sagte er noch einmal, sie sanft von sich drängend, »ja, es ist wirklich besser, wenn du gehst. Ich durchschaue dich ganz genau. Du trugst dich mit der Absicht, heimlich abzureisen, nachdem du mit dem Arzt gesprochen hattest, der dir dazu riet und dir vielleicht sogar behilflich sein will bei deiner Flucht. Und nur aus Mitleid wolltest du noch Abschied von mir nehmen, genau wie damals von dem Leichnam deines Mannes. Ja, du bist mitleidig. Mitleidig und grausam wie das Leben. Und jetzt denkst du: er ist der Wahrheit näher als ich selbst, und deshalb ist es vielleicht besser, wenn ich bei ihm bleibe. Aber wenn er mich nicht hinnimmt – in Freuden hinnimmt, wenn er mich nicht heute nacht noch an sich fesselt durch die Bande des Fleisches, werde ich ihn im Morgengrauen verlassen. Denn mit dem Tag erwacht das Herz der Lebenden zu einem neuen Wahn von Freude. Und du bist doch eine Lebende, Sarina, bist aus dieser Welt des Wahnes, während ich schon seit vielen, vielen Jahren wie ein Toter bin, müde alles irdischen Seins.«

Sie zitterte heftig und versuchte ihn an sich zu ziehen. Aber immer wieder drängte er sie von sich, bis sie begriff, daß er wirklich kalt und gefühllos war wie ein Toter.

Da stand sie wieder auf.

»Christian,« sagte sie, »ich weiß, du willst mich nur prüfen. Nun gut, ich werde morgen wiederkommen, werde so lange wiederkommen, bis ich dich überzeugt habe. Der Wahn – bist du, und ich die Wirklichkeit. Also – ich werde morgen wiederkommen, und dann wirst du wohl einsehn, daß du unrecht hast. Gute Nacht.«

Er begleitete sie bis zur Tür, sah sie im sanften Schein des Mondes fortgehen mit ihren hohen schmalen Beinen, und zweifelte trotzdem nicht an ihrem Versprechen.

Fast glücklich schlief er ein und träumte von ihr.

Aber ihm war im Traum, als hätte er alles nur geträumt. Nein, sie war ja gar nicht da gewesen, sie würde nie mehr wieder kommen. Wäre sie wirklich da gewesen, hätte sie sich ihm angeboten wie eine Frucht am Baum, und hätte er sie dann verschmäht, so wäre er weiß Gott ein Narr gewesen. Und dennoch wartete er immer noch auf sie, obwohl er wußte, daß sie nie mehr zurückkehren werde.

Aber dieses Gefühl der Erwartung, der Hoffnung, der bangen Freude war ja nichts anderes als das Gefühl des Lebens überhaupt. Auf was wartet, auf was hofft man eigentlich? Auf nichts. Und trotzdem wartet und hofft man immer weiter.

Da glitt er plötzlich aus dem Traum in die Wirklichkeit zurück, fühlte das Medaillon auf seiner Brust, warm, fast lebendig – ein untrügliches Zeichen, daß sie wirklich dagewesen war. Er wollte aufstehen, wollte zu ihr eilen. Aber die Angst, sie könnte ihn für irrsinnig halten, hinderte ihn daran.

Still und ruhig, in wunderbarer Klarheit schimmerte die Mondnacht durch das Fenster. Ihm war fast, als sei die Erde stehen geblieben im All, als sollten endlich alle Dinge und alle Menschen Frieden finden.

Trotzdem konnte er nicht mehr einschlafen. Er glaubte den Hund in der Ferne heulen zu hören, und wieder kreisten und wirbelten die verworrenen Bilder der Vergangenheit durch seinen Geist.

Was ereignet sich wohl jetzt dort drüben in dem weißen Häuschen? Auch Sarina schläft sicher nicht, sicher bedrängen die Schatten der Vergangenheit auch sie. Aber sie ist stark und mutig genug, um sich nicht überwältigen zu lassen von dem Spuk der Toten, ja nicht einmal von dem der Lebenden. Mit ihren schlanken, flinken Füßen wird sie fliehen, wird sie in die Welt enteilen. –

Und wie früher spielte ein höhnisches Lächeln um seine Lippen. Geh ruhig fort, Sarina, fliehe so weit du willst. Einmal kreuzen sich unsere Wege dennoch wieder. –

*

Erst gegen Morgen schlief er ermattet und traurig wieder ein. Wieder narrten ihn die Träume mit ihrem rätselhaften Spiel von Leid und Freud. Er sieht die Mutter mit dem Arzte fliehen, sieht, wie Sarina auf den Steinbalkon am Hause seines Wohltäters tritt. Er aber haust nun ganz allein in dem bescheidenen Heim im fünften Stock, und ist im Grunde glücklich über diese Einsamkeit.

Und so kam es, daß er sich beim Erwachen fast unglücklich fühlte, daß er zusammenschauderte, als träte er plötzlich aus einem warmen in einen eiskalten Raum.

Langsam richtete er den schweren Kopf auf. Ja, er war allein, und um ihn her war es ganz still und strahlend hell. Jedoch die Helle berührte ihn seltsam fremd, als träume er noch immer. Statt durch das schmale Fenster schien die Sonne durch das Vorzimmer in sein Kämmerchen, und es war fast, als hätte der Gesichtskreis sich verschoben.

Verwirrt sprang er aus dem Bett. So hell es um ihn her war, so dunkel war es in ihm selbst. Ihm war, als hätte er hundert Jahre geschlafen wie der Mönch der Sage, als hätten alle Dinge auf der Welt sich in der Zwischenzeit gewandelt. Dann sah er, daß seine Türe offen stand und daß die Sonne leuchtend durch sie ins Zimmer flutete. Zitternde Schatten von niedrig über den Boden fliegenden Schwalben glitten über die sonnige Rasenfläche vor dem Häuschen, und der Kater haschte nach ihnen.

Es ist also schon spät, vielleicht sogar schon Mittag. Ach, wie lang hast du geschlafen, Christian! Und warum hast du die Tür offen gelassen? In der Überzeugung, daß sie wiederkommen werde?

Sie war nicht wiedergekommen. Vielleicht aus Stolz nicht. Er mußte schon selber zu ihr gehen. Aber er beeilte sich nicht, noch ganz benommen vom Schlaf, erfüllt von dunkler Unruhe, die ihn aus einer Ecke in die andere trieb.

Schließlich öffnete er den Schrank und erinnerte sich, daß er seit gestern mittag nichts gegessen hatte. Trotzdem empfand er fast Ekel vor jeder Nahrung. Er machte die Schranktür wieder zu und ging sich waschen, entdeckte aber, daß die Wasserkanne leer war. In letzter Zeit hatte Sarinas Magd ihm immer Wasser gebracht. Nicht einmal sie war also heute morgen gekommen.

Und auf einmal fühlte er, wie seine Knie heftig zitterten unter dem Ansturm des Zweifels, der in den Tiefen seines Herzens schlummerte, nunmehr jäh erwachte und auch von außen, aus der leeren Kanne, auf ihn eindrang: nicht mehr als Zweifel, sondern als unumstößliche Gewißheit.

Absichtlich ging er nicht zu dem Nachbarhäuschen, absichtlich wartete er noch immer. Er wusch sich nicht, er achtete auf nichts, obwohl er rastlos durch das Haus und durch den Garten irrte. Er sah, wie sein Schatten vor ihm herglitt: plump, fast verwildert, mit struppigem Haar. Trotzdem hatte er keine Angst, so vor Sarina hinzutreten. Nein, nicht die geringste Angst, er wußte ja warum – –

Er wurde immer unruhiger. Er dachte plötzlich daran, Sarina und die Magd, die ebenso verzweifelt war als ihre Herrin, hätten sich vielleicht getötet. Und wieder mußte er spöttisch lächeln, als er merkte, daß er sich das Ende seines Erlebnisses absichtlich in so düsteren Farben ausmalte, um sich zu trösten über das wahre Ende. Trotzdem trieb ihn eine bange Ahnung schließlich ins Freie. Vielleicht war alles nur ein törichter Wahn. Vielleicht war Sarina noch immer dort drüben – in dem weißen Häuschen und wartete auf ihn. Ein paar Schritte noch und alles ist genau so wie zuvor. Auch um ihn her ist alles unverändert, so wie früher. Die Wiese ist noch übersät mit Margueriten und Ranunkeln, die ganze Landschaft prangt im Schmuck der Blüte. Nur die Rauchfahne schwebt nicht mehr über dem First des weißen Hauses.

Die Fenster sind geschlossen. Trotzdem mäßigt er unwillkürlich seinen Schritt, wie um seine Unruhe vor jemand zu verbergen, der durch die Ladenritzen späht. So gelangt er schließlich bis zur Tür. Auch diese ist geschlossen. Ohne anzuklopfen geht er weiter, an der Mauer des Häuschens entlang, die einen Hauch von Wärme und von Leben ausstrahlt. Aber es ist eine fremde, fast gleichgültige Wärme, die ihm keinen Trost gewährt. Es ist die Wärme einer Friedhofsmauer an einem sonnigen Tage im April. Auf der Wiese unter den Bäumen hinter dem Hause schimmern golden die Ranunkeln. Auf der anderen Seite dehnt sich die Heide blühend bis zum Horizont, wo Land und Himmel im blauen Dunst verschwimmen. Alles atmet Licht und Freude. Aber der Mann, der nunmehr unter dem kleinen Schutzdach vor der Küche steht, sieht nur noch die geschlossene Tür, die leere Hundehütte und den kalten, den unendlich kalten Glanz der Dinge ringsumher.

*

Und dann – dann ging er eines Tages, als der erste heftige Schmerz, der erste blinde Zorn bezwungen war, den schweren Weg zu seinem Kinde.


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