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Nachdem der Schulmeister Giuseppe De Nicola vierzig Jahre an der Elementarschule unterrichtet hatte, hatte er sich pensionieren lassen und schickte sich an, eine Reise zu unternehmen.

Die Vorgeschichte ist folgende: In seiner Jugend hatte er einen verwaisten Knaben adoptiert, in der Hoffnung, ihn zu seinem Nachfolger in der Schule seiner Heimat zu machen. Aber der Junge fand mehr Gefallen an einem abenteuerlichen Leben. Eines Tages war er von Hause durchgebrannt und, nachdem er sich in allen Berufen versucht hatte, vom Schiffsjungen bis zum Hafenlastträger, vom Gemsenjäger bis zum Zollbeamten, heiratete er schließlich die Witwe eines Barkeninhabers, dessen Nachlaß aus einem Häuschen mit Weingarten und Äckern bestand.

Nachdem er schließlich einen Beruf gefunden hatte, der ihm behagte, schickte der junge Mann seinem Adoptivvater ein Päckchen Zigarren, ein Überbleibsel aus seiner stürmischen Vergangenheit, nannte seine Tochter nach ihm Giuseppina Nicola und lud ihn überdies, auch im Namen seiner Frau ein, zu ihnen zu kommen und bei ihnen zu wohnen.

Und als der Schulmeister, der in einem weltverlorenen Winkel zwischen Bergen und Tälern wohnte, an diese neue Familie in der märchenhaften Landschaft am Meere dachte, reifte in ihm der Entschluß, sich auf die Reise zu machen, wie einer der Heiligen Drei Könige, der nach Bethlehem zog. Aber er fürchtete sich vor dem weiten Weg, vor den Eisenbahnunfällen, die damals sehr zahlreich waren, vor dem fünfmaligen Umsteigen, bevor er an sein Ziel gelangte.

So vergingen mehrere Jahre, bevor er sich pensionieren ließ. Als er jetzt ganz allein war, ohne die lärmende Familie seiner Schüler, entschloß er sich zu der großen Reise und brach wirklich auf, froh und gottesfürchtig, jedoch nicht frei von einer gewissen Angst.

Es war dies seine erste Reise, seine Hochzeitsreise mit dem Leben. Nicht einmal der jugendliche Sohn hatte, als er auf der Jagd nach dem Glück aus dem väterlichen Haus geflohen war, den Zwischenraum zwischen Traum und Wirklichkeit so im Fluge zurückgelegt wie er. Die Erde entfloh ihm unter den Füßen wie das schimmernde Parkett eines Tanzsaales. Die Natur tanzte um ihn herum, sie zog den Schleier von den stets wechselnden Landschaften weg und zog ihn wieder zu, sie entführte ihn mit sich, hinauf in die Berge bis zu den Wolken, in das Innere ihrer Tunnels, die schwarz und rauchig waren wie Schornsteine, über den himmelblauen Abgrund der Wildbäche und hinunter über die grünen Hänge.

Er hielt sich an dem kleinen Waggonfenster fest, wie die Kinder auf der Reise. Und als ihn das Dunkel der Tunnels verschlang, zog er den Kopf zurück, aus Angst, er könnte ihm abgerissen werden. Aber beim ersten Lichtschein steckte er ihn wieder hinaus, unbekümmert darum, daß der durch den Zug verursachte Wind in seinen grauen Haaren einen ganz tollen Tanz aufführte und seine Nase ganz rußig machte.

Ein junges Pärchen stand eng aneinander geschmiegt am anderen Fenster und verfolgte die Landschaft im Auge des anderen. Er beneidete sie nicht, denn sie alle hatten ja dasselbe Ziel.

*

Die erste Enttäuschung erwartete ihn bei seiner Ankunft, als er auf der kleinen Bahnstation, wo die hohen anmutigen Pappeln die ankommenden Reisenden durch Neigen ihrer Wipfel willkommen hießen, keinen Menschen antraf.

Er glaubte sich verirrt zu haben. Er war der einzige Reisende gewesen, der ausgestiegen war, der Zug setzte bereits seine Fahrt fort, zischend und pfeifend, als ob er ihn auspfeifen wollte. Und die Ruhe der Weinberge, die unerwartete Regungslosigkeit der Erde, die Sträucher, die mit schlafenden Schmetterlingen übersät zu sein schienen, selbst die Grashalme, die sich über ihre langen und lebhaften Schatten beugten, versetzten ihn in einen Zustand fiebriger Betäubung. Durch all das Grün sah er nur das rote Dach des Stationsgebäudes. Nachdem er die Station verlassen hatte, blieb er stehen, um zu warten, indem er sich kerzengerade wie der Zeiger einer Wage zwischen seinen beiden Koffern aufstellte. Aber vor sich sah er nur eine breite mit Gras bewachsene Allee und hinten am anderen Ende ein großes Oval, halb Meeresbläue, halb Himmel.

Über der Allee, zwischen zwei Reihen von schlanken, hohen Pappeln und rundlichen, niedrigen Akazien, die wie junge Pärchen aussahen, war der Himmel hoch und hell, aber von einer unsagbaren Traurigkeit, um so mehr, als man nicht weiß warum. Es ist die Traurigkeit der großen Einsamkeiten, die nicht in der Luft liegt, sondern im Herzen des Menschen, der sieht.

Und der Mann mit den beiden Koffern hatte das Gefühl, in einer Stadt gelandet zu sein, die schlimmer war als die unbekannteste und weltverlorenste Gegend, in der niemand seine Sprache sprach. Und er wird lange gehen müssen und allein an einem verlassenen Strand ankommen.

Plötzlich übermannte ihn die Sehnsucht nach seinem kleinen Häuschen in der Ferne. Warum hatte er nur sein altes Haus verlassen, sein Städtchen, wo seine Eltern begraben lagen, wo er noch Freunde hatte?

Wie die jungen Leute und Schwächlinge, die die Freude der Einsamkeit nicht kennen, hatte er sich von dem Himmelblau der Entfernungen täuschen lassen. Er hatte geglaubt, nur das für sein Leben Notwendige in diesen beiden Koffern eingepackt zu haben, deren frischer Ledergeruch sofort den reisenden Neuling verriet. Aber das Leben rächte sich: jetzt lasteten diese Koffer wie volle Keile seiner ganzen Vergangenheit auf ihm.

Und jetzt erst fühlte er die unüberwindliche Entfernung, die ihn von jener Familie trennte, die ja schließlich nicht die seine war.

Die Familie wird vom Manne aus dem eigenen Ich erzeugt, mit seinem Samen, mit seinem Blute, mit seinem Schweiß. Und zwischen ihm und jener Familie bestand nur ein sentimentales Band, das leichter war als Spinnengewebe.

Tatsache war jedenfalls, daß niemand ihm entgegengekommen war.

*

Trotzdem dachte er nicht daran umzukehren, im Gegenteil, er begann ruhig durch die lange Allee zu marschieren, indem er sich sofort mit der Hoffnung tröstete, daß seine Einsamkeit und jene dieser heiteren Gegend bald gute Freunde werden würden.

Wir werden Freundschaft schließen, meine liebe Straße. Du bereitest mir einen schönen Empfang, du bist die einzige, die mir entgegengekommen ist und mir Gesellschaft leistet.

Die Straße meinte es in der Tat immer besser mit ihm, sie war weich von feinen und duftenden Gräsern. Durch die Wölbungen zwischen zwei Bäumen sah er hindurch auf liebliche Wiesen, auf denen weiße Kühe und schwarze Pferde weideten, und die mit Ocker- und Rosafarbe bemalten Bauernhütten, die blühenden Hecken und die leuchtenden Laubengänge: alles lackiert wie auf Ansichtskarten.

Hinter den Bäumen verborgen erwartete ihn manche Enzianblüte und wiegte sich hin und her, als er vorbeiging. Und auch die schwache Stimme des Meeres drang jetzt an sein Ohr, wie die eines Freundes, obzwar zwischen ihm und dem Meere, dessen Bekanntschaft er noch nicht gemacht hatte, ein Mißverständnis bestand, dessen Ursache Angst und Abneigung waren.

Von dieser dunkelblauen Mauer, die sich immer höher vor ihm auftat, hoben sich deutlich die ersten zwei Gestalten ab, die in ihm die Hoffnung aufkeimen ließen, sich nicht verirrt zu haben, oder daß es jetzt wenigstens mit ihrer Hilfe gelingen würde, den richtigen Weg zu finden, um so mehr als sie ihm entgegen kamen und seine Koffer wie Sehenswürdigkeiten betrachteten. Da beschleunigte er seine Schritte und sein Herz füllte sich mit Licht.

Vielleicht war das braune Kind im roten Kleid, das eine junge Frau an der Hand führte, seine kleine Enkelin.

Es war wirklich seine Enkelin.

»Sind Sie der Herr Schulmeister De Nicola?« fragte die Frau mit männlicher Stimme, indem sie sich martialisch vor ihm aufstellte. »Ihr Sohn mußte wegen eines dringenden Geschäftes plötzlich wegfahren und seine Frau liegt mit Fieber zu Bett, das alle drei Tage wiederkommt. Begrüß doch deinen Großvater, Ola. Geben Sie mir Ihr Gepäck.«

Ola betrachtete von unten herauf das Gesicht des Großvaters, nachdem ihre schwarzen schiefen, goldene Strahlen sprühenden Augen seine ganze Gestalt von unten bis oben gemustert hatten, wobei ihr nicht die geringste Kleinigkeit entging. Sie schien keine Lust zu haben, Guten Tag zu sagen, sie zog sich vielmehr zurück und faßte den Zipfel ihres Kleidchens. Trotzdem war aus der Haltung des faltigen Kleidchens, aus der Spannung der kleinen Person, vor allem aber aus dem goldigen Gesicht, das zur Hälfte in eine Fülle schwarzer Locken eingebettet war, ein unwiderstehliches Verlangen herauszulesen.

Und nachdem der Großvater die Koffer auf die Erde gestellt hatte, nahm er sie auf seine Arme und fühlte ihre lebendige Wärme an seinem Körper.

Und wenn ihre salzigen Haare und ihre Wange, die weicher und glatter war als Samt, seinen Mund streiften, fuhr er zusammen, wie bei einer Liebesberührung.

Die Frau hatte inzwischen die beiden Koffer genommen und machte sich auf den Weg, indem sie sie hin und herschwenkte wie zwei Beutel, so groß und gutgebaut war sie: eine jugendliche Juno mit einem Kranze gelber Flechten.

Der Schulmeister ging hinterher, mit seiner neuen Last.

»Also du heißt Ola ... Ola ...«

Der süße Name schmolz in seinem Munde wie eine Honigfrucht.

Ola wehrte leicht ab, aber sie ließ sich gern tragen, ohne ihre unbeständigen Augen, die aus Sonne und Schatten zusammengesetzt waren, von ihm abzuwenden. Sie betrachtete mit studierenden Blicken sein Gesicht, das so nahe und doch so unbekannt war, die schwarzen Punkte auf der Nase, die schwarzen und weißen Haare, die so dicht zusammenstanden wie Tag und Nacht. Sie drang sogar in seinen Mund ein, wo sie das Geheimnis der goldenen Zähne, die sich ganz hinten versteckten wie die Ringe Mamas in der Schublade, zu enträtseln versuchte. Aber sie schwieg, und auf seine vielen Fragen antwortete sie schließlich ausweichend:

»Papa bringt mir heute ein Gewehr.«

»Ein Gewehr? Gewehre sind doch nur für Knaben. Weißt du aber, was ich dir mitgebracht habe? Eine schöne Puppe.«

»Puppen habe ich«, sagte sie, indem sie diese Mitteilung gleichgültig aufnahm. Dann zeigte sie mit ihrem Fingerchen auf seine Kravattennadel, die sie schon vorher eingehend studiert hatte, und ihre Augen strahlten vor Verlangen.

»Papa hat auch eine, mit einer Rosaperle. Aber er will sie mir nicht geben.«

»Das heißt also, daß du die da haben möchtest. Gut, und was bekomme ich dafür?«

Ola senkte ihr Köpfchen, dann hob sie es ganz langsam und küßte ihn auf die Wange.

»O, du Spitzbübin du, du verstehst dich schon darauf. Ja, du sollst die Nadel haben, aber erst wenn wir zu Hause sind.«

Und sie schmiegte sich, ganz rot vor Freude, dicht an seine Brust. Und sie wurden sofort Freunde.

Als sie an die Stelle kamen, wo die Allee eine Biegung machte, und wo jetzt ein weniger guter Feldweg mit tiefen Wagenspuren begann, gab die Frau dem Schulmeister den Rat, das Kind abzusetzen.

»Ola, herunter, Großvater ist müde.«

»Ich bin auch müde«, antwortete sie mit wirklich müder Stimme. Und sie hörte nicht auf, mit der kleinen Perle der Nadel zu spielen. Das war es, was sie bedrückte.

»Noch ein bißchen«, sagte der Großvater, indem er sie enger an sich preßte, als ob er fürchtete, sie zu verlieren, und es so einrichtete, daß das lästige stramme Mädchen vorausging.

»Wer ist das?« fragte er, als sie außer Hörweite war. »Ist das eure Magd?«

»Das ist Ornella«, sagte Ola.

»Ornella, das ist ein schöner Name. Wohnt sie bei euch?«

»Ja, bei uns. Sie ist eine Verwandte meines ersten Papas, der tot ist, und macht alles im Hause.«

»Ich verstehe. Sie ist eine arme Verwandte.«

Dann sprachen sie von wichtigeren Dingen. Über dem Buschwerk zur Rechten des Weges, zwischen den düsteren Tamarisken, erschien das lebendige Blau des Meeres. Da wendete Ola ihre entzückten Augen nach dieser Seite.

»Wer hat das ganze Wasser gemacht?« fragte sie leise unter dem Eindruck des großen Geheimnisses.

»Ah, wir werden Zeit genug haben, diese Frage zu beantworten«, rief er mit lauter Stimme. Und plötzlich sah er, wie die Leere seiner untätigen Tage sich wieder füllte, wie der Horizont des Meeres.

»Du, gehst du schon in die Schule?«

»Ich, nein ... ich bin noch klein.«

»Gut, du wirst bei mir in die Schule gehen. Wir werden am Strand herumgehen und ich werde dir erzählen, wer dieses ganze Wasser gemacht hat.«

Aber sie hatte keine Sympathie mehr für die Schule, sie entdeckte, daß es auf dem Strande Muscheln gab. Es ist sicher viel besser, Muscheln zu sammeln als in die Schule zu gehen. Auch die Blümchen hatte sie Lust zu pflücken, und als sie eine ganze Reihe von ihnen in dem Grase des Weges zitternd sah, bat sie den Großvater, sie herunterzulassen. Zuerst aber wollte sie ihm etwas ins Ohr sagen, indem sie mit dem Finger die Nadel berührte.

»Du darfst es niemandem sagen, daß du sie mir gibst.«

Er hatte noch nie ein entzückenderes Geheimnis gehört; der Hauch dieses duftenden Mundes weitete seine Ohren wie ein frisches Bad.

Wie viel Geheimnisse sollten diesem nachfolgen?

Ein zweites folgte tatsächlich sofort hinterher, als er, um den Wert seines Geschenks besonders hervorzuheben, versichert hatte, daß die Nadel aus Gold war.

Ola warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, rümpfte boshaft die Nase, und seine Behauptung verspottend und anzweifelnd, sagte sie ihm leise ins Ohr:

»Aus Gold? Aus demselben Gold, wenn ich Aa mache?«

Die beiden, nunmehr Genossen und Kameraden, bogen sich vor Lachen über dieses unanständige Wort.

Und er fühlte, wie mit diesem Lachen alle Jahre, die auf seine Kindheit gefolgt waren, in Nichts zerflossen, und jetzt, wo er wieder an dem Punkt angelangt war, von dem das tierische Glück des Menschen, das einzig wahre Glück, seinen Ausgang nimmt, lächelten ihm die Wiesen und der Strand, die Wege zwischen den Tamarisken und alle Winkel der glücklichen Landschaft ebenso zu, wie dem Kinde, das endlich den Gefährten gefunden hat, an dem es seine Freude hat.

*

Ornella hielt vor einem Eisengitter, das lebhaft rot bemalt war, stellte die Koffer auf die Erde und öffnete.

Der Schulmeister und Ola kamen plaudernd langsam nach; sie mit der Nase in der Luft, er mit gesenktem Kopf, um sie besser zu hören. Sie sahen nichts um sich her, so daß er, als er den Kopf hob, ein wenig verträumt das Mädchen und das Gitter erblickte, das zu glühen schien. Und im Gegensatz zu diesem feurigen Rot und dem Goldrot des Häuschens, das im Hintergrunde der Allee sichtbar wurde, schien der Garten, den sie jetzt betraten, auf dem ausgetrockneten Bett eines Flusses gepflanzt zu sein. Das Erdreich war weiß und sandig. Die Bäume waren bleich und silbergrau und hatten gewissermaßen einen Abglanz vom Wasser.

Auf diesem lichten Hintergrunde wetteiferte das Violett der Schwertlilien mit dem Rot der Rosen erbittert um die Vorherrschaft.

Zwei große Terrassen, die von kleinen Säulen getragen wurden, ragten an der Stirnseite des Hauses vor, und gerade unter derjenigen des ersten Stockes war ein kleiner, von Kletterrosen dicht eingehüllter Säulengang, der die kleine Eingangstür barg. Alles war nett und sauber, und der Schulmeister empfand ein Gefühl der Genugtuung bei dem Gedanken, daß diese ganze Herrlichkeit seiner Schwiegertochter gehörte, also auch seinem Sohne; aber er betrachtete die Fenster, die angesichts der Herrlichkeit des Meeres geschlossen waren, mit dem Gefühl, daß das Innere des Hauses dunkel und ungewöhnlich sein müsse.

In der Tat ging Ornella nicht auf den Säulengang zu, sondern bog seitlich ab und stieß auf der Rückseite des Hauses eine kleine Tür auf, in deren Höhlung eine Küche sichtbar wurde. Ein dichter Laubengang von Feigenbäumen und Weinstöcken, der sich auf die Mauer des Hauses stützte, verdunkelte das ganze Erdgeschoß. Dunkel herrschte in der Küche, wo die Magd, ohne sich viel zu entschuldigen, den Gast eintreten ließ. Dunkel in dem anstoßenden Zimmer, und es war für ihn eine weitere Enttäuschung, als ihm in dem Häuschen, das von außen wie eine schöne, geschminkte und lächelnde, aber herzlose Frau aussah, ein so kühler und demütigender Empfang bereitet wurde.

Aber die Kleine tröstete ihn sofort, indem sie mit dem Finger an den blauen Kochtopf klopfte, der auf dem von Dampf feuchten Herd kochte und einen herrlichen Duft ausströmte.

»Da ist ein Huhn drin, willst du sehen?«

»Jetzt hast du genug Dummheiten gemacht«, sagte das Mädchen, indem sie sie mit dem Knie stieß und zwischen den beiden Koffern brutal nach vorwärts drängte.

Das erregte das Mißfallen des Schulmeisters. Auch der Halbschatten des Speisezimmers, das sie passieren mußten, um in das gleichfalls kleine und trübselig aussehende Nebenzimmer zu gelangen, behagte ihm nicht. Dieses Zimmer wurde fast ganz von einem Holzbett ausgefüllt, dessen grüne Decke die Blässe der darin liegenden Frau noch stärker hervortreten ließ. Sie hob den Kopf, der von einer Flut schwarzer krauser Haare umrahmt war, und betrachtete mit leuchtenden und erschreckten Augen den Mann, der sich zu ihr niederbeugte, um sie zu begrüßen. Sie schien sich gar nicht zu erinnern, daß er ankommen sollte, oder schien zu glauben, daß sie es wäre, die von weit her kam zu Leuten, die sie nicht kannte. Die Kleine, deren Gesicht ernst geworden war, schrie, indem sie sich auf den Bettrand warf:

»Mama, das ist der Großvater. Großvater ist gekommen.«

»Ja, ich weiß,« sagte die gequälte Frau, und schloß und öffnete die Augen, als ob sie ihren verstörten Blick sammeln und durch einen bewußteren ersetzen wollte. Aber es ging ihr wie einem Menschen, der einen tiefen Schlaf hat und dem es nicht gelingt, wach zu werden.

Sie schloß die Augen wieder, zog unter dem Bettlaken ihre nackten, weißen, blutleeren Arme hervor und streckte sie dem Schullehrer entgegen.

Er ergriff ihre Hände, die merkwürdig groß und dunkel waren im Vergleich zu diesen schmächtigen Armen, und fühlte sie heftig pochen. Aber die eine Hand, die geschlossen war und irgend etwas umfaßt hielt, ließ er sofort los. Der Arm fiel zurück und in der sich etwas öffnenden Hand konnte man die Kugeln eines kleinen Rosenkranzes aus Perlmutter sehen.

Das gefiel ihm.

»Wie geht es?« fragte er leise, in plötzlich vertraulichem Tone. »Sollte es nicht möglich sein, daß man dieses Fiebers Herr wird?«

»Ich habe es seit zehn Jahren. Es ist Malaria, dagegen gibt es kein Mittel. Adelmo hat alles getan, um mich gesund zu machen. Sogar aus Indien hat er ein Pulver kommen lassen. Und zu einer Wahrsagerin ist er auch gegangen, Adelmo.«

Adelmo war ihr erster Mann, und der Schulmeister stellte fest, daß ihre Stimme einen träumerischen Ausdruck bekam, wenn sie diesen Namen deutlich aussprach, so wie Kinder es mit neuen Worten tun, die ihnen gefallen, weil für sie die ganze Welt voll von geheimnisvollen Sensationen ist. Er begriff, daß sie während ihres Fiebers in der Vergangenheit lebte, und er scheute sich, sich in jene Vertraulichkeit einzudrängen, die ihr allein gehörte.

Aber auch sie erriet seine Gedanken aus der Art, wie er ihre Hand aufs Bettlaken zurücklegte, und versuchte sich besser aufzurichten. Jetzt gelang es ihr, die Augen zu öffnen, fast mißtrauisch, und die Stimme wurde klar.

»Sie werden mich entschuldigen, wenn ich nicht zur Bahn gekommen bin. Morgen werden Sie sehen, daß ich eine ganz andere Frau bin. Auch Antonio bittet um Entschuldigung. Es ist ein sehr braver Mensch. Aber jetzt gehen Sie sich waschen und essen. Bitte.«

Er gehorchte. Als sie in dem kleinen Speisezimmer waren, wo Ornella die Koffer hingestellt hatte, öffnete die Kleine die Schublade in der Kredenz, um ein Tischtuch herauszunehmen. Sie wollte den Tisch decken, für ihren Großvater, aber auch diesmal bekam sie von dem Mädchen einen Stoß mit dem Knie.

Da sagte er ein bißchen scharf:

»Lassen Sie sie. Das muß sie auch einmal lernen.«

Das Mädchen antwortete nicht; sie musterte ihn nur von oben bis unten mit ihren sanften, grünlich schillernden Augen. Und der Blick, obzwar ruhig, belehrte ihn, daß sie die Herrin in diesem Hause war. »Wollen Sie bitte in Ihr Zimmer gehen«, sagte sie darauf, indem sie die Koffer brachte. Und er sah, daß das ihm zugewiesene Zimmer das trübsinnigste von allen war. Feuchte Flecken verunstalteten mit seltsamen gelben Zeichnungen die Wände, und in dem grünlichen Halbdunkel glaubte er auf dem zerschlagenen Fußboden einen Käfer herumlaufen zu sehen. Aber an der Tür stand Ola und schaute, eingeschüchtert und neugierig zu, und ihr rotes Kleidchen beleuchtete wie ein winterliches Feuer das Zimmer.

»Treten Sie nur ein, Fräulein«, sagte er, indem er sich verbeugte. Und mit der einen Hand reichte er ihr eine Schachtel und in der anderen hielt er zwischen Zeigefinger und Daumen die Nadel mit Blümchen aus Gold, die er aus der Krawatte herausgezogen hatte.

Ola kam langsam und vorsichtig näher, nahm schweigend und gleichgültig die Geschenke entgegen, aber das Chaos der offenen Koffer, das ihr eine ganz neue, bisher unbekannte Welt erschloß, schien sie ungleich mehr zu interessieren. Und damit ihr nicht verboten würde, dieses Chaos zu besichtigen, versprach sie dem Großvater, in einer Ideenassoziation, leise:

»Ich werde dir die Hühner und das kleine Pferdchen zeigen.«

Er hätte es vorgezogen, zuerst das Häuschen zu sehen. Als sie gegessen hatten und Ornella sich anschickte, die Wäsche in dem Brunnen nebenan zu waschen, fragte er, ob die Schlüssel, die neben der Tür des Speisezimmers hingen, zu den oberen Stockwerken gehörten.

»Ja, aber Papa will nicht, daß man hinaufgeht«, sagte sie beleidigt, als sie sah, daß er die Schlüssel herunternahm. Für einen Augenblick ließ sie der Eigentumsinstinkt feindlich, geradezu böse aufblicken; dann aber lenkte sie von selbst ein: »Du kannst Papa befehlen, nicht wahr? Er ist doch dein Sohn und er darf dich nicht ausschelten.«

Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und dann gingen sie. Sie ging auf den Zehenspitzen, die Puppe mit den ziegelroten Wollhaaren, die er ihr mitgebracht hatte, trug sie auf dem Arm und führte ihn herum und zeigte ihm, welches die Schlüssel zum Haustor und zu den Zimmern waren.

Und mit einem Male befanden sie sich wie in einem verzauberten Hause. Der Fußboden war hell, die Treppe aus Marmor, die Wände mit Stuck verziert und mit Blumen- und Obstgewinden geschmückt. Alles war geschmacklos, aber in den Augen Olas und vielleicht auch des Großvaters war es wunderbar. Sie betrachtete die Sachen, dann ihn, und als sie aus dem Nicken seines Kopfes seine Zustimmung las, biß sie die Zähne zusammen, um nicht vor Freude loszulachen.

»Mach doch Licht«, sagte sie leise, und er machte Licht. Das elektrische Licht ließ die Gegenstände noch viel strahlender erscheinen. Und sie rieb sich an den Wänden wie ein Kätzchen, während die Vogelaugen der Puppe gleichfalls verstohlen und verwundert zwischen den Troddeln des barbarischen Kopfputzes hervorlugten.

»Zu uns kommt jedes Jahr ein Graf«, sagte Ola vor der frisch gestrichenen Tür zum ersten Stock. Und sie schmiegte sich hilfesuchend ein wenig an den Großvater an, als ob der noble Mieter drinnen wäre. Auch in den Zimmern machten sie Licht, und die Fußböden, die Vergoldungen, die gemalten Frauenköpfe auf der Kopfseite der Betten belebten sich und bekamen Farbe, um aber nach dem Verlöschen des Lichts wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, als ob sie sich versteckten.

Dieses Spiel gefiel ihr und sie bat den Großvater, Licht zu machen und wieder auszulöschen. Obzwar sie nur sehr selten in das Zimmer gekommen war, kannte sie haargenau alle Gegenstände und erklärte sie ihm leise. Aber sie nahm nichts in die Hand und bemühte sich, die Möbel nicht einmal mit ihrem Kleidchen zu streifen.

Das Zimmer war das ganze Jahr an einen Grafen vermietet, der mit seiner Familie zur Badesaison kam, manchmal auch schon im Frühjahr. Im zweiten Stock, der bescheidener, einfacher, aber neu eingerichtet war, waren die Matratzen, die nach Naphthalin stanken, noch umgedreht, denn er wurde nur im Sommer vermietet.

Trotzdem fühlte sich Ola hier viel wohler, denn in den kinderreichen Familien, die gewöhnlich hier wohnten, war sie immer gern gesehen und gut gelitten.

»Jetzt muß ich dir noch etwas zeigen!« sagte sie zum Großvater, indem sie ihn gegen die Tür des Eßzimmers drängte.

Ausgerechnet in dem Zimmer brannte das Licht nicht. Trotzdem trat sie ein, im Scheine des Korridorlichts, und ging, sich an dem Großvater festklammernd, bis zur Ecke neben dem Fensterladen auf der Terrasse.

»Sieh her, aber nicht anrühren«, sagte sie immer leise.

Er bückte sich, um besser zu sehen. Auf einem Kissen saß eine Stoffpuppe in blauem Kleide. Die Augen, die blonden Haare, die Nase und der Mund waren auf Leinwand gemalt, trotzdem machte es den Eindruck, als ob sie lebendig wäre. Sogar Großvater hatte das Gefühl, daß die ein wenig heruntergezogenen Lippen sich auf der einen Seite ironisch verzogen und die ganze Puppe irgend etwas Lebendiges und Spöttisches an sich habe.

»Hast du Angst?« fragte Ola, sich über ihn lustig machend. Aber dann beruhigte sie ihn: »Das ist eine Puppe wie diese da.«

Sie neigte ihre Puppe mit mütterlicher Sorgfalt, näherte sie der anderen und zwang die beiden geheimnisvollen Wesen, sich zu küssen. Und hierüber empfand sie solche Freude, daß ihr Lachen, das seit langem in ihrem Mündchen eingesperrt war, aus ihren engen Zähnchen heraussprudelte wie eine Quelle, die selbst den Felsen durchbricht. Da fühlte der Großvater, daß jener Spuk, der sie trieb, wie Diebe in dem Hause herumzuirren, das doch schließlich Olas war, sich auflöste und die Kleine und die beiden Puppen sich über ihn lustig machten.

»Dieses Haus gehört dir«, sagte er mit aufbegehrender Stimme. »Hoffen wir, daß du daran Freude hast, wenn du einmal groß bist.«

Dann stieß er den Fensterladen auf der Terrasse auf, und das Meer erfüllte das Zimmer mit seiner ganzen Bläue und den Feuern der roten Segel am Horizont.

*

Gegen Abend fühlte sich die malariakranke Frau fieberfrei. Sie fühlte sich erleichtert, wie in Sommernächten, wenn die Luft sich abkühlt, und den Schweiß, der die verbrannte Haut anfeuchtete, empfand sie wie eine Erfrischung. Auch die Haare, die während des Fiebers schwarz und brennend auf ihr lasteten, ertrug sie leichter; sie schienen zu verdampfen wie eine Wolke, die der Wind vor sich hertreibt und zerstreut.

Mit dem Gefühl für die Wirklichkeit kehrte auch die Freude am Leben zurück. Die beiden Tage, die sie von dem neuen Anfall trennten, erschienen ihr wie zwei Jahre. Und sie nahm sich vor, sie zu genießen wie der Rekonvaleszent, der einer neuen Gesundheit entgegensieht. Alles war neu und leicht. Auch ihr Kind, das instinktmäßig diese Glücksmomente erriet und diese Gelegenheit benutzte, um im Zimmer herumzutollen, erschien ihr schöner, lebhafter.

Sie freute sich auch darüber, daß der Schwiegervater gekommen war, um bei ihnen zu wohnen, denn schließlich hatte sie einen Menschen, dem sie ihr Herz ausschütten konnte.

»Wo ist der Großvater?« fragte sie die Kleine.

»Er raucht seine Pfeife.«

»Er auch?« klagte sie, denn sie wußte aus Erfahrung, daß bei alt und jung die Pfeife ein großer Rivale der Frauen ist.

»Aber er streut die Asche nicht auf allen Tellern herum wie Papa. Er tut sie in eine Düte und sagt, daß sie gut ist, um die Ameisen zu vertreiben.«

»Sag ihm, er soll herkommen, wenn er Lust hat. Und du geh in die Küche und gib acht, daß niemand hineinkommt, bevor Ornella zurück ist.«

Die Kleine wünschte sich nichts Besseres; denn wenn sie allein in der Küche war, machte sie sich irgendeinen kleinen Kuchen oder sie legte eine Kartoffel in die heiße Asche.

Noch ganz nach dem starken Tabak stinkend, betrat der Großvater allein die Kammer der Frau, und auf ihre Frage, ob ihm die Kleine lästig gewesen sei und ihn gestört habe, antwortete er überschwänglich:

»Dies ist einer der schönsten Tage meines Lebens!«

»Wenn der erste Tag schön gewesen ist, so werden die anderen noch schöner sein«, sagte sie herzlich. »Setzen Sie sich doch ein bißchen, wenn es Sie nicht langweilt. Jetzt geht es mir gut. Morgen ist alles vorüber und dann werde ich für alles sorgen. Ornella ist brav und aufmerksam, aber es ist doch nicht so wie bei der Hausfrau.«

Der Schulmeister setzte sich neben das große Bett, dessen grüne Decke in dem Licht, das durch die vom Blattwerk des Gartens völlig verdeckten Fenster nur ganz dürftig hereinbrach, den Eindruck einer Wiese im Dämmerlicht machte.

Er hatte eine Menge Fragen auf dem Herzen, die er an die Schwiegertochter richten wollte, und war nun froh, daß sie ihm aus freien Stücken entgegenkam. Aber ihre tiefe, eindringliche und überaus wohllautende Stimme erregte in ihm sofort ein geheimnisvolles Gefühl.

Auch ihre Gestalt, die sich unter der Decke, in die sie bis zum Kinn hinauf eingewickelt war, kaum abhob, erschien ihm seltsam, sowie der schöne schwarz und weiße Kopf, der tief in den Kissen vergraben lag und wie ein Gemälde wirkte.

»Ich freue mich, daß Sie sich hier wohl fühlen«, begann sie wieder, ohne ihn anzusehen. »Wir haben uns schon so lange nach Ihnen gesehnt. Es vergeht kein Tag, an dem Ihr Sohn nicht von Ihnen mit Liebe und Ergebenheit spricht. Und immerwährend beklagt er den Kummer, den er Ihnen bereitet hat.«

»Ach was, Verdruß!«

»Ja, Ihnen scheint es wenig zu machen, daß er nicht studiert und nicht wenigstens ein Diplom bekommen hat, wie es Ihr Wunsch war. Er hat sich lieber in allen möglichen Berufen versucht, wo er doch mit seiner Intelligenz wer weiß was hätte erreichen können. Allerdings hätten wir uns dann wahrscheinlich gar nicht kennen gelernt,« bemerkte sie mit noch tieferer Stimme, »und unsere Kleine würde nicht auf der Welt sein. Ich kann mir die Welt ohne unsere schöne Kleine überhaupt gar nicht mehr vorstellen. Und wenn er heult und weint, weil er die väterlichen Ratschläge nicht befolgt hat, so brauche ich ihm nur dieses zu sagen. Dann sieht er das Kind an und spricht kein Wort. Aber seine Augen werden dann plötzlich hell, als ob er weinen wollte.«

»Übrigens sind wir so glücklich,« begann sie lauter, »vielleicht zu glücklich. Ich habe sogar Angst. Antonio ist gut, heiter und liebevoll. Er hat nur ein Laster: er raucht. Er raucht vom frühen Morgen an und überall muß man hinter ihm die Asche und die abgebrannten Streichhölzer wegräumen. Ach ja, eine gute Ehefrau hat viele Pflichten. Und dann muß ich um Nachsicht bitten wegen dieses Unglücks, denn einen Tag bin ich auf und drei Tage liege ich im Bett. Das habe ich mir zugezogen, weil ich es mit meinem ersten Mann zu gut gemeint habe. Sie wissen, daß er Kapitän der langen Fahrt und Barkenbesitzer war, mein armer Adelmo. Als wir verheiratet waren, wollte ich ihn überall hin begleiten, denn ich war toll vor Eifersucht. Ich begleitete ihn also bis nach Porto Corvo, dessen ganze Gegend von Malaria verseucht ist. Aber meine Eifersucht kannte keine Gefahren, außer jener, begründet zu sein. Adelmo sagte zu mir: &›Es ist ein Verbrechen, was du tust, und Gott wird dich strafen.‹ Und Gott hat mich gestraft. Und wenn ich Fieber habe, so sehe ich ihn noch lebendig vor mir und er sagt: &›Siehst du, wenn ich dich jetzt mit einer anderen Frau betrüge, so kannst du nicht hinter mir her sein.‹ Und ich leide sehr darunter, denn dann habe ich das Gefühl, daß er mich wirklich betrügt.«

»Ist er jung gestorben?« fragte der Schulmeister, der seinerseits für seinen Sohn auf diesen seltsamen Nebenbuhler ein wenig eifersüchtig war.

»Er war nicht sehr jung, aber er sah so aus. Doch sprechen wir nicht weiter darüber. Es liegt schon zu weit zurück«, murmelte sie, indem sie die Augen schloß, wie um die Vergangenheit nicht mehr zu sehen, oder vielmehr um ihre immer noch lebendige Liebe zu verbergen. »Ein paar Jahre blieb ich dann vom Fieber verschont, aber seit dem letzten Sommer quält es mich wieder. Ja, Ihr Sohn ist so gut zu mir und hat so viel Geduld mit mir und er besorgt alle möglichen Medikamente, um mich zu heilen, und außer seiner Pfeife hat er keine Laster. Er trinkt einen guten Tropfen Wein gern, aber wer tut das schließlich nicht?«

»Ich zum Beispiel trinke überhaupt nicht.«

Die Frau musterte ihn unter den gesenkten Lidern, boshaft und mitleidig.

»Ich kenne keinen Mann, der nicht Wein trinkt, und auch wenig Frauen. Wir hier arbeiten alle, wir haben weder Theater noch Zerstreuungen. Das Leben ist hart und das einzige Heilmittel ist ein guter Tropfen Wein.«

»Aber ihr habt doch hier euer gutes Auskommen.«

»Das schon, aber wir müssen uns auch schinden. Die Erde ist undankbar, das Meer tückisch. Die Bauern und die Fischer haben sich verabredet und das fetteste Stück für sich genommen. Der arme Adelmo kannte seine Leute gut, und darum gelang es ihm auch, sie zu beherrschen, vor allem diese Kanaille von einem Meer, wie er es nannte. Schon von Kindheit an war er bis nach Indien und Australien gereist und sagte, daß die Seehäfen den Milch- und Weinkannen glichen: sie ziehen das ganze verpestete Geschmeiß an. Antonio aber,« begann sie wieder nach einer kurzen Pause, die ihre Erinnerung an den Toten unwandelbar von der an den Lebenden trennte, als ob sich beim Losreißen von der Vergangenheit in ihrem Denken eine Lücke bildete, »Antonio ist viel zu freundlich geraten. Auch er ist in der Welt herumgefahren, aber er kennt die Menschen nicht. Er hat sich wie ein Junge herumgetrieben, der Geld in der Tasche hat und sich nur amüsiert. In der ersten Zeit nach unserer Hochzeit haben ihn alle betrogen, oder vielmehr uns, denn ich hatte auch wenig Erfahrung. Da haben wir Lehrgeld bezahlt. Er liebte die Zerstreuung, tanzte die ganze Nacht durch, und am Tage auch. Auf ihn bin ich nicht eifersüchtig, aber ich habe der Weiber wegen wirklich trübe Augenblicke durchgemacht.

Der Schulmeister lachte, leise, leise. Antonio hatte keine Fehler: Wein, Tabak und Liebe, das sind Dinge, denen sich ein Mann von Welt nicht entziehen kann.

»Dann, als er sah, daß alles schief ging, wurde er vernünftig. Ich muß allerdings sagen, daß er sich mir gegenüber, selbst in den trübsten Augenblicken, stets bescheiden und respektvoll benommen hat. Wenn ein Mann seine Irrtümer einbekennt und verspricht, nicht wieder in sie zu verfallen, was läßt sich da tun? Und ich würde sogar ein Auge schließen, wenn er sein Versprechen nicht hält, insbesondere wenn dies ein Mittel ist, um die menschlichen Schwächen vor irgend jemandem zu verbergen.

»Du sprichst wie eine Heilige«, rief der Schulmeister aus. »Und jetzt ...«

»Jetzt,« unterbrach sie ihn und bereute bereits, zu viel gesagt zu haben, »jetzt ist alles in Ordnung Antonio überwacht die Bauern und mit den Fischern kämpft er Mann gegen Mann. Gerade heute ist er nach Porto Corvo gegangen, denn er hat zufällig erfahren, daß die Leute von unseren Barken dort unten geschmuggelte Fische abliefern.

»Wieviel Barken habt ihr?«

»Vier, jetzt. Der arme Adelmo hatte es auf sechs gebracht. Der Ertrag ist gut, aber die Ausgaben und die Steuern sind groß. So kommen wir knapp aus. Der Wind des Meeres hat Zähne wie der Wolf.«

»Und ihr lebt hier«, sagte er, indem er sich in der kleinen und trüben Stube umsah. Aber die Frau schien nichtsdestoweniger nicht zu begreifen, daß man, wenigstens einen Teil des Jahres, in den schönen Zimmern des Häuschens leben konnte.

»Man wohnt hier sehr gut. Man braucht keine Treppen zu steigen. Bevor wir dieses Häuschen da aufbauten, wohnte ich mit Adelmo in einem kleinen Kämmerchen auf dem Lande.

»Trotzdem war man glücklicher.«

»O nein. Man war jung und auch widerstandsfähiger.«

»Aber du bist doch noch jung«, sagte der Schulmeister, indem er ihr reines Profil betrachtete, das gewissermaßen silberweiß aus dem dichten Gestrüpp der dunklen Haare hervortrat. Und sie lächelte, um seine Behauptung zu bekräftigen, wobei sie ihr vollkommenes Gebiß zeigte. Aber es war ein Lächeln mit einem bitteren Beigeschmack.

»Ich bin fünfzehn Jahre älter als Ihr Antonio ... Gerade deswegen ... bin ich nicht jünger als damals.«

Sie zog das Lächeln ein und verbarg die Zähne, wie man ein Schmuckstück einzieht und verbirgt, kaum daß man es gezeigt. Dann neigte sich der Schulmeister zu ihr nieder mit gefalteten Händen und sagte leise:

»Übrigens war die Kleine nicht da, damals.«

Und beide schwiegen, als ob sie beteten.

Der Geist der Kleinen schwebte im Zimmer umher und verbreitete ein Gefühl frommen Mysteriums in der Trostlosigkeit des Zimmers, wo die Dunkelheit die Gegenstände verschlang und das Fenster blind wurde.

Ein unerklärbarer Instinkt sagte dem Schulmeister, daß die Frau unter der Oberfläche ihres gewollten und auch geglaubten Glücks ein heimliches Leiden verbarg, das auch mit dem Nachlassen des Fiebers nicht aufhörte. Sie erriet diese seine Ahnung. Und beide hatten die Sehnsucht, sich anzuvertrauen, aber sie konnten es nicht.

Der Geist des Kindes wob um sie ein Netz, das leuchtender und zarter war als das Netz einer Spinne in einem Gebüsch, und führte sie zusammen, aber gleichzeitig hinderte er sie, auch nur ein einziges Wort zu sprechen, das sein Werk zerstören könnte. Seinetwegen mußte man schweigen, seinetwegen durfte die Atmosphäre nicht einmal von einem Hauch getrübt werden.

»Illusion, vielleicht«, dachte der Schulmeister. Aber er wußte, daß die Illusion das Blut des menschlichen Geistes ist.

Und als sich in sein und ihr Schweigen Angst zu mischen begann und die Worte versuchten, mit elementarer Gewalt aus dem Munde zu strömen, da brach die Kleine es selbst, indem sie draußen mit den Fingern gegen die Scheiben der Fenster klopfte. Ihr rotes Kleidchen leuchtete und verscheuchte das Grau der Dunkelheit, und ihr Lächeln erweckte die Kräfte zu neuem Leben.

*

Es war schon Nacht und der Herr des Hauses war nicht zurück. Der Großvater und Ola erwarteten ihn neben der Küchentür sitzend, indes Ornella, nachdem sie der Kranken das Essen gebracht hatte, auf dem Herde etwas briet.

Der Schulmeister drehte sich jeden Augenblick nach ihr um, fast ohne es zu wollen, und betrachtete sie instinktiv, wie die Kleine die ihr noch unbekannten Gegenstände und Personen betrachtete. Dieses Mädchen hatte entwickelte Formen wie eine Frau von dreißig Jahren, ihre Flechten waren blond wie reife Ähren und waren mehrmals um den kräftigen Kopf gewunden, die Haut war weiß und etwas sommersprossig, die vollen Arme glichen zwei oben ganz spitz zulaufenden Weinkrügen. Sie kam ihm bekannt vor, aber er wußte nicht zu sagen, wo und wann er sie kennen gelernt hatte. Und obzwar sie außerordentlich fleißig und schweigsam war und die Arbeit im Hause allein bewältigte, gefiel ihm weder diese Schweigsamkeit, die nur durch eine leichte Kurzatmigkeit, eine Folge des körperlichen Wohlergehens, belebt war, noch die dralle Fülle ihrer Person und der animalische Geruch, der von ihr ausging, erweckte in ihm die Vorstellung einer schönen, gezähmten Bestie.

Sie kochte, ohne sich auf den etwas niedrigen Herd herunterzubücken, und schien die Dinge, die sie berührte, mit einem leichten Unmut zu betrachten. Jedesmal, wenn die Kleine sich ihr zu nähern versuchte, stieß sie sie mit der offenen rechten Hand zurück. Ola machte kehrt und flüchtete zum Großvater, und beide standen dann dort an der Tür, schweigsam, als ob sie sich schon eine Ewigkeit kennen würden und sich alles gesagt hätten.

Der Abend war noch kühl. Unter den Weinlauben dunkelte es, aber weiter draußen war noch Dämmerung und aus den Häusern der Bauern drang so mancher helle Lichtschein. Von dort kam auch der üble Geruch eines Düngerhaufens, der den Duft des Gartens verdrängte.

Als Ornella mit dem Kochen zu Ende war, hörte man das Rauschen des Meeres und über diesem dunklen Orgelpunkt ertönte das metallische Zirpen einer Grille.

Aber die äußere Ruhe wurde plötzlich wie durch einen unvorhergesehenen Windstoß erschüttert. Man hörte deutlich das Knallen einer Peitsche, mitten durch den hellen Ton der anschlagenden Hausglocke und dann eine jugendliche Stimme Juhu! schreien. Im Nu verstummte alles. Die Augen der Kleinen leuchteten hell auf.

»Das ist Papa«, sagte sie, indem sie sich auf die Zehenspitzen stellte, als ob sie ihn von weitem sehen wollte. Dann schmiegte sie sich zitternd an den Großvater an und flüsterte ihm ins Ohr:

»Wollen wir einen kleinen Scherz mit ihm machen? Wir verstecken uns hinter der Tür, und wenn er hereinkommt, so erschrecken wir ihn, ja?«

Der Großvater war einverstanden. Und wieder war er ein Herz und eine Seele mit Ola, als er mit ihr hinter der Tür stand, gegen die sie ihren Mund preßte, um nicht herauszuplatzen.

Aber der Hund, der dem Herrn vorauslief, hätte den Spaß beinahe verdorben, denn er sprang ins Zimmer, keuchend, den Schweif hoch in der Luft und zwischen Freude und Verdacht schwankend. Und nachdem er in aller Eile alles untersucht hatte, indem er wie ein kleines weißes Pferd mit schwarzem Sattel durch das ganze Zimmer tollte, bellte er den unbekannten Mann an. Als er aber bemerkte, daß Ola ihm durch Zeichen zu schweigen gebot, stand er unsicher da, mit erhobenem Kopf und Schweif und betrachtete die Szene mit seinen menschlichen Augen.

Auch Ornella ließ sich herab, an dem Scherz teilzunehmen.

»Ola ist nicht da, sie ist mit Großvater spazierengegangen, der heute früh gekommen ist«, sagte sie, ohne sich umzuwenden, als Antonio eintrat. Und da er an solche Scherze gewöhnt war, stellte er sich, als ob er ihr glaubte.

»Ah, sie sind also spazierengegangen? Und ich habe dieser Spitzbübin ein Vögelchen mitgebracht! Jetzt lasse ich es laufen.«

Da konnte sie nicht widerstehen und stieß die Tür auf, indem sie schrie:

»Wir sind hier! Wir sind hier!«

Und die beiden Männer umarmten sich schweigend.

*

Gesprochen wurde nachher. Antonio ging zuerst zu seiner Frau, dann trieb er Ornella an, schnell den Tisch zu decken, schließlich holte er aus dem Keller zwei derart verstaubte Flaschen Wein, daß sie aus einer alten Stadt ausgegraben zu sein schienen. Dann lud er den Vater ein, am Tisch Platz zu nehmen, und klopfte ihm auf die Schulter, als ob er sagen wollte:

»Endlich! Endlich kann ich dir etwas zurückzahlen. Komm.«

Auch Tigrino stellte sich wieder ein, der unstete Kater, der hellgrüne Augen hatte und beim Gehen sich zu dehnen und wieder zusammenzuziehen schien, in der Richtung, wie die Windungen der grauen und gelben Streifen verliefen. Und Hund und Katze begaben sich in wunderbarer Einigkeit unter den Tisch und machten sich's dort bequem.

Der Tisch war festlich gedeckt. Ornella, die die Absichten Antonios erriet, hatte das gewaschene und gebügelte Tischtuch aufgelegt, Teller, die keinen Sprung hatten, und Kristallbänke für die Eßbestecke. Und sie zog die Lampe in die Höhe, damit das Licht, das von oben kam, die Gegenstände zarter und weicher erscheinen ließe.

Und sie setzte Ola so, daß sie die beiden Männer nicht belästigen konnte, und gab ihr leise zu verstehen, daß sie sich still zu verhalten habe.

Ola verhielt sich still, aber ihre Augen stellten sofort den ungewohnten Aufwand fest und betrachteten unaufhörlich den Vater, denn auch er schien ihr ein anderer zu sein, besser aufgelegt als an anderen Tagen, das heißt schöner und besser, aber auch eitler als sonst. Und sie fühlte die festliche Stimmung rings herum, wie immer wenn jemand eingeladen war, und da sie gezwungen war, sich nicht zu rühren und zu schweigen, fand sie mehr als die anderen ein Vergnügen darin, zu hören und zu sehen. Plötzlich fuhr sie auf, denn nachdem der Vater den Teller des Großvaters mit weißen und roten Schinkenscheiben voll belegt hatte, sagte er froh und neugierig:

»Und nun, erzähl' mal.«

Da bekam auch das Gesicht des Großvaters einen anderen Ausdruck. Er war ein Mann, der aus weiter Ferne kam und zum Sohne anders als zu ihr sprach. Auch Ornella war eine andere, oder vielmehr eine andere als die Ornella der Abende, wenn Mama im Bett lag. Jetzt hatte sie eine weiße Schürze um und beim Bedienen neigte sie sich wie die Kellner in dem Gasthaus der Badeanstalt. Ein phantastischer Hof umgab die Tafel, und sie hatte dasselbe Gefühl wie ein Zuschauer im Theater, wenn auf der Bühne die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt wird und das Herz stärker packt als die Wirklichkeit selbst.

Der Großvater sprach, während er langsam aß, mit seiner spröden und gewissermaßen versteinerten Stimme. Es waren keine großen Ereignisse, aber im großen und ganzen handelte es sich um Dinge, die man noch nicht kannte und gehört hatte, und durch die Aus- und Zwischenrufe des Vaters, der für die Erzählung nicht weniger Interesse zeigte als sie, bekamen sie ein lebhafteres Gepräge.

Dann fing auch Papa an zu erzählen. Es waren lauter bekannte Sachen, aber, von ihm erzählt, schienen sie wie neu, vor allem deswegen, weil sie tatsächlich Einzelheiten und Unterstreichungen enthielten, die bisher niemand kannte. Ein- oder zweimal hatte sie das Verlangen, die Sachen auf ihren Platz zu legen, aber sie traute sich nicht.

Der Schulmeister seinerseits hörte zu und betrachtete den Sohn, als ob er ihn zum ersten Male sähe. Und jenes Gefühl der Entfernung, das er bei seiner Ankunft hatte, als er allein auf der Station war, kehrte wieder und zog durch seine Seele. Aber wieder überbrückte die Gegenwart dieses Kindes diese trostlose Kluft.

»Bist du aber stark geworden!« sagte er, indem er die kräftigen Handgelenke und den mächtigen Kopf des jungen Mannes betrachtete, »du bist ein Mann geworden.«

Er schien auf dieses letztere Wort ganz besonderen Nachdruck zu legen, mit einem ganz leichten Anflug von Bedauern. Denn nicht er, wie er gehofft hatte, sondern das Leben selbst mit seinen geheimnisvollen Kräften hatte aus dem Jüngling einen Mann gemacht.

Worauf dieser, teils in einer Aufwallung von Aufrichtigkeit, teils unter der Wirkung des guten Weins, der sich mit seinem Blute mischte – wobei er es nicht unterließ, sich, wie ein guter Schauspieler, von weitem in dem Spiegel auf der gegenüberliegenden Wand zu betrachten –, zu deklamieren anfing.

»Alles verdanke ich dir! Und ich vergesse nichts, nein. Den Zustand des Behagens, in dem ich mich augenblicklich befinde, verdanke ich deinen guten Lehren, deinem Beispiel. Wenn ich manchmal über einem Abgrunde geschwebt habe und dann schnell an dich gedacht habe, habe ich gefühlt, wie ich zurückgezogen wurde. Und jene heilige Frau auf ihrem Schmerzenslager kann es bestätigen, wie oft ich im Traume deinen Namen ausgesprochen habe. Und diese edle Seele kann es bestätigen, daß ich immer zuerst von dir, vor Gott, gesprochen habe. Nicht wahr, Ola?«

Ola platzte heraus. Sie lachte vor Freude, als sie sah, wie feierlich der Vater sich an sie gewendet hatte. Aber das konnte auch ein Scherz sein. Jedenfalls gab ihr Ornella einen leichten Klaps auf den Kopf, während sie die Teller zusammenräumte, ohne im übrigen der Unterhaltung der Beiden die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.

»Wir wollen nicht übertreiben« sagte der Schulmeister, mit einem ganz leichten Hauch von Ironie, die in seiner Stimme zuweilen ganz unbewußt mitklang. »Ich hätte mehr für dich tun können, der Fehler ist, daß ich, wie alle wahren Väter, schwach gewesen bin. Aber da das Schicksal es gnädig mit dir gemeint hat und du zufrieden bist, wollen wir dem Herrgott danken. Das Glück ist mit uns.«

Und auch er wandte sich an die Kleine, indem er ihr mit der Hand zuwinkte. Sie horchte mit leuchtenden Augen, und diesmal lachte sie nicht, denn sie hatte gut verstanden, aber mit einer graziösen Bewegung des Kopfes beantwortete sie ein wenig ironisch den Gruß des Großvaters.

Und der Vater trank und erhob das Glas auf ihr Wohl.

*

Als die beiden Männer allein waren, sprachen sie bei einer Pfeife viel freier miteinander. Auch ihre Pfeifen zeugten von ihrem verschiedenen Charakter. Kurz und ganz aus einem Stück war die des Schullehrers, aus einer Wurzel, die mit der Zeit ganz schwarz geworden war, mit einem prähistorischen Pfeifenkopf. Lang und mit einem silbernen Mundstück verziert die Antonios. Auch die Art, wie sie rauchten, war verschieden, der erste zäh und unendlich wollüstig, wie ein Kind, das an der Mutterbrust saugt, der andere ungestüm, indem er jeden Augenblick die Pfeife aus dem Mund nahm, um ohne Rücksicht auszuspucken.

»Ob ich wirklich glücklich bin? Ja, ich bin wirklich glücklich«, rief er mit scheinbar ehrlicher Begeisterung aus. »Ich würde es sicher noch mehr sein, wenn Marga, mein Weib, nicht dieses Unglück hätte. Im Vertrauen gesagt, behaupte ich, auch auf Grund des ärztlichen Gutachtens, daß es sich nur um eine nervöse Geschichte handelt, die hoffentlich mit der Zeit verschwinden wird, wenn sie außerdem mit einem Luftwechsel einverstanden ist. Aber in dieser Beziehung hat sie einen harten Schädel. Sie geht nie aus dem Haus und mag fremde Leute nicht.«

»Und was ist mit mir?«

»Ach du, das ist etwas ganz anderes. Sie hat dich wie einen Messias erwartet, schon die ganze Zeit. Und ich glaube, daß gerade deine Anwesenheit ihr gut tun wird.«

»Ja, ich habe auch etwas Merkwürdiges in den Augen und in der Stimme deiner Frau entdeckt. Zum Beispiel spricht sie in seltsamer Weise von ihrem ersten Mann.«

Antonio legte die Pfeife schroff auf den Tisch und lachte, lachte ein falsches und theatralisches Lachen.

»Da sind wir also endlich! Das ist gerade ihre fixe Idee: an ihren famosen Adelmo zu denken, wie an einen Helden oder Heiligen. Ich glaube, das tut sie nur, um mich eifersüchtig zu machen. Diesen Adelmo habe ich nicht gekannt, aber ich habe von ihm gehört! Er war ja viel älter als sie, und auf einer Photographie, die sie wie eine Reliquie versteckt, ist ein häßliches langes Gesicht zu sehen, das kein Ende nimmt, und zwei tief in den Höhlen liegende Harpyienaugen. Man sagt übrigens, daß er in den letzten Kriegsjahren eine große Sympathie für die Feinde hatte, mit denen er durch seine Barken in Verbindung stand.«

»Du sprichst reichlich schlecht von ihm, mein Sohn«, bemerkte gutmütig der andere. »Deiner Frau scheint es tatsächlich gelungen zu sein, dich eifersüchtig zu machen.«

»Nein, nein«, protestierte Antonio, indem er wieder nach der Pfeife griff und sie betrachtete, als ob er sie noch nie gesehen hätte. »Das würde ja wider die Natur sein. Und, zum Donnerwetter, ich bin gesund und zufrieden, ohne Skrupeln und Gedanken. Diese Pfeife da, siehst du sie? gehörte jedenfalls einmal dem braven Adelmo, der sie in Holland gekauft hatte. Es macht mir Spaß, aus ihr zu rauchen.

Tatsächlich steckte er sie wieder in den Mund mit einer frechen Gebärde. Da kam dem Schulmeister der Gedanke, daß Antonio der Nutznießer nicht nur der Pfeife allein war. Und er begriff nicht, warum ihn ein Gefühl des Hasses und des Ekels überkam.

Alles was ihm Marga vertraulich, aber nur zur Hälfte mitgeteilt hatte, fiel ihm wieder ein.

»Sie hat mich erwartet«, sagte er vor sich hin. »Sie ist eine gute Frau, nicht wahr?«

»Sie ist gut und brav und äußerst arbeitsam. Sie lebt nur für das Haus, für mich, für das Kind. Du wirst sie morgen sehen. Übrigens sind wir in dieser Beziehung vollkommen eines Sinnes. Das alles hier gehört zwar ihr, aber ich arbeite mit Leib und Seele, um Nutzen daraus zu ziehen. Heute zum Beispiel hätte ich dich eigentlich von der Bahn abholen sollen, aber nein, meine Herren, ich habe irgendwo anders hinlaufen müssen, um die Interessen meiner Familie wahrzunehmen. Und da habe ich mir gedacht: Mein Vater wird mit mir zufrieden sein.«

»Du hast wirklich recht daran getan.«

»Und das Zeug trägt etwas, weil ich so bin. In den Händen eines anderen wäre alles schon längst zum Teufel gegangen. Und ich rechne mit Marga auf Heller und Pfennig ab. Und was mich betrifft, so kann sie selbst sagen, daß ich wie ein Philister lebe. O,« begann er wieder, indem er die Stimme hob und die Brust herausstreckte, »wenn ich damals von Hause durchgebrannt bin und meinem Wohltäter Kummer bereitet habe, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß ich kein Ehrenmann geworden bin.«

Der Schulmeister fühlte sich in seinen geheimsten Gedanken getroffen. Aber er hatte keine Furcht vor seinem Urteil, selbst wenn die anderen es errieten. Ihm machte es vielmehr Spaß, den Untersuchungsrichter zu machen, wenn es der Mühe wert war, eine Gewohnheit, die ihm vielleicht noch aus der Schulzeit anhaftete, wenn ein Kind heimlich irgendeinen bösen Streich beging und er bemüht war, die Wahrheit herauszubekommen und gleichzeitig aufklärend zu wirken.

Also sagte er gelassen zu Antonio:

»Wenn Marga versucht, dich eifersüchtig zu machen und wenn sie sich ihrem nervösen Zustand ganz überläßt, so wird sie einen Grund haben. Eine vollkommen glückliche Frau denkt nicht an solche Dinge.«

»Was wissen wir von den Frauen! In der Liebe sind sie alle, mehr oder weniger, unzurechnungsfähig. Marga ist auch auf ihrem ersten Manne unerhört eifersüchtig gewesen, obzwar er alt und durchaus kein Urbild der Schönheit war. Sie war hinter ihm her, bei Tag und Nacht, und sie selbst erzählt, daß sie ihn auf den Fischfang in einer Barke begleitete. Ein Unwetter überraschte sie und fast wäre es ihr an den Kragen gegangen. Auf mich ist sie aber nie eifersüchtig gewesen, doch glaube ich, daß sie es zu Beginn unserer Ehe war.«

»Die Ehe ist eine heilige Sache«, sagte der Schulmeister ernst. »Und solche Wolken dürfen sie nicht trüben, zumal wenn Kinder da sind. Der Mann, der heiratet, übernimmt vor Gott eine Verantwortung. Er ist wie ein Bauer, der sich verpflichtet, die neuen Pflänzchen stark und gesund auf der ihm anvertrauten Erde zu hegen und zu pflegen. Die Kinder sind die Blume des Lebens.«

Antonio rauchte, beinahe entrüstet, daß man seine hervorragenden Eigenschaften als Gatte und Vater in Zweifel zu ziehen wagte.

»Die Ehe ist eine große Verantwortung,« sagte er schließlich, in jenem deklamatorischen Stil, der sich wie ein Schleier auf die Aufrichtigkeit seiner Worte legte, »aber wenn du auch eine Frau genommen hättest und wüßtest, welche Klugheit und Geduld nötig ist, um in Einigkeit zu leben, würdest du keinem Manne einen Vorwurf machen, wenn er sich hie und da außerhalb des Hauses harmlos die Zeit vertreibt.«

»Ah, endlich sind wir bei diesem Punkte angelangt! Da tust du aber deiner Frau Unrecht.«

»Ach was, Unrecht! Unrecht ist, wenn ein Mann sich außerhalb des Hauses mit anderen Frauen herumtreibt und vor allen Dingen das ganze Hab und Gut vertut. Ich kann es beschwören, daß ich nie auch nur einen Heller für die Weiber ausgegeben habe, weil sie es nicht wert sind. Sie sind alle mehr oder weniger Huren,« bekräftigte er, indem er in weitem Bogen ausspuckte, »und sie sind es, die auf Männerjagd ausgehen, besonders dann, wenn man, mit Verlaub zu sagen, so jung und kräftig ist wie der Unterzeichnete. Andererseits muß man sich, gerade wenn man so von Gesundheit strotzt wie ich, einmal austoben. Und eine gute Frau, wie Marga es im Grunde ist, macht auch nicht viel Aufhebens davon. Wir leben nicht mehr im Altertum. Und übrigens auch Salomon hat mehr als eine Frau gehabt.«

Der Schulmeister hörte zu rauchen auf. Obwohl er Unmut und Ekel über diese Worte empfand, mußte er Antonio in allem Recht geben.

»Dann begibt man sich auf den Tummelplatz des Lasters,« erwiderte er in der traurigen Überzeugung, nicht verstanden zu werden, »und ich lasse die Schuld um der Liebe willen gelten, aber nicht die aus Lasterhaftigkeit. Dem Manne muß eine Frau genügen, und der Frau ein Mann, so will es Gott, so verlangen es die Gesetze des Lebens. Ich weiß, wenn ich eine Frau geheiratet hätte, würde ich sie nie verraten haben.« »Gerade deswegen hast du dich gehütet, eine zu nehmen.«

Der Schulmeister antwortete nicht sofort, aber sein Gesicht, das bleich und hell war wie sein Becher, färbte sich rot. War es Entrüstung, Reue, Schmerz oder vielleicht auch Trauer, oder vielleicht auch Schande? Vielleicht hatten alle diese blutigen Blumen der Leidenschaft zusammen seine Seele erschüttert.

»Mein lieber Sohn,« sagte er, indem er ihn zum ersten Male so ansprach, »du hast vielleicht recht. Man kann nicht über das urteilen, was man nicht kennt. Und ich und du, wir stehen uns hier gegenüber wie die Wirklichkeit und der Traum. Du bist lebendig, und ich würde tot sein, wenn der Tod selbst nicht der große Lehrmeister des Lebens wäre. Was weißt du von mir? Weißt du denn, ob ich nicht gerade aus Erfahrung spreche, ob ich nicht auch gelebt und gesündigt habe, und ob ich dir gute Lehren nicht nur gegeben habe, um dich vor Schmerz zu bewahren?«

Aber der andere begriff nur die Äußerlichkeit der Worte.

»Weiß ich, mit wem ich es zu tun habe?« sagte er fast brutal. »Ich habe die Welt und die Menschheit zur Genüge kennengelernt, um mich noch von ihnen quälen zu lassen. Jetzt kann mir niemand etwas anhaben.«

»Der Schmerz kommt nicht von den anderen, er kommt aus uns und aus der Natur. Du bist stark, ja, heute, aber morgen?«

»Das Morgen steht in Gottes Hand«, antwortete der andere aufgeräumt, goß sich das letzte Glas voll und schüttelte die leere auf den Kopf gestellte Flasche, als wollte er sie auspressen und einen darin verborgenen Wein aus ihr herausziehen. Aber er trank nicht. Es war ihm im Grunde unangenehm, daß der Vater so trüb gelaunt war. Übrigens ist es selbstverständlich, ein Mann, der nicht trinkt, ist immer ein bißchen salbungsvoll und langweilig. Er gedachte ihn ein bißchen aufzurütteln, ihm wenigstens einige heitere Stunden zu bereiten. Er begann, ihn mit Sie anzusprechen.

»Da wir gerade von Marga sprechen, will ich Ihnen erzählen, wie ich ihre Bekanntschaft gemacht habe.«

Zuerst überzeugte er sich, ob Ornella bereits in ihrer Kammer war, die an die Küche stieß. Dann setzte er sich wieder, trank den letzten Becher, fast widerwillig.

»Das ist ein ganz komisches Mädel. Sie scheint auf alles zu pfeifen, aber immer steht sie mit gespannten Ohren da. Übrigens ist es Marga, die sie im Hause haben will, eben weil sie auf die Dienstmädchen eifersüchtig war und weil sie eine Verwandte ihres innigstgeliebten Adelmo ist.«

»Also,« begann er leise und gut aufgelegt, »wie Sie sich erinnern, war ich hier beim Zollamt angestellt und bereitete mich auf die Prüfung zum Beamten vor. Ich war ehrgeizig und hatte nur meine Prüfung im Kopf. Ich hoffte, es recht schnell zum Unteroffizier und mit der Zeit zum General zu bringen. Warum auch nicht? Das wäre mir bei einigem guten Willen sicher gelungen. Damals dachte ich gar nicht an Weiber. Ich hatte um Versetzung in eine Stadt gebeten, wo man ruhig studieren konnte, vor allem aber deshalb, weil die Frau des Unteroffiziers dort war, die uns Untergebene in unseren Mußestunden in ihrem Garten arbeiten ließ, der an den Weingarten Margas grenzte.

Marga war seit kurzer Zeit Witwe und war überhaupt unsichtbar. Ich kannte sie nur dem Namen nach oder vielmehr vom Hörensagen, weil man nämlich über ihren toten Mann alle möglichen Geschichten erzählte. Er soll österreichischer Spion gewesen sein, er soll einen Schatz gefischt haben, er soll seiner alten Tante, die ihn aufgezogen hatte, alle ihre Ersparnisse geraubt haben, und sie soll darauf an gebrochenem Herzen gestorben sein. Wenn ich in dem Garten der Frau des Unteroffiziers arbeitete, betrachtete ich den Weingarten und das Feld und das Häuschen Margas mit einer gewissen ironischen Neugierde, wobei ich an die Witwe dachte, die seit einem Jahre nicht ausgegangen war, sondern dieses Urbild von Schönheit beweinte, der übrigens, wie die Leute sagen, durch sie zu Vermögen gekommen war und ihr alles hinterlassen hatte.

Aber eigentlich war ich überzeugt, daß Adelmo mit der Fischerei im Kriege ein ungeheures Vermögen verdient haben mußte, denn seine Barken fischten, auch wenn es verboten war. Aber die Leute müssen ja immer einem Menschen, der reich geworden ist, etwas nachsagen, und damals sprach man über Adelmo ebenso schlecht wie man heute über mich schlecht spricht, nachdem ich die Witwe geheiratet habe. Viele behaupten sogar, daß ich sie aus Berechnung geheiratet habe, während ich es aus reiner Liebe zu ihr getan habe.

Ich habe sie geliebt, noch bevor ich sie kannte. Sie war, wie ich mit ruhigem Gewissen sagen kann, meine erste wahre Liebe.

Ich war damals fast noch ein Junge, und wenn ich auch weit und breit in der Welt herumgekommen war und die Weiber mir keine Furcht einzuflößen vermochten, so war ich doch verliebt gewesen wie ein Dachs.

Wenn die Frau des Unteroffiziers in den Garten kam, um meine Arbeit zu überwachen, sprach sie immerzu mit mir von der geheimnisvollen Nachbarin, daß sie unerhört schön sei, daß sie auch Adelmos Bruder zu heller Leidenschaft entflammt habe, worauf dieser aus Liebe zu ihr nach Java ging, wo er glücklicherweise jetzt noch lebt, daß es ausgeschlossen war, sie zu sehen, da sie keine Menschenseele empfing, ausgenommen ihre nächsten Verwandten, und daß sie schließlich, in treuem Gedenken an ihren Mann, nie wieder das Haus verlassen würde.

&›Wieviel wetten Sie, daß es mir gelingen wird, sie zu sehen?‹ sagte ich zur Frau des Unteroffiziers an einem Oktobertage. &›Das ist doch schließlich nicht die Unterwelt, dieses Haus ohne Türen und Fenster. Und es wird mir gelingen, Frau Marga in ihrem Hause zu sehen, ja sogar in ihrem Zimmer.‹

Die Frau des Unteroffiziers war auch eine schöne, aber schlaue Frau, die sich gern mit mir abgab, und ich glaube, daß sie mich gerade deswegen in ihrem Garten arbeiten ließ, während es ihr ein Vergnügen bereitete, das Feuer in mir zu schüren, indem sie ohne Unterbrechung von der Liebe, von den Frauen und insbesondere von Marga sprach.

&›Es ist alles möglich, wenn man will‹, sagte sie zu mir, mit einer Anspielung.

&›Sie werden mir aber unter allen Umständen bezeugen, daß ich nur die Absicht habe, diese berühmte Schönheit aus der Nähe zu sehen.‹

Ich muß gestehen, daß die Frau des Unteroffiziers mich in meinem Unternehmen unterstützte, indem sie mir gestattete, in der Hecke einen Durchgang zu öffnen, durch den ich auf den Acker hinter dem Garten gelangen konnte. Wie gesagt, es war Oktober und noch warm. Wir in der Kaserne schliefen noch bei offenem Fenster, und ich konnte von meinem Fenster aus, durch die Weinlauben hindurch, den Lichtschimmer aus Margas Zimmer sehen.

In der ersten schönen Nacht begab ich mich kühn auf das Feld, mit Filzschuhen, wie man sie auf der Jagd auf Schmuggler trägt, und schlich vorsichtig vorwärts. Ja, ich habe vergessen zu erzählen, daß ich mich mit dem Hunde der Bauern angefreundet hatte, der oft an die Hecke kam und unsere Hühner anbellte. Dann warf ich ihm einen Bissen hin, und auf diese Weise wurden ich und der Hund bald gute Freunde. Er begann tatsächlich zu bellen, kaum daß ich auf dem Felde war, aber als er mir entgegenlief und mich erkannte, beruhigte er sich. Dann lief er in ausgelassener Stimmung voraus, als ob er meine guten Absichten gekannt hätte, und zeigte mir den Weg. So gelangte ich an den Weinlaubengang. Margas Fenster, Sie haben es gesehen, liegt fast zu ebener Erde. Ich kniete nieder und näherte mein Gesicht, um besser zu sehen. Und das Glück war mir hold, sehr sogar.

Während ich glaubte, daß Marga eifrig für das Seelenheil ihres toten Gatten betete, wusch sie sich Arme und Hals, wie sie es heute noch tut, bevor sie zu Bett geht. Ich sah sie also mit entblößten Schultern und entblößter Brust, mit um den Kopf geschlungenen Haaren. Sie war schön wie eine Marmorstatue. Als sie sich abtrocknete und mit dem Handtuch abrieb, wurde ihre Haut ganz rot. Dann hob und betrachtete sie ihre frischen Arme gründlich, indem sie sie hin und herwendete, sowie ein herzförmiges Muttermal mitten auf der Brust. Ich warf mich vor Schreck auf die Erde. Und blieb dort, bis sie die Fensterläden schloß und alles ruhig war.

Ich sagte der Frau des Unteroffiziers kein Wort, weil ich es vorzog, die Wette zu verlieren, nur um dieses Spiel ungestört fortsetzen zu können. Bis mich eines Nachts Margas Bauer entdeckte und mich fast anschoß. Ich sagte ihm, daß es mein gutes Recht sei, mich überall aufzuhalten, wo es mir beliebte, und zwar von Amts wegen. Und da ich ganz toll verliebt war und die Begierde, mit Marga zu sprechen, nicht länger unterdrücken konnte, fügte ich hinzu, daß ich Auftrag habe, ihr Haus zu durchsuchen. Das Haus war in Verwirrung, Marga, die allein mit einer Dienerin lebte, bekam einen solchen Schreck, daß ich es bereute, sie so aus der Fassung gebracht zu haben. Die Mutter und die Frau des Bauern kamen wie zwei zerzauste Hexen angelaufen, der Hund war nicht mehr zu halten und begann zu bellen, gewissermaßen als Protest gegen eine solch überflüssige Belästigung.

&›Signora,‹ sagte ich zu Marga, &›ich hätte eigentlich den Auftrag, die Terrasse ihres Hauses zu durchsuchen, weil dort allem Anschein nach, ohne Ihr Wissen, Schmuggelware aufgehoben wird.‹

Sie protestierte nicht, setzte keinen Widerstand entgegen. Sie reichte mir den Schlüssel zur Terrasse und befahl dem Bauern, mich zu begleiten. Als ich bemerkte, daß ihre Anwesenheit unbedingt nötig sei, ging sie mit uns. Selbstverständlich wurde, nichts gefunden. Ich bemerkte aber, daß auf der Terrasse eine Tür war, die zum Dachboden führte, und bat Marga sie zu öffnen. Sie schickte den Mann hinunter, um den Schlüssel zu holen. Als wir allein waren, warf ich mich ihr zu Füßen und bat sie um Verzeihung.

&›Sie sind die Schmuggelware, die ich suche. Ich habe zu diesem Mittel gegriffen, denn sonst wäre es mir nicht gelungen, Sie zu sehen.‹

Sie zog sich zunächst eingeschüchtert zurück, dann lachte sie laut auf und sagte im Dialekt:

&›Herrgott, sind Sie dumm und einfältig!‹

Sie empfing mich trotzdem, als ich sie später am Tage besuchte, zwar nicht allein, aber sie schickte die Dienerin mit einer Besorgung weg und dann konnten wir uns allein und in aller Ruhe aussprechen.«

*

Marga erhob sich am nächsten Tage beim Morgengrauen, und es war, als ob die Sonne über dem Hause aufginge, das ohne sie dunkel und finster war.

Als der Schulmeister schmuck und sauber die Küche betrat, hatte sie bereits die Zimmer aufgeräumt, hatte sie bereits die Bauern besucht und sich mit den Kühen unterhalten, mit dem Füllen und mit der Stute, den Hühnern und den Enten, mit dem Wasser des Brunnens, mit den Pflanzen und den Blumen.

Jetzt unterhielt sie sich mit dem Küchengeschirr. Alles war gut und sauber und an allen Dingen ließ sie ihre Freude am Leben und am Schaffen aus.

Ornella mußte manchen Tadel von ihr hinnehmen, wie der Schulmeister bemerkte. Aber sie nahm ihn schweigend hin, regungslos wie eine Statue. Marga war sofort wieder guter Laune und lachte und sprach mit der Kleinen wie mit einer Erwachsenen, und auch den Großvater rief sie hinzu, um ihm zu zeigen, wie gut es das Leben mit ihr meinte.

»Sehen Sie, Antonio ist schon aus dem Hause, ohne einen Bissen gegessen zu haben, und arbeitet. Ein anderer würde sich noch im Bett herumwälzen wie ein großer Herr. Alles geht wie am Schnürchen, wenn man zeitlich aufsteht und jeder seine Pflicht tut.«

Dann goß sie den Kaffee ein und zerschnitt auf einem Brettchen das Brot, das von gestern übriggeblieben war, und fragte die Kleine:

»Hast du schon dein Gebet aufgesagt? Hast du auch für Großpapa gebetet? Großvater, Sie werden sehen, daß diese Kleine da eine große Dame sein und sich und alle Menschen beglücken wird. Sie wird auch lateinisch lernen, so Gott will, ohne die häuslichen Tugenden zu vernachlässigen. Das Beispiel der Eltern und auch das Ihre wird ihr sehr viel helfen. Und sie ist ja so schön und so gut! Es gibt kein zweites solches Kind auf der Welt. Pfui, Ola, was tust du da? Du bringst mich noch zur Verzweiflung.«

Und wenn der Schulmeister nicht dazwischengekommen wäre, hätte die Kleine eine Ohrfeige bekommen, denn sie, die sich den Überschwang der Mutter zunutze machte, hatte sich gebückt und goß hierbei dem Hund etwas Kaffee auf den Rücken. Der Hund war zu Hause geblieben, da der Herr nicht mehr über den Hafen hinausgehen durfte, wo man die Fische verlud. Aber er war scheinbar absichtlich zu Hause geblieben, um den Gast besser kennenzulernen, denn er ging immer um ihn herum und beschnupperte ihn. Der Schulmeister ließ sich auch durch das fast menschliche Bedürfnis des Hundes nach Zuneigung rühren und warf ihm Stücke Brot zu, die das Tier mit seiner roten Zunge im Fluge erhaschte, während der schwarze Fleck auf seinem Rücken wie Samt leuchtete und der Schwanz vor Freude und Erkenntlichkeit hin und her wackelte.

Der Kater aber hielt es unter seiner Würde, sich zu nähern. Er war verwöhnt und liebte nur scharfe Gerichte. Jetzt hatte er es sich in einem Stuhl bequem gemacht, mit eingezogenem Schweif und Pfoten, und erwartete, unbeweglich wie eine kleine Sphinx aus getigertem Marmor, Ornellas Rückkehr vom Markt.

Der Schulmeister liebte solche häuslichen Stimmungsbilder. Man fühlte sich in eine biblische Atmosphäre versetzt, man atmete freier und besser.

Die erregte Gestalt Margas, ihr verschossenes und nachlässiges Kleid, das aber die natürliche Eleganz ihres schönen Körpers nicht verdeckte, die unordentlichen Haare in dem unbeweglichen silberweißen Gesicht, standen im Gegensatz zu der naiven Umgebung. Und sie fühlte, daß ihre Freude sich nicht viel von ihren Worten unterschied: sie war ein irisierender Schleier, den sie vor den Augen der anderen hin und her bewegte, um zu täuschen und getäuscht zu werden. Als Ornella vom Markt zurückkam und der Tisch vollgepfropft war mit Tüten und noch gartenfrischem Gemüse, und als eine Tasse nach der anderen umfiel und der Kater bei seiner beharrlichen Suche nach Fleisch in die Höhe sprang, wurde sie ein bißchen nervös. Sie stieß Ola zurück, die auch in den Tüten herumkramte, Mehl und Reis ausschüttete, und begann nun, Ornella Vorwürfe zu machen.

Des Schulmeisters Vorschlag, einen Spaziergang zu machen, er, die Kleine und der Hund, wurde daher von allen mit Freude begrüßt.

Sie zogen also los, die drei, die in der unermeßlichen Weite des Strandes und des blauen Meeres winzig klein und einsam waren.

Bevor man in die reine Sandgegend kommt, auf der keinerlei menschliche Spuren zu sehen sind, geht man über Wiesen, die mit Gras und gelben und violetten, kristallähnlichen Blümchen bedeckt sind. Und alles ist durchsichtig wie Kristall und hat die Farbe von Edelsteinen, der Himmel, das Wasser, die Muscheln und selbst der Sand, dort wo die Welle zurückweicht und die Sonne sich bricht wie in einem Spiegel. Aber die Blicke des Schulmeisters und Olas werden vor allem von einem brennendroten Dreieck angezogen, das auf dem Grün der Wiese ausgebreitet ist. Das ist ein Segel, das ein alter Marinemaler safrangelb angestrichen hat und das er jetzt mit andächtiger Kunst bemalt, indem er diese Farben aus den umherstehenden Kübeln schöpft und von Zeit zu Zeit ein wenig zurückgeht, um die Wirkung des Gemäldes besser beobachten zu können.

Ganz oben ist die Sonne, rot, mit langen Strahlen, wie wenn sie aus dem Meere steigt. Darunter trennt ein gelber Streifen den oberen vom unteren Teil des Segels, und obzwar alles in lebhaften Farben ist, hat man doch den Eindruck, daß eine neutrale Zone, wie die des Sandes, die Landschaft teilt, die in ihrer geradlinigen Einfachheit überwältigend ist. Die Unendlichkeit, der unermeßliche Glanz der Sonne, unten, wo der Krokus in Tonfarbe übergeht, die Erde die von diesem Lichte lebt.

Auf der goldfarbenen Zone wird der Maler gerade mit einem Hahn fertig, den er in Granatapfelfarbe gemalt hat. Und auch dieses Symbol erinnert an die Vorstellung von dem neuen Tag, der vor Hoffnung und Liebe frohlockt.

*

Sie sahen eine hübsche Weile zu, auch Birba, der Hund, der jedoch die Bedeutung der Leinwand langsam zu begreifen schien, um sie herumlief und unschuldigerweise nicht nur den Hahn anbellte, aus Angst, er könnte aus der Spitze des Pinsels lebendig herausspringen, sondern auch den Pinsel, bis ein zweiter hinzukommender Hund seine Aufmerksamkeit ablenkte. Die beiden liefen einander entgegen, gingen umeinander herum, indem sie sich beschnupperten, dann sprangen sie sich wechselseitig auf den Rücken und begannen auf dem Grasteppich herumzutollen und sich zu beißen, aber in spielerischem Kampfe, wie ausgelassene Kinder, die seit langem befreundet sind.

»Ja, wenn Menschen sich zum erstenmal begegnen,« sagte der Schulmeister, der mit dem Maler ein Gespräch anknüpfen wollte, »so betrachten sie sich als Feinde.«

Der Maler erhob tatsächlich, gelangweilt durch die beharrliche Neugier des Fremden, die blauen Augen und stieß die Kleine zurück, die der Leinwand allzu nahe gekommen war. Darauf versuchte sie, sich an dem Spiel der Hunde zu beteiligen, aber der Großvater führte sie etwas gewaltsam fort, und auch Birba ließ trotz wiederholten Rufens nicht von seinem neuen Freunde ab, bis dieser keine Lust mehr zeigte mitzutun.

Der Strand war vollkommen verlassen. Ola versuchte den Großvater nach links zu ziehen, gegen die Palisade der Mole, die wie eine Brücke zwischen Erde und Meer erschien, dessen blauer Hintergrund mit schwarzen Figuren bedruckt war. Aber der Großvater stand im Banne des großen Schweigens und der unermeßlichen Einsamkeit zur Rechten, wo die Linie des Sandes in einem blauen Dunst endete und sich in den fernen Bergen am Horizont zu verlieren schien.

»Ist dort unten deine Heimat?« fragte Ola. Er fuhr beinahe in die Höhe und drückte das süße kleine Händchen der Kleinen in der seinen, denn sie war wirklich in seine geheimsten Gedanken eingedrungen.

»Nein, das ist nicht meine Heimat. Meine Heimat ist viel weiter unten. Ich habe eben an sie gedacht.«

»Ist das Meer dort, bei euch?«

»Nein. Dort sind Berge, die sehen so aus wie die Schützengräben, die die Soldaten aus Sand gemacht haben, aber viel größer und höher, und bedeckt mit Bäumen und Sträuchern.«

»Ist dort der Meerkater?« fragte sie, die sich in dieser ganzen unbekannten Großartigkeit unbehaglich fühlte.

»Aber nein, meine Liebe. Es gibt doch keinen Meerkater.«

Da lehnt sie sich auf. Wie kann er es auch wagen, an diese Sensationen nicht zu glauben!

»Nein, weißt du, der Meerkater existiert wirklich. Ich habe ihn in der Nacht gehört, wie alles still war. Miau! Miau!«

Und sie beißt sogar den Großvater in die Hand, um ihr Nachahmen zu unterstreichen.

»Bravo, bravo!« sagt er, indem er sich furchtsam stellt und ihre Hand losläßt, um sich auf die Hand zu blasen. »Marsch weg, du Meerkater.«

Ihr Lachen schien viel mehr als das Meer und die blühenden Wiesen zu schillern. Und er hatte fast Angst vor diesem Augenblick des Glücks, obzwar er sich wegwendete, um sich nicht durch sein Lachen zu verraten.

»Wollen wir noch spielen«, schlug sie vor und ergriff wieder seine Hand.

Und sie spielten wie zwei Hunde auf dem Strand, wie die Fischlein im Meere, wie die kleinen lila Schmetterlinge, die über die Wellen hinstrichen.

Bis er sich streng und ernst erhob, als sie die Vertraulichkeit zu weit trieb und ihn tatsächlich in die Hand biß.

»Ein schönes Spiel dauert nicht lange. Und wenn es lange dauert, wird es zur Qual.«

*

Dann sahen sie der Rückkehr der Barken vom Fischfang zu. Sie kamen immer zu zweit, wie die jungen Pärchen nach einem glücklichen Spaziergange. In dem Maße als sie der Küste näher kamen und in den Kanal mit würdevoller Langsamkeit einfuhren, klammerte sich einer der Fischer wie ein Affe an das Geländer der Brücke und schwang sich von da auf den Rand des Hafendammes, über den er mit einem Sprunge hinwegsetzte. Ein zweiter schleuderte ihm das Schiffsseil zu, das er an den in die Felsen der Mole eingebohrten Eisenringen durch Knoten befestigte. Und die so festgebundene Barke schaukelte zunächst ein bißchen wie eine große zahme geflügelte Bestie, bevor sie regungslos auf dem Wasser lag, in dem sie sich leuchtend spiegelte.

Sie wurden der Reihe nach längs der Mole festgebunden. Brennendrot ragten die Segel in die Luft, ihre Leiber im Wasser waren bemalt, manche sahen mit den vielen gezackten Flicken wie tätowiert aus. Und ringsherum verbreitete sich eine festliche Stimmung, als ob eine Prozession mit goldenen Fahnen und silbernen Leuchtern vorbeiziehen würde.

Ola machte den Großvater auf die Metallverzierungen und die neuen Schnitzereien einiger Barken aufmerksam. Dunkelblaue Streifen, versilberte Schilder und sogar Blumenvasen hoben sich von dem Pechschwarz des Holzes ab. Aber was ihr am meisten gefiel, war ein Greif, ganz aus Gold, mit roten Augen, der ganz vorn am Bug war und wie ein Götzenbild in der Sonne funkelte. Sie zeigte dem Großvater auch die Barken des Vaters, sie schien aber nicht besonders stolz auf diese zu sein. Es waren vier an der Zahl, alt und klein, aber ganz neu hergerichtet und weiß lackiert. Mit den weißen Segeln sahen sie aus wie zwei Taubenpaare, die sich enganeinandergeschmiegt hielten und sich gegenseitig küßten. Ihre Namen aber, San Giorgio und Nicoletta, Gabbiano und Maria Margherita, stimmten nur in der dunkelblauen Farbe der großen reich verschnörkelten Buchstaben überein.

Ihre Segel waren einfach, lebhaft safrangelb, die neuen hochrot, und offenbarten den heißen und kühnen Charakter des neuen Herrn.

Im Inneren der Barken herrschte lebhaftes Treiben. Die Fischer, barfuß und schweigsam, mit breiten Füßen wie Schwimmvögel, deren Haut von dem salzigen Meerwasser verbrannt war, sichteten die Fische mit phantastischer Geschwindigkeit. In wenigen Augenblicken waren die Körbe voll von breiten, grauen und fetten Schollen, von silbernen Meeräschen und rundlichen fleischfarbenen Barben. Die Krebse, die die Scheren ihrer Hinterfüße noch bewegten, wurden verächtlich weggeworfen, zusammen mit einem Haufen von unansehnlichen Fischen, die glitschig waren wie Würmer.

Dann wurden die Körbe auf Handwagen geladen und von den Fischern gezogen, die aus dem Meere herausgesprungen zu sein schienen, nachdem sie die Fischernte, dem Bauern gleich, unter Dach und Fach gebracht hatten.

Ola, der Großvater und der Hund gingen hinterher. Hie und da lag auf den glitzernden Felsen der Mole ein totes Fischlein, das aus dem Korb gefallen war. Der Schulmeister bemühte sich nicht darauf zu treten, aus einem Gefühl von Mitleid, das die großen Fische in ihm nicht erregt hatten. Und als ob Ola seine Gedanken von neuem erraten würde, faßte sie die Fischchen mit zwei ihrer kleinen Finger und warf sie ins Meer, und das Meer öffnete und schloß sich wie ein kleiner Mund, um sie zu verschlingen.

»Werden die wieder lebendig, Großvater? Nein?« »Wenn man einmal tot ist, wird man nicht mehr lebendig.«

Wieder fuhr er zusammen in seinem Inneren. Denn plötzlich durchschnitt eine unheilvolle Erinnerung das große Licht des Glücks, das ihm das Meer spendete.

Ohne es zu wollen, ließ er sich von Ola führen. Und Ola ging selbstsicher hinter den Fischern her. Sie kannte jeden einzelnen und jeder kannte sie. Sie kannte auch die Namen der Hunde und Kater der einzelnen Barken und begrüßte alle lächelnd und mit dem Kopfe nickend.

Dann zwang sie den Großvater, bei einem Angler halt zu machen, in der Überzeugung, ihm etwas Interessantes zu bieten. Der Mann, der anständig aussah, saß am Rande des Hafendamms und hielt in der einen Hand eine Rute, von deren Spitze eine Schnur herunterhing. Er stand unbeweglich da, mit gesenktem Kopf, und schien zu beten: »Lieber Gott, schick mir einen hübschen großen Fisch, den ich nach Hause tragen und braten und meiner Familie zu essen geben kann. Amen.«

Andere Kinder sahen zu, ruhig, und in aller Gesicht war die Erwartung eines großen Ereignisses zu lesen.

Auch der Großvater ließ sich durch die allgemeine Neugierde verleiten zuzusehen, und dachte, daß ihm diese Beschäftigung vielleicht gut tun würde.

Plötzlich entstand im Wasser ein Aufruhr und die Angelschnur wurde in die Tiefe gerissen. Der Mann zog sofort die Rute hoch und die Münder der Kleinen öffneten sich, als ob der Fisch gleich hübsch gebraten hineinfliegen sollte. Enttäuschung und Spott machten sich dann in einem allgemeinen Gelächter Luft, denn am Ende der Schnur pendelte, einsam und verlassen auf dem Angelhaken, leuchtend wie ein Ohrgehänge, der kleine Köderfisch, tot und traurig.

Der Angler aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen wie die anderen. Er läßt keinen Menschen an seinem Vergnügen teilnehmen, und ebensowenig zeigt er seine Enttäuschungen und seine stets erneuerten Hoffnungen.

Mit Seelenruhe wirft er von neuem den Köderfisch ins unendlich tiefe Wasser, von neuem neigt er den Kopf und wartet.

»Ola, komm«, sagt der Großvater, indem er die Hand der Kleinen drückt und schüttelt. Aber sie denkt nicht daran zu gehen und bittet ihn, noch zu warten.

Tatsächlich zieht der Angler die Rute hoch, mit überraschender Leichtigkeit, und bevor noch die Umstehenden begreifen, was vorgeht, zappelt ein fast blauer Fisch verzweifelt im Körbchen, über dem jetzt die Angel schwebt.

Und jetzt drängt der Mann die Kinder zurück, die vor Freude brüllen, als ob der Fisch ihnen gehörte, und lächelt halb ironisch, halb gutmütig.

»Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Aber sein Lächeln verfliegt, als der Großvater, der sich niedergebeugt hatte, weil Ola ihm etwas ins Ohr flüsterte, ihn fragte, ob der Fisch zu verkaufen sei.

»Ja, er ist zu verkaufen«, denn solange der Angler hofft, neue Fische zu fangen, trägt er keinen nach Hause. Man verhandelt, indes das Opfer im Korb seinen verzweifelten Tanz fortsetzt und seine großen Augen sich verschleiern, wie die eines Ertrinkenden. Dann werden seine Sprünge allmählich langsamer und kürzer. Der gekrümmte Körper streckt sich, verschwindet im Hintergrunde des Körbchens und legt sich quer, bis er schließlich nach einem letzten Hochschnellen zurückfällt und regungslos liegen bleibt, mit dem verblassenden Bauch nach oben, und die Flossen sich zusammenfalten wie kleine Fächer.

»Er ist tot«, verkünden die Kinder. Der Angler wickelt ihn in das Totentuch eines Zeitungsblattes ein und reicht ihn dem Käufer. Und dann gehen sie, der Großvater und das Kind, längs der Mole im vollen Sonnenschein, hinterher der Hund, der der ganzen Szene beigewohnt hat, ohne sich aber allzusehr dafür zu interessieren, denn er frißt den Fisch weder roh noch gekocht.

*

Die Mole endigt in der Straße, die am Kanal liegt, und diese verbreitert sich plötzlich zu einem Platz, der rings von Bäumen und einem Holzgeländer umgeben ist. Das war die Bootswerft und gleichzeitig der Fischmarkt.

Ola zog den Großvater dort hin und ließ plötzlich seine Hand los, um auf eine Gruppe von Männern und Frauen zuzustürzen, die vor den Fischkörben stand. In ihrer Mitte befand sich der Vater, den Hut aus dem Gesicht geschoben, mit einer Kravatte, die, leuchtender als ein Schmetterling im Sommer, auf dem blauen Hemd prangte. Sie machte sich gleich an ihn heran und war toll vor Freude.

Er drehte sich um, sah den Schulmeister und winkte ihm mit der Hand zu, aber seine Anwesenheit schien ihm nicht angenehm zu sein. Vielleicht meinte er, daß jetzt nicht der richtige Augenblick war, ihn seinen Bekannten vorzustellen, die übrigens nicht das geringste Interesse für den Fremden zeigten, ebenso wie er keine Lust hatte, sich mit jemandem anzufreunden. Gesellschaft hatte er bereits gefunden, und als Ola, die der Vater sanft von sich losmachte, wieder zu ihm zurückkehrte, ergriff er ihre Hand, wie etwas, das ihm ausschließlich gehörte und das er nicht wieder herauszugeben entschlossen war.

Dann gingen sie etwas zur Seite, als ob sie sich verstecken wollten, um Antonio nicht lästig zu fallen, und sahen dem Verkauf der Fische zu. Dieser erfolgte in sehr origineller, fast geheimnisvoller Weise, die die fast tragische Aufmerksamkeit, die harten Gesichter und die egoistisch blickenden Augen der Interessenten enthüllte.

Zuerst kam ein schöner Korb mit Meeräschen, die wie eine Fülle feuchter Blumen rötlich schillerten, zur Versteigerung. Ein großer dicker Mann in einem weiten schwarzen Jackett war die Hauptperson der malerischen Gruppe und schrie einige Worte im Dialekt, in denen er die Käufer aufforderte, ein Offert zu machen. Dann trat einer nach dem anderen, Männer und Frauen, ganz dicht an ihn heran, stellte sich auf die Fußspitzen, da er sich weder nach rechts noch nach links drehte, und flüsterte ihm die Summe ins Ohr, die er zu bieten gedachte.

Er hörte unbewegt zu, mit lächelndem Gesicht, das die Sonne hell bestrahlte. Aber er schien nicht zufriedengestellt zu sein, denn er wiederholte seinen Ruf und bekam neue Offerte. Er schien allen diesen ernsten Personen die Beichte abzunehmen, die, von dem Wettstreit, von dessen Ausgang ihr Seelenheil abzuhängen schien, völlig in Anspruch genommen, nicht ein Wort untereinander wechselten.

Schließlich wurde der Korb mit den Meeräschen einem Riesenweib mit wirren Haaren, die nach faulen Fischen stank, zugeschlagen. Sie war die einzige, die imstande war, dem Ausrufer etwas bequem ins Ohr zu sagen, und schien sich an Größe mit ihm zu messen. Sie machte sich Platz, indem sie die Leute mit der flachen Hand zur Seite schob, die fettig war wie die Fische, hob den Korb, indem sie den Meeräschen zulächelte, stellte ihn auf einen Handwagen und entfernte sich, ohne sich noch um etwas zu kümmern.

Ola preßte Großvaters Hand, und auch sie machten sich auf den Weg, verfolgt von dem Meergeruch, der der dicken Fischverkäuferin auf dem Fuße folgte. Sie gingen die ganze Straße längs des Kanals, der sich wie ein Strich hinzog und durch die Segel der Barken und deren Spiegelung in dem grünen Wasser eine seltsame Färbung bekam. Hinter ihm erhob sich die graue und leuchtende Wolke eines Tamariskengebüsches, und ganz in der Ferne hoben sich die Pinien gegen das Blau des Himmels ab. Weiter unten machte die Straße eine Biegung und fuhr dann kerzengerade wie ein blankes Schwert in das Herz der Ortschaft.

Und dieses Herz, ein kleiner, mit viereckigen Steinchen gepflasterter Platz, mit einer Kirche zur Rechten und dem alten schwarzen Rathaus zur Linken, einem Brunnen ohne Wasser in der Mitte und einem symmetrischen und klaren Himmelsquadrat als dunkelblauem Dach darüber, pochte heftig bei dem Geläute der Glocken und dem Lärm der Menge auf dem Hauptplatz.

Die schön ausgestatteten Schaufenster der Kleider- und Lebensmittelgeschäfte erweckten den Eindruck einer Großstadt, so daß der Großvater ohne die sichere Führung sich bestimmt verirrt hätte.

Zuerst zog sie ihn in die nächste Ecke des Platzes, zu ihrem Lieblingsschaufenster, das wie ein Museum alle möglichen wertvollen und interessanten Gegenstände enthielt: Puppen, Amoretten, Glücksbringer, nackt und mit Flügeln, Armbänder und lackierte Spielsachen. Aber er stellte sich dumm, denn einer seiner alten Erziehungsgrundsätze war, daß man in Kindern die Liebe zu unnützen Gegenständen nicht großziehen solle.

»Die Puppe, die ich dir mitgebracht habe,« sagte er, um sie zu trösten, »ist tausendmal schöner als diese hier und sie ist außerdem auch eine Glücksbringerin.«

Um sie vollends zu trösten, blieb er vor einem anderen Schaufenster stehen. »Da sind wenigstens lauter nützliche Dinge. Schau, schau, diese schönen Torten mit der Rubinkirsche in der Mitte, und dann diese schönen Zuckerbäckereien, die noch warm sind wie deine Fingerchen. Und dann hier die schönen Cremeschnitten, die die Lippen zu öffnen und zu sagen scheinen: &›Eßt uns doch auf! Eßt uns doch auf!‹ Wollen wir Mama etwas mitbringen?«

Sie traten in den Laden, der ganz nach Zucker duftete, und den ersten Kuchen, der zu oberst auf einer aufgebauten Pyramide lag, wie eine schöne Teerose auf der Spitze des Rosenstockes, nahm er herunter und überreichte ihn Ola. Und sie nahm ihn ohne Gier, aber mit Bedeutung, und betrachtete ihn von allen Seiten, berührte ihn ringsumher mit einem Finger, dann leckte sie mit der Zunge daran, indem sie den Punkt ausfindig zu machen suchte, wo man ihm am besten zu Leibe gehen konnte, und nachdem sie ihn gefunden, biß sie kräftig zu, verlangsamte aber allmählich ihre Angriffe, bis sie, beim letzten Bissen angelangt, diesen noch einmal aus dem Mund nahm und betrachtete und kleine Stückchen abbiß und schließlich brockenweise aufaß. Das letzte Stückchen fiel ihr auf die Erde, wurde aber aufgehoben.

»So ist das Leben«, dachte der Schulmeister, der sie genau beobachtete, während der Zuckerbäcker mit schwermütiger Miene und angeekelt die Süßigkeiten, die man mitnehmen wollte, auf einem Pappkarton vorbereitete.

*

Ola verfolgte seine Tätigkeit mit gespannter Aufmerksamkeit, und als das schöne weiße Paket mit einem dreifarbigen Bändchen verschnürt war, zupfte sie den Großvater am Rockzipfel und zwang ihn, eines ihrer Geheimnisse anzuhören.

»Ich möchte noch einen Kuchen haben.«

Aber da er sie erziehen wollte, sagte er mit schwerem Herzen nein.

»Wenn wir zu Hause sind.«

Um sie zu trösten, gestattete er ihr, das Paket zu tragen, dann traten sie auf die Straße hinaus, auf einen Platz, wo man sich auf einem großen gemeinsamen Hof zu befinden schien. Denn hier kannten sich alle, und auch Ola grüßte lächelnd nach rechts und nach links, während die Gemüsehändlerinnen ihren Begleiter neugierig musterten.

»Ist das dein Großvater?«

»Ja, das ist mein Großvater«, antwortete sie, indem sie stolz seine Hand schüttelte, und wies alle Geschenke der Marktweiber in Gestalt von Äpfeln und Erbsen aus Respekt vor ihm zurück.

Nur einer antwortete sie frech, verkroch sich jedoch sofort. Das war keine Hökerin, sondern ein altes Weib, das sich auf einen dicken Stock stützte, große, wie tot aussehende Füße und ein großes schwarzes Taschentuch hatte, das sie um ihren kleinen, einer runzligen Birne ähnlichen Kopf geschlungen hatte.

»Gott segne euch«, sagte sie trotz der unfreundlichen Antwort Olas. Und da der Schulmeister sie für eine Bettlerin hielt, wollte er ihr ein Geldstück schenken, aber sie lehnte, ohne sich zu entrüsten, ab und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: »Das Geld ist gut, aber um uns zu verstehen, brauchen wir etwas anderes.« Und sie ging weiter, ohne weiter ein Wort zu sagen, langsam und lautlos wie eine Schildkröte.

»Wer ist das?« fragte der Schulmeister.

»Das ist die alte Hexe aus der Villa Ontani. Sie stiehlt die Kinder.«

»Das glaube ich nicht. Wo ist diese Villa?«

»Ich zeige sie dir später. Mama will nicht, daß ich dort hinunter gehe. Aber mit dir kann ich dort hingehen, nicht wahr?«

Und sie zog ihn mit Gewalt mit sich fort, schon ganz Feuer und Flamme für das verbotene Vergnügen. Jetzt gingen sie an der Treppe der alten Kirche vorbei, die die ganze eine Seite des Platzes einnahm. Den Schulmeister überkam das Verlangen, in die Kirche hineinzugehen, in der Ola getauft worden war und in der sie vielleicht heiraten würde. Er war zwar kein Freund äußerlicher Religiosität und hatte sich eine eigene Religion zurechtgelegt, nämlich die Gewißheit, daß Gott in uns ist und wir in Gott, und daß wir uns selbst in dem Klang unserer Stimme verstehen, aber er war überzeugt, daß für rohe Menschen die christliche Religion der einzige Ausgangspunkt ist, um zur Vollkommenheit des Bewußtseins zu gelangen.

Er betrat also die erste Treppenstufe, um zur Kirchenpforte hinaufzusteigen. Doch Ola zog ihn zurück und war gerade im Begriff zu sagen: »Was tust du, bist du verrückt?« aber da sie Licht und Schatten seines Gesichts bereits auswendig kannte, sagte sie mit einschmeichelnder Schlauheit:

»Wir gehen morgen hinein, morgen ist Sonntag. Jetzt erwartet uns Mama.«

Trotz dieses Bedenkens ging sie weiter, führte den Großvater zur Allee der Bahnstation, bis zu dem Feldweg, der zu ihrem Häuschen führte. Aber anstatt in dieser Richtung zu gehen, zwang sie ihn, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen.

Hier, zwischen Strand und Gärtchen einiger Villen, die hinter Tamariskensträuchern versteckt lagen, verbreiterte sich der Feldweg zu einer schönen Straße. Gegen den Strand zu erhoben sich noch kleine, mit Gras bewachsene Hügel, das waren die während des Krieges aufgeworfenen Schützengräben. Einige von ihnen verhinderten den Ausblick auf das Meer. Später stieg die Straße an, jede Spur menschlicher Niederlassung verschwand, eine Reihe dichter Erlen schloß zur Rechten den Horizont ab.

Ola hatte das Paket dem Großvater übergeben, und jetzt war sie diejenige, die seine Hand fest drückte. Jeden Augenblick drehte sie sich um, teils aus gespielter, teils aus wirklicher Angst. So kamen sie zu einem eisernen, durch ein Drahtnetz verstärkten Gitter, das die Allee abschloß, und hinter dem Gitter war eine halbverfallene, schmutziggraue, zweistöckige Villa mit Bäumen ringsum zu sehen.

»Hier wohnt die alte Hexe«, sagte Ola und schüttelte die Hand des Großvaters, denn dieser geheimnisvolle Ort schien keinen besonderen Eindruck auf ihn zu machen.

An der Villa war nichts Besonderes zu sehen, sie glich tausend anderen, wie man sie etwas abseits vom Wege in den Ackerbau treibenden Gegenden an der Meeresküste sieht. Ein Weingarten war daneben, auf der eine halbverfallene Wachhütte stand, und weiter hinten vervollständigte ein aufgeackertes Zuckerrübenfeld den Hintergrund.

Was aber vor allem Olas Aufmerksamkeit und schließlich auch Großvaters Interesse erregte, war ein grasbewachsenes Plätzchen zur Rechten des Hauses, wo die Schatten der hohen Bäume wie in einem dicken grünen Wasser herumtanzten. Und zwischen diesen Schatten sah man den weißen Schimmer einiger Marmorbänkchen und zweier großer runder, gleichfalls marmorner Tische, die mit welken Blättern übersät waren und auf den Schulmeister das Gefühl der Einsamkeit und Traurigkeit übertrugen, das auf diesem verlassenen Hause lasten mußte. Und etwas zaghaft erklärte ihm Ola das Geheimnis:

»Weißt du, das ist ein verfluchtes Haus. Die Söhne haben den Vater umgebracht und sind geflohen. Nur einen haben sie erwischt und eingesperrt, und das Haus gehört jetzt den Soldaten. Aber die Soldaten wohnen nicht drin, hier wohnt jetzt ein Mann aus einer anderen Gegend und diese alte Hexe, die die Kinder stiehlt.«

»Und die Mutter?«

»Welche Mutter? Die der alten Hexe?«

»Nein, die Mutter der schlechten Söhne.«

»Sie ist tot. Du verstehst nicht, daß sie tot ist!« rief sie lebhaft aus, wie um zu sagen: wenn die Mutter gelebt hätte, hätte das nicht geschehen können.

»Ist es schon lange her?«

»Was? Daß sie tot ist« sagte sie, die eine Freundin der klaren Ausdrucksweise war.

»Nein, daß die Tat geschehen ist.«

Ola hob das Händchen und streckte die Lippen vor.

»Hm, das weiß ich nicht. Vielleicht sind es hundert Jahre her, vielleicht nur zwei«, fügte sie unsicher hinzu. Denn in dieser Beziehung nahm sie es nicht so genau.

»Du hast recht. In solchen Fällen spielt die Zeit keine Rolle. Komm, komm«, sagte er, indem er sie vom Gitter wegzog, und ließ sich zusammen mit ihr auf dem Wegrande nieder, zwischen Gräsern und Blumen, mit dem Ausblick auf das Meer. Ola hätte noch gern ein bißchen gespielt oder wäre gern hinter den safrangelben Schmetterlingen hergelaufen, die sich mit Vorliebe in ihrer Nähe niederließen, als ob sie sie auffordern wollten, ihnen zu folgen, aber sie hatte Angst vor der Alten und drehte sich immerzu um, um zu sehen, ob sie käme, und sie bestand darauf, die ganze Geschichte von dem Vatermord zu erzählen, was sie auch in anschaulichster Weise tat, bis der Großvater von etwas anderem zu sprechen begann.

»Sag mir nur eins, Ola. Seit wann ist Ornella bei euch im Hause?«

»Oh, ziemlich lange schon.«

»Wie ist sie zu dir?«

»Sehr gut, ja, aber sie gibt mir manchmal Rippenstöße. Aber ich bin auch manchmal unartig und lege ihr Kartoffeln und Stecknadeln ins Bett.«

»Warum?«

»Darum!« sagte sie mit einer Grimasse, die besagte: weil es mir Spaß macht.

»Man soll keinem Menschen Übles tun«, begann er im Tone eines Predigers, aber beim Klange seiner Stimme lebte die alte Angst wieder auf, die ihn auf der Mole überfallen hatte.

Dann gingen sie langsamen Schrittes nach Hause.

Zuweilen riß sich Ola von ihm los, kletterte trotz seines Protestes einen Hang hinauf und drohte nicht herunterzukommen, wenn er nicht zu ihr hinaufkam, um sie zu holen. Und da er nicht daran dachte, dies zu tun, kam sie wie ein Wirbelwind heruntergestürzt und rannte ihn fast in Grund und Boden.

»Du fängst an, dir viel zu viel zu erlauben, und bist auch schlecht erzogen. Aber ich werde dich schon in die Lehre nehmen.«

Großvater war tatsächlich böse. Sie senkte den Kopf und ging ganz geknickt vor ihm her. Ihre Beinchen, die halbnackt, kerzengrade, gleichmäßig und glatt wie rosa Marmor waren, besänftigten das Gemüt des Schulmeisters, denn das waren doch die Säulen, auf die sich jetzt seine ganze Welt stützte. Sein Unmut war sofort verflogen und er erinnerte sich an ein religiöses Lied, das er vor langer, langer Zeit gelernt hatte, von dem er aber nur die beiden ersten Zeilen, und die auch nicht vollständig, kannte:

Der Seemann auf den Wellen,
Ruft dich, o Herr ...

Weiter wußte er nicht. Aber wie man aus den Trümmern auf eine durch die Zeit zerstörte Hauptstadt schließen kann, so erstand aus den wenigen Worten des fernen Liedes eine ganz neue und gewaltige Symphonie von Liebe und Hoffnung.

»Ich danke dir, mein Gott. Und verzeih du mir, wenn ich noch zweifle, den Hafen wiedergefunden zu haben. Sieh, ich stehe hier, in der Sonne, mit diesem Geschöpf, mit dir. Ich habe gesündigt und vielleicht noch nicht gebüßt, aber mein Herz wird rein sein, und ebenso mein Fleisch, von diesem Augenblicke an bis zu meinem Tode. Und ich opfere dir alles, und suche du mich heim mit tausendfachen Schmerzen, nur verschone das neue Leben, das hier an meiner Seite geht.«

Dann nahm er Ola wieder an seine Hand und schweigsam setzten sie ihren Weg fort.

Als sie sich dem Hause näherten, flaute ihre glückliche Stimmung schnell ab, als sie hörten, wie Mama Ornella tüchtig ausschalt. Aber die scharfe Stimme verstummte, als der Hund, der immer vorauslief, ihre Ankunft gemeldet hatte. Auch der Kater, der vor der Tür zusammengekauert lag, empfing sie, und der Schulmeister, der Katzen sehr gern hatte, wurde wieder guter Laune. Dieser da hatte ein freches, aber schönes Gesicht und zwei fast blaue Augen, die sich von dem blonden und braunen Samt seines Fells wunderschön abhoben.

Als der Schulmeister sich bückte, um ihn zu streicheln, entschlüpfte er ihm wie ein lebender Aal, aber sie wurden trotzdem sehr bald gute Freunde.

Dann wartete eine andere schöne Überraschung auf sie. Auf dem weißen Brett, auf dem der Teig zubereitet und geknetet wird, standen, zum Trocknen aufgestellt, in Reih und Glied ganze Regimenter von Fleischknödeln, und vom Kochherd kam ein Duft von Bratensaft, der herrlicher war als der Duft von Blumen.

Marga ging in der Küche geschäftig hin und her, bückte sich unaufhörlich, richtete sich wieder auf und hatte immer irgendeinen Gegenstand in der Hand. Noch unfrisiert und unordentlich gekleidet wie sie war, hätte man glauben können, daß sie sich mit irgendeinem Menschen herumgerauft hatte. Als sie das Paket und den eingewickelten Fisch, den der Schulmeister auf den Tisch legte, sah, geriet sie ein bißchen in Verwirrung, jedoch nicht wegen der Störung, die er verursacht hatte, sondern wegen der neuen Einkäufe, die den Küchenzettel ganz über den Haufen warfen. Dennoch dankte sie herzlich und dann nahm sie sich Ola vor.

»Du hättest nicht zulassen dürfen, daß Großvater sich in Unkosten stürzt. Vielleicht bist du es gar am Ende gewesen, die ihn auf den Fischmarkt geführt hat! Ich kenne dich, du schlimmes Kind, ich kenne dich. Jetzt muß ich mich hinstellen und den Fisch kochen. Gib jetzt dieses Papier und dieses Paket weg! Hast du dich wenigstens bedankt? Bestimmt nicht. Bedank dich.«

Die Kleine hatte, vielleicht aus Nachahmungstrieb, Ornellas unfehlbare Methode übernommen und ließ die Mutter ruhig schimpfen, um sie aber besser gelaunt zu machen, fing sie von etwas ganz anderem zu sprechen an.

»Ja, ja, Mama, wir waren auf dem Fischmarkt, dort haben wir Papa getroffen, und Gina Bluvin, in einem Kleid mit gelben Streifen ...«

Einzelheiten, die dem Großvater schon ganz entfallen waren, fielen ihm bei ihrer Erzählung wieder ein. Sie kramte alles aus, was sie gesehen und gehört hatte, wie die kleinen Muscheln, die sie aus der Tasche zog und in einer langen Reihe auf dem Tischrand aufstellte. Großvater hatte gar nicht achtgegeben, wo sie diese gefunden und zu sich gesteckt hatte.

Die Mutter hörte zu, wie ein kleines Kind.

*

Zwei Wochen vergingen so, fröhlich und bewegt, wenn Mama sich wohlfühlte, mit langen Mahlzeiten, von denen sich die Tischgäste ganz benommen erhoben, zumal wenn am Abend eine Flasche nach der anderen, verstaubt und richtig eingekühlt, auf den Tisch kam, und Marga und Antonio, indem sie sich gegenseitig zutranken, wetteiferten, ihnen Ehre anzutun, und irgendein guter Freund des Hauses kam, um den guten Willen dieser beiden zu unterstreichen.

Wenn sie getrunken hatte, wurde Marga merkwürdig still, unbeweglich und stumm wie vor Tisch, und nur von Zeit zu Zeit ordnete sie instinktmäßig ihre Haare. Ihre Augen, die sich mit Schlaf füllten, und ihr feines leuchtendes Gesicht, in dem sich die untergegangene Sonne zu spiegeln schien, waren wunderbar anzusehen, wie das Urbild des Glücks. Antonio hingegen, der am Tage gewöhnlich durch seine Geschäfte in Anspruch genommen und sonst schweigsam und ein ungehobelter Bursche war, taute auf und nahm den Mund voll. Für ihn ging alles gut in der Welt, und wenn es auf ihn ankam, sollte es in Zukunft noch besser gehen.

»Wenn man einen solchen Kopf und ein solches Herz hat, und wenn man für ein solches Geschöpf wie dieses da arbeiten darf, so muß doch alles gut gehen, zum Donnerwetter noch einmal!«

Diese Worte, die er mit einem Faustschlag gegen die Stirn und einem gegen das Herz sowie mit einer theatralischen Handbewegung gegen Ola begleitete, machten durch den abwechselnd energischen, zärtlichen und drohenden Tonfall großen Eindruck. Als dann Ola zu lachen begann und ihre von Freude und Bosheit strahlenden Augen den ganzen Tisch erhellten, redete sich der Großvater, trotz des freudigen Anscheins, ein, Schatten zu sehen.

Ruhiger, obzwar von einem Schleier von Melancholie überzogen, waren die Tage, wo Marga mit Fieber zu Bett lag. Mehr als sonst schien sie diesmal nach den anstrengenden Mühen der gesunden Tage zusammenzuklappen, wie jemand; der nach langem Wachen in einen tiefen Schlaf fällt. An solchen Tagen machte es sich der Schulmeister zur Pflicht und Gewohnheit, bei der Kleinen zu Hause zu bleiben. Er lehrte sie lesen und schreiben und mußte feststellen, daß ihm die Aufgabe des Lehrers noch nie so schwer gefallen war.

Sie gebrauchte alle Ausflüchte, um sich ihrer Pflicht zu entziehen. War die Stunde des Unterrichts da, wurde sie taub und stumm, und man mußte sie eine Ewigkeit suchen, bevor sie sich finden ließ. Ein andermal war sie wieder krank, dann tat ihr entweder der Bauch weh oder der Fuß oder ausgerechnet die Hand, mit der sie schreiben sollte.

Und als sie recht und schlecht das O schreiben konnte, verwendete sie ihre Kenntnisse, um aus zwei kleinen Augen, einem krummen Mund und zwei Beinchen darunter ein Bild ihres Großvaters zu machen, das sie Ornella freudestrahlend zeigte.

Und als dieser sagte:

»Marsch, du stellst dich beim Lernen ebenso dumm an wie dein Vater«, nahm sie ein kleines Stückchen Kürbis und legte es unter seinen Kopfpolster. Und als er protestierte, erwiderte sie:

»Das ist ein Stück von meinem Kopf.«

*

An den Tagen, wo Antonio draußen war und Marga im Bett lag, herrschte im Hause eine tiefe Stille, die kaum Ola mit ihrem Zwitschern zu unterbrechen wagte. Der Frühling war bereits weit vorgeschritten und brachte Licht und Wärme. Vom Meere her und den Wiesen, die ganz mit Binsen und Crocus bedeckt waren, kam ein gesunder Hauch, der auch den Schulmeister mit einer fast physischen Freude erfüllte. Er fühlte sich wie verjüngt.

Auch seine Kammer bekam ein anderes Gesicht. Bei sich zu Hause hatte er die Wände seines Zimmers immer nur hell tapeziert, und einige kleine Bilder sowie zwei billige Teppiche mit schreienden Farben verliehen ihm ein herrschaftliches Aussehen.

Blumen, meistens Feldblumen, waren immer in einem großen, aus der dortigen Gegend stammenden Humpen, den er als Blumenvase verwendete.

Während er schrieb oder las, streckte sich Ola auf einem der beiden Teppiche aus und bemühte sich, die Muster zu entziffern, indem sie sie mit der Fingerspitze verfolgte und leise mit sich sprach. Der Kater machte ihr den Platz streitig und fuhr mit seinem Pfötchen auf ihren Finger los und versuchte sie aus Spaß zu kratzen. Auch der Hund durfte ins Zimmer, nur durfte er sich keine Vertraulichkeiten erlauben, und sogar die Hühner reckten ihre Hälse an der Tür und blickten neugierig herein.

Ein anderer Besucher, der aber mit gemischten Gefühlen von Sympathie und Feindseligkeit empfangen wurde, war das rosige Ferkel Lenin mit dem Ringelschwanz und den lebhaften Augen, die von Tag zu Tag immer mehr im Fett verschwanden. Es kam ohne viel Umstände herein, schnüffelte auf dem Fußboden herum und zwängte sich unter das Bett, wo es sich erfrechte, gewisse Geräusche in Begleitung unangenehmer Gerüche ertönen zu lassen, bis der Hund, der die Gedanken seines Herrn aus seinem Gesicht zu erraten schien, es aus dem Zimmer jagte und zu Tode hetzte, zur Strafe für ihr freches, unanständiges Benehmen.

Gar nicht gern gesehen war Ornella. Der Schulmeister vermied es, allein mit ihr im Zimmer zu sein, auch wenn sie sein Zimmer aufräumte. Nicht als ob das Mädchen ihm nicht mit dem gebührenden Respekt entgegengekommen wäre, aber ihre Gegenwart verwirrte ihn, erzeugte in ihm einen physischen Aufruhr, aber nicht der Begierde, sondern vielmehr des Widerwillens. Er hatte den Eindruck, daß sie völlig abgestumpft sei und keine natürlichen, sondern nur animalische Neigungen habe. Und in den letzten Tagen hatte er auch die Entdeckung gemacht, daß sie lügnerisch und falsch war. Marga zum Beispiel gab ihr den Auftrag, in einem bestimmten Laden einzukaufen. Sie ging aber in einen anderen Laden, wo sie Abfallware zu einem höheren Preise bekam. Und als der Schulmeister eines Tages, auf Veranlassung seiner Schwiegertochter, in einem dieser Läden vorstellig wurde, wurde er fast zur Türe hinausgeworfen.

»Marga«, sagte er da freundlich und bestimmt, »du wirst mir keine solchen Aufträge mehr geben. Wenn du willst, so werde ich einkaufen gehen. Und schilt sie jetzt nicht aus, ich bitte dich darum.«

Marga schalt sie nicht aus, sie bat nur ihren Mann, dem Mädchen zu verbieten, je wieder den Fuß in den Laden des unverschämten Kaufmanns zu setzen. Und Antonio tat dies mit übertriebenem Ernst, der auf Ornella einen ungewöhnlichen Eindruck zu machen schien.

Am selben Tage aber sah der Schulmeister zufällig, wie sie wieder in den verbotenen Laden ging, und als er und Ola später hinter dem Gartenzaun standen, hörte er sie mit einem anderen Mädchen zurückkommen. Sie schien nicht mehr sie selbst zu sein, denn sie sprach und lachte widerwärtig, wie ein Tier im Frühling, das sich vor Ausgelassenheit nicht kennt.

»Sie ist immer so, wenn Mama und Papa nicht da sind«, sagte die Kleine, als sie die feindselige Überraschung des Großvaters bemerkte.

Beide verschworen sich nun. Ohne gefragt zu sein, erzählte ihm Ola alle Schlechtigkeiten, bei denen sie Ornella überraschen konnte, schilderte diese übertrieben schwarz, aber immer nur unter der Bedingung, daß er nichts weitererzählte.

Er bemerkte jedoch, daß Ola, wenn sie mit dem Mädchen allein war und sich von niemandem beobachtet glaubte, eine seltsame Anhänglichkeit für sie zeigte. Eines Tages sah er, wie sie wie die Katzen spielten und gegenseitig sich bissen und wehtaten.

Er sprach darüber mit Marga, als Ornella nicht zu Hause war.

Feuerrot vor Wut rief die Frau die Kleine und schimpfte sie tüchtig aus, als ob sie die einzig Schuldige wäre. Und sie hätte sie durchgeprügelt, wenn der Großvater sich nicht ins Mittel gelegt hätte.

»Nein, nein, das hat keinen Zweck«, sagte er ängstlich und drückte die Kleine an sich. Und er selbst schien zu ihr zu flüchten, während Marga bleich wie der Tod wurde und ihre Augen sich vor Schmerz trübten. Alle drei schwiegen, wie Menschen, die von einem Wirbelsturm überrascht werden, der sie wegzufegen und mit Entsetzen vor dem Geheimnis seiner verderblichen Gewalt zu erfüllen drohte.

Mit müder Stimme begann Marga sich zu entschuldigen.

»Was wollen Sie? Die unwissenden Leute sind durch die Bank wie dieses Mädchen, sie haben etwas vom Tier an sich. Sie haben keinen Verstand, man muß Mitleid mit ihnen haben, denn sie sind auch unglücklich. Ornella ist noch nicht die Allerschlechteste, sie ist gut zu der Kleinen, sie wird zu ihr gut sein, auf ihre Weise, aber doch immerhin gut, nicht wahr, Ola? Wie du klein warst«, fügte sie hinzu, sich gewissermaßen bei ihr entschuldigend, »erinnerst du dich noch an die Geschichte mit Tonina? Sie schlug dich, wenn sie dich weinen hörte und wenn du Papas Milch ausgetrunken hast. Ornella aber ist imstande, mitten in der Nacht durch einen Wald zu gehen, wenn du dich nicht wohlfühlst und wenn man einen Arzt braucht.«

»Und dann gibt sie mir auch heimlich Caramellen«, bekräftigte Ola.

»Aber du darfst dich mit ihr nicht allzusehr einlassen, verstanden, du darfst keine Dummheiten mit ihr machen. Wenn Sie wüßten«, wendete sie sich wieder an den Schulmeister, »wieviel Dienstmädchen ich schon ausprobiert habe, eine schlechter als die andere. Ornella ist wenigstens verläßlich. In der Nacht steht sie auf, wenn sie ein verdächtiges Geräusch hört, und ist imstande, ganz allein auf einen Dieb loszugehen.«

Worte und Worte: sie fielen ins Leere und vergrößerten die Dunkelheit. Und die Frau fühlte das.

»Das weiß ich«, fuhr sie lebhafter fort, »ich könnte ja mit Ornella sprechen und ihr den Kopf zurechtsetzen. Aber es ist, als ob man zu einer Mauer spräche. Sie hört verständnislos zu. Haben die wilden Tiere Verstand?« fragte sie und sah den Schulmeister an, als ob sie sich verabredet hätten, eine Sprache zu sprechen, die die Kleine nicht verstand. »Außerdem kann und will ich mich nicht mit ihr gemein machen. Ich schimpfe sie oft aus, das ist wahr, wegen Nichtigkeiten, aber das macht ihr nichts, sie nimmt das von der leichten Seite. Aber wenn ich mich unterstehen würde, ihr ein Wort zu sagen, das sie an einer empfindlichen Stelle trifft, so ist sie fähig, mir an die Gurgel zu springen und mich zu erwürgen.«

Der Schulmeister fühlte einen innerlichen Schauder, denn wenn er an Ornellas katzenartige Augen dachte, so mußte man unbedingt an diese verborgene Wildheit in ihrem Wesen glauben.

»Warum schicken Sie sie nicht weg?« sagte er leise, und in demselben Tone setzte die Frau hinzu:

»Wenn sie eine ganz gewöhnliche Magd wäre, würde ich es ja tun. Aber wir haben ihr gegenüber auch eine moralische Verpflichtung. Das hieße, sie auf die Straße setzen, denn sie hat keinen Menschen, zu dem sie gehen könnte. Es sei denn, daß sie bei anderen Leuten in Dienst geht, aber das wollen wir nicht. Übrigens«, sagte sie dann mit trauriger Stimme, »ob sie oder eine andere, das ist egal.«

Der Schulmeister bemerkte:

»Würde dir nicht eine alte Dienstmagd lieber sein?« Aber die verzweifelte Resignation Margas war grenzenlos.

»Das ist egal, das ist egal! Drinnen oder draußen, das ist egal!

Bei diesen Worten, die wie im Fieber gesprochen waren, fühlte er sich wie von einem Lasso gewürgt und fast dem Ersticken nahe.

»Ola«, sagte er zu der Kleinen, die ihn immerzu im Rücken bearbeitete und an der tragischen Unterhaltung der Mutter auch nicht mehr teilzunehmen schien, »quäl' mich doch nicht so. Ich bin nicht dein Kater. Geh hinaus und spiel draußen. Geh!« befahl er energisch, als sie zögerte.

»Marga«, sagte er, als sie allein waren, »du vertraust mir doch wie deinem Vater. Glaubst du etwa, daß dein Mann und Ornella ...«

Als er sah, wie sie ihre Augen plötzlich weit aufriß und wieder schloß, wie man eine Tür öffnet und bei drohender Gefahr wieder schnell schließt, schämte er sich der ausgesprochenen Vermutung. Und als sie dann lachte, jenes plötzliche Lachen, bei dem sie die im Verhältnis zu ihrem verbrauchten Gesicht jungen gierigen Zähne zeigte, wurde ihm schwer ums Herz, denn er fühlte, daß die größere Feindin Olas, in diesem geheimnisvollen Kreise, die eigene Mutter war. Er fragte fast schroff:

»Du glaubst also nicht, daß Antonio und Ornella ein strafbares Verhältnis miteinander haben?«

»Antonio ist jung, aber wenn er sich zerstreuen muß, so tut er das außer dem Hause,« sagte sie, die Stirn in Falten legend.

»Das darfst du ihm weder im Hause noch außer dem Hause erlauben, schon um deiner Tochter willen,« schloß er unbeugsam.

Und da sie lachte, als ob sie sich über seine Naivität lustig machte, ging er hinaus, nahm Ola bei der Hand und ging mit ihr auf den Strand hinaus, um den großen Hauch einzuatmen, der jedes Übel heilt.

»O Meer,« dachte er, während Ola mit klebrigen Händen in dem Sand herumwühlte, »ich fühle, daß du wahrhaftig die Seele der Erde und da bist, um uns zu lehren, wie unsere Seele beschaffen ist. Die Erde erneuert sich langsam mit ihren Jahreszeiten, wie unser Körper, du erneuerst dich in jedem Augenblick, in deinen grundlosen Abgründen, mit den göttlichen Zeichen und Wundern deiner unendlichen Tiefen, wie unsere Seele.«

Ihm war zu Mute, als habe er endlich einen wirklichen Freund gefunden, der ihm gleich war, mit dem er sich besser verstand und aussprechen konnte als mit den Menschen.

Jetzt lag das Meer ruhig da, ganz in der Ferne schien es von einem Smaragdring eingefaßt zu sein, und dort wo die Sonne sich im Meere spiegelte, sah man die jungen Meeräschen sich herumtummeln. Die noch geblähten Segel der Barken, die vom grünen und blauen Widerschein des Meeres und des Himmels getroffen wurden, waren wie aus violetter Seide und schienen dort zu stehen wie Blumen in einem Garten, um die Schönheit des Bildes noch zu erhöhen.

Und auch der Mann, an dessen Seite das Kind im Sande ebenso herumwühlte, wie er in seinen Gedanken, fühlte, wie die Ruhe über ihn kam, und schöpfte neue Kraft aus diesem Aufenthalt für den Rest des Weges.

*

Im Mai schrieb der Mieter des ersten Stockes, daß er in wenigen Tagen eintreffen werde.

Darauf wurden die Fenster weit aufgerissen, die Matratzen ausgeklopft und die Fußböden gewaschen. Der Schulmeister erbot sich, da es nötig war, das Eßzimmer neu zu tapezieren, so wie er es in seinem Zimmer getan hatte.

Marga protestierte zwar, wie immer, dann aber erklärte sie sich einverstanden, worauf er zum Tapezierer ging, um das Nötige einzukaufen. Und als Ola, die ihm bei der Auswahl der Tapeten geholfen hatte, sich für eine ziegelrote Farbe mit Goldblumen entschied, machte ihr der Tapezierer selbst wegen ihres guten Geschmacks ein Kompliment: das Rot trotzt dem Groll des Meeres.

Die Möbel des Zimmers wurden in der Mitte übereinander gestellt und mit einem großen Segeltuch bedeckt, dann machte er sich eine Papiermütze, wie sie die Zimmermaler tragen und setzte sie sich quer auf den Kopf, zu Olas größter Heiterkeit. Und da der Großvater sie zu seinem Adjutanten ernannte, bekam sie auch so ein weißes Papiermützchen, unter dem die schwarzen Löckchen widerspenstig hervorquollen.

Sie trug aus Mamas Küche in den ersten Stock ein Gefäß, in dem der Leim gekocht wurde, und wenn der Meister mal kein Streichholz hatte, war sie prompt zur Stelle und holte ein Streichholz aus der Tasche hervor.

Er legte zwei lange Balken auf den Eßtisch, rollte dort die Tapetenrolle auf und bestrich sie mit Leim, dann begann er mit seiner nicht besonders großen, aber äußerst warmen und wohltönenden Stimme die Stille des Zimmers zu erfüllen, das von dem metallischen Lichte des Meeres erhellt war. So singen die jungen Arbeiter bei der Arbeit.

Ola ließ den Pinsel fallen und hielt sich den Bauch vor Lachen, aber sie verstummte sogleich und sah den Großvater wie einen Unbekannten an. War er es wirklich, der sang? Ja, wirklich, er war es, und mit dieser Stimme und mit diesem Gesang erwachte seine ganze arbeitsfrohe und sorglose Vergangenheit wieder, als ob er sein Lebelang nichts anderes als ein Malermeister gewesen wäre.

Alle Gegenstände rundherum schienen lebendig zu werden und zuzuhören, auch die unter der Segelleinwand verborgen lagen. Ola ging zu ihrer Puppe auf dem Diwan und schien ihr den Mund zu öffnen, damit sie auch sänge. Dann nahm sie sie auf den Arm und begleitete den Großvater im Falsett, indem sie die Melodie seines Liedes wiederholte.

Aber als ob er zu sich selbst gekommen wäre, verstummte er und sagte:

»Ruf mir mal Ornella.«

Ornella war im Hinterzimmer und wusch den Fußboden auf. Sie kam sofort, in Latschen, ohne Strümpfe, mit nackten Armen und einem kurzen Unterrock wie der einer Ballerina. Ihre Beine waren mit einem blonden Flaum bedeckt, nackt bis zu den rosigen und leuchtenden Knien, und erweckten in dem Schulmeister ein Gefühl der Verwunderung. Er hatte noch nie so hohe und kräftige Beine gesehen und noch einmal schoß ihm bei ihrem Anblick der Gedanke an irgendein sagenhaftes wildes Tier durch den Kopf, das dem Weib des Menschen ähnelte.

Er befahl ihr, die noch ganz feuchte Tapete gleich ihm am Rande anzufassen, dann stieg er auf eine Sprossenleiter, die gegen die Wand gelehnt war. So leimte er die Tapete zusammen, wobei ihm Ornella ziemlich geschickt half. Als der erste Streifen an der Wand klebte, ging er nach rückwärts bis an die andere Wand, um die Wirkung zu prüfen, die Kleine und Ornella selbstverständlich auch. Aber plötzlich wurde sie am ganzen Körper rot, als ob sie von dem Rot der Tapete getroffen worden wäre, verdrehte die Augen, erbleichte, knickte nach einer Seite zusammen. Und er fand kaum Zeit, sie aufzufangen und zu halten, und um nicht umzufallen, mußte er sich mit allen Kräften gegen die Wand stützen.

»Schnell einen Stuhl, du dummes Mädel«, schrie er der Kleinen zu, die losplatzte, als sie die beiden so eng umschlungen sah.

Ola holte einen Stuhl und langsam ließ er Ornella, die wie ein Haufen Lumpen zusammenfiel, auf ihn niedergleiten, dann befahl er dem Kind, ein Glas Wasser zu holen. Solange stützte er das Mädchen und fühlte, ihren warmen und blühenden Körper in seinen Armen, er fühlte die weichen, weißen, unten grün geäderten, oben mit einem goldenen Flaum überzogenen Arme, den weißen, wie von Milch strotzenden Busen, und von ihren Unterkleidern ging jener gewisse Geruch aus, wie er dem frischgepflückten und auf einen Haufen zusammengetragenen Grase eigen ist, wenn es zu gären beginnt. Im Augenblick empfand er eine geheimnisvolle Betäubung, als ob gewisse Jugenderinnerungen das Gehirn ganz besetzten, und er glaubte, an einem unterirdischen Ort wieder lebendig zu werden, in einer weltenfernen Zeit, im Kampfe mit einem geheimnisvollen Körper, der ihn abstieß und ihn anzog, der weder Form noch Gehalt hatte und trotzdem mit dem Einsatz aller seiner Kräfte lebte, wie eine Medusa auf dem Grunde des Meeres.

»Da ist das Wasser«, sagte Ola leise, die gleichfalls ganz außer Atem war über den unerwarteten Schlaf Ornellas. »Sie ist doch nicht tot? Ornella, mach, doch die Augen auf!« schrie sie und zwickte sie ins Bein.

Während das auf Gesicht und Busen gespritzte Wasser keinerlei Wirkung hatte, schien das Zwicken Ornella wieder zum Bewußtsein zu bringen. Sie faßte mit der Hand nach dem Bein, erhob sich und schlug die Augen auf. Sie schien noch nicht in der Verfassung zu sein, um ihr Unwohlsein erklären zu können, bis der Schulmeister ihr Mut zusprach:

»Kopf hoch! Das ist der Frühling.«

»Ja, das ist der Frühling«, erwiderte sie nachdenklich.

Und alles schien schon vorüber zu sein, als sie plötzlich vom Stuhl aufsprang, wieder zurückfiel, als ob die Beine sie nicht tragen könnten, ihr Gesicht in ihrem Schoß verbarg und wild zu schluchzen begann, in dem sie in die Kleider hineinbiß. Ola, die vor Schrecken plötzlich ganz bleich wurde, warf sich ihr auf den Rücken und heulte mit.

Der Schulmeister war darüber natürlich ganz bestürzt. Einem solchen Ausbruch des Schmerzes, für den weder bei dem Mädchen noch bei der Kleinen ein Anlaß vorlag, stand er ohnmächtig gegenüber, wie einem unerklärlichen Phänomen, das seine natürlichen Ursachen haben muß.

Er machte Ola ganz langsam von dem Mädchen los, drückte sie an sich und bemerkte, daß sie sich schämig an ihn preßte. Ganz allmählich hörte das Mädchen zu schluchzen und zu schreien auf, hob ganz langsam den Kopf, als ob sie ein fernes Geräusch hören würde. Dann schneuzte sie sich kräftig in ihren Unterrock, entwischte in einem unbemerkten Augenblick und schlich, ein wenig gebückt, an der Wand entlang hinaus.

Der Schulmeister hielt sie mit keinem Wort zurück, er schüttelte nur die Kleine und stieß sie von sich.

»Gib doch acht, du machst mich ja ganz schmutzig mit deinem Rotz!« schrie er.

Das genügte, um das Gewitter zu verscheuchen. Dann gingen sie wieder an ihre Arbeit.

*

Der nächste Tag war ein Fiebertag und Ornella blieb unten, um auf Marga achtzugeben, während der Schulmeister die Ausschmückung des Zimmers beendigte. Die Tapeten klebten an der Wand, rot mit goldenen Streifen, und sahen wie Brokat aus. Jetzt mußte nur noch die Scheuerleiste unten an der Wand neu angestrichen werden, zu welchem Zwecke er sich eine Büchse mit Firnis besorgt hatte, der wie aufgelöste Schokolade aussah und in dem Ola mit Wonne herumpanschte, wobei sie sich Finger und Kleider beschmutzte.

Zu Mittag arbeiteten sie noch, als Antonio heraufkam und sie zum Essen rief. Ola lief ihm entgegen und erregte wie immer im Großvater so ein bißchen Eifersucht. Der Vater aber streckte beide Arme aus, um sich gegen etwaige Schmutzflecke zu schützen, denn er trug den neuen dunklen Anzug, der seine schlanke Figur gut zur Wirkung brachte und gut zu seinem Gesicht paßte.

Er war bei dem Begräbnis eines alten Seemannes, eines seiner Angestellten, gewesen, aber es mußte hierbei sehr lustig zugegangen sein. Seine schönen feuchten und länglichen Augen strahlten vor Freude und das leuchtende Gesicht sowie der frische Mund erinnerten ihn an den jungen, sorglosen Schullehrer, wenn er von einem Ausflug ins Gebirge zurückkehrte, den er mit seinen Freunden unternommen hatte, und einen toten Vogel oder eine Handvoll Pilze im Triumphe nach Hause brachte. Da Ola ihm keine Ruhe ließ und ihn zu fangen suchte, begann er im Zimmer herumzulaufen und sich irgendwo hinter den Möbeln zu verstecken, dann lief er in das Nachbarzimmer und schloß die Tür ab. Aber die Kleine lief um das Zimmer herum und erwischte ihn heimlich. Und ihr Lachen und Schreien erfüllte wie Schwalbengezwitscher die stillen Zimmer.

»Er ist ärger als ein Kind«, dachte der Schulmeister, der gerade mit seiner Arbeit fertig wurde. Er gab sich der Täuschung hin, wie in vergangenen glücklichen Tagen, daß Antonio zur Vernunft kommen und ein treuer und anhänglicher Sohn und Ehegatte werden würde.

Auch bei Tisch hörten die Beiden nicht auf zu lachen und Unsinn zu machen, obzwar er ihn immerzu bat, die Kranke nicht zu stören. Um einen Grund für seine gute Laune anzugeben, sagte Antonio:

»Wenn mir das Geschäft, das ich heute verabredet habe, gelingt, so machen wir bei Gott eine Reise nach Jerusalem, und wir wohnen dann oben im ersten Stock und es wird nicht mehr an diese Leute vermietet, die nur herkommen, um zu sparen und sich als große Herren aufzuspielen.«

Er rieb sich die Hände, dann schien er sich an eine unangenehme Sache zu erinnern.

»Und dann lasse ich die berühmtesten Ärzte von ganz Italien kommen, um Mama gesund zu machen.«

Wenn Marga nicht da war, sagte er Mama, mit kindlicher Anhänglichkeit.

»Ich glaube«, bemerkte der Schulmeister, »daß eine Luftveränderung genügt. Geh doch mit ihr ein bißchen ins Gebirge, jetzt, wo es anfängt warm zu werden.«

»Wir werden auch ins Gebirge gehen, in das Engadin, das ich wie meine Westentasche kenne und wo ich auch einen Freund habe, der ein Gasthaus hat. Auch er hat sein Glück gemacht, ähnlich wie ich. Wir beide waren ein paar ganz tolle Kerle. Er war mit mir im Zollamt angestellt und hatte eine Liebschaft mit einer Wirtstochter, ohne Wissen der Eltern. Eines Tages wird er aus seiner Stellung gejagt, weil er schmutzige Sachen gemacht hatte. Er verschwindet auf kurze Zeit, dann verkleidet er sich als Bäuerin und bietet sich im Gasthaus als Aufwärterin an. Und die Leute nehmen ihn! Drei Monate lang schläft er bei dem Mädchen, bis sie dem Vater beichtet, daß sie schwanger ist. Darauf werden beide aus dem Hause gejagt, aber die Eltern ließen sich bald erweichen und verziehen ihr. Und jetzt ist mein Freund, nach dem Tode des Vaters, der Inhaber des Gasthauses. Ich will ihm in den nächsten Tagen schreiben.«

»Sehr schön, mein Junge,« sagte der Schulmeister billigend, obzwar er kein Freund von solchen Geschichten war, noch dazu, wenn sie in Olas Gegenwart erzählt wurden.

Auch Ornella wartete bei Tisch auf, mürrisch, aber nur dann, wenn es unumgänglich nötig war. Übrigens kümmerte sich niemand um sie, der Schulmeister vielleicht ausgenommen, der sie jedesmal, wenn sie eintrat, nur aus einem Gefühl von Neugierde, scharf ins Auge faßte, über das er sich noch keine Rechenschaft zu geben vermochte.

Am Schluß der Mahlzeit hieß Antonio sie, eine Flasche Spumante zu holen, um auf den glücklichen Ausgang des Geschäfts zu trinken. Und als sie die Flasche brachte, erhob er sich und begann wie ein Betrunkener zu lachen, denn unten in der Höhlung der Flasche fand er eine weiße Spinne, die wie aus Silber zu sein schien.

»Das bedeutet Glück! Das bedeutet Glück!«

Er ließ die Spinne laufen, die eiligst ihr Versteck verließ, und als er sah, daß sie auf dem Rücken der Flasche herumirrte, bückte er sich und setzte sie auf den Fußboden.

»Mach dich aus dem Staube! Wir alle haben ein Recht zu leben!«

Ornella sah zu. In ihrem Gesicht wich der Zorn einem höhnischen und fast grausamen Lachen. Und während Antonio sich wieder setzte, streckte sie das Bein aus und trat die Spinne tot. Nur der Schulmeister hatte alles gesehen, aber er sagte nichts.

Die Kleine war eingeschlummert, denn die Geschichten von den jugendlichen Abenteuern, die der Vater aus seinem Gedächtnis auskramte, machten ihr keinen Spaß. Als aber der Vater, nachdem er getrunken hatte, so tat, als ob er Geige spielte, den Kopf auf den Arm beugte, der das unsichtbare Instrument hielt, die nicht weniger unsichtbaren Saiten zupfte und ihren Ton nachmachte, da begann sie wieder zu lachen. Dann tat er so, als ob er das Instrument auf den Tisch legte, und füllte von neuem sein Glas.

»Dieses Glas ist für Mama. Sie soll auch auf das Gelingen unseres Geschäftes trinken.« Aber da fuhr Ornella in die Höhe.

»Du weißt ganz gut, daß sie keinen Wein will.«

Ihre Augen funkelten wild.

»Ornella! Gleich wirst du ihr das Glas hineintragen.«

Sie gehorchte. Aber unmittelbar darauf kam sie mit dem vollen Glase wieder, in dem der Wein immer noch schäumte.

»Dann trink du es aus.«

Sie trank nie, wenigstens nicht in anderer Gegenwart. Dennoch leerte sie das Glas in drei Zügen. Und der Wein schien unter ihrer Haut wie ein Feuer zu brennen, denn diese färbte sich plötzlich feuerrot.

Das alles war auch nicht nach dem Geschmack des Schulmeisters.

»Schulmeister Giuseppe, genannt der Brummbär,« sagte er zu sich, als er Marga Gute Nacht gesagt und Ola zu Bett gebracht hatte, wo sie sofort eingeschlafen war, und sich gleichfalls in sein Zimmer begab, um sich auszuschlafen, bevor er an die Arbeit ging. »Warum bist du immer so brummig? Überall hast du etwas einzuwenden und auszusetzen. Hast du schon ganz vergessen, daß du auch einmal jung warst und das Sprichwort: »Jugend kennt keine Tugend«, wahr gemacht hast? Erinnerst du dich noch an deine Streiche? Und jetzt verlangst du von den Anderen, was du selbst nie gegeben hast.«

Aber trotz dieser versöhnlichen Gedanken fand er keine Ruhe. Er hatte weder Lust zu schlafen noch zu lesen. Vielleicht war das bei ihm auch eine Folge des Frühlings, der wie ein Gewitter aus heiterem Himmel mit aller Macht hereinbrach.

Die Erde, die aus dem vom Meere kommenden Hauch neue Kräfte geschöpft hatte, schien sich aus ihrem Schlaf zu erheben. Die Gräser und Blumen, jedes Blatt bewegte sich wie toll vor Freude. Die Rosen, von denen Olas Garten flammend rot war, entblätterten sich oder fielen, wie trunken, ganz und unversehrt zu Boden. Und der Mittagswind wehte die Blütenblätter, die zuckten wie lebendige Fleischstücke, bis in das Zimmer des Schulmeisters.

Der Schulmeister hatte in diesem mehr als je melancholischen Zimmer, angesichts der Herrlichkeit der Stunde und der Jahreszeit, das Gefühl, sich gleich einem Mönche in einer Zelle zu befinden. Es kommt der Augenblick, wo auch der Mönch, nach den Fasten, Opfern, Entbehrungen und Ekstasen fühlt, wie das Fleisch sich wieder meldet und auflehnt, und wie sich der Geist der großen Verzweiflung des Nichts überliefert, die die Nutzlosigkeit auch des Schmerzes beweisen will.

»Schulmeister Giuseppe, wir gehen jetzt ein bißchen hinaus, wir wollen auch in der Unendlichkeit aufgehen wie die Sandkörnchen, die der Wind fortträgt.«

So sprach er zu sich, und ihm war, als nehme er seine Seele an der Hand wie ein Kind, das ohne Grund weint, und führe sie hinaus.

Er ging lautlos hinaus. Die Küche war noch ganz in Unordnung, da Ornella höchstwahrscheinlich die Ruhe der Anderen benützte, um mit den Nachbarn zu schwatzen. Ihre Abwesenheit machte ihn stutzig, aber seine Entrüstung wuchs, als er sah, daß die Tür in dem kleinen Säulengang nur angelehnt war, wo er doch ganz genau wußte, daß er sie abgeschlossen hatte, als er mit Ola und Antonio aus dem oberen Stockwerk heruntergekommen war. Ein Gefühl, das weder Neugierde noch Mißtrauen war, eher vielleicht Furcht, trieb ihn, wieder hineinzugehen und die Treppen vorsichtig hinaufzusteigen. Er erinnerte sich mit Angst des Tages, wo er mit Ola den großen Spaziergang gemacht hatte, ihrer Art, die Wände abzustreifen, und des Geheimnisses, das sie zusammenführte, als ob sie einen unbekannten Tempel erforschen wollten.

»Dieses Haus wird dir gehören, Ola. All das Licht des Meeres wird dein sein, wenn du groß sein und die Liebe kennen wirst.«

Alle diese Gedanken erhoben sich wieder in seinem bewegten Herzen, als er Treppe für Treppe die Stiege hinaufging, und ihm war, als ob er, wie in gewissen Träumen, über eine gefährliche Leiter ginge.

Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Auch die Tür des Zimmers war angelehnt und erweckte den Eindruck eines zum Sprechen geöffneten Mundes.

Eine Stimme drang an sein Ohr. Und jetzt wurde ihm alles klar: der in seinem Unterbewußtsein schlummernde Instinkt und die Unruhe hatten ihm keine Ruhe gelassen und ihn hierher geführt.

Es war Ornellas Stimme.

*

»Das ist also die Geschichte, so ... die Bluvin. Das wissen schon alle Leute, daß diese Hure mit dir anbandeln will.«

»Sei ruhig, Ornella,« sagte die Stimme Antonios. Sie war noch friedlich und sogar munter und hatte noch einen leichten Hauch von der Wärme des Weins, aber wie immer hörte man die Verstellung heraus.

Dies schien Ornella noch mehr zu reizen, denn ihre Stimme klang ebenso laut, rauh und frech wie damals, als der Schulmeister ihre schamlose Unterhaltung mit ihren Freundinnen belauscht hatte.

»Du bist ja der größte Lump auf Gottes Erdboden, du Schwein, du gemeiner Hund! Aber diesmal kommst du mir nicht so davon. Du weißt, daß ich wieder schwanger bin, aber diesmal tue ich nicht wieder, was nicht einmal die Tiere tun, und ich habe außerdem keine Lust, mich einsperren zu lassen.«

»Reg dich nicht auf, Ornella, es ist besser für dich. Du wirst das tun, was ich dir sage, und jetzt laß mich in Ruh. Du weißt, daß ich ein anständiger Mensch bin.«

Ornella lachte laut auf. Aber er war gefügig, zu allem bereit, und mußte ihr den Mund mit einem Kusse schließen, denn sie verstummte plötzlich und ein unheimliches Schweigen von Schuld und Verworfenheit legte sich über ihren Streit.

Da ließ sich der Schulmeister die Treppe hinuntergleiten wie ein zu Tode getroffener Dieb. Er ließ sein Herzblut hier zurück.

Er ging zum Gitter, kehrte aber wieder um. Aber schon allein die Farbe des Hauses, in dem Ola schlief und die beiden sündigten, tat seinen Augen weh. Er drehte sich wieder um und ging, weiter, weiter, bis zu den Schützengräben im Sande, wo er zerschmettert zu Boden fiel, wie manch alter Soldat im Kriege, der vom Feinde aufs Korn genommen worden war.

Er war nie ein impulsiver Mensch gewesen und wollte es auch nicht im Alter sein. Er überlegte. Er sah jetzt das Drama, dessen Hauptperson er zu sein glaubte, in seiner ungeschminkten Natürlichkeit, und er zweifelte nicht, daß auch Marga alles wußte und nur um des lieben Friedens willen schwieg und duldete. Es gibt vielleicht keinen Mann, der keinen Ehebruch begeht, und in tausend Fällen spielt sich das im eigenen Hause ab und riecht, wie auch in diesem Falle, nach Blutschande. Warum aber machte er aus dieser Geschichte eine solche Tragödie, die er übrigens vom ersten Tage seiner Ankunft an vorausgeahnt hatte?

Er kannte es, dieses Warum, und alle Schatten, die über seine Begierde nach einem neuen Leben, das er in der Liebe zu Ola wiedergefunden hatte, hinweggegangen waren, ballten sich jetzt zusammen, wie ein Schleier, der schließlich kein Licht mehr durchläßt, wenn man ihn immer wieder auf- und zuzieht. Die Sandmulde, in der er jetzt lag, war dieselbe, in der er einmal neben der mit Muscheln und Schmetterlingen spielenden Ola gelegen hatte, und wo ihm der Gedanke, ein neues Leben zu beginnen, unerträglich erschienen war. Und sein Gebet fiel ihm wieder ein:

»Mein Gott, suche mich heim mit tausendfachen Schmerzen, nur verschone das neue Leben, das hier an meiner Seite geht.«

Dann erhob er sich. Er kannte den Willen Gottes, und die tausendfachen Schmerzen suchten ihn heim, aber sie warfen ihn nicht zu Boden.

Wie beim gedroschenen Getreide mußte das Korn von der Spreu gesondert werden, damit es sauber ist und Segen bringt.

»Ich stehe hier«, sprach er zu sich selbst, »und bin zu allem bereit, ich will sogar diese letzte Freude, meine Liebe zu dem Kind, aus dem Herzen reißen, wenn es nur verschont wird.«

Er war einer von jenen Menschen, die sich lieber erschlagen lassen, ehe sie sich von einem einmal gefaßten Entschluß abbringen lassen. Aber wie er sich stets umzublicken pflegte, wenn er an eine Straßenbiegung kam, um den zurückgelegten Weg und die Kräfte abzuschätzen, die ihm noch für den Rest des Weges zur Verfügung standen, so dachte er, bevor er sich aus dem Sande erhob, an seine Vergangenheit zurück und an alles, was ihn bis hierher geführt hatte.

Zuerst sah er sich als kleines Kind im Häuschen des Olivenhains wieder, das im düsteren Schatten der Berge lag. Sein Vater war Schulmeister gewesen und in seinen Mußestunden ein unerschrockener und leidenschaftlicher Jäger. Wildpret aß er nie, aber er tötete Tiere und Vögel aus einem wilden Urinstinkt. Die Mutter buk das Brot zu Hause und bearbeitete den Boden wie ein Bauer, pflanzte auch die Weinstöcke und die Oliven und verstand sich darauf, Wein und Öl zu bereiten. In ihren Mußestunden hatte sie eine Leidenschaft: sie stickte kleine Teppiche mit Kreuzstich, die wegen ihrer Farben, Tönungen, Schattierungen und der Schärfe der Umrisse Bewunderung erregten.

Einen dieser Teppiche, an dem sie Jahr um Jahr gearbeitet hatte, hatte er noch in seinem Koffer aufbewahrt, wo er ihn liegen ließ, gewissermaßen aus abergläubischer Furcht, daß er ihm gestohlen werden könnte und dies Unglück bedeuten würde.

Die Mutter war also, wie übrigens auch der Vater, ein Gemisch aus Rauhheit und Güte. Er erinnerte sich, nie einen Kuß von ihr bekommen zu haben. Aber sie brachte ihn jeden Abend zu Bett und betete laut für ihn. Und er fühlte, wie die Worte ihres Gebetes als Sterne und Blumen auf ihn niederfielen, aber er hätte einen Kuß doch lieber gehabt.

Als reifer Jüngling wurde er von einer Frau mit Sorge und Zärtlichkeiten umgeben und erlag ihren Verführungskünsten wie ein betäubtes Kind. Sie war eine Verwandte in reiferen Jahren, und als sie sich Mutter fühlte und sah, daß an eine Verbindung zwischen ihnen nicht zu denken war, erhängte sie sich.

Er zitterte noch, wenn er daran dachte, aber er verjagte diese Erinnerung nicht, er schloß vielmehr die Augen, um sie besser packen zu können. Er sah die Frau an einem Balken hängen, wie eine große Marionette, mit verdecktem Gesicht, in dem roten Kleid mit Goldbändern, das er so gern hatte. Sie hatte sich festlich für die Hochzeit mit dem Tode gekleidet, und auf der Erde lag ein Stuhl, der vor Schreck umgefallen zu sein schien.

Ein Kind von drei Jahren, die Frucht ihrer ersten Verfehlung, schlief ruhig im gemeinsamen Bett. Sie hatte das Kind sorglich zugedeckt und ein Taschentuch über sein Gesicht gelegt, damit es nicht einmal im Schlafe sähe, und auf dem Kopfkissen, das noch die Eindrücke ihres abgehärmten Gesichts aufwies, lag ein kleiner Ölzweig.

»Friede, Friede!« schluchzte nochmals der Mann, als er die von Schmerzen und Gewissenbissen großen Augen aufschlug.

Den Sohn der Frau hatte er adoptiert. Und die Zeit verging. Niemand wußte von seiner Schuld, er wurde vielmehr für einen ernsten und wohltätigen Menschen gehalten, für einen halben Priester, wie ihn seine Schüler nannten, die ihn achteten, aber nicht liebten.

Seine Mutter zog inzwischen den Knaben auf, wie ihr richtiges Enkelkind. Sie war die einzige, die an der Wahrheit zweifelte, und war der Verwandten dankbar, daß sie durch ihren freiwilligen Tod einen Skandal und die Schändung der Familienehre verhütet hatte. Der Junge wurde schön und frech. Da er wußte, daß der Schulmeister nicht sein Vater war, rief er ihn Onkel und hatte vor ihm nicht den geringsten Respekt. Nach Beendigung der Elementarschule erklärte er, nicht weiter lernen zu wollen. Und der Schulmeister, der ihm wenigstens sein Wissen und seinen Katheder zu vermachen wünschte, begann sich wie ein richtiger Vater um die dunkle Zukunft seines Sohnes zu sorgen.

Aber er hatte diese Vaterschaft wie eine Sühne seiner Schuld auf sich genommen und sah mutig zu, wie er in dem Knaben gezüchtigt wurde.

Sein ganzes Leben war, aus diesem Wunsche nach Sühne, schnurgerade und keusch. Er fühlte den Antrieb des Bösen und die Nöte des Fleisches und die Auflehnung des Geistes, wie dies wohl bei allen Menschen der Fall ist. Es schien ihm, als säße er rittlings auf einem ungezähmten Füllen, das er Tag für Tag zügelte und zähmte.

Zuweilen hatte er gewissermaßen Auseinandersetzungen mit dem lieben Gott, aus denen er immer siegreich hervorging. Nur in einem Punkte gab Gott nicht nach und war er nicht hartnäckig: wenn es sich um den Knaben handelte, der ihm Schmerzen bereitete und sich nicht einmal für die ihm entgegengebrachte Liebe erkenntlich zeigte.

Auch seine alte Mutter war gestorben, nachdem sie wegen der Flucht des Knaben viel hatte erdulden müssen und seine Rückkehr vergeblich erwartet hatte. In ihrem Schrank befanden sich eine Unmenge Sachen, die dem Jungen gehörten, Spielsachen, Kleider, Bilder, die ersten Zähnchen und die ersten Locken, die mit einem Seidenbändchen zusammengebunden waren. Und als der Schulmeister alle diese Sachen sah, weinte er, indem er sich auf die offene Lade des Schrankes stützte, wie auf eine Tür, die sich sperrangelweit auf tut gegen eine Welt von unendlichem Schmerz. Dann begann er den jungen Mann in Schutz zu nehmen und überschüttete sich mit Vorwürfen, ihn lieblos, aus reinem Pflichtgefühl, also aus reinem Egoismus erzogen zu haben.

Wieder begannen seine Auseinandersetzungen mit Gott, bis er sich eines Tages in einer heftigen Gemütsbewegung sagte, daß alles Aberglauben war. Man liebt, wann und wen man lieben kann. Und die Liebe ist schon an sich ein so großes und göttliches Mysterium, daß es ein Verbrechen ist, es erklären zu wollen.

Er erhob sich und ging längs der Straße, zwischen dem Strand und den kleinen Villen, auf der er bereits mit Ola am Tage nach seiner Ankunft gegangen war, zwischen den zerzausten Tamariskensträuchern, die, wie im sorglosen Spiel, die immer stärker werdenden Windstöße auffingen und wieder nach allen Seiten zurückwarfen. Auch die Erlen bewegten sich hin und her und spiegelten die Bewegtheit und das Glitzern der Wellen wieder.

Die Straße verlor sich irgendwo. Es war ihm noch nie gelungen, sie bis zu Ende zu gehen, und er hatte das Gefühl, daß sie längs der ganzen Adria führte. Aus diesem fantastischen Grunde, und weil die Schützengraben aus Sand die Straße gegen den Wind schützten, zog er sie allen anderen vor. Die Sonne schien hier lau und äußerst milde, und auf dem grasbewachsenen Boden ging man wie auf einem samtenen Läufer.

Er ging mit Vorliebe auf dieser Straße. Sie verscheuchte seine Kümmernisse, hier wurden sie von den eigensinnigen Zweigen der Tamarisken eingefangen, die mit ihnen spielten und sie dann den Winden überließen. Und diese Furchen, in denen der Krokus wieder in Blüte stand, und die Tautropfen in jeder einzelnen Blüte, und die scheuen Schmetterlinge, die auf ihn zugeflogen kamen und ihm dann auswichen, all dies erweckte in ihm das Gefühl einer zweiten Kindheit.

Hier waren die kleinen Villen zu Ende. Das Meer, das von Zeit zu Zeit zwischen den Dünen sichtbar wurde, sah man jetzt vor sich, als eine Riesenebene, die mit unzähligen Blüten von Flachs übersät ist. Die Straße stieg sanft auf und eine Linie von leichten Wolken über den Erlen, die das Tamariskengesträuch überragten, schien das Rauschen der Wellen zu wiederholen. Es waren aber die Bäume, die rauschten. Ihm fielen noch einmal die religiösen Lieder seiner Heimat ein und er versuchte sogar, sie zu wiederholen:

Der Seemann auf den Wellen
Ruft dich, o Herr ...

Aber er verstummte sofort unter dem Eindruck des Klanges seiner eigenen Stimme, die aus der Erde zu quellen schien und vom Winde sofort weitergetragen wurde. Aber auch der Eindruck, den der Seemann, der mitten in den aufgeregten Wogen die Hilfe Gottes anruft, auf ihn machte, ließ ihn nicht los, während er ein bißchen mühsam seinen Weg auf der ansteigenden Straße fortsetzte und gegen den Wind ankämpfte, wie eine Barke in Gefahr. Bis er plötzlich stehen blieb, mit einem Gefühl der Erleichterung, denn er glaubte bereits zu Hause angelangt zu sein.

Hinter dem Gitternetz erhob sich tatsächlich ein Haus, grau, alt und verlassen.

Das war die Villa Ontani, das verrufene Haus.

Es war nicht das erstemal, daß er halt machte, um sie zu betrachten. Der Gedanke, daß alle diese Zimmer seit Jahren leer standen, während er gezwungen war, in einer ganz kleinen Kammer zu wohnen, die dunkel und feucht war wie ein Kellerloch, fesselte ihn mit der derselben Zauberkraft an das Gitternetz, die Kinder in einen tiefen Brunnen sehen läßt, weil sich ihnen dort ein unterirdischer Himmel zeigt, der tausendmal verlockender ist als der richtige Himmel.

Ein kleines, altes, schwarz gekleidetes Weib, das nach vorn gebeugt war, als ob sie etwas auf der Erde suchte, erschien hinten auf dem breiten Platze und ging auf das Gitter zu. Er erkannte die alte Hexe, die die Kinder stiehlt, und obwohl er den Eindruck hatte, daß sie ihn gleichfalls gesehen hatte und kam, um ihn nach seinem Begehr zu fragen, entfernte er sich trotzdem.

Der Wind blies jetzt tüchtig von hinten. Er fühlte, wie er durch alle Löcher seines Rockes drang, und er glaubte sich trotz der von grünem Laub strotzenden Bäume und der von Kupfervitriol blauen Weinstöcke mitten in den Winter versetzt.

Eine ganze Ewigkeit war vergangen, seit er Olas Haus verlassen hatte! Müde ließ er sich am Straßenrande nieder. Er hatte das Gefühl, als ob die Sonne seine Knie mit einem warmen Tuch bedeckte.

So traf ihn die alte Hexe, die, nachdem sie das Haus verlassen hatte, sich ganz merkwürdig vorwärtsbewegte. Sie stellte einen Fuß auf den Boden und zog den anderen nur auf der Spitze der großen Zehe nach, wobei ihr aber der Hausschuh jedesmal herunterfiel, als ob er sich im Grase verstecken wollte.

Dieser Fuß tat ihr gewiß weh, denn ein Ausdruck des Leidens durchfurchte ihr Gesicht, aber als sie bei dem Schulmeister anlangte, belebten sich die Augen und die ganze Person richtete sich auf. Vielleicht war er gerade das, was sie suchte, das Heilmittel gegen ihr Leiden. Sie blickte ihm gerade ins Auge und fragte, indem sie ihn grüßte:

»Guten Tag. Wo ist Ihr Kind?«

Die Möglichkeit allein, von dem Kinde sprechen zu können, zerstreute die Dunkelheit und die Kälte um ihn.

»Sie schläft«, erwiderte er leise, wie, um sie nicht zu wecken. »Kennt Ihr sie?«

»Wer kennt sie nicht? Erinnern Sie sich nicht, daß ich Sie beide zusammen auf dem Platz gesehen habe? Ich kenne auch den Vater Antonio De Nicola.«

Da wollte er schon fragen, was man in der Gegend über Antonio sprach und ob man seine Ausschweifungen kannte. Aber wem nützte das? War er nicht gerade derjenige, der am besten Bescheid wußte?

»Die Kleine ist tadellos gewachsen«, sagte indessen die Alte, wie um ihn zu trösten. »Sie muß auch ein gutes Kind sein. Ich habe Kinder so gern und vielleicht sagen die Leute deswegen, daß ich sie stehle. Ach, ich würde schon eins stehlen, wenn ich könnte, und es würde es sehr gut bei mir haben. Aber das sagen die Leute in einem anderen Sinne.«

»Das sagen die Mütter, damit die Kleinen sich nicht hierher wagen, wo es tatsächlich so einsam ist.«

Die Alte lachte spöttisch über seinen guten Willen.

»Glauben Sie? Trotzdem ist es wahr, daß ich versucht habe, ein Kind zu rauben, im Anfang, als ich hier war, weil mein Sohn keine Frau nehmen will, ich aber Enkelkinder so gern haben möchte. Die unschuldigen Geschöpfe«, fuhr sie fort, indes der Schulmeister sie halb nachdenklich, halb unruhig fixierte, »bewahren vor dem Übel und segnen den Ort, wo sie leben. Und ich fürchte mich so, in diesem verrufenen Hause des Verbrechens zu wohnen. Auch mein Sohn beginnt zu glauben, daß es sich hier um einen Spuk handelt. Seitdem wir hier sind, sind wir von der Traurigkeit angesteckt. In der Nacht hört man drinnen im Haus merkwürdige Geräusche und es scheint, daß die Söhne den Vater nochmals ermorden. Dann ist der Hund krank geworden und kein Mensch weiß, was ihm fehlt. In der Nacht heulte er auch und die Augen traten ihm aus den Höhlen, als ob er sähe und hörte, dann hat er meinen Sohn am Saum der Hose gepackt und zum Gitter geführt. Ohne Zweifel wollte er, daß wir uns entfernten. Gestern ist er verendet und mein Sohn hat geweint, dann hat er ihn begraben, dort hinten im Feld, und heute hat er einen Freund aufgesucht und ihn gebeten, die Bewachung des Hauses zu übernehmen.«

Der Schulmeister hob lebhaft den Kopf.

»Warum suchen Sie den Wächter nicht hier?«

»Können Sie vielleicht mir einen verschaffen? In diesem Judenstaat kann ich nicht einmal einen Ersatz für meinen Hund finden.«

Er senkte von neuem den Kopf. Er kannte die Gegend wenig, aber er wußte, daß alle arbeiteten, auf dem Lande wie auf dem Meere, klein und groß, arm und reich. Ein jeder verdiente, denn sie hingen am Gelde ein wenig zu sehr wie die jüdischen Kaufleute. Und selbst der Ärmste würde sich geschämt haben, die Stelle eines einfachen Wächters eines sequestrierten Hauses zu übernehmen.

»Und auch dort unten ist es nicht leicht«, fügte die Alte hinzu und zeigte mit dem Finger nach einem weit entfernten Ort, »die Leute wohnen nicht gern in einem fremden Hause, in einer fremden Gegend«.

»Und sie haben recht«, sagte der andere, ohne den Kopf zu erheben. Und ganz in Gedanken versunken, die wirr und seltsam waren wie seine Reden, schien er sie nicht weiter zu beachten, aber nach und nach nahmen sie Gestalt an und vereinigten sich zu einem einzigen Gedanken.

»Was hat man da zu tun, als Wächter?« fragte er schließlich.

»Wenig und nichts. Man hat nur acht zu geben, daß niemand, weder Diebe noch die Verwandten der Vatermörder die Siegel erbrechen können oder sonst in das Haus eindringen.«

»Und wo ist die Wohnung des Wächters?«

»Sie ist an die Villa angebaut. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.«

Er machte eine instinktive Bewegung, um sich zu erheben, aber er schüttelte heftig mit dem Kopf und sagte:

»Ich bin zu alt, sonst würde ich kommen.«

»Alt bin ich«, rief sie aus, beglückt, das gefunden zu haben, was sie zu suchen ausging. »Und mein Sohn ist immer krank, trotzdem ist es ihm leicht gefallen, das Haus zu bewachen.«

»Aber wer bebaut die Felder?«

»Die sind an Bauern verpachtet. Wir haben nur ein ganz kleines Stück Land hinter dem Hause. Der Lohn ist gering, sechs Lire pro Tag, aber es ist doch etwas. Wenn mein Sohn zurückkommt, schicke ich ihn gleich zu Ihnen. Also ...«

»Nein, nein, Alte«, sagte er verwirrt. »Ich habe nur Spaß gemacht.«

*

Aber genau wie nach einem, wenn auch nur unfreiwilligen Scherz, der einen heftigen Schmerz verursacht, fühlte er sich seelisch erhoben. Er setzte seinen Weg fort.

Er fühlte Gottes unmittelbare Nähe immer stärker. War es vielleicht nicht Gott gewesen, der ihm die Alte gesendet hatte, um ihm eine Zufluchtsstätte für seine Buße anzubieten? Zuerst aber wollte er ohne Zögern seine eigene Pflicht Antonio gegenüber erfüllen. Und das Haus, aus dem er mit Verzweiflung und Ekel geflohen war, zog ihn wieder an wie ein Tempel, in dem man bereut, betet und opfert.

Er traf Antonio zum Ausgehen bereit vor dem Spiegel des Speisezimmers, wo er sich die Krawatte und die Hutkrempe richtete.

Er betrachtete ihn von rückwärts. Auch dieser bewegliche und kräftige Rücken sowie der starke Nacken erinnerten ihn, wie schon bei Ornella, mehr an ein Tier als an einen Menschen. Der höher stehende Mensch hat gewöhnlich einen schwächlichen und unvollkommenen Körper, das Fleisch drückt in der einen oder anderen Weise auf den Geist, weshalb dieser das Fleisch zu besiegen und zu überwinden sucht.

»Antonio, wo ist Ornella?«

Die Frage, obgleich leise und vorsichtig ausgesprochen, schlug wie ein Blitz ein. Antonio drehte sich vollends um, aber als er in das müde und verstörte Gesicht des anderen sah, beruhigte er sich und antwortete eifrig:

»Brauchst du etwas?«

»Ich muß mit dir sprechen. Komm mit mir, in mein Zimmer.«

Dort konnte man in Ruhe sprechen. Die Gegenstände ringsum in dem grünlichen Halbdunkel schienen zu schlafen, als ob sie die Unterredung nicht stören wollten, und übrigens erschien dem Schulmeister jetzt alles so einfach und klar und er hatte nicht die Absicht, unnütze Worte zu verlieren.

»Setz dich«, sagte er, indem er den Stuhl vom Tisch abrückte, auf dem zwischen seinen Papieren Olas Perlenschnur lag. Und während Antonio seinen Stuhl noch weiter abrückte und wie ein kleiner Junge gehorchte, versteckte er die Perlen unter einem Blatt Papier, nicht etwa aus Angst zu leiden, sondern vielmehr weil er mit einem Male fühlte, daß ihn nicht nur der Wunsch, das Kind aus dem Sumpf, zu retten, sondern auch der angeborene Trieb leitete, Gutes zu tun. »Höre,« sagte er in dem demütigen Tone desjenigen, der nicht angreifen, sondern sich nur verteidigen will, »gegen meinen Willen habe ich heute früh dein Gespräch mit Ornella belauscht.«

Antonio schien gar nicht betroffen zu sein, im Gegenteil, er verzog das Gesicht zu einem instinktiv oberflächlichen und spöttischen Lächeln, das den Frauen so imponiert und wobei er die Oberlippe hob, und erwartete, daß der Schulmeister fortfahren würde. Aber der Schulmeister fuhr nicht fort, er hatte das Lächeln bemerkt und sah die Nutzlosigkeit des Kampfes ein.

»Dieses verdammte Frauenzimmer«, brach Antonio schließlich entrüstet aus, »hat die Tür offen oder vielleicht angelehnt gelassen. Deswegen also, deswegen!« wiederholte er, indem er den Hut voll Wut abnahm und wieder aufsetzte.

»Und warum hast du die Tür nicht zugemacht? Vielleicht wäre es besser gewesen. Ja, es ist besser, das Übel nicht zu kennen, als es unnütz zu bekämpfen.«

»Und du glaubst,« sagte er frech, »daß ich der erste bei dem Mädchen war? Wo ist der Mann, der die Gelegenheit nicht wahrnimmt? Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein auf mich.«

Und der Schulmeister fühlte sich wirklich von dem Steine getroffen, den er selbst zu werfen versuchte, aber er hielt nicht inne.

»Du darfst nicht in deinem eigenen Hause sündigen, im Hause deiner Tochter. Übrigens weder hier noch anderswo. Die Sünde ist überall dieselbe, wo man sie auch begeht. Und du darfst deinem Weibe, das vielleicht alles weiß und um des Kindes willen duldet, keine Schmerzen bereiten. Mag sein, daß ich nicht in der Lage bin, den ersten Stein zu werfen, aber gerade deswegen sage ich dir, daß gewisse Dinge sich rächen, heute oder morgen, und daß sie sich bitter rächen.«

Antonio schien erschüttert zu sein. Mit gesenktem Kopf glättete er seinen Hut und gab keine Antwort. Er fragte nur:

»Hat Marga dich gebeten, mit mir zu sprechen?«

»Antonio! Dein Weib würde lieber sterben, bevor sie ihr Herz einem lebenden Wesen ausschüttete. Aber ihr Leid spricht sogar aus ihrem Lachen.«

»Marga mag mich nicht«, sagte Antonio finster. »Sie denkt immer nur an ihren toten Mann.«

»Das ist nicht wahr! Sie flüchtet in ihre Erinnerungen wie der verwundete Hirsch in sein Loch. Aber auch das bedeutet nichts. Die Hauptsache ist, daß die Luft gereinigt werden muß, weil euer gegenseitiges Verhalten die Ansteckungsgefahr vergrößert. Die Luft muß gereinigt werden,« wiederholte er, indem er die Hände bittend hob, »um des Kindes willen, wenn auch nicht euretwegen. Verstehst du?«

»Weiß das Kind etwas?«

»Wenn das Kind weiter diese Luft atmet, wird es so verdorben werden wie ihr, und wenn es eines Tages in deinen Augen den Schmerz über ihre Verderbtheit lesen wird, wird es dir antworten: &›Du hast mich das Schlechte gelehrt‹.«

Antonio schnellte in die Höhe, wie eine gewaltsam gebogene Gerte.

»Nein, nein! Sie nicht. Ich bin ja nur deshalb so, weil ich so geboren bin. Man wird geboren ... man wird geboren ... Meine Mutter war genau so wie Ornella.«

Da schien eine Eisenkette die beiden Männer zu umklammern und hinterrücks in einen Abgrund von Schande und Schrecken zu schleudern.

Der Schulmeister sagte mit trauriger Stimme:

»Siehst du also ein, daß du schlecht handelst?«

»Ja, ich sehe es ein. Aber ich bin nicht der einzige. Tausend sind schlechter als ich.«

»Wir alle sind ein Gemisch von Gut und Böse, aber das Böse muß besiegt werden.«

Antonio rührte sich nicht, wie ein Diener, der Befehle erwartet, und behandelte seinen Filzhut grausam, wie ein lebendes Tier. Schließlich sagte er:

»Sag mir, was ich tun soll.«

»Du wirst das Mädchen sofort aus dem Hause schicken und dann für sie und ihr Kind sorgen.

»Und was dann?«

»Dann wird dir Gott weiterhelfen, wenn du Gutes im Sinne hast«, sagte der Schulmeister. Aber ein Gefühl der Bestürzung übermannte auch ihn bei dem Gedanken an die Zukunft.

Und dieser Nebel wich nicht mehr. Er fühlte, daß Antonio, obzwar er sich unterwürfig stellte, ihm auswich, ihm entschlüpfte, wie ein Kater, der, obwohl anscheinend gelehrig, nicht von seinen wilden Instinkten lassen kann.

*

Spät abends ging er mit Ola spazieren. Aber ihre Gesellschaft machte sein Leid noch größer, anstatt es zu verringern, denn seine Gedanken liefen immer nach Hause, wo er Antonio in schwer krankem Zustande zurückgelassen zu haben glaubte.

Ola zog ihn in die Landschaft hinaus, dort wo Menschen und Leben waren, er aber suchte die einsamen Alleen auf, wo der Schritt auf dem dichten Grasboden verhallte und der Himmel wieder die tödliche Einsamkeit wiederspiegelte, die sein Herz erfüllte.

Ola langweilte sich. Sie bückte sich drei- oder viermal, um Blumen zu pflücken oder irgendeinen Käfer zu beobachten, aber sie lockte den Großvater nicht mehr mit ihren Ausrufen der Bewunderung herbei, da sie völlig in ihre Gedanken versunken war. Einmal blieb sie derart zurück, daß er sich umdrehte, um sie zu rufen. Sie antwortete nicht und rührte sich nicht, ungehorsam und verschlossen wie sie war, bis er drohte, ihr eine Ohrfeige zu geben.

Und da sind sie Feinde geworden. &›Besser so‹, dachte er grausam, &›eines Tages müssen wir ja doch auseinandergehen‹.

Und als er sie packte und mit sich schleifte, sah sie ihn von unten bis oben an, indem sie ihn genau beobachtete, wie am Tage ihrer ersten Begegnung, denn sie fühlte, daß ein anderer Mann vor ihr stand, ein anderer Großvater als der, den sie von früher kannte. Und mit einem Male fragte sie ihn müde und gelangweilt:

»Kennst du noch die Kinderlieder, die du als Kind gesungen hast?«

»Ich kannte eine Menge«, antwortete er finster. »Jetzt bin ich alt und habe alle vergessen.«

»Auch das von dem Seemann auf den Wellen?«

»Auch dieses«, sagte er, hart und widerspenstig, aber plötzlich hörte er Orgeltöne, die von weither kamen, aus der Ebene vom Meere. Ein Choral begleitete sie. Er war so gepackt, daß er stehen blieb, um zu horchen.

»Hörst du nichts?« fragte er die Kleine. »Hörst du nicht Musik aus der Ferne?«

»Ja, ich höre«, sagte sie, der Suggestion erliegend.

Und beide standen in der einsamen Allee, mitten im Gras, mitten im Wechselspiel von Sonne und Schatten, wie in einem magischen Kreise zwischen Traum und Wahnsinn.

*

Die Tage vergingen und Ornella war immer noch im Hause, schweigsamer als je, und ertrug die ungerechten und übertriebenen Vorwürfe Margas mit Geduld. Auch Antonios Laune wurde immer trüber, und nicht einmal der nach Ambra duftende Wein der alten Flaschen vermochte sie zu bessern. Er war übrigens fast immer außer dem Hause und kam mit finsterer Miene zurück, als ob die Geschäfte schlecht gingen. Kaum hatte er gegessen und getrunken, so verließ er es wieder.

Eines Tages kam er mit einem berühmten Arzte wieder, der ein glattrasiertes und geheimnisvolles Gesicht wie ein Zauberer hatte. Es war ein Fiebertag und Marga ergab sich in die Untersuchung, aber sie antwortete nicht auf die Fragen des Arztes, und als dieser erklärte, daß Luftveränderung unbedingt nötig sei und sie möglicherweise ins Gebirge gehen müsse, ließ sie ihren Kopf auf das Kissen fallen und schloß die Augen, feindlich und müde.

Als sie im Speisezimmer waren, sagte der berühmte Arzt, daß der scheinbar merkwürdige Fall sehr einfach sei, es handle sich nämlich um eine alte Malaria, die unter dem Einflüsse einer krankhaften Hysterie schlimmer geworden sei.

»Arbeitet sie, wenn sie gesund ist?« fragte er.

»Sehr sogar. Sie ist nicht eine Minute still.«

»Das ist nicht gut. Hat sie Verdruß?«

»Nicht daß ich wüßte«, antwortete Antonio, aber seine Augen mieden die des Schulmeisters.

Für das schöne Honorar, das Antonio dem Arzt in einem schönen Briefumschlag ungeniert überreichte, verschrieb dieser nichts, sondern wiederholte nur eindringlich seinen Rat, daß Marga ins Gebirge müsse, und zwar so hoch als möglich.

Der Schulmeister dachte an seine Gegend, an sein Haus, das vielleicht noch zu haben war, aber als Antonio sagte, daß er schon wisse, wohin er Marga und das Kind zu bringen gedenke, nämlich zu sehr nahen Verwandten von ihr, senkte er den Kopf und entfernte sich.

Noch einmal ging er auf der Straße, die zur Villa Ontani führte. Dieser Besuch des fremden Arztes erschien ihm etwas geheimnisvoll, gewissermaßen wie eine von Antonio ausgeheckte Schurkerei, um Marga und das Kind loszuwerden. Aber warum? Die trübsten und verworfensten Gedanken verpesteten sein Gehirn, aber so ist es: wenn das Übel einen gepackt hat, so erscheint alles möglich. Und er traute sich nicht einmal mehr den Mut zu, dem Manne von neuem die Stirn zu bieten, den er sich einmal als Sohn erhofft hatte. Er fühlte, daß eine unbekannte Kraft ihm dieses Drama aufhalste, und daß nur eine andere, die in ihm wohnende Kraft, imstande war, es zu verhüten. Mit einem Wort, er dachte, daß dies alles die Strafe für seine Schuld war, die er noch nicht gesühnt hatte, und daß nur der Schmerz, seine Demut, das Opfer seiner Lebensfreude die Dinge zum Guten wenden konnten.

Und wie der Nachtschmetterling, der vom Lichte angezogen wird, so schlug er wieder gegen das Gitter des verrufenen Hauses. Der Ort wirkte auf ihn ebenso suggestiv wie auf fantasiereiche Kinder, aber er war auch der richtige Hintergrund für seinen Kummer, wie er ihn suchte: ein finsterer und dunkler Hintergrund, von dem sich die Umrisse seines Opfers besser abhoben. So sucht der Büßer die Höhle, in der er sühnt.

Um die Wahrheit zu sagen, so warf der Frühling seinen Schleier der Freude auch über diesen verlassenen Garten. Die vollen grünen Bäume schallten vom Gesänge der Vögel wieder, und die Bänkchen und Tische, die der letzte Regen reingewaschen hatte, schienen wie neu.

Die Alte erschien, wie auf ein verabredetes Signal, hinten in der Allee. Während sie sonst krumm und zur Erde gebückt ging, versuchte sie sich aufzurichten, als sie des Lehrers ansichtig wurde. Humpelnd lief sie an das Gitter und öffnete ohne weiteres.

Er erinnerte, daß er versprochen hatte wiederzukommen, und trat ein. Und nachdem sie das Gitter wieder geschlossen hatte, führte sie ihn zum Wächterhäuschen, damit er es besichtigte.

*

Es war ein langes Zimmer, das an die Villa angebaut war und das eine Zeitlang als Remise oder etwas ähnliches gedient haben mochte. Die eine Hälfte war hoch und reichte bis zum Dach, die andere war von einem Dachboden bedeckt, zu dem man auf einer kleinen Treppe hinaufstieg.

»Hier unten schläft mein Sohn«, erklärte die Alte. »Hier sind nur die Bettlaken, die man uns mit den Möbeln übergeben hat.«

»Schöne Möbel«, dachte der Schulmeister, indem er sich umsah.

In der Ecke unter dem Dachboden war das Lager der Alten, das mit einer sackähnlichen Leinwand zugedeckt war. Haufen von alten in Gärung übergegangenen Kartoffeln und trockene Maisblätter lagen zwischen den wenigen, schmutzigen und lahmen Möbeln umher, die Zeugnis davon ablegten, daß es sich hier um eine menschliche Wohnung handelte. Die rußigen, rohen Wände hätten ohne den Schmutz, die Unordnung und den Stallgeruch, die dem Ganzen ein unmenschliches Gepräge gaben, an die primitiven Küchen wohlhabender Bauern erinnern können. Der einzige Lichtblick in diesem Elend war ein großer Kamin, sowie ein Ofen unter dem Rauchfang und das brennende Feuer, das die Hoffnung aufkommen ließ, daß es doch möglich sein werde, in dieser verfallenen Hütte zu leben.

Auf dem Herd kochte ein schwarzer Topf, auf dem ein Deckel hin und hertanzte und aus dem der Duft mit Knoblauch angemachter Bohnen aufstieg, ein bescheidener und ehrbarer Geruch, der trotzdem an die pikanten Düfte aus Margas Küche erinnerte und an Olas kleinen Finger, mit dem sie an das leuchtende Email des Topfes klopfte, indem sie die Geheimnisse des Topfes verriet. Und er verscheuchte die Erinnerung nicht, obwohl er darunter litt, denn die Buße ist keine Buße, wenn man nicht auf das Große und das Kleine verzichtet.

*

Gegen Abend besuchte er Marga. Sie war ohne Fieber, aber weniger bei Kräften als je. Ihr Gesicht hatte die bläuliche Blässe einer Leiche und sah in dem rötlichen Schein der Abendröte noch viel unheimlicher aus.

»Was hat der Doktor gesagt?« fragte sie mit schläfriger Stimme.

»Er hat gesagt, daß es sich um eine Nervensache handelt und daß du dich ausruhen und deinen Geist kurieren mußt.«

Das sagte er, der der Meinung war, mehr zu wissen als der Doktor, aber als er Margas Lächeln sah, das ihre jungen und gesunden Zähne sehen ließ, faßte er sofort neuen Mut.

Auch auf dieser Seite war mit Worten nichts zu erreichen. Dennoch schöpfte er neuen Mut, als sie sagte:

»Aber ich habe doch nichts mit dem Kopfe. Ja, ich will die Ratschläge des Arztes befolgen. Wie wärs, wenn ich in Ihre Gegend ginge, Vater? Ich wünsche es mir schon lange.«

»Warum hast du dich nicht früher gesehnt? Jetzt ist es zu spät. Ich habe das Haus verkauft und ich wüßte nicht, wo wir wohnen sollten.«

»Das macht nichts, Vater«, sagte sie, plötzlich wieder resigniert. »Ich werde dorthin gehen, wo Antonio mich hinbringt. Möchten Sie nicht mit uns kommen, Vater? Dann würde Antonio zusammen mit Ornella auf das Haus acht geben, bis wir zurückkommen.«

Der Schulmeister sah sie an. Ihre Augenlider waren gesenkt, wie um seinem Blick zu entgehen, und er hatte das Verlangen, mit seinen Fingern diese Lider, die wie Leichensteine schwer waren, hochzuheben und ihr ins Gesicht zu schreien, daß es alle hören konnten:

»Erhebe dich, Weib, und gehe!«

»Marga«, sagte er streng, »ich werde nicht mit euch kommen. Ich werde mich bald aus dem Staube machen.«

»Warum? Warum?« schrie sie aufrichtig betrübt.

Zwischen diesen beiden Ausrufen machte sie eine kleine Pause, während welcher der Lichtschein, der das Kopfkissen erhellte, die Mauer hinaufzusteigen schien. Und ihr Gesicht wurde schwarz wie die Dunkelheit.

»Sie ist tot, ihre Seele ist tot«, dachte der Schulmeister.

Dennoch empfand er das lebhafte Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen, wie einem Toten, den er im Leben beleidigt hatte. Er schloß nun seinerseits die Augen und sprach. Der Ton seiner Stimme war dunkel, zuweilen klang sie wie das wehmütige Tremolo der Oboe.

»Marga, ich bin zu euch gekommen, in der Hoffnung, den Rest meiner Tage mit euch zu verbringen und vielleicht ein neues Leben zu beginnen. So hofft eine alte plumpe Barke, die tausendmal hin und hergefahren ist, in den Hafen einzulaufen und wieder gebrauchsfähig gemacht zu werden. Aber ich sehe, daß das unmöglich ist. Vielleicht bin ich daran schuld. Ich sehe jeden Tag mehr ein, daß zwischen mir und euch, zwischen meiner Denk- und Lebensweise und eurer, ein unüberbrückbarer Gegensatz herrscht. Die Folge ist, daß ich euch nur stören kann und daß ich meinerseits keine Ruhe finde und unnütz leide.«

»Ich bitte dich nicht zu sprechen«, fügte er hinzu, denn er fühlte, daß sie sich aufregte. »Ich habe dir mehrere Male gesagt, daß du intelligent bist und verstehst, was ich sagen will. Ich weiß alles von dir, auch wenn du schweigst. Erinnere dich, Marga, an den ersten Abend meiner Ankunft. Seit damals habe ich alles, was dein und Antonios Leben trübt, erkannt. Jetzt wird alles noch schlimmer werden. Aus Eigenliebe und weil ihr keine Religion habt, seid ihr alle im Begriffe, das schwerste aller Verbrechen zu begehen, denn ihr tötet ein Wesen, bevor es geboren ist. Ich aber habe nicht mehr die Absicht, mich bei euch ins Mittel zu legen, nicht einmal aus Rücksicht auf das Kind, das diese verpestete Luft einatmet und schließlich auch im Schmutz enden wird.«

Marga hatte ihr Gesicht in das Kissen gedrückt und schluchzte. Plötzlich wendete sie es ihm zu, schüttelte die Haare aus dem Kopf und versuchte zu sprechen, aber nur ein Seufzer entfuhr ihrer Brust.

»Es ist unnütz, daß du sprichst, Marga. Es wird viel besser sein, wenn du handelst. Glaub nur ja nicht, daß ich nur hier bin, um euch umsonst Moral zu predigen. Auch ich habe gesündigt, auch ich habe ein Verbrechen begangen, ähnlich dem, das ich jetzt vereiteln möchte. Eine Frau, die Mutter deines Mannes, hat sich meinetwegen umgebracht. Sie war schwanger und wußte, daß ich nicht daran dachte, sie zu heiraten. Ich habe ihr erstes Kind, das nicht das meine war, zu mir genommen und wie mein eigenes Kind erzogen. Dies sollte meine Sühne sein, aber das war im Gegenteil der Samen meiner Sühne. Diese beginnt jetzt und ich nehme sie ganz auf mich, wenn nur ihr verschont bleibt. Weine nicht, Marga, weine nicht. Erhebe dich vielmehr, wie Christus zu Lazarus sagte. Erhebe dich und gehe.«

Die Frau weinte leise in sich hinein, indem sie ihr Gesicht im schwarzen Schweißtuch ihrer Haare verbarg.

»Dein Weinen gefällt mir«, sagte er, indem er sich erhob, ohne die Augen zu öffnen. »Es ist wie der erste Regen nach einer langen Trockenheit. Und du wirst dich erheben und wirst deine Tochter das lehren, was ich sie zu lehren hoffte: daß man, um wahrhaft glücklich zu sein, rein leben und die Lehren Christi befolgen muß. Du wirst es tun, wenn nicht heute, so morgen.«

*

Am nächsten Tage reisten Marga und die Kleine in Antonios Begleitung in ein Apenninendorf, wo Verwandte von ihr ein Haus besaßen, mitten in einem Kastanienhain.

Der Schulmeister begleitete sie bis zur Bahnstation und hielt auf dem ganzen Wege durch die Allee Ola im Arme, der bei dem Gedanken an die Reise und all die neuen Dinge, die sie sehen sollte, die Trennung nicht allzuschwer wurde.

»Ich werde dir schreiben«, sagte sie ernst, um ihn zu trösten. »Und ich werde dir eine Menge Kastanien mitbringen, die so groß sind wie meine Faust. Auch welche in der Schale. Sieh nur, wie sie stechen.«

Sie zwickte ihn ins Gesicht. Und zum allerletzten Male lachten sie zusammen.

Auch er war übrigens fast zufrieden. Er hatte sein inneres Problem gelöst und in übertrieben gewissenhafter Weise glaubte er, daß in seiner Lebensbilanz der Schmerz und das Gute, das ihm aus jenem erwachsen konnte, sich das Gleichgewicht halten würden.

Er kehrte nach Hause zurück und blieb drei Tage mit Ornella allein, ohne überhaupt ein einziges Wort an sie zu richten, obwohl er sie alle Tage sah. Sie hatte eine unheimliche Angst vor ihm, als ob er ein zweideutiges Wesen wäre, das sich beim geringsten Anstoß in ein Ungeheuer verwandeln konnte. In der Nacht schloß sie sich in ihre Kammer ein und am Tage aß sie außerhalb, aus Furcht, daß er sie vergiften könnte.

Am Abend des dritten Tages packte sie ihren Koffer, und wenige Minuten bevor Antonio zurückkam, ließ sie ihm einen Zettel zurück, in dem sie schrieb, daß sie gezwungen sei, aus dem Hause zu gehen. Sie ließ Olas Spielsachen grüßen, ebenso den Hund, der unruhig um sie herumlief, vielleicht weil er ihre Absichten erriet, dann suchte sie die Katze und fand sie endlich, zusammengekauert schlafend, in einer Sofaecke in Margas Zimmer und blieb stehen, um sie zu betrachten.

Von den Pfoten war nur jene zu sehen, die sie um die untere Gesichtshälfte geschlungen hatte, und von dieser nur die Silberfäden der rechten Schnurrbarthälfte. Das rosige, angelegte Ohr glich einer Muschel, die mit Seetang gefüllt ist, und der Schweif mit den braunen und gelben Ringen, der vorne längs des völlig zusammengezogenen Körpers angeordnet war, vervollständigte das harmonische Bild. Die Flanke atmete, und wenn das an dieser Stelle oben braune, unten lichte Fell sich hob und das Weiße hindurchschimmerte, glaubte man tatsächlich, daß dort der Atem ausströmte. Und dieses rhythmische Sichheben und Sichsenken des schönen gestreiften Körpers gab eine Vorstellung von dem Wogen des Meeres.

*

Die Verhandlungen über die Besetzung der Wächterstelle in dem sequestrierten Hause waren bereits beendet, und der Schulmeister begab sich darauf an Ort und Stelle, um sich in sein Amt einführen zu lassen.

Die Alte verkaufte ihm zu Wucherpreisen die Überbleibsel ihrer Vorräte, vier Hennen, die Eier legten, und einen Hahn, der nur ans Vergnügen dachte. Zur Entschädigung schenkte sie ihm ein paar Kohlen und zeigte ihm, wie man das Feuer lebendig hält. Es genügte, in der heißen Asche eine gute Kohlenglut zu begraben.

Als Mutter und Sohn, beide klein und häßlich wie Zwerge, unter der Last ihrer Bündel wankend, sich entfernt hatten, schloß er das Gitter ab, und durch das Netz, jenseits der mit Gras bewachsenen Straße, sah er den schon grauen Horizont, der ihm wie die Mauer eines Gefängnisses vorkam.

Nun war er allein. Und er empfand ein Gefühl der Bestürzung, wie wenn man sich angesichts des Todes mit Entsetzen sagt, daß nun alles aus sein soll. Er hatte das Verlangen zu weinen, sich auf das Gitter zu stützen und die Stelle des Netzes zu küssen, wo Ola sich mit ihren Fingerchen angeklammert hatte. Da kam ihm der Gedanke, daß die Alte ihm das Kind tatsächlich gestohlen hatte, und er bereute seine Flucht, die ihm unnütz und feig erschien.

Die wahre Stärke des Menschen besteht darin, dem Übel Auge in Auge zu begegnen, auch mit Gewalt. Es wäre besser gewesen, mit Marga und Antonio zu sprechen und ihnen zu gebieten, ihre Pflicht zu erfüllen.

Dann erschauerte er und kehrte in sein trauriges Loch zurück, wohin er sich verkrochen hatte wie ein verwundetes Tier. Er machte einen Rundgang um die Villa, die sich schwarz und düster vom Himmel abhob, der bereits von Sternen funkelte. In seinem Zimmer brannte das Feuer, und dieser Schein erweckte sein Lebensgefühl von neuem. Er glaubte, die Pflicht zu haben, das Feuer nie ausgehen zu lassen, er glaubte, es irgendeinem Menschen versprochen zu haben. Und er legte neues Holz an.

Die Hoffnung kehrte wieder in sein Herz ein. Selbst der Schmutz und die Unordnung ringsum bereiteten ihm Trost, denn er hatte das Gefühl, der Hüter einer toten Welt zu sein, des Hauses, in dem die Söhne den Vater getötet hatten, und mitten in einer Welt zu sein, die neu eingerichtet und gesäubert werden mußte.

*

Am selben Abend, als er glaubte, vollständig allein auf der Welt zu sein, bekam er einen Besuch. Es war der alte Bauer, der das zu der Villa gehörige Feld in Pacht hatte. Er stellte sich ehrerbietig vor, mit dem Strohhut in der Hand, und nachdem er schüchtern gefragt hatte, ob er ihm irgendwie behilflich sein könnte, begann auch er sich über den Fluch zu beklagen, der tatsächlich auf diesem Stückchen Erde zu lasten schien.

»Wir sind zu viert gekommen, ich und mein Bruder, meine Frau und ein Vetter von ihr. Wir alle lebten in gutem Einvernehmen, und die Geschäfte gingen im Anfang sehr gut. Dann starb meine Frau, und der Vetter trennte sich von uns, da es ihm nicht mehr paßte, mit uns zusammenzuleben. So blieb nur ich mit meinem Bruder Gesuino zurück, und obwohl wir wie die Hunde schuften, gelingt es uns jetzt kaum, die Pacht aus dem Feld herauszuwirtschaften. Alles geht schlecht, selbst die Hennen legen keine Eier mehr. Überdies schlage ich mich mit meinem Bruder unaufhörlich herum. Sogar Sie, der Sie eine sehr angesehene Person sind, werden Mitleid mit uns haben, wenn Sie sehen werden, wie wir uns sogar prügeln.«

»Bravo!« Und warum tut ihr das?«

»Darum! Weil es uns Spaß macht. Früher ist das nie vorgekommen. Gesuino ist ein guter Kerl, sogar viel zu gut, fromm und schweigsam, seine Brust ist mit Heiligenbildern gespickt, er betet immerzu und glaubt an Geister, an Kobolde und eine Menge anderer Teufeleien. Aber wenn es sich drum handelt zu schimpfen, hat er ein Mundwerk wie ein Marktweib. Ich bin auch kein schlechter Mensch, wir haben uns gern und trotzdem streiten wir uns immer herum. Er sagt, daß es sich um Hexerei handelt.«

»Habt ihr denn keine Frau im Haus?«

Der Mann machte eine beschwörende Handbewegung.

»Nach dem Tode meiner Frau haben wir eine Verwandte ins Haus genommen. Die Verwandte hat unser Haus ausgeplündert, sie hat uns aufeinander gehetzt, bis ich sie mit Stockschlägen davongejagt habe. Dann haben wir uns eine Bedienerin genommen. Die war zwar keine Diebin und hat sich auch nicht in unsere Geschichten eingemischt, aber dafür trieb sie sich den ganzen Tag draußen mit Männern herum, denn schließlich war sie eine Hure und hatte auch eine böse Krankheit, die meine gute Erziehung mir zu nennen verbietet. Gesuino und ich haben dann aus lauter Verzweiflung beschlossen, ohne Frauen zu leben. Man lebt zwar schlecht, aber man lebt besser als mit fremden Frauen. Überdies versteht sich Gesuino auf alles, er kocht sogar, aber das nimmt sehr viel Zeit weg.«

»Warum heiraten Sie nicht wieder?«

Der Bauer musterte ihn von unten bis oben mit seinen kleinen grünen, traurigen und doch boshaften Augen, die schon zwischen lauter Runzeln eingebettet lagen.

»Ich möchte wieder heiraten, ja, aber sie müßte jung sein und etwas Geld haben. Aber vor diesen Weibern hüte ich mich, das Vergnügen haben nur die anderen.«

Er machte das Zeichen des Gehörnten und lachte. Der andere hatte das Gefühl, als ob er sich über ihn lustig machte.

»Und Ihr Bruder?«

»Ach, der hat ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Er haßt die Frauen und geht ihnen aus dem Wege, wenn er sie sieht. Er ist übrigens auch menschenscheu. Heute abend wollte er nicht mit mir zu Ihnen kommen, und Sie werden sehen, daß es Ihnen kaum gelingen wird, zweimal im Jahre mit ihm zu sprechen.«

»Gut, so werden wir desto besser miteinander auskommen.«

»Glauben Sie nur ja nicht, daß ich auch ein Schwätzer bin,« versicherte sofort der Bauer. »Aber hie und da muß man sein Herz ausschütten. Und wenn man es nicht den Menschen hier ausschütten kann, wem denn sonst? Die Leute sagen, daß Sie Schulmeister sind, da müssen Sie also eine Menge wissen. Eine Menge,« wiederholte er nachdenklich. »Die Alte, die hier war, sagte mir: Wenn du einen Rat brauchst, geh zu ihm, denn er ist ein sehr weiser Mann.«

»Was weiß die Alte von mir? Wenn ich ein weiser Mann gewesen wäre, würde ich nicht hier sein. Nichtsdestoweniger aber kann ich Ihnen einen guten Rat geben, wenn Sie mich um einen bitten, ebenso wie Sie mir einen Rat geben können.«

»Und wenn Sie etwas brauchen,« fuhr der andere ermutigt und getröstet fort, »so befehlen Sie nur. Die Alte hat vielleicht schlecht über uns gesprochen, weil sie sich gerade mit Gesuino nicht gut vertrug und der Sohn verlangte, daß wir die Wache besorgen sollten, wenn er sich herumtrieb, und er trieb sich immerzu herum. In der letzten Zeit sind die beiden ganz sonderbar gewesen. Sie sahen, das heißt sie glaubten, das Gespenst des von den Söhnen ermordeten Vaters zu sehen. Und wir lachten, obzwar auch mein Bruder ein bißchen an solche Dummheiten glaubt. Aber Sie, Sie werden bestimmt nicht daran glauben.«

»Die Toten sind tot,« sagte der Schulmeister. »Wovor man sich in acht nehmen muß, das sind die Gespenster der Lebenden.«

»Sehr gut! Aber jetzt will ich nicht weiter stören und bitte um Entschuldigung. Morgen zeitig früh gehe ich in die Stadt, und wenn Sie etwas brauchen, so bitte es nur zu sagen. Ich bin auch deswegen gekommen.«

»Also dann kaufen Sie mir ein Brot. Und dann bitte ich Sie noch um etwas: Sprechen Sie nicht von mir, sagen Sie nicht, daß ich hier bin.«

Der Bauer drückte zwei Finger auf den Mund. Seine Augen erinnerten den Schulmeister an Olas Hund, wenn er gestreichelt wurde. Da fühlte er sich gestärkt, denn die Vorsehung schien ihm mit der materiellen Hilfe, die ihm dieser einfache Mensch anbot, auch den Trost zu schicken, den die Nachbarschaft einer Seele der anderen Seele verleiht.

Von der ersten Nacht an versah er seinen Dienst. Er glaubte, Geräusch zu hören, und ging um die ganze Villa, um nachzusehen. Alles war ruhig und der Mond sandte sein Licht auf diesen schweigsamen und toten Ort. Nur vor einem der Marmortische glaubte der Schulmeister einen Schatten zu sehen. Es war der Schatten eines Gebüsches, er sah es genau, und doch erschauerte und zitterte er am ganzen Körper. Er erinnerte sich an Olas Händchen, das seine Hand fest umklammerte, und dachte, daß die Justiz der Menschen nicht genügt, um ein Verbrechen auszutilgen. Er kehrte zu seiner Lagerstätte zurück, konnte aber keinen Schlaf finden. Er hörte die Hunde in der Ferne bellen und die Mäuse auf dem Dache herumkriechen. Auch die Hühner, die auf einer Stange im Hintergrunde des Zimmers zusammensaßen, piepten von Zeit zu Zeit jämmerlich im Schlaf. Er zündete das Licht an und versuchte zu lesen, aber das Licht war kärglich, die Augen fielen ihm zu, und das Lesen brachte ihm nicht die Erbauung wie sonst.

Dann löschte er das Licht wieder aus und überließ sich seinen Erinnerungen, vor allem denjenigen, denen er entfliehen wollte. So bietet die Mutter in der Nacht dem unruhigen Kinde die Brust, obzwar sie weiß, daß es ihm schaden kann.

Aber die Schlaflosigkeit wich nicht, und erst beim Morgengrauen, als er aufstehen sollte, überfiel ihn ein tiefer und unruhiger Schlaf, der mit seinen schlechten Träumen wie ein Alp auf ihm lastete.

*

Als er aufwachte, sah er, daß der Bauer das Brot bereits auf das Fensterbrett gelegt hatte. Daneben stand ein Eimer mit frischem Wasser. Diese Aufmerksamkeit rührte ihn.

»Was werden die von mir denken? Daß ich hergekommen bin, nur um zu schlafen?«

Er begann zu arbeiten, gab den Hühnern Futter, und dann machte er sich daran, das Zimmer zu reinigen. Eine schändliche Mühe, denn die Alte hatte nur den Stiel eines Kehrbesens und nicht einmal einen Lappen zurückgelassen. Aber er erinnerte sich an das Angebot des Bauern, ging zu ihm und borgte sich einen Besen aus. Die beiden Brüder, die klein und untersetzt waren, eine rötliche Gesichtsfarbe hatten und sich zum Verwechseln ähnlich sahen, arbeiteten auf dem Feld vor dem Hause. Der ältere grub aus der durch die erste Hitze ein bißchen hartgewordenen Erde die runden und glatten Kartoffeln aus. Der Schulmeister machte halt und sah zu. Und dieses Herausgraben der menschlichen Nahrung aus dem Schoße der Erde erschien ihm wie ein Wunder. Aber der Bauer klagte:

»Sie sind klein und rar. Nicht einmal genug für Saatkartoffeln holt man heraus.«

Dennoch bat er ihn, ein paar mitzunehmen, und der Schulmeister nahm sie, indem er auf Gesuino blickte, der seinen Gruß kaum erwidert hatte. Gesuino schien ihn nicht zu beachten, aber als er sich mit dem Besen und den Kartoffeln entfernt hatte, hörte er, wie die beiden Brüder miteinander stritten.

Der Vormittag verging bei der Arbeit in bester Laune und wie im Fluge. Er trug die Maisblätter auf den Düngerhaufen hinaus, die verfaulten Kartoffeln, alles unnütze und zerbrochene Zeug, das überall im Zimmer herumlag. Er trug auch die Möbelstücke hinaus, um sie zu waschen und in der Sonne zu desinfizieren, und die Matratzen und die Decken seines Lagers. Mit Verwunderung sah er, daß die Bettlaken, die die Alte am Tage vorher ausgewechselt hatte, rein waren. Hingegen fand er auf dem Dachboden, auf den er mit einer für sein Alter staunenswerten Behendigkeit hinaufkletterte, einen Haufen schmutziger Bettlaken.

Auch dieser Dachboden stellte ein kleines Zimmer dar, mit einem Lager und einer Truhe, die man sowohl als Tisch wie als Sitzgelegenheit verwenden konnte. Durch ein schießschartenähnliches Loch kam das Licht herein und konnte man das Feld der Bauern sehen. Als er auch oben Ordnung gemacht hatte, stieg der Schulmeister hinunter und fegte das Zimmer aus. Der Staub tanzte um ihn herum, als ob er sich über ihn lustig machte. Je mehr er kehrte, desto mehr Staub kam zum Vorschein, und jeden Augenblick mußte er vor die Tür treten, um auszuspucken und sich die Nase zu schneuzen. Er dachte an Ola. Wenn sie doch hier gewesen wäre, um ihn auszulachen und ihm zu helfen! Fort, fort! Er schluckte mit dem Staub seine Unruhe hinunter und kehrte zu seiner Arbeit zurück, wie ein Galeerensträfling, der sich für einen Augenblick auf die Schwelle seines Kerkers stellt und den fernen Himmel sieht. Als er mit dem Reinemachen des Fußbodens und der Wände fertig war, von denen er eine Unmenge von Spinngeweben mit einem Haufen toter, eine Ewigkeit alter Fliegen herunterfegte, dachte er daran, etwas zu essen. Er begab sich in den Hühnerstall, der zur Hälfte mit Stroh angefüllt war und wo die Hennen nach den Angaben der Alten vier Eier pro Tag legen sollten. Aber er fand nur zwei, ein schwarzgesprenkeltes, um die Hühner zum Legen anzuregen, das andere war weiß und warm, als ob es bereits gekocht wäre.

Er begnügte sich mit diesem und tunkte darin sein Brot ein, wie Ola, die Biskuits mit wollüstiger Freude in die Creme eintunkte.

Dann ging er wieder an seine Arbeit. Und als er die Möbel gewaschen und auf ihren Platz gestellt hatte und das Bett gemacht war, hatte er das Gefühl, nach einer mühseligen Überfahrt in einem neuen Hafen gelandet zu sein. Und wie alle, die an ihrem Ziel angelangt sind, öffnete er die Koffer.

Das erste, was er herausnahm, war eine Weckeruhr, die ihn aus seiner Heimat bis hierher begleitet hatte. Sie ging noch, gleichgültig gegen alles, was nicht ihre Pflicht, die Zeit anzuzeigen, war, und als sie mitten auf dem noch feuchten Tisch stand, ging sie unerschrocken weiter und ergriff sofort Besitz von dem Ort und der Umgebung.

Der Schulmeister fühlte sich neubelebt, als ob er einen Kameraden in seiner Einsamkeit gefunden hätte. Aber was ihn am meisten tröstete, war eine Rolle grobes, gelbgerändertes Leinen, die er während seines Aufenthaltes in Margas Haus nicht aus dem Koffer genommen hatte. Es war der kleine Teppich, den seine Mutter gestickt hatte. Er rollte ihn auf dem Tisch auseinander und erhob sich, um ihn aus der Entfernung besser zu betrachten.

Der Teppich stellte einen trockenen Strand dar. Der Sand, der mit grauer Seide gestickt war, bezeichnete die erste Schicht, dann kam der grüne Streifen des Meeres auf dem graublauen Hintergrund des Himmels. In dieser Landschaft, die mit drei einzigen Linien eine luftige und tiefe Unermeßlichkeit darstellte, bewegten sich zwei Figuren. Ja, man sah sie direkt gehen, mit erhobenen Füßen, und hinter ihnen sah man die Spuren im Sande. Eine Figur stellte einen glatzköpfigen Mann dar, in einem langen Chorhemd, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde, und Sandalen. Er trug in der Hand ein Bündel und ging einer Frau voran, die größer war als er und im Arm ein Kind hielt, das ganz von einem schwarzen Seidentuch bedeckt war. Sie war rot gekleidet, hatte Sandalen an den Füßen und auf dem Kopf einen Wulst wunderbarer goldgelber Flechten.

Unten, auf dem noch leeren Rand der Leinwand, stand, mit schwarzer Seide gestickt, der Titel:

Die Flucht nach Ägypten.

Mit vier kleinen Nägeln wurde der kleine Teppich an der Wand über dem Bett befestigt, der das ganze Zimmer zu beleuchten schien.

Die Oberdecke des Lagers, die wie Sackleinwand aussah, wurde als Teppich verwendet und auf der Erde ausgebreitet, und über dem Bettlaken ließ er nur die weiße Decke mit den Fransen, die ziemlich sauber war und die die Alte unter dem Kopfkissen zurückgeschlagen hatte.

*

Als alles in Ordnung war, trug der Schulmeister den Besen wieder zurück. Da hörte er ganz zufällig, wie die beiden häßliche Worte miteinander wechselten, als ob sie den ganzen Tag nichts anderes getan hätten. Er mußte darüber lachen. Als sie ihn bemerkten, schwiegen sie und der ältere erhob sich, um ihn mit Achtung zu begrüßen.

»Da bringe ich den Besen,« sagte er, indem er sich auf ihn stützte, »und vielen Dank. Ich danke auch für Ihre Kartoffeln, die mir ausgezeichnet geschmeckt haben.«

»Wir haben sie noch nicht versucht. Der Koch ist heute nicht bei guter Laune,« sagte er, indem er mit dem Kopf in der Richtung auf seinen Bruder zeigte.

»Das weiß ich. Gesuino, sind Sie böse auf mich? Sie haben recht, denn ich störe Sie zu oft und stehle Ihnen viel Zeit. Aber ich werde Ihnen auch einmal nützlich sein können. Wollen Sie heute Abend bei mir essen? Ich habe zwar nicht viel zu Hause, aber das Wenige werde ich ebenso zu vervielfältigen wissen, wie einst Jesus. Sie müssen mir aber den Wein verschaffen.«

»Wein haben wir,« sagte der Ältere, während der Bruder mürrisch und schweigend weiterarbeitete. »Er ist sehr leicht, aber gut.«

»Das macht nichts. Ich will guten Wein, der das Blut kräftigt. Wenn ich nicht irre, ist da an der Ecke ein Gasthaus. Wenn es Ihnen keine Mühe macht, so kaufen Sie für mich zwei Flaschen.«

»Jesus Maria! Sie wollen uns wohl in die andere Welt befördern!«

»Dann gehen wir zusammen,« sagte er und gab dem Manne das Geld für den Wein. »Was ist mit Ihnen, Gesuino? Antworten Sie bitte, kommen Sie, ja oder nein?«

»Aber ja!« brummte Gesuino, ohne sich umzudrehen.

»O, endlich haben wir den Klang Ihrer Stimme gehört. Und jetzt gehe ich, um das Bankett vorzubereiten.«

*

Die unerwartete Einladung brachte ihn durchaus nicht in Verlegenheit. Unter anderem hatte ihm die Alte einen ganzen Gebirgsschinken verkauft, Mehl, Konserven und Käse. Um keinen schlechten Eindruck zu machen, brauchte man nur guten Willen und Kochkenntnisse, und wenn es ihm an letzteren gebrach, so hatte er an ersterem Überfluß.

Er stellte also Wasser zum Kochen auf und holte inzwischen den Schinken herunter, der zum Schutze gegen Mäuse wie eine Lampe an einem Strick mitten im Zimmer hing. Er legte ihn auf den Tisch, betrachtete ihn und drehte ihn hin und her, um die Stelle ausfindig zu machen, wo er ihn am besten anschneiden konnte. Zuerst wollte er ihn rechts anschneiden, aber diese Stelle war, wie er entdeckte, sehr mager, und er brauchte das Fett aus mehreren Gründen. Also versuchte er es an der entgegengesetzten Stelle, und tatsächlich kam nach der ersten rauhen Salzschicht das Weiße und Rosa des Fettes und des Fleisches zum Vorschein.

Aber das Messer war faul und wollte nicht dünne Scheiben schneiden, weshalb er es an einem anderen kleinen Messer schärfte. Die beiden Klingen blitzten und knirschten in wildem Duell, aber mit Freude und Begeisterung. Und nun fuhr das große Messer, das über seinen Sieg strahlte, von neuem mit stiller Grausamkeit in den leidenden Schinken hinein, und jetzt gelang es, durchsichtige und breite Scheiben abzuschneiden. Der Schulmeister hielt sie gegen das Licht, wie die Zipfel eines wertvollen Stoffes. Das Fett sah wie weißer Samt, das Fleisch wie mahagonifarbener Damast aus.

Nachdem er diese Scheiben in einem Kranz auf einer runden Schüssel arrangiert hatte, schnitt er noch einige von der Fettseite herunter, und auf diesen unglücklichen Scheiben, die er durcheinander auf ein Brett geworfen hatte, wütete geräuschvoll das Messer, bis sie ganz zu Brei zerhackt waren. Der schon heiße Topf wurde an den Rand des Herdes gestellt, um einer schwarzen Pfanne Platz zu machen, in der sich das gehackte Fett befand, dem zum Troste ein wenig Butter, Zwiebeln und Knoblauch beigegeben waren. Und das Ganze begann zu schmoren und zu jammern, zuerst leise, dann laut, bis das Tomatenpuree der Konserve sein dickes Blut mit ihm mischte und den Schmerz in Freude zu wandeln schien.

Als das Wasser aufgehört hatte zu kochen, nahm der Schulmeister das große Nudelbrett herunter, das sauber und in seiner Nacktheit von weißem Holz fast jungfräulich war. Und indem er sich an die Handbewegungen der Frauen erinnerte, wenn sie den Teig anmachen, schüttete er einen kleinen Berg Mehl auf das Brett und machte in der Mitte mit dem Finger ein Loch, das wie der Krater eines Vulkans aussah. Ein Vulkan schien der kleine Mehlberg tatsächlich zu sein, als er in den Krater kochendes Wasser goß. Rauch stieg auf, der Hügel stürzte ein, und er griff mit seinen Händen hinein, als ob er ihn stützen und wieder aufrichten wollte.

Aber das Mehl entwischte nach allen Richtungen, und das Mehl, das sich bereits mit Wasser vermengt hatte, klebte an seinen Fingern, verächtlich und rachsüchtig. Binnen kurzem sahen seine Hände so aus, als wären sie mit Handschuhen aus weißem Linnen überzogen, und das Mehl, das in seiner Verzweiflung auch das Brett fluchtartig verließ, machte seine Kleider vorne ganz schmutzig.

Es war ein schwerer Augenblick. Er besah sich untröstlich seinen Rock, ohne es zu wagen, ihn mit seinen scheußlichen Fingern anzurühren. Als er sich dann erinnerte, daß er in seinem Leben vor nichts größere Angst hatte, befreite er ganz langsam eine Hand nach der anderen von der Teighülle. Dann sammelte er mit beiden Händen das außer Rand und Band geratene Heer des Mehls in der Mitte des Nudelbretts, goß noch Wasser hinzu und knetete mit seinen Fingern die aufrührerische Masse fest zusammen.

Und unter Seufzern, unter Anwendung von Gewalt, unter heftigen Schmerzen seiner rechten Handfläche wurde der zähe und holzige Teig elastisch. Er wurde ausgezogen und wieder zusammengeknetet, zusammengerollt und wieder auseinandergezogen, aber allmählich unterwarf er sich, wurde warm und schließlich rund und zart wie der Busen einer Frau.

Dann nahm er das kleine Messer wieder zur Hand und kratzte die Patina vom Brett ab, die noch dort zurückgeblieben war, schnitt eine Scheibe von dem Teig ab, rollte sie zusammen und zog sie zu einer langen weißen Schlange aus, die das Messer in kleine Stücke zu zerschneiden sich bemühte, als ob es sich tatsächlich um ein gefährliches Tier handelte. Diese kleinen Stückchen wurden dann mit dem Zeigefinger ausgehöhlt wie längliche Muscheln, und bildeten die Knödel. Und das in Reih und Glied auf dem Brett aufgestellte und mit einer Serviette zugedeckte Heer wartete darauf, daß der Topf kochte.

*

Zur festgesetzten Stunde kamen die beiden Gäste. Während der ältere die Wohnung des Schulmeisters betrat und ihm seine Hilfe anbot, ging der andere neugierig und argwöhnisch um den draußen unter den Bäumen gedeckten Tisch herum, indem er in der Luft herumschnupperte, wie um sich zu versichern, daß es keine vergifteten Speisen gab.

Das Rot des Schinkens, das Brot und der gelbe Wein, vor allem aber der Bratenduft, der aus der Küche kam, beruhigten ihn. Er setzte sich auf das Bänkchen vor dem Tisch und holte mit Gewalt aus seiner inneren Rocktasche einen kleinen gelben Käse hervor, der wie Elfenbein leuchtete. Er legte ihn vorsichtig neben die Schüssel mit dem Schinken, zwischen die beiden dickbäuchigen Türme der Flaschen, und betrachtete alle Dinge mit der Begeisterung eines Kunstfreundes, der vor einem schönen Gemälde steht. Aber als aus der Tür des Häuschens der Bruder trat, der in den Händen die Suppenschüssel mit den Knödeln andächtig, wie ein heiliges Gefäß trug, und hinter ihm der Schulmeister den Suppenschöpfer schwenkte, erhob er sich schnell und nahm eine stramme Haltung an, wie ein Soldat, wenn ein General vorbeikam.

*

Zu Anfang begleitete, wie immer in solchen Fällen, ein geheimnisvolles Schweigen das Essen der Drei, außer denen sich noch eine ganze Schar ungebetener Gäste eingefunden hatte, und zwar der Kater und die kleinen Kätzchen und der Hund der Bauern und die Hühner des Hauses. Diese Gesellschaft erinnerte den Schulmeister an ein anderes Haus, an eine andere Familie, und die Knödel kamen ihm hart vor.

Sie waren ein bißchen hart, aber der Saft, der mit viel Käse gemischt war, war wie ein feines und buntbemaltes Kleid, das sogar reife Frauen schön macht. Selbst Gesuino, dieser sogar mehr als die anderen, schwelgte im Genusse und verschlang einen Knödel nach dem anderen, nachdem er sie wie Süßigkeiten ausgelutscht hatte. Und während die Gabel den einen aufspießte, nahm er schon einen anderen aufs Korn, bis die Schüssel leer war, langte dann nach einem Stück Brot, um endgültig aufzuräumen, aber der Gastgeber war zur Stelle und sorgte für reichlichen Nachschub.

Gesuino seufzte vor lauter Glückseligkeit, ergriff die Gabel mit einer resignierenden Bewegung und begann von neuem zu arbeiten. Aber jetzt erst kam ihm zum Bewußtsein, was um ihn herum vorging, und weil der Hund ihn scharf ansah, indem er den Schwanz just so bewegte wie einen flehentlich bittenden Finger, warf er ihm einen Knödel hin. Aber der Kater war flinker und schnappte ihm den Bissen vor der Nase weg.

*

Der andere Bruder aß mit mehr Durchtriebenheit, indem er sein Gefühl des Behagens verbarg. Aber seine Augen ruhten lächelnd auf den beiden Flaschen. und als der Schulmeister die beiden ersten Becher gefüllt hatte und in seinen Wein Wasser goß, das weder Farbe noch Gehalt hat, bekamen diese Augen einen Glanz, der zwischen Freude und Mitleid schwankte. Mitleid des Wassers wegen, Freude, weil er hoffen durfte, daß die Flaschen ausschließlich zur Verfügung der Gäste waren. Aber die Güte des Weins siegte über seinen Egoismus.

»Und Sie trinken nicht?«

»Ich trinke nicht. Der Arzt hat es mir verboten.«

Diese Worte wurden wie eine schreckliche Neuigkeit aufgenommen. Selbst der schweigsame Gesuino hob die Gabel wie einen drohenden Dreizack.

»Der Teufel soll die Ärzte und die Medizinen holen!«

So begann ihre Unterhaltung.

»Eines Tages verbot mir der Arzt auch, Wein zu trinken, weder Fleisch, noch Teigsachen und Bohnen zu essen. Meine Frau, die eine Frau war, wie man selten eine findet, sagte dem Doktor nichts, aber wie er draußen war, sagte sie zu mir: Proto, mach dein Testament und empfiehl deine Seele Gott.«

»Jetzt erinnere ich mich,« schrie Gesuino. »Und deine Frau hörte sofort auf, die Bohnen zu kochen, und ging zum Kaufmann und kaufte Wein. Am nächsten Tage fühltest du dich besser.«

»Also dann trinkt auf das Wohl des Doktors.«

»Ein andermal ...«

Es würde zu weit führen, wollte man alle Lebensgefahren wiedererzählen, denen Proto entronnen war, weil er des Doktors Rat nicht befolgt hatte, bis schließlich Gesuino eine schöne Geschichte erzählte.

»Eines Tages habe ich mir den Fuß verstaucht. Protos Frau rührte ein Ei und Öl durcheinander und schmierte mir das Schienenbein damit ein, worauf sie es tüchtig verband. In drei Tagen war ich geheilt. Aber ich wette, wenn wir einen Arzt gerufen hätten, hätte man mir den Fuß abnehmen müssen.«

Der Schulmeister lächelte liebenswürdig. Hierauf sprach man von heitereren Dingen.

Man sprach auch von Mitteln, um die Ameisen zu vertreiben, und wie man die Bohnen und Erbsen, die man als Samen verwenden will, auf der Pflanze lassen muß, bis sie völlig trocken sind. Aber erst gegen Schluß des Mahls, als der schöne runde Käse in Scheiben geschnitten wurde und vor Schmerz zu schwitzen schien, aber dann den Gästen vortrefflich mundete, nahm die Unterhaltung eine ernste Wendung an.

Es war Gesuino, der die Frage aufwarf, warum selbst der ruhigste Mensch sich fortwährend neue Sorgen macht.

Sein Gesicht, das unter einem Kranze roter Löckchen hervorlugte, hatte eine lebhafte gelbe Farbe angenommen, und die bläulichen, von Tränen verschleierten Augen leuchteten. Da die beiden anderen ihn ein bißchen unsicher ansahen, schlug er mit der offenen Hand auf den Tisch und wies mit dem Kopfe nach der Villa.

»Zum Teufel noch einmal, sage ich, warum hat sich dieses verdammte Volk, dem doch nichts gefehlt hat, so unglücklich gemacht?«

Proto sah den Schulmeister an, gab ihm mit den Augen einen Wink, er solle die Einfältigkeit seines Bruders entschuldigen, worauf er sofort die Gründe der Tragödie philosophisch zu erklären begann.

»Weil sie alle so verrückt waren, daß man sie hätte binden sollen.«

Und er machte seinerseits einen Angriff auf die zweite Flasche.

»Ja,« fragte der Schulmeister, »wie ist die Geschichte eigentlich gewesen?«

»Die Geschichte fängt so an, daß es ihnen, dem Vater und den Kindern zu gut ging. Aber der Alte saß auf dem Geld, während die Kinder sich amüsieren wollten. Daraus entstanden ewige Streitereien, bis die Kinder den Vater umbrachten.«

»Verrückt?« sagte Gesuino nachdenklich, der bereits durch die Erklärung seines Bruders gereizt war. »Scheußlich waren sie. Gott hat sie gezüchtigt.«

»Gott! Aber welcher Gott? Gott mischt sich nicht in solche Geschichten, sonst würde er selbst so scheußlich sein.«

Gesuino wurde blau im Gesicht.

»Du sprichst so, weil du keine Religion hast.«

»Vielleicht habe ich mehr Religion als du, wenn du es hören willst.«

Und schon schien eine ihrer üblichen Streitereien auszubrechen, als sich der Schulmeister ins Mittel legte:

»Fest steht, daß der Mensch die Aufregung nötig hat. So beginnt es, kaum daß wir auf der Welt sind. Das Leben ist Bewegung, und auch die Sterne und das Meer stehen nie still. Aber Gott hat dem Menschen Urteilskraft gegeben, und es liegt am Menschen, seine Handlungsfähigkeit in die Bahn des Guten zu lenken. Arbeiten und in Frieden leben mit sich und den anderen. Das kann ein jeder tun, wenn er will.«

»Wenn er will, wenn er will! Aber es gelingt uns nicht,« erwiderte Gesuino. »Und dann sind es immer die anderen, die herausfordern.«

»Wer? Ich?« sagte Proto, indem er auffuhr. »Aber ich bin doch der friedliebendste Mensch der Welt.«

»Jetzt handelt es sich nicht um euch beide,« fuhr der Schulmeister fort, indem er ihre Becher füllte. »O ja, auch um euch. Ihr habt euch gern, obwohl ihr euch immer herumzankt. Warum eigentlich?«

»Er ist schuld, er ist schuld,« rief Gesuino aus und zeigte mit dem Finger, auf seinen Bruder. »Er findet alles schlecht, was ich tue, er kritisiert alles, oder was noch schlimmer ist, er verspottet es. Mich behandelt er überhaupt wie ein kleines Kind, oder wie einen Narren, weil er sich für mehr hält als ich. Hingegen....

»Und Sie halten sich für mehr als er. Wir sind alle gleich! Tatsache ist, daß wir die göttlichen Gesetze vergessen haben. Erniedrige dich, so wirst du erhöht werden. Und dann haben wir die Zehn Gebote vergessen. Ich wette, daß nicht einmal Gesuino sie auswendig kennt. Von Ihnen, Proto, nicht zu reden.«

»Ich nicht, bestimmt nicht,« antwortete Proto mit einem leisen verächtlichen Lächeln, das weder ihm noch dem Schulmeister, sondern dem Bruder galt. Und dieser bemerkte dieses Lächeln und fühlte, wie ihm die Galle aufstieg, aber er tat sich Gewalt an, beherrschte sich und gestand zerknirscht ein, daß er sich an die Zehn Gebote auch nicht mehr gut erinnerte.

Da holte der Schulmeister aus der Tasche seine Pfeife heraus, und als Proto seinem Beispiele folgte, bot er ihm Tabak an.

Gesuino rauchte nicht.

»Ich habe keine Laster,« sagte er ein wenig verächtlich. Indessen zog er die Flasche ganz langsam zu sich hinüber, und, indem er sich die Überschwänglichkeit der beiden anderen zunutze machte, fuhr er zu trinken fort. Aber der Schulmeister sah alles und erinnerte sich der Versicherungen Margas, daß Antonio keine Laster habe. Und während Proto zwischen dem einen Ausspucken und dem anderen nicht aufhörte zu philosophieren, rauchte er kräftig und blickte zum Himmel auf, der schon mit dem silbernen Schleier der Abendröte überzogen war, und wurde ganz verwirrt vor Schmerz und Freude.

*

Die zweite Nacht war viel ruhiger. Er fühlte, daß er in dieser Umgebung von Traurigkeit und Verfluchtsein nicht mehr allein und sein Tagewerk nicht umsonst war. Die beiden Brüder waren vergnügt und schließlich in voller Eintracht weggegangen, nachdem der ältere ihm geholfen hatte, die Sachen auf ihren Platz in die Küche zurückzutragen. Auch der Hund wedelte mit dem Schwanze, indem er ihn anblickte, und der Kater hatte eine lautlose Forschungsrundreise durch das Zimmer gemacht, während die kleinen Katzen miteinander unter dem Tische spielten. Er hatte das Gefühl, sich eine neue Familie gegründet zu haben und erhoffte von der Zeit große Hilfe.

Als er am nächsten Morgen zeitlich erwachte, fühlte er bereits, daß in seinem Fleische und in seinem Geiste eine Erneuerung sich vollzog. Er sprang behend und voll Mut aus dem Bett. Er hatte keine Furcht mehr, seinesgleichen zu begegnen. Dann beschloß er auszugehen, um Einkäufe zu machen, und machte sich fein, wie wenn er mit Ola spazieren ginge. Er schlug den Weg durch ihre Allee ein, und glaubte ihre lautlosen Schrittchen auf dem frischen Grase in der frischen Seeluft zu hören.

Aber sein neues Leid milderte sich und verlor an Schärfe. Er bemühte sich zu glauben, daß Ola gewachsen wäre. Sie war kein Kind mehr, sie war gewachsen, hatte sich von ihm losgerissen, wie sich Tag für Tag auch die Kinder immer mehr von ihren Eltern losreißen.

Auf dem Marktplatz sahen ihn die Marktweiber ebenso an, wie am ersten Morgen nach seiner Ankunft. Allein, ohne Ola, schien er auch ihnen ein anderer Mensch zu sein. Eine von ihnen, bei der er mehrere Male Obst für die Kleine gekauft hatte, fragte ihn nach ihr.

»Sie ist mit ihrer Mutter weggefahren.«

»Ja, auch Ornella sieht man seit zwei Tagen nicht. Zum Teufel, wo ist die hingegangen?«

Er antwortete nicht, da er eifrig bemüht war, ein bißchen Obst auszusuchen. Die Frau verkaufte auch die kleinen Käschen, wie Gesuino eines mitgebracht hatte, und er kaufte gleich einen tüchtigen Vorrat ein. Dann ging er zum Bäcker.

Der Bäcker war ein Freund von Antonio.

»Also heute kommt er zurück, unser Bursche,« sagte er zum Schulmeister, während er das Brot wiegte, das noch nach dem Backofen roch. »Mir hat er eine Karte geschickt, mit einer schönen Frau,« fügte er blinzelnd hinzu.

Der Schulmeister nahm das in Seidenpapier eingewickelte Brot und fühlte seine Wärme wie die eines lebenden Wesens.

Ah, also Antonio war noch nicht zurück. Das erklärte die Ruhe dieser beiden Tage. Und er hatte sich Gewissensbisse gemacht, das Haus allein in der Obhut Ornellas gelassen zu haben. Aber das war nicht mehr zu ändern. Als er wieder in seiner Wohnung war, begann sein Leben wieder. Im Hintergrunde aber wartete etwas Neues und diese Erwartung verwirrte ihn aufs neue. Um die Mittagszeit bekam er Angst. Vielleicht war das Wetter schuld daran, denn der Himmel hatte sich verdunkelt und vom aufgeregten Meere her stieg ein Gewitter auf. Blitze auf Blitze fuhren über den Himmel, wie von Wind gejagte Flammen, und erleuchteten die Fenster, die vor Angst zu zittern schienen.

Auch er empfand eine unbestimmbare Furcht, als er sich in sein Zimmer eingeschlossen hatte. Das Blut stieg ihm stürmisch zu Kopfe und eine fürchterliche Vorahnung von einem schrecklichen Ereignis, das sich in diesen Augenblicken abspielte, beherrschte ihn ganz.

Ein dünner Regenschleier verfinsterte plötzlich die unheimliche Helligkeit der Luft. Der Wind und die Blitze ließen nach, die unbeweglichen Bäume schienen sich dem Wasser mit eifersüchtiger Gier darzubieten, und das Wasser blieb auf den Blättern haften und wurde eins mit ihnen.

Es begann von neuem mit größerer Heftigkeit zu blitzen. Der Regen hörte auf, als ob er Angst hätte, und der Wind fand grausamen Gefallen daran, das Wasser von den Bäumen zu schütteln, bis sich zwischen den Bäumen ein Auge des Himmels öffnete und beobachtete, was auf der Erde vorging. Da warf auch die Sonne den grauen Wolkenmantel ab und Donner, Blitz und Sturm traten ihrerseits den Rückzug an.

Es wurde wieder heiter, wie es war, nur der Mensch verstummte nicht, als ob das Ungewitter bei ihm Zuflucht gesucht hätte.

Und als er am Abend wie gewöhnlich seinen Rundgang um die Villa machte, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung war, sah er eine Gestalt, die sich mit ausgebreiteten Armen auf das Gitter stützte, als wäre sie ans Kreuz geschlagen worden. Er konnte sie nicht sofort erkennen, aber er fühlte sofort, daß es Ornella war. Er dachte daran sich zu verstecken, aber sie schien schon lange dort zu stehen und entschlossen zu sein, bis in alle Ewigkeit auf ihn zu warten. Ihre rötlich schimmernde Figur in der Leere des farblosen Hintergrundes erinnerte ihn an jene andere. Er bekam Furcht und kam näher.

»Was willst du?« fragte er rauh.

Sie hingegen antwortete ruhig:

»Öffnen Sie.«

»Was willst du?«

Er war entschlossen nicht zu öffnen, denn noch einmal spürte er ihren Geruch und ihre animalische Wärme. Er hatte den Eindruck, daß ein schädliches Tier, eine große, wildgewordene Katze, die sich ruhig stellte, um in das Haus eindringen zu können, das Gitter mit den Krallen packte. Und er erinnerte sich der Worte Olas:

»Der Meerkater existiert. Ich habe ihn gehört.«

»Ich muß mit Ihnen sprechen,« sagte sie und fixierte ihn mit ihren grünen, bösen Augen.

»Du kannst hier auch sprechen, ich höre dir zu.«

»Nun gut,« rief sie da frech, »desto schlimmer für Sie, wenn man mich hört. Ihr Sohn ist heute zurückgekommen, und als er Ihren Brief gelesen hatte, hat er mich aus dem Haus geschickt. Und da ich nicht gehen wollte, hat er mich geschlagen und hinausgeworfen und hat mir gedroht, mich totzuschlagen. Da sind noch die Flecke auf den Armen und auf den Schultern. Und ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Sie müssen jetzt zu ihm gehen und ihm sagen, daß er für mich sorgt. Sonst ...

»Sonst?«

»Sonst geschieht etwas. Ich bin wie ein wildes Tier, verstanden? Ich bin zu allem fähig. Zu allem!« schrie sie, indem sie an dem Gitter wütend rüttelte und ihre Augen funkelten wie die einer gefangenen Tigerin.

Er dachte an Ola. Ornella war imstande, sich an ihr zu rächen. Da hatte er das Gefühl, als befände er sich angesichts des Todes, an der Schwelle zwischen dem furchtbaren Mysterium des Lebens, das nur aus Irrtümern, Schmerz und Buße besteht, und dem noch furchtbareren Mysterium des Jenseits, weil es unerklärlich ist.

Er öffnete das Gitter und ließ das Mädchen eintreten.

Diese Handlungsweise schien sie wenn auch nicht zu beruhigen, so doch weicher zu stimmen. Ohne weiter ein Wort zu sprechen, folgte sie ihm bis ins Zimmer und ließ sich dort, am Ende ihrer Kräfte angelangt, auf einem Stuhl nieder, den er ihr hinschob.

Beim Schein des kleinen Lichtes, das auf dem Tische stand, entdeckte er, daß ihr Gesicht ganz verzerrt und plötzlich gealtert war. Auch die Haare sahen wie versengt aus, und auf dem weißen Hals hatte sie blutunterlaufene Stellen, die von den erlittenen Mißhandlungen herrührten. Da er wußte, daß das Sprechen das wirksamste Mittel ist, um einer Frau Luft zu schaffen, fragte er:

»Erzähl, was passiert ist.«

Aber Ornella war nicht wie andere Frauen. Sie konnte dem Schmerz keinen anderen Ausdruck geben als durch Schreie, wie die niederen Wesen. Und in der Tat neigte sie den Kopf, biß sich in den Arm und begann unter wilden Schreien zu ächzen und zu stöhnen. Er hatte das Gefühl, wirklich vor einem verwundeten Tier zu stehen. Worte waren unnütz, man mußte ein anderes Mittel ausfindig machen, um ihr zu helfen.

»Schrei nicht, Ornella. Jetzt ist es geschehen. Er hat dich in einem Wutanfall geschlagen, aber er wird es bereuen und sicher für dich sorgen. Das laß nur meine Sorge sein. Ich werde ihm das schon klarmachen. Jetzt nimm etwas zu dir. Willst du essen? Willst du ein bißchen Wein? Es hat keinen Zweck, weiter zu schreien, Ornella. Du wirst sehen, daß alles gut wird. Sag mir lieber,« sagte er mit feiner und gemacht schlichter Stimme zu ihr, »hast du eigentlich keinen Menschen, zu dem du gehen kannst?«

Sie hatte einige Verwandte in der Gegend, aber sie wollte nicht zu ihnen gehen. Sie wollte in das warme Nest zurück, aus dem sie verjagt worden war, wie eine Krähe aus dem Taubenschlag. Die Unmöglichkeit der Rückkehr steigerte ihre Verzweiflung.

Nichtsdestoweniger schien sie die Gastfreundschaft, die er ihr für diese Nacht anbot, – er hatte ja noch oben auf dem Dachboden ein zweites reines Bett – zu beruhigen. Sie schluchzte lange, warf ihren Kopf auf dem Arm hin und her, und erst als sie müde war, hob sie ihr rotes Gesicht und sagte mit rauher Stimme:

»Können Sie nicht sofort zu Ihrem Sohn gehen und mit ihm reden?«

»Das ist zu bald. Siehst du nicht ein, daß er auch noch ganz wütend sein wird?«

Sie verbarg wieder ihr Gesicht, hob es nochmals und starrte von neuem mit ihren wilden, haß- und wuterfüllten Augen die des Schulmeisters an.

»Können Sie nicht wieder bei ihnen wohnen? Das ist das einzige, was ihn beruhigen würde.«

»Auch das werden wir tun, wenn es nötig ist,« sagte er furchtsam. Dann ging er hinaus, weil er erstickte. Als er an das Fenster trat, sah er, wie Ornella den Wein austrank, den er ihr eingegossen hatte. Das würde sie vielleicht beruhigen. Wer sich aber nicht beruhigen konnte, war er.

Er machte von neuem den Rundgang um die Villa. Er war nie abergläubisch gewesen und wollte es nicht werden. Und doch schien ihm, daß er durch den verdammten Einfluß, der von diesem toten Hause wie von einer Leiche ausging, aus dem Gleichgewicht gebracht worden wäre.

Sein Instinkt riet ihm zu fliehen, weit weg, wo das Übel der anderen ihm nichts anhaben konnte. Er lehnte sich sogar gegen Gott auf, und auch gegen sein Gewissen. Was wollte man von ihm? Hatte er nicht alles hergegeben?

Er setzte sich an den Marmortisch, wo er mit den Bauern gespeist hatte, und er vermeinte, das Echo seiner Worte zu hören. In dem Maße, als sich der Aufruhr seines Blutes legte, kehrte die Klarheit seiner Gedanken und die Selbsterkenntnis zurück. Und ein klares kaltes Licht, wie das des Mondes, erfüllte ihn, und der Schatten der Dinge, der lebendiger ist als die Dinge selbst. Alles war jetzt ruhig und fest, wie in der ewigen Ruhe des Todes.

»Ich muß auch auf mich selbst verzichten,« dachte er. Und er beschloß, Ornella bei sich zu behalten, sich des Kindes anzunehmen. Er mußte um dieses Kindes willen kämpfen, vor allem gegen die brutale Gewalt der Frau selbst, und dann gegen andere Widerwärtigkeiten. Aber gerade der Gedanke an den Kampf flößte ihm neuen Mut ein.

»Mut, Mut!« sagte er leise, indem er mit seinem Schatten sprach, »Gott wird uns helfen.«

Und er erhob sich und ging auf die Hecke zu, da er ein Geräusch gehört zu haben glaubte. Alles war ruhig unter dem Mond und von einer phantastischen Farbe. Einige Blätter, durch die das Mondlicht hindurchbrach, schienen aus vergoldetem Glas, einige aus Alabaster zu sein.

Der Hund der Bauern begann zu bellen. Gesuinos Stimme rief ihn zurück und er wußte nicht, warum auch der Schulmeister rief:

»O, Gesuino!«

Gesuino antwortete nicht, aber er näherte sich der Hecke, wo diese ein Loch hatte, das nur von einem Ast verdeckt wurde und durch das die Bauern mit dem Wächter des Hauses in Verbindung standen. Auch der Schulmeister ging auf die Hecke zu. Sie waren wie zwei Kundschafter in unbekanntem Terrain, die sich durch das Dickicht des Waldes hindurch hörten und sich zu treffen suchten.

Sie trafen sich tatsächlich vor dem Loch. Der schwarze durchsichtige Ast trennte sie noch, aber sie konnten sich schon sehen und miteinander sprechen.

Gesuino war ohne Hut. Seine rötlichen Locken schienen aus trockenem Gras zu sein, und das Weiße der Augen leuchtete wie Porzellan.

Hinterher folgte der Hund mit seinem langen Schatten. Er war unruhig und biß sich heulend unter dem Schenkel, als ob er Flöhe hätte, aber als er seinen Herrn sprechen hörte, hob er den Kopf.

*

»Ist jemand bei Ihnen?« fragte Gesuino. »Der Hund bellt in der Richtung auf Ihr Haus.«

Eine Sekunde Schweigen. Der Schulmeister hatte die Empfindung, als ob ein großer Fittich über die Einsamkeit des Firmamentes strich und die toten Dinge zu neuem Leben erweckte. Das war die Hilfe, die er von Gott erwartete.

»Es ist eine Frau bei mir,« sagte er mit ruhiger Stimme. »Eine Unglückliche, die nicht weiß, wohin sie sich wenden soll, und die hier Schutz sucht, wie ein verwundeter Vogel.«

Aber der Vergleich machte keinen Eindruck auf Gesuino.

»Kennen Sie sie?«

»Ja, ich kenne sie. Sie ist die die Magd, die bei meinem Sohn Antonio war.«

Gesuino, der selten seinen Acker verließ und sich um andere Leute und ihre Geschichten nicht kümmerte, kannte weder Antonio noch seine Magd. Aber sein instinktives Mißtrauen enthüllte ihm undeutlich das Drama dieser Leute.

»Hat Ihr Sohn eine Frau?«

»Ja, Frau und Tochter.«

»Und diese Magd hat man also aus dem Haus gejagt? Warum?«

Der Schulmeister fühlte, daß er einem Verhör unterzogen wurde. Das war recht. Der Mensch ist der Richter des Menschen.

»Mein Sohn hat sie wirklich weggejagt, weil Frau und Tochter verreist sind. Und er hat sie weggejagt, weil sie schwanger ist.«

»Bravo! Und Sie nehmen sie bei sich auf?«

»Gesuino,« sagte da der Schulmeister, indem er sich an der Hecke festhielt, »ich bitte Sie nicht schlecht zu denken. Sie sind ein frommer und gewissenhafter Mann und müssen mir vielmehr helfen und raten. Was soll ich tun? Das Mädchen ist ganz verzweifelt. Sie kann sich und anderen Leuten Schlechtes zufügen. Sicher macht es mir kein Vergnügen, das Mädchen bei mir im Hause zu haben, ich habe im Gegenteil Angst, die Nacht mit ihr zu verbringen. Was soll ich tun?«

Auch Gesuino hielt sich an der Hecke fest. Sein Verstand war in Verwirrung geraten.

»Wir wollen Proto fragen. Er ist ein Mann von Welt und wird etwas sagen können.«

»Nein, nein, Sie sollen mir raten, nach bestem Wissen und Gewissen.«

»Aber von wem ist sie schwanger?«

»Das weiß ich nicht, das tut auch nichts zur Sache. Hauptsache ist, daß man auf das Mädchen achtgibt, damit sie keine Dummheiten macht, daß man ihr hilft und daß man ihre Angelegenheiten in Ordnung bringt.«

»Mein Bruder Proto würde sagen, man soll sie nicht hindern sich aufzuhängen. Diese Weiber amüsieren sich zuerst und dann bringen sie die Männer in die größte Verlegenheit.«

»Das ist wahr, aber Jesus hat seine Hand auch der Maria Magdalena entgegengestreckt. Lassen wir Proto in Ruhe, Gesuino, und raten Sie mir.«

Der andere verstand sich nur sehr schwer dazu, einen Rat zu geben. Er setzte vielmehr die Untersuchung fort.

»Ist sie nicht am Ende von Ihrem Sohn schwanger?«

»Das weiß ich nicht. Aber selbst zugegeben, daß er sie geschwängert hat, ist doch Tatsache, daß er sie aus dem Hause gejagt hat, und ich würde daher doppelt verpflichtet sein, sie und ihr Kind zu retten.«

»So ein Schwein!« murmelte Gesuino. Und der Schulmeister verteidigte Antonio nicht, sondern sagte:

»Die Menschen tun Böses, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen. Es ist Pflicht der Menschen von Gewissen, dagegen Abhilfe zu schaffen. Wenn der Fluß über die Ufer tritt, wer trägt die Schuld? Aber die Menschen bauen Dämme und das Unheil ist wiedergutgemacht. Das ist auch unsere Pflicht.«

Gesuino senkte den Kopf so, daß der Mond seine Haare beschien wie ein Stoppelfeld. Auch er blickte sich um und schien seinen Schatten zu befragen, der sich in der Hecke versteckt hatte. Es entstand ein langes Schweigen, bis der Hund bellte, mit der Schnauze in der Luft, um die Nachbarn weit und breit zu verständigen, daß man wachte und bereit war, alle Anschläge zu vereiteln. Da hob auch der Bauer sein Gesicht und sagte:

»Sie sind ein anständiger Mensch. Ich bin sicher, daß auch mein Bruder Proto Ihnen helfen wird. Was sollen wir tun?«

»Inzwischen dürfen Sie aber keiner Menschenseele sagen, daß das Mädchen hier ist. Es ist besser, damit kein Geschwätz entsteht. Übrigens, wenn Sie sie sehen, machen Sie keine Anspielung auf ihren Zustand und tun Sie nicht erstaunt. Ich kann es mir leisten, mir eine Magd zu halten, so wie früher. Es ist ja wahr,« fügte er sarkastisch hinzu, »daß wir nicht in demselben Zimmer schliefen, aber es ist schließlich dasselbe. Übrigens, wenn ich gezwungen sein werde auszugehen, um mich mit ihren Angelegenheiten zu beschäftigen und sie in Ordnung zu bringen, müssen Sie auf sie und das Haus achtgeben. Ist das zu viel verlangt?«

»Aber nein!« rief der andere aus, indem er die Achseln zuckte. Und er war wieder der finstere Mensch von früher.

*

Auch die kurze und ruhige Juninacht kam dem Schulmeister zustatten. Nachdem er sich mit dem anderen Bauern besprochen hatte, der sofort alles begriff und keine Bemerkungen machte, kehrte er zurück und machte noch einmal die Runde um den Garten und das Haus. Alles war ruhig, und auch die Marmortische und kühlen Bänkchen, die im Schatten des Mondlichts dalagen, schienen ihn aufzufordern, sich auszustrecken und einen Teil seines Leids dort zu lassen. Aber sein Leid, das er im Inneren fühlte und auf das er sich stützte wie auf einen Stab, wollte er niemandem abtreten.

Das Licht brannte noch im Zimmer. Das Mädchen hatte sich auf das Lager im Dachboden gelegt, nachdem sie ihre roten kotigen Halbschuhe, die sie nur zu Hause trug und in denen sie unter den Schlägen Antonios geflohen war, unter die kleine Treppe gestellt hatte.

Der Schulmeister betrachtete die Halbschuhe unbeweglich, in der festen Einbildung, daß sie sich bewegen und zu sprechen anfangen müßten. Sie enthüllten ihm tatsächlich die Heftigkeit der Szene, die sich zwischen diesen beiden abgespielt hatte. Der Mann mußte wütend gewesen sein wie ein wildes Tier, wenn Ornella in diesem Zustand davongelaufen war. Trotzdem mißfielen ihm diese Spuren nicht, vielleicht bedeuteten sie die Auflehnung Antonios gegen seine eigenen perversen Instinkte. Und indem er das Mädchen mißhandelte, hatte er auch sein eigenes Gewissen getroffen.

Oder war das alles nur Einbildung? Auf jeden Fall fühlte er sich einigermaßen ruhig, ging zu Bett, löschte das Licht aus und schloß die Augen. Und er hatte das Gefühl, einen langen Weg zurückgelegt zu haben und sich endlich ausruhen zu können.

Und wieder ertönte der Klang einer Orgel in dem Kristalltempel des Meeres und ein Lied, das die Nacht erhellte:

Der Seemann auf den Wellen
Ruft dich, o Herr ...

Ola spielte auf der Wiese, eine Blume zwischen Blumen, mit einem Armband aus Binsen, und hielt in der kleinen geschmeidigen Faust irgend etwas, was sie dem Großvater zeigen wollte.

»Großvater, mach die Augen zu und die Hand auf.«

Er öffnete die Hand, dann öffnete er die Augen wieder, um zu sehen, ob tatsächlich irgend etwas da war. Ein dünner Lichtstreifen drang durch das Fenster und fiel direkt auf die offene Handfläche, die er durch ein Lichtmal kennzeichnete. War das auch Täuschung? Jedenfalls schloß er die Augen sofort und ballte die Faust fest zusammen, in der er diese Freudenperle hielt.

*

Ornella erhob sich früher als er beim Morgengrauen. Er hörte, wie sie sich vorsichtig bewegte, um ihn nicht zu wecken, wie sie dann die Treppe lautlos herunterkam, die Halbschuhe anzog und hinausging, indem sie die Tür leise anlehnte.

Diese Art beruhigte ihn. Er erhob sich gleichfalls und als er das Fenster öffnete, sah er, daß sie sich mit dem Zipfel ihres Unterrockes abtrocknete, nachdem sie sich am Brunnen gewaschen hatte. Sie drehte ihm den Rücken zu. Ihre Linien waren immer dieselben, kräftig, der Rücken war gefurcht und die Arme standen ab wie zwei mächtige Äste. Aber dieses unnatürliche Übermaß ihrer Glieder bereitete ihm keine Angst mehr. Sie stand jetzt vor ihm, in seiner Gewalt, wie der wilde Baum vor seinem Pflanzer.

Als sie seine Gegenwart spürte, nahm sie zuerst aus Instinkt die alte Miene wieder an. Sie tat so, als ob sie ihn nicht sähe. Sie kehrte um den Brunnen herum aus und ging dann zu den Hühnern. Aber als er sie rief, kam sie herbeigelaufen, mit gesenktem Kopf, demütig und traurig.

»Ornella,« sagte er mit väterlicher Stimme, »du kennst dich in der Wirtschaft besser aus als ich. Bereite den Kaffee zu und mach hier ein bißchen Ordnung. Ich gehe inzwischen zu den Bauern, mit denen ich sprechen muß, und dann in die Stadt. Hier ist der Kaffee, hier die Kaffeemaschine.«

Sie folgte ihm gelehrig. Der Gedanke, daß er jetzt vielleicht ausging, um Antonio zu suchen und eine Versöhnung zu versuchen, erweckte in ihr ein Gefühl von Hoffnung und Güte. Mit einem Blicke beherrschte sie das ganze Zimmer und erfaßte sofort, was zu tun war. Sie bückte sich und nahm die Kohle mit der Hand, legte sie in den Herd und zündete darunter ein Stückchen Papier an. Im Nu brannte das Feuer, während der Schulmeister, wenn die Glut in der Asche ausgegangen war, lange brauchte, bevor ihm dieses Wunder gelang.

Auch der Kaffee schien sich unter Ornellas Blick von allein zu machen, und er fand ihn vortrefflich. Mit dem guten aromatischen Geschmack im Munde begab er sich zu den Bauern, um sie zu verständigen, daß er ausging. Auch Gesuino wusch sich am Brunnen, ohne Hemd, die behaarte Brust, die von kleinen Wassertropfen funkelte, während Proto schon an der Arbeit war und den Stiel einer Schaufel ausbesserte.

Die beiden Brüder unterhielten sich bereits über den Fall Ornella. Gesuino brummte ein paar grobe Worte, die gegen sie und die Frauen im allgemeinen gerichtet waren. Proto, nur um ihm zu widersprechen, schimpfte auf die Gemeinheit der Männer, die sie verführten. Aber die Morgenluft und die langen Strahlen der Sonne, die noch niedrig über dem Meere stand, machten die unnützen Worte der Menschen zunichte.

*

Der Schulmeister ging wieder auf der Straße, die ihm nunmehr die Straße seines Lebens zu sein schien. Man geht, man kommt, man glaubt, daß man nicht wieder so wie früher werden könne, daß man die ganze Vergangenheit hinter sich lasse, aber alles fängt wieder von vorn an und man geht, man geht immer auf seinen eigenen Spuren, denen unser Schatten vorausgeht oder folgt.

»Aber es ist Zeit zu handeln und sophieren«, sagte der Schulmeister zu sich selbst, dann lächelte er in der Einbildung, daß sein Gesicht die blauen Furchen des gekräuselten Meeres widerspiegelte. »Und kann man wissen, wohin ich gehe? Zu Antonio? Was kann Antonio tun? Welches Mittel kann er finden? Jetzt weiß man ganz genau, um was für ein Übel es sich handelt, und es liegt an mir, dafür zu sorgen, daß es sich nicht ausbreitet.«

Trotzdem ging er, und Olas leuchtendes Bild begleitete ihn wie der Engel des blinden Tobias. Mehr als einmal bückte er sich aus Instinkt, um zwischen den vergoldeten Furchen des Weges ein Blatt oder ein Blümchen zu pflücken, wie sie tat. Und er sah sich als Kind wieder, wenn er in seiner Heimat auf die Suche nach heilkräftigen Kräutern ging.

*

Er ging eine Straße nach der anderen ab, die er bereits kannte. Antonio war nicht zu Hause. Die Bäuerin, die augenblicklich die Obliegenheiten einer Magd versah, musterte ihn boshaft und fragte ihn, ob er eine gute Reise gehabt habe. Er antwortete nicht, er zögerte vielmehr, sich mit dem Hund abzugeben, der ihn stürmisch begrüßte und ihm bis zum Gitter folgte.

»Nein, gut, jetzt nicht«, sagte er, da er sich mit dem Tier besser verstand als mit der Frau. »Du mußt zu Hause bleiben, weil niemand da ist. Wenn Ola zurückkommt, nehme ich euch beide mit, ja?«

Der Hund legte die Ohren an zum Zeichen des Einverständnisses, und sobald der Schulmeister draußen war und das Gitter hinter sich zugemacht hatte, bellte er in die Luft, um zu verkünden, daß er hier war, um seine Pflicht zu erfüllen. Der Mann entfernte sich, um gleichfalls seinen Pflichten nachzugehen, aber ihm schien daß er ins Blaue hinein handelte, wie der Hund. Und er schlug die Straße ein, die zur Mole führte, dann ging er in der Richtung auf den Fischmarkt. Antonio war nicht zu sehen und er war fast froh, ihm nicht zu begegnen. Dennoch setzte er seine Bemühungen fort. Er ging die ganze Straße längs des Kanals ab, bog nach links ein und betrat das Herz der Stadt. Von Antonio keine Spur. Aber in der Ecke des Platzes, zwischen dem Bäckerladen und dem Weingeschäft, wo der Bürgersteig mit kleinen Tischen und Sesseln möbliert und mit Vasen mit grünem Laub geschmückt war, schwatzte eine Gruppe seiner Freunde und beobachtete die Vorbeigehenden. Der Schulmeister wurde sofort aufs Korn genommen. Er wollte umkehren und sich an der Straßenbiegung verstecken, aber jetzt hatte er sich ganz in der Gewalt. Er ging weiter, grüßte, wer ihn grüßte, setzte seinen Weg fort.

Die Marktweiber sprachen ihn an. Bei jener, bei der er gewöhnlich einkaufte, erstand er ein paar Kirschen, in der Absicht, Ornella eine Freude zu bereiten. Und plötzlich erschauerte er im tiefsten Innern seiner Menschheit, als er entdeckte, daß bereits ein neues Gefühl, das weder Furcht, noch Rücksicht, noch Mitleid, sondern Liebe und fast väterliches Gefühl war, ihn mit der Frau verband, oder vielmehr mit dem Wesen, das in ihr war.

*

Dann machte er die anderen notwendigen Einkäufe und schließlich ging er die große Straße, ihre Straße, hinunter. Er ließ sich für einen Augenblick auf dem Prellstein nieder, und nochmals sah er Ola an seiner Seite, mit den Ohrgehängen von Kirschen, die zwischen den Locken von schwarzer Seide funkelten. Aber warum tat ihm das Herz jetzt nicht mehr so weh, wenn er an sie dachte? Jener Orgelklang, der ihn auf seinen lichten Flügeln emporhob, wurde jetzt gewissermaßen das Leitmotiv, das ihr Erscheinen in seinen Gedanken begleitete. Und er fühlte sich bereits geborgen in Gottes unendlicher Güte.

*

Bei seiner Wiederkehr bemerkte er sofort, daß irgend etwas Neues auch seine Wohnung frisch belebte: die Hand einer Frau war, wenn auch nur mechanisch, über die Gegenstände gefahren, über die Wände, über die Erde. Alle schmutzigen Sachen hatte das Wasser frisch und rein gemacht, einige sogar wie neu. Die Seele des Hauses, der Herd, brannte lichterloh, und endlich entdeckte er, daß auch auf dem Dachboden alles sauber gemacht war, ein Zeichen, daß Ornella nicht die Absicht hatte zu gehen.

Und sie wusch, über den Bottich neben dem Brunnen gebückt, seine Wäsche. Als sie ihn eintreten sah, fuhr sie in die Höhe, mit Augen, die so grün waren wie das Laub ringsum. Dann hatte sie sich noch mehr gebückt, um ihr Gesicht zu verbergen. Und als er jetzt die Einkäufe auf den Tisch legte, hörte er, wie sie die Wäschestücke in dem Waschtrog wütend bearbeitete.

»Schlag nur zu, schlag nur zu«, dachte er, dann sprach er aus dem Fenster zu ihr: »Ornella, ich habe dir Kirschen mitgebracht. Willst du sie haben?«

Sie erhob sich aufs neue, sich stolz beherrschend. Ihre Lippen zitterten, bleich vor Angst, aber auch vor Hohn.

»Haben Sie mir wenigstens die Schuhe mitgebracht?« fragte sie mit ihrer wilden Stimme.

Der Schulmeister hatte keine Angst mehr.

»Wozu die Schuhe? Du gehst ja heute doch nicht aus. Und dann habe ich Antonio nirgends gefunden, weder zu Hause noch in der Stadt.«

Sie schickte sich gerade an, das arme Wäschestück, das sie in der Hand hielt, mit aller Wildheit auszuwringen.

»Das habe ich mir gedacht, daß er sich verstecken wird, das habe ich mir gedacht. So ein Schuft, so ein Feigling, so ein Schweinehund ...«

Eine Flut häßlicher Worte ergoß sich aus ihrem Munde und fiel in das schwarzblaue Wasser des Waschtroges. Und der Schulmeister ließ sie ihr ganzes Gift ausspeien. Besser draußen als drinnen.

*

Und doch brachten die Kirschen eine bestimmte Wirkung hervor: als sie das Hemd ausgebreitet hatte und mit noch nassen Armen in das Zimmer trat, schien sie sofort von dem kleinen Haufen großer Blutstropfen angezogen zu werden. Langsam, langsam nahm sie eine nach der anderen, betrachtete sie, steckte sie in den Mund, indem sie langsam den Stengel abriß, dann spuckte sie den Kern in die Faust und behielt ihn dort, als ob sie ihn gar nicht mehr wegwerfen wollte.

Und plötzlich dachte auch sie an Ola. Es kam ein wildes Verlangen über sie, die Kleine bei sich zu haben, ihr frisches Gesicht auf ihrem vor Wut und Schmerz brennenden Gesicht zu fühlen, mit ihr zusammen Kirschen zu essen und mit den Stengeln und Kernen zu spielen. Das würde ja nie wieder, nie wieder sein. Und ihre Augen wurden feucht von Tränen.

Sie legte die Kirschen in eine Schüssel und stellte sich an das Fenster, um sie zu waschen. Da sah sie zwei Augen, die den ihren seltsam glichen und einem Kater zu gehören schienen, der darauf lauert, daß man ihm etwas zum Essen hinwirft. Einen Augenblick lang starrten sie sich gegenseitig an, die vier grünen Augen, mit einem Schein von tierischer Neugierde, dann lachte sie auf und wurde wieder die Ornella von früher.

Gesuino war wie geblendet. Er war gekommen, um sie zu sehen, und als er sie sah, mit den lebhaften Farben ihrer Haut, mit den gelben Haaren und dem Rot der Kirschen und ihres Kleides, war seine Neugierde gestillt. Als sie nachher lachte, glaubte er sich von einem Lasso gepackt, das ihm einen Begriff davon gab, was ersticken heißt. Trotzdem behielt sein Gesicht seinen strengen Ausdruck.

»Ist der Herr Schulmeister da?« fragte er, um ihr klarzumachen, daß er nicht ihretwegen da war.

»Wo haben Sie denn Ihre Augen? Er ist dort hinter dem Brunnen.«

Sie legte die Hand auf die Kirschen und ließ das Wasser aus der Schüssel abfließen.

»Was fällt dir ein, mir das Wasser auf den Rücken zu gießen?« schrie er, indem er zurücksprang.

»Und du scher dich weg«, schrie sie frech und spritzte ihm die letzten Tropfen aus der Schüssel ins Gesicht. Er wich zurück, aber seine Augen waren immerzu fest auf ihre gerichtet, und sie hielt mit der Freude einer Siegerin seinen behexenden Blick aus. So fixieren sich Katzen vor ihrem barbarischen Liebesgenuß.

Der Schulmeister beobachtete diese Szene und ein Hoffnungsstrahl durchzuckte seine Brust. Wenn Gesuino sich in Ornella verliebte und sie heiratete!

Aber der Hoffnungsstrahl erlosch sofort. Und das Kind? Man konnte Antonios Kind nicht von den Bauern aufziehen lassen wie einen kleinen Hund. Und übrigens durfte man der Mutter das Kind nicht wegnehmen und vor allen Dingen durfte man der Phantasie nicht die Zügel schießen lassen und diesen Leuten ein so gefährliches Spiel gestatten.

Er klopfte Gesuino auf die Schulter, der seinen Kopf wie schuldbeladen senkte, und sagte trocken:

»Mir scheint, daß sie Ihnen gefällt, meine Zofe. Aber bedenken Sie, daß sie eine Heidin ist, während Sie ein gottesfürchtiger Mann sind. Und dann denken Sie an unsere gestrige Unterhaltung.«

Auch Ornella hatte sich vom Fenster zurückgezogen, nachdem ihr ihre trübe Lage wieder jählings zum Bewußtsein gekommen war. Aus den Worten des Schulmeisters schloß sie, daß die Bauern bereits alles über sie wußten. Ein plötzlicher Anfall von Scham trieb sie, sich zu verstecken.

*

Auch Proto hatte den Wunsch, Ornella kennen zu lernen. Aber während in Gesuino eine trübe Verwirrung der Gefühle am Werke war, die man fast jünglingshaft nennen konnte und die ihn zum Weibe drängte, war er von praktischem Gemüt, ein Mann, der das Weib bereits zur Genüge kannte und von ihm, außer der fleischlichen Befriedigung, Hilfe bei der Arbeit und vielleicht auch sklavische Unterwürfigkeit verlangte.

Alle möglichen Erwägungen zogen durch seinen Kopf. Und der Zustand Ornellas machte ihn guter Hoffnung, anstatt ihn voreingenommen zu machen. Aber er hütete sich wohl vor dem Gang zum Schulmeister und hatte Gesuino verboten hinzugehen.

Als er aus der Stadt nach Hause kam, bemerkte er jedoch, daß Gesuino bereits dagewesen war. Nicht als ob dieser etwas gesagt hätte, im Gegenteil, schweigsamer als je, finster blickend arbeitete er bereits mit solcher Kraft, daß der Schweiß ihm von der Stirn troff und durch das Dickicht der Augenbrauen bis zur Erde fiel. Aber gerade diese Erbitterung, mit der er schuftete, seine Art, das Unkraut auszujäten und die Erde rings um die Zuckerrüben umzugraben, zeugten von der neuen Lebenskraft, die ihn beseelte.

Dennoch sagte Proto kein Wort und, zum ersten Male seit langer Zeit, gab es an diesem Tage keinen Streit. Es war wie eine Verabredung zwischen ihnen, sich nicht hören zu lassen. Und als der Hund sich streckte und die Ohren in der Richtung des Hauses des Schulmeisters spitzte, gaben sie ihm zu verstehen, nicht zu bellen. Sie beide hingegen horchten mit einem Gefühl von Neugier und Erwartung, das durch das Schweigen ringsum und hauptsächlich durch das heitere Juniwetter geschärft wurde, das auch das Meer verstummen ließ und die Blätter der Weinstöcke zur Entfaltung brachte, so daß es der Sonne mit ihren Strahlen leicht wurde, die Trauben zum Reifen zu bringen.

Als der Schulmeister die beiden Brüder bei der Arbeit sah und sicher war, daß der eine den anderen und beide zusammen Ornella und das Haus überwachen würden, machte er sich nochmals auf den Weg, um Antonio zu suchen.

Jetzt aber fühlte er sich von einem Gefühl der Freude geleitet. Er wollte um Nachrichten von Marga und Ola bitten und sich die Kleider Ornellas geben lassen. Er hatte das Gefühl, sich, gleichfalls ein Gespenst, an einem phantastischen Ort zu befinden, wo die lebendigen Farben der Landschaft, vom Blau des Himmels und des Meeres bis zum grünen Email der Bäume und der Wiesen, wie erstarrt waren und nie mehr verblassen sollten.

Auch in Olas Garten duftete es nach entblätterten Rosen und herrschte dieser Zauber. Ein reinigender Luftzug war auch über ihn hinweggegangen. Oder war es nur ein Traum, ein Widerschein des inneren Lichts, das das Herz des Schulmeisters erhellte?

*

Als Antonio seine Schritte hörte, stürzte er aus der Küche und errötete wie eine Frau, die gerade auf Abwegen überrascht wurde.

»Endlich treffe ich dich«, sagte der Schulmeister, indem er den Hut zum Zeichen des Grußes berührte. »Ich suche dich schon den ganzen Tag. Wie geht es deiner Frau? Und was macht Ola?«

Seine Ruhe machte Antonio zuversichtlich.

»Es geht ihnen gut. Ola hat andere Kinder getroffen. Denk dir nur, sie hat dort sofort begonnen, mit ihnen Schule zu spielen.

»Und Marga?«

»Auch Marga geht es besser. Vorgestern hat sie noch ihren gewöhnlichen Fieberanfall gehabt, der aber weniger heftig war, so daß sie am Abend aufstehen konnte. Sie ist nur schrecklich nervös. Komm doch herein und setz dich«, lud er ihn freundlich ein, indem er wieder in die Küche trat.

Die Küche, in der man noch die Spuren Ornellas sah, war etwas in Unordnung, Ihre blaue Schürze hing neben den Scheuerlappen, die Schuhe standen unter dem Tisch. Der Kater erkannte den Schulmeister und rieb sich an seinen Beinen. Auch der Hund kam von weitem angelaufen, pflanzte sich vor ihm auf und sah ihm mit gespitzten Ohren fest in die Augen. Und jedesmal wenn man den Namen Ola aussprach, senkte er diese Ohren, die weich waren wie Teig, um sie sofort wieder zu spitzen. Und beide Tiere, das eine wie das andere, sahen abgemagert oder wenigstens ausgehungert aus.

Inmitten dieser Zeichen von Unordnung war Antonio derjenige, welcher, nach der ersten Überraschung, unverändert zu sein schien. Er war sorgfältig gekleidet, trug ein reines Hemd und eine rotseidene Krawatte, die sorgfältig gebunden war. Aber nicht nur das, er trug auch neue knallrote Schuhe, von derselben Farbe wie die Krawatte, und erklärte seine Abwesenheit heute früh mit diesen Schuhen, denn um die passenden zu finden, war er bis in die nächste Stadt gegangen.

Seine freundlichen hellen Augen, die von langen Wimpern schamhaft beschattet wurden, waren die unschuldigsten der ganzen Welt, so daß der Schulmeister sich noch einmal erweicht fühlte, obzwar ihn diese Freundlichkeit in Harnisch brachte.

Nichtsdestoweniger fragte er, gleichfalls unwillkürlich naiv:

»Bist du allein?«

»Ja, allein. Ich habe diese Hure mit Fußtritten aus dem Haus gejagt.«

»Das weiß ich,« sagte der Schulmeister, indem er die Gelegenheit ergriff, »und ich bin hier, um dich zu fragen warum?«

»Das weißt du besser als ich. Ich habe sie weggejagt, weil du uns verlassen hast.«

»Und wenn ich euch nicht verlassen hätte, würdest du sie dann noch behalten?«

»Weiß ich nicht. Ich weiß, daß sie mir deinen Brief mit höhnischen Bemerkungen gegeben hat. Da ist mir ganz grün und gelb vor den Augen geworden und da habe ich sie so behandelt, wie sie es verdiente.«

»Aber du kennst doch ihren Zustand?«

»Ach was!« schnaubte der andere. »Du nimmst das alles viel zu ernst. Sie ist ein von Kindheit auf verdorbenes Frauenzimmer. Sie geht hinter meinem Rücken zu den Leuten und es ist gar kein Grund, sie anständig zu behandeln.«

»Aber wenn sie dir zu Gefallen war, da hast du sie nicht schlecht behandelt. Ob du nun willst oder nicht, das Geschöpf, das sie in ihrem Körper herumträgt, ist deines. Übrigens lassen wir das. Der erstbeste Hund, mit dem ich spreche, hat mehr Gefühl als du. Du bist ja ärger als ein Stück Holz. Ich bitte dich, mir wenigstens die Kleider der Unglücklichen herauszugeben.«

»Ah, sie ist zu dir gekommen? Hat sie auch dein Herz gestohlen? Nimm dich in acht.«

Eifersucht, Hohn, Verblüffung und Neugier und auch Niedertracht klangen im Tone seiner Stimme nach. Der Schulmeister war auf alles gefaßt, fast freute und unterhielt er sich.

»Ich nehme mich in acht. Aber wer weiß, ob ich sie nicht selbst eines Tages heirate? Auf jeden Fall gib mir aber, ich bitte dich nochmals, ihre Kleider und Schuhe, denn ich habe kein Geld, um ihr eine Ausstattung zu kaufen.«

Antonio zog die Stirn in Falten und bückte zu Boden.

»Wo ist sie?«

»Das geht dich nichts an.«

»Es geht mich doch an. Man spricht so und denkt ganz anders.«

»Sie ist bei mir«, sagte da der Schulmeister mit fester und trauriger Stimme.

Mit einem Male erhob der andere sein Gesicht, mit der Wut und Demütigung eines Menschen, der besiegt und betrogen worden ist.

»Und wo wohnst du?«

»Das geht dich auch nichts an. Wenn dir etwas dran gelegen wäre, hättest du mich aufgesucht, anstatt dessen bist du in die Stadt gegangen, um dir neue Schuhe zu kaufen.«

Antonio sprang auf mit geballten Fäusten, als ob er den Schulmeister durchprügeln wollte. Er ging an die Tür, um besser atmen zu können, dann setzte er sich wieder und nahm eine starre Haltung ein.

»Du hast recht. Ich bin ärger als ein Tier, ich bin ein Gottesleugner. Ich habe immer nach meinem Kopf gehandelt, der Teufel hat mich immer getrieben. Jetzt will ich mich wieder dir anvertrauen, wie ich es als Kind hätte tun sollen. Sag mir, was ich tun soll.«

»Du mußt dir vornehmen, sie nie wieder zu sehen. Wenn das Kind da sein wird, werden wir dafür sorgen.«

»Ich werde für das Kind sorgen«, sagte Antonio tragisch. »Ich werde es in eine Erziehungsanstalt geben.«

»Wo es kaum geboren ist? Da werden sie es vielleicht nicht aufnehmen.«

Der Schulmeister scherzte, oder machte er sich über ihn lustig? Antonio sah ihn zornig an, dann lachte er. Und sein Lachen erinnerte ihn derart an das Olas, daß der Schatten der Unterredung dem Lichte wich.

*

Es wurde darauf ein Programm aufgestellt, in dem alles berücksichtigt wurde. Die Bäuerin wurde beauftragt, ein verläßliches und ernstes Dienstmädchen zu besorgen, bevor Marga zurück war. Dann riet der Schulmeister Antonio, seiner Frau nichts zu sagen, bis die Sache geregelt war, und seinen Bauern Schweigen aufzuerlegen.

Er hatte die Absicht, Ornella bei sich zu behalten. Wo dieses Opfer seinen Abschluß finden sollte, wußte er nicht, aber er vertraute auf Gott. Indessen nahm er, ohne zu zaudern, einen monatlichen Zuschuß an, den Antonio dem Mädchen anbot, denn er war arm und seine kleine Pension als Schulmeister und die Zinsen des Betrages, den er aus dem Verkauf seines Hauses erzielt hatte, genügten kaum zum Leben.

Antonio hingegen war reich, so reich, daß er nicht die Brieftasche aus der Innentasche seines Rockes herauszog, wie jene, die genau wissen, wieviel sie besitzen, sondern aus der Hosentasche eine Handvoll zusammengerollter Banknoten hervorholte, große und kleine durcheinander. Und als zwei Scheine auf die Erde fielen, ließ er den Schulmeister sich darum bücken. Der Schulmeister nahm diese beiden, faltete einen nach dem anderen zusammen und steckte sie nachdenklich und aufmerksam in seine alte abgetragene, aber noch unversehrte Brieftasche, in das Fach, wo er die Photographie Antonios als Kind aufbewahrte, und ein rotes herzförmiges Steinchen, das Ola am Meeresstrand gefunden und ihm geschenkt hatte.

*

Er trug Ornellas Paket mit den Schuhen selbst nach Hause, aber der Heimweg fiel ihm viel schwerer, jedoch nicht wegen des Gewichts, sondern wegen gewisser Gedanken.

»Jetzt wo sie sieht, daß sie endgültig fort muß, weiß Gott, was sich für eine Szene abspielen wird«, dachte er.

Er öffnete vorsichtig das Gitter, dessen einzigen Schlüssel er besaß, und ging fast ängstlich weiter, indem er das Paket in einer Ecke hinter dem Hause auf die Erde legte. Er wollte zuerst Ornellas Stimmung auskundschaften. Aber so viel er auch suchte, Ornella war weder in noch außer dem Hause zu finden. Durch die weit offenstehende Tür sah man die Hühner im Zimmer herumstolzieren. Zwei braungelbe struppige Hühner hackten unter dem Tisch mit den Schnäbeln wütend aufeinander los, während der feuerrote Hahn sich auf ein junges Hühnchen, das weiß war wie ein Täubchen, stürzte.

»Zum Teufel noch einmal!« sagte er, indem er die Hände zusammenschlug.

Und als es ihm gelungen war, auch die beiden, vor Wut und Haß blinden und tauben Gegner zu vertreiben, ging er zu den Bauern, um Ornella zu suchen.

Ornella war richtig dort. In der großen milden Sonne hob sich ihre hohe Gestalt gegen den grünen und blauen Hintergrund ab. Der goldgelbe Kranz ihrer Flechten schien den Himmel zu berühren. Die beiden Brüder, die im Vergleich zu ihr klein aussahen, hielten in der Arbeit inne und betrachteten sie, und alle drei, von demselben tierischen Zauber besessen, lachten und sprachen unanständige Worte. Und er verzweifelte an dem Erbarmen Gottes.

*

Dieser Zustand dauerte mehrere Wochen, er verschlimmerte sich erst mit dem Eintritt der Hitze.

Der Schulmeister fühlte, wie sein Elend ihm von Tag zu Tag über den Kopf wuchs. Vergeblich versuchte er sich zu befreien. Kann man sich von dem Albdruck der Hitze befreien? Man muß fliehen, auf die Gipfel der Berge steigen oder aufs hohe Meer hinausfahren, wo die Luft rein ist. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nicht und wollte nicht, denn er wußte, daß ihm selbst eine Flucht in kühle Gegenden keine Erleichterung bringen würde. Er nahm also seine Strafe auf sich, wie er die Hitze dieser Ebene auf sich nahm, wo alles, wie im Inneren seiner Seele, verbrannte, und wo der labende Hauch des Meeres diese verdammten Reisfelder und Salinen nicht zu zerstören vermochte.

Auch Ornella schien resigniert. Sie besorgte die Einkäufe und arbeitete im Garten, und wenn sie lachen oder herumstreiten wollte, hatte sie ja die Nachbarschaft der Bauern. Zwischen ihnen hatten die alten Streitigkeiten wieder begonnen, scheinbar aus anderen Gründen, in Wirklichkeit wegen Ornella. Gesuino ging jeden Morgen in die Messe, um Gelegenheit zu haben, sie zu treffen, wenn sie ausging, um Einkäufe zu besorgen, aber auch deswegen, weil er von Gewissensbissen gequält wurde und seine dämonische Glut durch Beten und religiöse Übungen zu löschen suchte.

Als er eines Abends allein zu Hause war, hörte der Schulmeister, wie Proto mit fettiger Stimme um die Erlaubnis bat einzutreten.

»Treten Sie nur ein,« sagte er und fühlte sofort, daß etwas Neues sich vorbereitete. Er legte die Zeitung, in der er las, sorgfältig zusammen, nahm die kleine Brille ab und legte sie sorgfältig in ihr schwarzes Futteral.

»Wie?« fragte Proto mit hinterlistigem Ton, »Ihr Mädchen ist noch nicht zurück?«

»Es scheint, daß nicht. Sie ist um Milch gegangen.«

»Und Sie gestatten, daß sie so lange ausbleibt?«

»Was kann ich da tun? Es ist nun einmal so.«

Proto setzte eine ernste, fast traurige Miene auf.

»Es ist nun einmal so«, seufzte er. »Die Weiber sind alle gleich. Gesuino schwört, daß es kein anständiges Weib gibt. Meine Frau war es wirklich, das kann ich garantieren, obwohl sie sich in ihrer Jugend auch gern und viel amüsiert hat. Aber ich bin der Meinung, daß ein guter Ehemann seine Frau nur mit Unterstützung des Rohrstockes erziehen kann. Ein Freund hat einmal ...«

Der Schulmeister war gar nicht in der Stimmung, sich die Geschichten anzuhören, mit denen Proto seine Meinung stets zu unterstützen suchte. Er sah ihm fest ins Gesicht und sagte:

»Proto, haben Sie mir etwas zu sagen?«

*

Proto sah ein, daß er bei diesem Manne auf solche überflüssigen Geschichten verzichten und die nackten und trockenen Tatsachen berichten mußte.

»Die Geschichte ist die,« sagt er, indem er zu Eis erstarrte, »Sie haben es vielleicht erraten. Dieses Mädchen paßt zu mir. Sie ist gesund und kräftig und unter meiner und auch Gesuinos Aufsicht würde sie ein rechtschaffener Mensch werden.«

»Aber wenn Gesuino noch verliebter ist als Sie?«

»Das macht nichts. Das wird schon vergehen, und wenn nicht, so werde ich ihm das schon austreiben. Ich schicke ihn weg, das ist alles. Aber das wird nicht vorkommen, denn wir haben uns zu gern. Sie kennen doch das Sprichwort: Wo man ißt, dort beklagt man sich.«

»Das Mädchen ist im fünften Monat, das wissen Sie, und übrigens sieht man es schon.«

»Das macht nichts. Sie soll nur erst entbinden, dann wird sich schon alles finden. Das Kind, o, das versteht sich, das nehme ich, das legitimiere ich.«

Angesichts einer solchen steinernen Ruhe war der Schulmeister erschüttert. Alles erschien ihm wie ein natürliches Phänomen und er fragte sich, ob er der einzige war, der normal war. Aber im Grunde fühlte er, daß das nicht der Fall war, und anstatt sich zu freuen, daß Gottes Barmherzigkeit wieder am Werke war, die aufgeregten Wogen glättete und sein Schiffchen ans Land stieß, wurde er im tiefsten Inneren seines Herzen traurig.

»Weiß das Mädchen etwas?«

»Um die Wahrheit zu sagen, habe ich ihr irgendwelche Andeutungen gemacht. Und sie hat nichts gesagt, aber ich habe bemerkt, daß sie sich das Haus, die Tiere, das Feld gut angesehen und alles abgeschätzt hat. Sie ist ein praktisches Frauenzimmer, und das gefällt mir auch. Sie ist flink bei der Arbeit. Ich kenne nur wenige, die so flink sind. Nicht wahr?«

»Das ist wahr,« bekräftigte der Schulmeister und sah sich um, und der Blick des Bauern folgte dem seinigen. Die Wohnung schien in der Tat ganz verändert zu sein, alles war sauber und geputzt und in tadelloser Ordnung.

Auf dem Kamin des Herdes hing eine Spitze aus grünem Papier, der Fußboden war gescheuert und an der Wand im Hintergrunde prangten die Küchengeräte als Wandschmuck.

Aber inzwischen war es auf der Weckeruhr, die oben auf dem Schrank stand, ein Viertel auf neun geworden, und von Ornella war noch immer nichts zu sehen.

*

»Sie geht nämlich gern spazieren«, sagte Proto etwas voreingenommen, »und gibt sich mit Männern ab. Aber das ist eine Krankheit, an der alle Frauen leiden und über die man hinwegsehen muß. Nur ...«

Da entstand eine graue Pause, in deren Schweigen sich das Schlagen der Uhr wie der Schrei des Kuckucks in der Wüste anhörte. Der Bauer sprach nicht weiter, der Schulmeister fragte ihn nicht, beide fühlten das Nahen einer Gefahr.

Endlich senkte Proto, der beim Sprechen seine Augen gewöhnlich auf die des anderen richtete, den Blick und sagte:

»Das Mädchen steht noch in Verbindung mit der Person, die Sie kennen, und es würde gut sein, wenn Sie sich da ins Mittel legen würden, damit die Geschichte ein Ende nimmt.«

Der Schulmeister schlug die Augen nicht nieder. Er erinnerte sich an Ola, wenn sie sich auf den Rücken warf und zu ihm sagte: »Jetzt wollen wir sehen, wer die Augen länger offen hält«, und wenn er den Atem ihres lachenden Mundes in seinem Gesicht spürte. Und diese Erinnerung hielt ihn noch einmal im Augenblick der Gefahr aufrecht.

*

»Wer hat Ihnen gesagt, daß Ornella noch in Verbindung mit Antonio steht?« fragte er mit fester Stimme.

Proto hob den Blick, fast überrascht, daß der Schulmeister wußte, daß »die Person«, deren Namen zwischen ihnen beiden nie genannt worden war, ausgerechnet Antonio war.

»Ich habe ihn gesehen. Zuerst habe ich sie in der Allee miteinander schwätzen gesehen, dann bin ich ihr heimlich gefolgt und habe gesehen, daß sie in sein Haus hineinging. Das kann Ihnen übrigens auch Gesuino bestätigen.«

Der Schulmeister setzte sich die Brille zurecht, aber als ob er irgend etwas gut aus der Nähe sehen wollte, nahm er sie automatisch ab und, sie zwischen den Fingern haltend, streckte er die Hand aus, die vor Entrüstung bebte.

»Und Sie wollen ein solches Frauenzimmer heiraten? Sie, Gesuino, Ornella ... das ist ein schöner Schweinestall...«

Er hielt sich zurück, aber zu spät. Proto war beleidigt, aber würdevoller als er sagte er:

»Mein Haus ist immer rein gewesen. Arm, aber rein. Und ich garantiere Ihnen, daß es immer rein sein wird, mag diese oder eine andere Frau dort einziehen.«

»Aber wenn diese sogar den Herrgott betrügt?«

»Gott ist eine Sache, ich bin eine andere«, bekräftigte Proto, ohne einen Anflug von Ironie. Und der Schulmeister, der sich selbst in seiner Anmaßung manchmal für einen Teil von Gott hielt, fühlte tatsächlich den himmelweiten Unterschied zwischen sich und dem Bauern.

Auf jeden Fall erbat er sich Bedenkzeit.

*

In den ersten Septembertagen kehrte Marga zurück. Ihre Gesundheit hatte sich bedeutend gebessert, das Fieber, das jetzt immer nur nach einiger Zeit und dann nur kurz und immer schwächer auftrat, stellte sich am Vormittag ein, um mit Sonnenuntergang aufzuhören. Und da der Schulmeister sich nicht mehr sehen ließ, auch nicht, um die von Antonio festgesetzte Monatsrate einzukassieren, machte sie sich eines Tages mit der Kleinen auf, um ihn in seinem Asyl aufzusuchen. Jetzt wußten es alle, daß er dort mit Ornella wohnte, die von ihm schwanger sein sollte. Die Leute tratschten und lachten, aber ohne verwundert oder entrüstet zu sein. Das sind Dinge, die überall in der Welt passieren. Und auch er entrüstete sich nicht mehr. Der alte Schmerz war wieder sein unzertrennlicher Begleiter, aber eine geheime Hoffnung auf bessere Tage gab ihm Trost. Etwas mußte kommen, wenn es auch der Tod war, und den traurigen Ereignissen, die ihn im tiefsten Grunde erschütterten, ein Ende bereiten. Und er wartete, wie das Blatt auf dem Baume, das nur einen Tag ohne Wind und Sonne zu sein braucht, um in den Schoß der Erde zurückzufallen.

Unterdessen lebte er gerade inmitten der Bäume und Sträucher des Gartens, indem er sich einbildete, die Erde zu bebauen. In Wirklichkeit suchte er einen letzten Trost darin, sich mit der Natur zu vereinigen.

Und er glaubte glücklich zu sein, wenn diese mit ihm übereinstimmte, wenn der Pfirsichbaum die reifen Früchte ihm vor die Füße warf, wenn die Insekten mit seinen Haaren oder Kleidern in zu vertrauliche Berührung kamen, wenn die grüne Spinne über seine Hand wie über ein Blatt lief und das Marienkäferchen sich auf seinen von Erde braunen Finger setzte.

Alles Illusion: Sein Herz drinnen war einsam und die Eintagsfreude flog davon wie das Marienkäferchen, wenn es den höchsten Punkt des Fingers erklommen hat ..

*

Nur eine Seele, die schweigend leidet, kann eine Seele trösten, die schweigend leidet. Und Margas Besuch, mehr noch als der Olas, befreite ihn wieder aus seinen Gedanken, die auf den Tod gerichtet waren. Sie stellte sich, als ob sie nichts wüßte. Sie begrüßte Ornella wie eine ehemalige Magd, die jetzt anderswo dient, und ließ es geschehen, daß Ola sie stürmisch umarmte.

»Der Teufel soll deine Kräfte holen! Und wie schwer du bist, Ola! Und wie du gewachsen bist!«

Sie war tatsächlich gewachsen, und einige verharschte Stellen und Kratzwunden auf den Samtarmen zeugten von den letzten Kämpfen, die sie mit den Kindern des Gebirges ausgefochten hatte.

Die Begegnung mit dem Großvater glich der zweier Verliebter, die sich nach langer Trennung wiedersehen. Etwas Fremdes stand bereits zwischen ihnen, und insbesondere sie hatte vergessen und verraten. Sie ließ es geschehen, daß er sie küßte und streichelte, aber sie glitt ihm aus der Hand wie bei ihrer ersten Begegnung, und weiter kümmerte sie sich nicht mehr um ihn. Sie kannte ihn schon und fand nichts Neues an ihm, um so mehr als er denselben Anzug und dieselbe Krawatte trug wie früher.

Viel mehr zog sie der Ort an, der geheimnisvolle Ort, den sie endlich betreten hatte. Und mit einem Blicke sah sie alles, die Bäume, die Tische, den Brunnen, und richtete alles so geschickt ein, bis sie endlich im Häuschen drinnen war. Sie entdeckte sofort die Leiter, die zum Dachboden führte, und ihre Augen leuchteten vor wilder Freude. Dort oben war das Geheimnis, der Geruch der alten Hexe, die die Kinder stiehlt. Vielleicht war oben noch eines versteckt ... Und während sie unter Ornellas Obhut, die sich für etwas anderes nicht zu interessieren schien, die Leiter hinaufstieg, saßen Marga und der Schulmeister draußen an dem Marmortisch. Auch er war ruhig, fast kühl. Er sah der Frau gut ins Gesicht und sagte ihr, daß er sie viel jünger fände. Dann fragte er nach Antonio und wie die Geschäfte gingen.

»Sehr gut,« rief sie aus, »Antonio hat mich damit überrascht, daß wir ein neues Mädchen haben, und dann hat er mir erzählt, daß er die da entlassen hat, aber warum weiß ich nicht. Aber auch die, die wir jetzt haben, ist ein braver Kerl, und dann geht es mir besser und ich tue alles im Hause. Wenn ich ganz gesund bin, kann ich die auch entbehren.«

Er konnte sich nicht satt sehen an ihr. Dieses feine, helle Gesicht mit den leuchtenden Augen und dem reinen Mädchenmund, und vor allem diese zarte und träumerische Stimme erregten noch einmal in ihm ein Gefühl tiefster Bewunderung. Er hatte den Eindruck, vor einer sprechenden Statue zu stehen, und fragte sich: Warum spricht sie so? Um nicht von Ornella gehört zu werden oder weil es diesem sauberen Pflänzchen von einem Antonio, diesem ausgezeichneten Schauspieler, tatsächlich gelungen ist, ihr die Wahrheit zu verbergen?

Aber indem er sich an ihr Gespräch nach seiner Ankunft erinnerte, fühlte er, daß dieselbe Atmosphäre noch da war. Und es kam ihm nicht zu, sie zu trüben.

»Ich will dir den Garten zeigen. Komm«, sagte er, indem er sich erhob. Sie folgte ihm, fügsam. Sie bewunderte die Hühner und die Glucke mit ihrer großen gelben Kükenschar, die in Wirklichkeit von Ornella sehr betreut wurde, sie bewunderte den Überfluß an Trauben in der Weinlaube und fragte nach den Bauern und den traurigen Herren des Hauses.

»In Bälde wird der Termin sein und der Flüchtige wird in contumaciam verurteilt werden. Neulich ist ein Polizeiagent hier gewesen, um zu untersuchen, ob alles in Ordnung ist.«

»Überall ist Ordnung, wo geschlossen ist und der Tod herrscht«, fuhr er mit einem Blick auf das Haus und dann auf sie fort. »So ist es, Marga.«

Marga antwortete nicht. Nur als sie unten waren, an der Hecke, sagte sie, wie nach langem, gründlichem Nachdenken:

»Und wenn Sie diese Stelle hier werden aufgeben müssen, kommen Sie hoffentlich wieder zu uns. Wann wird das sein? Vielleicht im Oktober?«

»Das weiß ich nicht. Die Zukunft steht in Gottes Hand«, erwiderte er, und ohne es zu wollen, ahmte er ihre Art zu sprechen nach.

*

Einige Tage später fragte ihn Ornella, warum er Margas Besuch nicht erwiderte. Zuerst war er über diese Frage verblüfft, aber dann zerbrach er sich darüber den Kopf, was dahinter stecken konnte. Gewöhnlich schwieg Ornella, ein bißchen schwer atmend, als ob ihr Atem durch den ihres Kindes im Mutterleib verdoppelt würde. Sie schwieg und schuftete, da sie immer etwas zu tun fand. Er betrachtete sie von hinten, wie einstmals. Er glaubte zu sehen, wie sie durch die Schwangerschaft dicker wurde, und obwohl sie in ihm von neuem ein Gefühl von Abscheu und Furcht erregte, beobachtete er sie mit einem oft gewollten Gefühl von Andacht. Schließlich war es das ewige Geheimnis des Lebens, das in ihr der Reife entgegen ging, und wenn der Baum blüht, sieht man nicht zur Erde hinunter, sondern zum Himmel auf.

Ihre Frage war bestimmt eine Falle, aber er war zu müde, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Die Einsamkeit begann nach Margas Besuch wieder an ihm zu saugen, wie die Schildkröte an der Erde, sie reinigte ihn sicherlich und befreite ihn vom Schmutz. Aber er fühlte, daß er sie nicht lange würde ertragen können. Denn es ist nicht wahr, daß der höherentwickelte Mensch nur mit der Natur und mit unter ihm stehenden Wesen leben kann. Sein Herz braucht das Herz eines anderen Menschen, wie eine Säule die andere braucht, um den Tempel zu stützen.

Eines Tages ging er also wieder zu Ola. Ola stand unter dem Weinlaubengang, barfuß, in einem kurzen, grünen Kleidchen, das ihr das Aussehen eines jener Vögel verlieh, die die Farbe der Tropenwälder annehmen, in denen sie leben. Sie spielte mit dem Kater, indem sie ihn mit dem Fuße reizte, und nachdem das Tier, die Krallen vorstreckend und wieder einziehend, um sie herumgesprungen war, überließ sie ihr Füßchen seinen Pfoten und drückte es ihm auf den Bauch. Trotzdem taten sie einander nicht weh, da sich beide gleichgültig dem anscheinend grausamen Spiel hingaben.

Ein roter Schmetterling flatterte um sie herum. Einigemale näherte er sich sowohl dem Fuße wie der Katze, als ob er sich an ihrem Kampfe beteiligen wollte, aber sofort bereute er seinen Wunsch und flog weiter. Und die Blätter rauschten und wogten harmonisch hin und her.

Der Schulmeister näherte sich langsam, um diese Szene nicht zu stören. Aber kaum war sein Schatten am Rande des Laubenganges sichtbar, entfloh der Kater, während Ola, um ihren Fuß genau zu untersuchen, ihn hob, aufs Knie stützte und mit der Hand nach oben drehte.

Hat er dich gekratzt?« sagte der Großvater. »Geschieht dir ganz recht. Das ist kein Spielzeug.«

Ola hob die Augen, und er sah sie, durch die wilden Haare durch, wie zwei Lichter, die in der Nacht im Wald angezündet werden und glühend leuchten. Dann drehte sie sich zur Mauer und begann verzweifelt und ängstlich zu weinen. Er nahm sie, drehte sie mit dem Gesicht zu sich, und tröstete sie, als ob er trauriger wäre als sie. Und als das Unwetter der Schluchzer und Tränen sich zu beruhigen begann, bat er sie auch um Verzeihung.

»Ich habe dir nicht wehtun wollen.«

»Das ist nicht deswegen«, sagte sie wieder aufgeheitert. »Ich habe geweint, weil ich glaubte, daß er mich wirklich gekratzt hat.«

*

Manchmal gingen sie am Morgen längs des Strandes spazieren, in Begleitung des treuen Hundes. Der Strand war gesäubert von Badegästen, aber ihre Spuren waren noch zu sehen und man mußte weit weg über die kleinen Dünen hinausgehen, weil Mist und schmutziges Papier überall herumlagen.

»Es wäre nötig, daß der Wind mit seinem Besen im Winter hier darüberfegt, um den Ort zu reinigen«, sagte er zu Ola, und Ola lachte darüber, daß der Wind Gottes Straßenkehrer sei. Und sie wollte, daß der Großvater den Satz wiederholte.

Er wiederholte ihn, indem er an seine Schicksale dachte. Und ihm war, als hätte diese ganze Menge von Bürgern und Bauern, die das Meer und den Sand mit dem Schweiße ihres Siechtums erfüllt hatten, ihn heimgesucht, gerade wie die tausendfachen Schmerzen, die er von Gott erfleht hatte.

»Aber dann ist ja auch Schnee«, bemerkte Ola nachdenklich. »Ich habe Schnee nicht gern, denn man kann nicht aus dem Haus gehen.«

»Und wenn man ausgehen könnte?«

»O, dann ja, aber die Eltern wollen nicht.«

»Es soll nur Schnee kommen, der wird besser aufräumen, der wird auch die Flöhe töten, und der Hund wird zufrieden sein«.

Und da lachte sie von neuem, denn der Hund hob, um den Worten des Großvaters Nachdruck zu verleihen, ein Bein und biß sich in die Weiche, vor Schmerz und Plage heulend.

»Siehst du, dafür muß er sich jetzt beißen und möchte er auch die Flöhe fressen.«

Sie lachte. Jedes Mittel war gut, um sie zum Lachen zu bringen, während er aus jedem seiner Worte für sich einen furchtbaren Sinn herauslas.

*

Als dann das Gras wieder wuchs und die Binsen auf den Dünen sich wieder erhoben, nachdem der schreckliche Besen des Nordwest den Strand vom Allergröbsten gesäubert hatte, erblühte auch die Blume der Hoffnung wieder in ihm.

Ornella wurde von Tag zu Tag dicker und schweigsamer, und er entdeckte an ihr etwas Neues, einen Abglanz von Sorge in ihren Augen, die klar und hell wurden wie Wasser und bis auf den Grund sehen ließen. Und auf diesem Grunde leuchtete ein Licht auf. Sie wollte nicht mehr aus dem Hause gehen. Sie ging nicht einmal zu den Bauern, und die Bauern kamen zum Schulmeister nur, wenn sie eingeladen waren. Protos Frage, die in der Schwebe blieb, hielt alle in Unruhe. Aber alle erwarteten, daß die Zeit eine Lösung bringen würde, als ob die Entbindung Ornellas den Beginn eines neuen Lebens bezeichnete. Aber was dem Schulmeister am meisten Hoffnung machte, war das Gefühl des Bewußtseins, das er in ihr entstehen zu sehen glaubte. War das das Muttergefühl, das am Werke war? Aber auch die Tiere haben dieses Gefühl, und er wollte sich keinen allzugroßen Täuschungen hingeben.

*

Daß sich in ihr etwas Neues vollzog, zeigte sich auch darin, daß sie plötzlich zu sparen begann. Während sie früher ihren erlaubten und unerlaubten Verdienst vergeudete, gab sie jetzt keinen Soldo mehr aus und versteckte ihr Geld auf dem Dachboden.

Am Ende eines jeden Monats schickte Antonio, der es vermied, dem Schulmeister zu begegnen, den vereinbarten monatlichen Zuschuß mittels eingeschriebenen Briefes. Den Hundertlireschein, der noch die Löcher der Naht aufwies, durch die er an den Briefumschlag befestigt worden war, steckte sie sofort, ohne ihn anzusehen, in die Tasche, von wo er nie wieder zum Vorschein kam. Sie bekam ihn als Lohn für den Dienst beim Schullehrer, aber sie kannte seine Herkunft. In Wirklichkeit war sie die wahre Herrin. Jetzt besorgte er die Einkäufe, und sie brummte, wenn er es nicht gut tat. Die Marktweiber fragten ihn nach ihr, als ob sie seine Frau wäre, und Antonios Freunde, die in der Ecke des Platzes immer ihren Standplatz hatten, lächelten höhnisch, wenn sie ihn vorbeikommen sahen. Er geriet nicht mehr in Zorn, aber er kam sich vor wie ein Seiltänzer, der trotz allergrößter Geschicklichkeit in jedem Augenblick abstürzen kann.

Er war glücklich, als die schlechte Jahreszeit sich in rasender Wut auf die Erde stürzte. So hatte er in der Zeit der Nebel, der Winde und der Regengüsse, die kein Ende nahmen, weniger Gelegenheit, seinesgleichen zu treffen und von ihnen beredet zu werden.

*

Eines Tages kam er pudelnaß nach Hause. Der Wind hatte ihm den Hut weggetragen und er hatte das Gefühl, glatzköpfig geworden zu sein. Ornella war sehr rücksichtsvoll zu ihm. Sie zwang ihn, die Kleider zu wechseln, sie zog ihm die Schuhe aus und er mußte eine Tasse heiße Milch trinken. Und auch sie wurde ganz naß, als sie hinausging, Holz zu holen, um das Feuer anzufachen.

Er setzte sich zum Kamin und glaubte, wieder ein Knabe zu sein, als die Mutter sich um ihn sorgte und ihn an häßlichen Tagen zwang, zu Hause zu bleiben. Eine angenehme Betäubung, wie bei einem Rausch, brachte seine Gedanken durcheinander. Schließlich war es gut, ein Mädchen im Hause zu haben, das sich mit dem materiellen Teil des Lebens beschäftigte. Und diese Ornella ...

»Ornella«, rief er sie, indem er sich umdrehte, um zu sehen, was sie tat. Sie tat ihre gewöhnliche Arbeit: sie hängte seine Wäsche zum Trocknen auf und schälte direkt am Tisch, im trüben Licht des vom Regen gepeitschten Fensters, die Kartoffeln für die Suppe. Und sie tat es mit solcher Sorgfalt, daß die Schale in einem einzigen spiralförmigen Stück wie ein gelbbraunes Band herunterkam.

»Ornella, ich habe heute Nacht einen komischen Traum gehabt. Ich habe geträumt, daß ein Gerichtsdiener hier gewesen war, um mir mitzuteilen, daß die Bewachung ein Ende hat. Der Prozeß der Vatermörder war erledigt und das Gericht hat ihr Vermögen beschlagnahmt, um die Gerichtskosten zu decken. Aber das Merkwürdige ist folgendes: Das Dokument stammte aus meiner Gegend und von der Person, der ich mein Haus verkauft habe. Und es wurde mir aufgetragen, das Haus zurückzukaufen, bei Strafe der Konfiskation.«

Ornella war an dieses Vertrauen nicht gewöhnt. Sie begriff nicht, daß man oft eingebildete Träume erzählt, um einen Vorwand zu haben, seine eigenen Wünsche zu enthüllen. Trotzdem zeigte sie Interesse und bemerkte ernst, als ob es sich um einen wirklichen Fall handelte:

»Und was geht die Konfiskation Sie an?«

»Nichts, aber ich bekam trotzdem eine riesige Angst. Und der Gerichtsdiener hatte sich hier hereingedrängt und wollte nicht eher gehen, bevor ich mich entschieden hatte. Er war ein großer Mensch, mit einem Bart, und während er den Gerichtsdiener machte, wie das in Träumen zu geschehen pflegt, war er einer der Vatermörder, derjenige, der flüchtig ist. Er saß da, hinter der Tür und rührte sich nicht mehr. Ich sah das Dokument an und überlegte, wie ich diese Angelegenheit ordnen sollte. Ich dachte: Marga wird mir helfen können ...«

Bei dem Namen Marga senkte Ornella den Kopf und betrachtete die Kartoffel, die sie in der Hand hielt. Dann fragte sie leise:

»Aber was haben Sie mit dem Geld gemacht, das Sie für das Haus bekommen haben?«

Er antwortete nicht. Das war eine Sache, die mit dem Traum nichts zu tun hatte. Übrigens war in diesem Augenblick der durch den Wind und Regen verursachte Lärm so stark, daß er ihre Worte nicht gehört haben konnte.

»Marga wird mir helfen können«, fuhr er fort, indem er sich zum Kamin wendete. »Und dann geht alles glatt. Ich kaufe das Haus zurück und lasse mich wieder in meiner Heimat nieder. Dort unten kann ich wieder anfangen, Geld zu verdienen. Ich kann Unterricht geben und eine Privatschule aufmachen. Alle Leute haben dort unten Achtung vor mir, und vielleicht war es überhaupt eine Dummheit von dort wegzugehen. Das Haus ist sehr schön, es liegt in der Sonne. Es ist weder ein Obst- noch Blumengarten dabei, aber es liegt ein bißchen außerhalb der Stadt an der Provinzstraße, auf einem grünen Hang mit großen Olivenbäumen, der sich im Tal verliert. Und über dem Häuschen stehen die Berge mit den Eichenwäldern, in die sich nur die Jäger hineinwagen können.«

Ornella hatte jetzt den Blick erhoben. Das graue Zimmer war erfüllt von dem rötlichen Schein des Herdfeuers. Draußen begleitete die rasende Musik des Unwetters die von Heimweh erfüllte Erzählung des Schulmeisters. Und sie hatte das Gefühl, ein Märchen zu hören.

*

Das war der Beginn einer Art von Verführung. Wie die Schlange beim Klange der Flöte des Wilden, so näherte sich Ornella dem Schulmeister, als sie seine Erzählungen aus seiner fernen Heimat hörte.

Hauptsächlich interessierten sie die Jäger, die Winter und Sommer in den Wald gingen und dort die fast wilden Tiere jagten, wie das Wildschwein und den Wolf, nicht ohne dabei Gefahr zu laufen, selbst zum gejagten Wild zu werden.

»Da ist auch der Werwolf, der sich in einen Mann verwandelt«, sagte er einmal. Und der Schulmeister erinnerte sich, daß auch Ola an die Existenz solcher geheimnisvollen Tiere glaubte, mit denen sich eine primitive Denkart noch die Wildheit des Menschen erklärt.

»Der Mann ist es, der sich oft in einen Wolf verwandelt«, erklärte er nicht ohne Ironie, aber sie begriff gewisse Dinge nicht einmal ganz entfernt, und über das Symbol stellte sie immer die Wirklichkeit.

»Aber wie kann er sich verwandeln? Ich glaube nicht an solche Sachen.«

Trotzdem fürchtete sie sich vor den Toten und sie behauptete ebenfalls, in dem verfluchten Hause irgendein seltsames Geräusch zu hören. Als eines Abends jemand an die Tür klopfte, wollte sie nicht öffnen, denn, so sagte sie leise zum Schulmeister, indem sie ängstlich näher kam, das mußte der Geist des von den Kindern ermordeten Vaters sein.

»Ach, das wird Proto oder Gesuino sein«., sagte er ärgerlich.

Übrigens konnte er selbst nicht öffnen, denn er lag schon im Bett und schwitzte. Seit dem Tage nämlich, wo er ganz durchnäßt nach Hause gekommen war, hatte er ein bißchen Fieber und rheumatische Schmerzen.

Nachdem er an die Tür geklopft hatte, klopfte der Mann ein bißchen schüchtern, aber hartnäckig an das Fenster.

Ornella faßte Mut und fragte mit lauter Stimme:

»Wer ist da?«

Und der Schulmeister war einverstanden, daß sie nicht öffnete, als eine unbekannte Stimme antwortete:

»Freunde.«

»Was für Freunde?« schrie er da, indem er den Kopf aus der Decke steckte.

Der Mann draußen zögerte. Dann antwortete auch er mit lauter Stimme:

»Ich bins, Adelmo Bianchi.«

Für einen Augenblick entstand allgemeines Schweigen, auch die Bäume hörten auf zu rauschen. Es war einer jener dunklen Augenblicke, die wie Schlußpunkte zwischen zwei Akten der großen Dramen sind.

Adelmo Bianchi war der Vatermörder.

»Öffne«, sagte der Schulmeister zu Ornella, und da sie sich, bleich vor Schrecken, nicht bewegen konnte, schickte er sich an aufzustehen.

Die Stimme von draußen fuhr fort:

»Wenn es Ihnen unangenehm ist, öffnen Sie nicht. Ich bin nur gekommen, um das Haus zu sehen, denn in einer Stunde reise ich ab und komme nie wieder.«

Es war eine jener leidenschaftlichen, süßen und warmen Stimmen, wie man sie nur im Theater hört. Ornellas Angst machte sich nun in einem krampfhaften Zittern Luft, als ob jene Stimme sie verzweifelt am ganzen Körper liebkoste.

Auch der Schulmeister beherrschte sich, aber er fühlte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren herausbrach und wieder erkaltete, nicht etwa aus Angst vor dem Vatermörder, sondern wegen der Unannehmlichkeiten, die ihm aus diesem Besuch entstehen konnten. Dennoch wiederholte er:

»Öffne.«

Und Ornella öffnete und versteckte sich hinter der Tür, bis der schreckliche Besucher in der Mitte des Zimmers war. Dann schloß sie die Tür wieder, leise, und sah ihn enttäuscht und fast entrüstet von hinten an.

Es war ein sehr kleiner junger Mann, mager, schlecht gekleidet. Er sah wie ein Vagabund aus, er trug einen Sack, der ein alter Soldatentornister war, und auf dem Kopf eine Soldatenmütze, die er abnahm, um den Schulmeister zu begrüßen.

Jetzt stellte sich Ornella, die einen Kopf größer war als er, hinter ihn, in der Absicht, ihn, wenn er nur einen Finger rührte, um etwas Schlechtes zu tun, in ihren Armen zu zermalmen.

Der Schulmeister jedoch dachte an eine Irreführung, an einen schändlichen Spaß, den sich Antonios Freunde mit ihm erlaubten. Aber obzwar sein Kopf von seinem Unwohlsein ein bißchen benommen war, ließ er sich weder von Empörung noch von Zorn hinreißen.

Als aber der junge Mann vor ihm stand, demütig und ehrfurchtsvoll, und er sein Gesicht gut ins Auge fassen konnte, zweifelte er nicht länger. Es war ein Gesicht, geschnitzt aus dunklem, wurmstichigen Holz, dessen Mund von einem Haarflaum umgeben war und dessen große Augen und Gesichtszüge tiefe schwarze Aushöhlungen bildeten. Es war das Gesicht der Strafe selbst.

*

»Ich liege schon im Bett, weil ich mich nicht wohl fühle,« sagte der Schulmeister, um sich zu entschuldigen. »Ornella, bringe einen Stuhl.«

Der junge Mann drehte sich um, um sich diese Ornella anzusehen, und errötete, als er dieses schöne Riesenweib fast in seinem Rücken fühlte.

»Ist das Ihre Frau?« fragte er stumpfsinnig und riß die Augen weit auf, weil sie lachte, jenes entzückende alberne Lachen, mit dem sie früher die Schmeicheleien und Unverschämtheiten der Männer entgegenzunehmen pflegte.

»Sie ist meine Gesellschafterin«, sagte der Schurmeister, der gleichfalls von einer ungewohnten und boshaften Lustigkeit erfaßt wurde. »Setzen Sie sich.«

Der junge Mann setzte sich, indem er den Tornister und die Kappe auf die Erde stellte, ohne den Blick von Ornella zu lassen, die sich auf das Fußende des Bettes stützte, als wollte sie ihren Herrn gegen jede nur mögliche Gefahr schützen.

Aber ihre Gegenwart ärgerte den Schulmeister.

»Mach eine Tasse Glühwein,« sagte er zu ihr, dann wendete er sich zu dem jungen Mann. »Oder wollen Sie etwas essen? Genieren Sie sich nicht.«

»Danke, danke, ich will nichts. Ich wollte nur das Haus sehen. Ich habe endlich einen Paß und will weit weggehen, in die unbekanntesten Gegenden der Welt. Dann werde ich mir wie ein vom Tode Auferstandener vorkommen. Vielleicht habe ich auch Glück.«

»Vielleicht,« bestätigte der Schulmeister. »Aber würde es, auch im Interesse Ihres Bruders, nicht besser sein, wenn Sie sich stellen?«

»Ich mich stellen? Warum? Um zu Zuchthaus verurteilt zu werden? Und was soll das meinem Bruder nützen? Ich werde ihm anders und besser nützen können, wenn ich in Freiheit bin.« Und er fügte mit Bitterkeit hinzu: »Wenn man das Leben in der Fremde Freiheit nennen kann, unter unbekannten Leuten, ohne Freunde, ohne Verwandte und Bekannte. Mein Körper wird frei sein, aber meine Seele wird ewig gefangen sein, in dieser Welt oder in der anderen.«

»Und warum gehen Sie dann?«

»Und warum dann leben? Man geht, man geht, vom Schicksal getrieben, wie der Sand vom Winde. Als ich hier lebte, mir scheinen es hundert Jahre her zu sein, spielte ich auf der Okarina ein Liedchen, in dem es auch so hieß:

Wie den Sand der Wind
So treibt uns das Schicksal ...«

Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, begann er das Liedchen zu pfeifen.

Ornella, die den Glühwein zubereitete, drehte sich um und sah ihn an. Sie war wieder nahe daran zu lachen, aber wieder bezauberte die Stimme des fremden Mannes ihr Herz. Alles, was er sagte, schien ein Lied zu sein. Auch der Schulmeister begann sich zu interessieren und neugierig zu werden, obgleich die Augen des jungen Mannes, mit der großen starren Pupille und der dunklen Regenbogenhaut inmitten des zu vielen Weißen, den Wahnsinn offenbarten. Und er erinnerte sich der Worte Protos: Der Wahnsinn ist die Ursache vieler Verbrechen.

»Wo sind Sie die ganze Zeit gewesen?«

»Das weiß ich nicht einmal. Mir ist ganz wirr im Kopfe. Zuerst bin ich unten gewesen, in der Nähe der Roten Inseln, in einer Meeresgrotte, die nur Wenige kennen. Drei Tage und drei Nächte habe ich nichts zu mir genommen. Fledermäuse gab es in dem Loch wie Fliegen, und ich hatte solche Angst, bis ich aus Wut eine erwischte und sie warm und weich in meiner Hand spürte wie ein ängstliches Mäuschen. Da schloß ich Freundschaft mit ihnen. Sie erschienen mir wie meine Gedanken, schwarz, angstvoll, ohne Schlaf.«

»Haben Sie studiert?« unterbrach ihn der Schulmeister, der ebenfalls von der literarischen Begabung des jungen Mannes überrascht war.

»Ja. Das war unser Unglück, meines und das meines Bruders. Wir haben bis zur fünften Gymnasialklasse studiert, wir besuchten dieselbe Schule, obzwar er zwei Jahre älter war als ich. Dann mußten wir uns trennen. Die Mutter, die uns unterstützte, starb, er, mein Vater, wurde nach diesem Unglück ein Sonderling, geizig und hochmütig. Er zwang uns, Bauern zu werden. Mein Bruder brannte durch, kam aber bald wieder. Und da begannen die Streitigkeiten, die Handgreiflichkeiten meines Vaters ihm gegenüber. Eines Morgens prügelte er ihn im Schlafe. Sein Geschrei und Weinen habe ich jetzt noch im Kopf und im Blut. Herrgott, warum erlaubst du solche Greuel?«

Er packte seinen Kopf mit beiden Händen und schloß die Augen, als ob er noch die wilden Wehlaute seines Bruders hören würde. Dann ließ er die Arme sinken und den Kopf auf die Brust fallen.

»So oft hadere ich mit Gott,« fuhr er fort, als ob er zu sich spräche, »und verlange Rechenschaft von ihm für die Untat. Ich war gut, ich war unfähig, einer Fliege weh zu tun. Ich ließ die Saat lieber von Ameisen zerstören, bevor ich diese vernichtete, denn ich war und bin überzeugt, daß auch die Tiere eine Seele und das Recht auf Leben haben. Wie sonst könnte man sich Gott und die Erschaffung der Welt erklären? Aber dieser Gott, dieser Gott, der uns alle zum Leiden erschaffen hat? Warum werden wir unaufhörlich vom Übel überwältigt?«

»Gott ist in uns. Und es steht in unserer Hand, das Übel zu überwinden,« sagte der Schulmeister.

Der junge Mann erhob die Augen, doch hielt er den Kopf gesenkt, und das Weiße des Auges leuchtete wie Porzellan.

»Nichts als Worte!« rief er aus. »Es ist sehr leicht, sie auszusprechen, aber schwer, sie in die Tat umzusetzen. Auch ich dachte so als Knabe, als ich in die Schule ging und die schönen Anthologien las. Aber dann ...«

»Es ist nie zu spät, den bösen Geist zu besiegen. Und Gott hat vielleicht eine Vorliebe für Menschen, die sich einmal vom Übel derart haben überwältigen lassen, wenn er ihnen gestattet, sich höher zu erheben als die anderen und nur dem Streben nach dem Guten zu leben. Denken Sie nicht auch so?«

»Ja, und gerade deswegen will ich mich nicht einsperren lassen. Ich will leben, arbeiten, Gutes tun. Aber die Verzweiflung übermannt mich allzuoft. Ich bin allein und verfehmt, ich werde keine Liebe mehr haben, ich werde keinen Menschen mehr um mich haben. Auch wenn ich eine Frau träfe, die mir gut will, könnte ich sie nicht besitzen, weil der Geist meines Vaters zwischen ihr und mir stünde und mein Kind mein Verbrechen büßen müßte.

»Einbildung, mein Sohn,« sagte der Schulmeister im Tone des Mitleids. »Solange Sie so denken, werden Sie vielleicht dem Geist des Bösen unterworfen sein, und das ist es, nicht der Schatten Ihres Vaters, was Ihre Seele verdunkelt. Dort, wo Sie hingehen wollen und wo ich Ihnen schnell und gut anzukommen wünsche, weiß kein Mensch von Ihrer Vergangenheit. Löschen Sie sie auch aus Ihrem Herzen aus und alles wird wieder gut werden.«

»Nein, nein, im Gegenteil! Ich will mich erinnern und mich von meinem Schmerz nähren. Und wenn ich eine Frau treffen werde, die mein Schicksal wird teilen wollen, werde ich ihr sagen, wer ich bin, damit sie mich nimmt, wie ich bin, so wie ich auch sie nehmen würde, selbst wenn sie unglückseliger wäre als ich. Aber lassen wir die Zukunft. Ich werde inzwischen für meinen Bruder arbeiten müssen. Wenn auch er frei wäre wie ich! Zusammen würden wir vielleicht die Empfindung haben, daß wir noch glücklich sein, daß wir unserem Vater das Leben zurückgeben können. Zuweilen erscheint mir alles wie ein Traum und ich versuche zu erwachen, aber ich kann nicht. Auch jetzt glaube ich zu träumen. Dies hier ist die Mauer unseres Hauses. Dort drüben ist alles noch so wie früher, die Mutter sorgt noch für uns, mein Bruder macht seine Lateinaufgabe und ich spiele auf der Okarina. Hören Sie? Hören Sie?«

Man hörte nur das Brausen des Windes, der über das Dach hinwegfegte, aber es schien tatsächlich, daß die Familiengeister sich in der Nacht ein Stelldichein beim Hause ihrer alten Liebe gegeben hätten.

Ornella hörte, mit der Tasse Glühwein in der Hand, ganz bestürzt zu. Ihr Riesenschatten erfüllte die Wand und schien mit dem Kopf den Dachboden zu durchstoßen, um die draußen flüsternden Geister zu sehen.

*

Nachdem der junge Mann den Wein getrunken hatte, schien er zunächst zu erschlaffen, als ob er von einer unüberwindlichen Schlaftrunkenheit überwältigt worden wäre. Dann bekam sein Gesicht Farbe, die länglichen, frauenhaften Hände, die die Tasse umklammert hielten, um sich zu erwärmen, wurden rosig und auch die Stimme wurde wärmer und geschmeidiger.

»Wovor ich mich am meisten fürchte, ist die Kälte. Ich ertrage sie nicht, und ich möchte den Winter am liebsten wie der Maulwurf unter der Erde verbringen und schlafen. Die Wärme hingegen ist mein Element, und deswegen gehe ich in sonnige Länder, nach Australien oder in das Innere von Südamerika. Ich will wie eine Schlange leben, in der Sonne, oder in den Wäldern, wo die Blätter so groß sind, daß der Mensch auf ihnen ruhen kann wie in einer Wiege, und die ausgehöhlten Stämme der Bäume als Hütte dienen. Von der Fischerei und der Jagd leben, wiederum nackt mit der jungfräulichen Natur in Verbindung stehen, das ist mein Traum. Aber ich muß auch arbeiten, für meinen Bruder, und vielleicht wird mich das Schicksal in die großen Industriestädte verschlagen, in die Gruben, wo aus dem Schweiß der Arbeit Gold gemacht wird. Doch genug davon, Gott wird mir helfen. Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen schreiben, und Sie, der Sie so gut zu mir sind, werden mir auch schreiben,« sagte er darauf, indem er sich umsah. Seine aufgerissenen Augen starrten nochmals auf Ornella, und da sie ihn ganz verzaubert ansah, begegneten sich ihre Blicke und verschmolzen zügellos ineinander wie die zweier Liebenden.

Der Schulmeister beobachtete alles und empfand Ärger darüber. Diese Hure versuchte ihre Künste sogar an einem Mann, der auf eine Stunde zu ihnen gekommen war, an dem letzten der Verbrecher, den der Wind des Schicksals in der nächsten Stunde auf immer forttrug. Aber auch er hatte die Empfindung zu träumen. Sein Puls schlug heftig und die Hitze sowie das Sausen in seinen Ohren sagten ihm sofort, daß er Fieber hatte. Die Gespräche des jungen Mannes erschienen ihm immer zerfahrener und wurden ihm lästig. Er schloß die Augen, um seine Müdigkeit zu zeigen, aber der junge Mann drehte sich auf seinem Stuhl um und sprach, zu Ornella gewendet, weiter:

»Ich glaube, ich habe einmal mit dir getanzt, vor zwei oder drei Jahren, auf einem Maskenball. Ich erinnere mich, denn du warst schon so groß, wenn auch nicht so dick, während ich damals noch viel kleiner war. Wie alt glaubst du, bin ich? Ich bin noch nicht neunzehn Jahre alt, aber ich habe das Gefühl, hundert Jahre alt zu sein. Im nächsten Jahre werden sie mich übrigens zum Deserteur erklären, obwohl es schon als Knabe mein Ideal war, Soldat zu werden und dem Vaterland würdig zu dienen. Gott will nicht, aber das macht nichts. Dort, wo ich hingehen will, werde ich mich vielleicht in die Kolonialmiliz anwerben lassen können, und da es mir nicht an Mut gebricht, werde ich mich auszeichnen können und Offizier werden. Hast du schon einmal einen Offizier der Kolonialarmee gesehen?«

Sie hatte nie einen gesehen, aber plötzlich sah sie ihn vor sich, in rotgoldener Uniform, geschmückt mit den grünlichen Federn unserer Bersaglieri, mit dem Säbel, der in der Tropensonne blitzte. Sie antwortete nicht, auch um nicht vom Schulmeister gehört zu werden, aber so ganz allmählich drehte sie sich hierhin und dorthin und näherte sich dem jungen Mann, als ob er sie mit einem unsichtbaren Faden an sich zöge. Und je mehr sie sich ihm näherte, desto besser schien er sie zu erkennen.

»Ja, ganz bestimmt habe ich auf dem Maskenball mit dir getanzt, vor zwei Jahren. Du hattest ein grünes Kleid an, wie deine anderen Freundinnen und ein Mann in Maske. Ja oder nein? Wer war das?«

Ornella zuckte die Achseln. Sie wußte, daß sie vor zwei Jahren auf diesem Maskenball nicht war, sie erinnerte sich sogar, daß Antonio ihr verboten hatte hinzugehen. Aber es machte ihr Vergnügen, daß der junge Mann glaubte, tatsächlich mit ihr getanzt zu haben.

»Das ist der letzte Ball, den ich mitgemacht habe. Als ich in jener Nacht vom Maskenball nach Hause ging, habe ich mir eine Erkältung geholt, und dazu habe ich noch eine Mittelohrentzündung und Gehirnhautentzündung bekommen. Drei Monate habe ich zwischen Tod und Leben geschwebt und so recht erholt habe ich mich nie mehr. Alles ging mir auf die Nerven, und die ewigen Streitigkeiten zwischen meinem Vater und meinem Bruder erregten in mir den Eindruck, tot und zur Hölle verdammt zu sein. Wenn ich die Träume, die ich in dieser Zeit gehabt habe, niederschreiben könnte, würde das ein schreckliches Buch sein, schrecklicher als die Göttliche Komödie. Und ich habe noch solche Träume. Ich glaube entweder in der Wüste zu sein, zwischen Sandmassen, die sich bewegen und lebende Wesen sind, die vom Winde gefoltert werden, der sie fortwährend verwandelt, oder auf dem Meere, wo die Wellen dasselbe Spiel treiben, aber heiterere Wesen sind, wenn auch von einer bösen Heiterkeit. Oder auch, ich gehe aufwärts, aufwärts, über eine Steintreppe, aus deren Ritzen Vögel und Schlangen hervorschießen, und plötzlich finde ich mich von zwei Felsen eingeschlossen und über einem Abgrund ohne Boden schwebend. Das sind die Träume des aufgeregten Bluts, das weiß ich, und doch leide ich schrecklich darunter. Aber ich fliehe nicht vor ihnen, im Gegenteil, ich liebe sie, denn leiden heißt büßen, und ich will büßen. Leiden, bis der Schmerz mein Blut reinigen und mein Fleisch und mich erneuern wird wie ein unschuldiges Kind.«

»Deswegen will ich mich nicht einsperren lassen,« fuhr er fort, indem er sich zum Schulmeister wendete, als ob er der Versuchung der Frau entfliehen wollte. »Im Kerker würde ich zur Ruhe kommen, würde ich wie die anderen werden, die ihre Strafe ruhig ertragen, deren Seelen aber bereits tot sind. Ich will leben, ich gehe in die Welt, nicht um die Freiheit, sondern um den Schmerz zu suchen. Ich rede nicht irre, wie Sie vielleicht glauben, ich bin ein Mann, der durch das Leben geht wie die Wolke auf dem Himmel. Ich komme vom Sturm, ich kehre zum Sturm zurück. Und wenn die Wolke den Hagel hinunterschleudert, der die Ernte zerstört und die Vögel tötet, wer trägt die Schuld? Ebenso habe ich meinen Vater getötet, weil das Schicksal mich dazu getrieben hat. Wenn ich mich stellen wollte, würde ich freigesprochen werden, denn mein Anwalt würde beweisen, daß ich im Augenblick der Begehung der Tat geisteskrank war. Aber ich will nicht. Ich will meinen Kreislauf vollenden, wie mein Schicksal es will. Wenn sie mich erwischen, so heißt das eben, daß es so sein muß. Aber sie werden mich nicht erwischen. In diesen letzten Monaten habe ich wie die wilden Tiere gelebt, unter der Erde, zwischen Felsen und Buschwerk, und habe mich von Gräsern und Früchten genährt. Ich weiß nicht mehr, wie Brot schmeckt, und der Wein, den mir diese Frau gereicht hat, hat meinen Kopf erhitzt. Ich fühle, daß ich nun genug geschwätzt habe. Ich schwöre, daß ich keinen Tropfen Wein mehr trinken werde.«

Dann sah er auf die Weckeruhr, die oben auf dem Schrank stand, weiß und gleichgültig wie der Mond, und ihre Zeiger ununterbrochen im Kreise drehte. In dem Schweigen öffnete der Schulmeister die Augen und sah, das Ornella sich wieder auf das Fußende des Bettes stützte, aber mit gesenktem Kopf.

»Noch fünf Minuten,« begann der junge Mann wieder, indem er immerzu die Uhr ansah. »Um die Wahrheit zu sagen, bin ich mit schlechten Absichten hergekommen. Ich wußte, daß der Wächter des Hauses ein schwacher, unbewaffneter Mann war und nicht einmal einen Hund hatte. Ich war in der Absicht gekommen, unter allen Umständen in das Haus einzudringen. Unter allen Umständen, verstehen Sie? Ich wollte unsere Wohnung wiedersehen und etwas mitnehmen, wenigstens die Okarina und den Ehering meiner Mutter. Man sagt, daß der Ehering der Mutter Glück bringt. Ich wollte ihn mitnehmen, schon vor der Untat, aber wehe, wenn ich etwas angerührt hätte!! Daraus entstanden die schrecklichsten Streitigkeiten zwischen uns. Aber jetzt werde ich mich nicht daran kehren. Ich werde auf meinen Schuhsohlen ein bißchen Erde mit mir nehmen!«

Und endlich lächelte er, ein Lächeln, das, obgleich es zwei Gruben in seine Wangen grub und die Augen mit Runzeln umgab, ihn verjüngte und verschönte, das aber rasch verflog. Und es war, als ob er für einen Augenblick seine tragische Maske gelüftet hätte, um sein wahres Jünglingsgesicht zu zeigen.

»Wenn Ihnen etwas von den Sachen hier gefällt,« sagte der Schulmeister, »nehmen Sie es ruhig mit.« Der junge Mann sah sich um, als ob er wirklich einen Gegenstand aussuchen wollte, seine Augen blieben wieder auf Ornella haften, wieder erschien das Lächeln und verschwand es.

»Ich möchte dieses Mädchen mitnehmen.«

Aber sie senkte, von diesen letzten Worten tödlich getroffen, ihren Kopf noch mehr. Und auch der Schulmeister antwortete nicht auf diesen Scherz, vielmehr beharrte er:

»Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es nur: wenigstens etwas Brot und Schinken für die Reise. Ornella ...«

Ornella erhob sich sofort. Auch der junge Mann erhob sich, indem er seinen Tornister ergriff, stand eine Weile still, dann sagte er:

»Danke, ich brauche nichts. Nur, wenn Sie es erlauben, gebe ich Ihnen einen Kuß.«

Und da der Schulmeister seinen Kopf aus der Decke heraussteckte, bückte er sich und küßte ihn auf die von Schweiß feuchte Stirn. Dann öffnete Ornella die Tür, und er ging.

Am Morgen danach, am frühen Morgen, ging Ornella zu den Bauern, um sie zu bitten, den Arzt zu holen. Das Fieber war in der Nacht gestiegen, und der Schulmeister konnte nur mühsam atmen.

»Wer ist gestern abend bei Ihnen gewesen? Der Hund war unruhig, obzwar er nicht bellte.«

»Niemand ist bei uns gewesen,« erklärte sie kurz und bündig.

Der Doktor kam erst gegen Mittag auf seinem Rad, mit der wasserdichten Kapuze, die ganz leuchtend war und von Regen troff.

Sein schwarzes, von der Kapuze bedecktes Gesicht schien für den Kranken nicht von guter Vorbedeutung zu sein, aber diese Todesbotschaft war ihm willkommen. Er war müde. Vielleicht wollte ihn Gott wieder zu sich nehmen und so die Probleme seines armseligen Lebens lösen. Und er überließ sich seiner Krankheit mit der Traurigkeit, die die Krankheit dem Fleisch verleiht, aber mit einem Hoffnungsstrahl in der Seele, die zu der großen Reise bereit ist.

Aber der Arzt sprach ihm Mut zu. Er war auch schon ein bißchen alt, müde und schüchtern, glaubte nicht an sein Wissen und suchte den direkten Weg zum Herzen des Kranken. Das Erste, was er tat, war, dieses Herz zu untersuchen, und wenn er es physisch gesund fand, gab er dem Kranken die Zuversicht der Rettung, auch wenn er dem Tode geweiht war.

»Es ist alles eine Frage des Herzens,« sagte er zum Schulmeister, indem er ihn wieder zudeckte, nachdem er ihn genau untersucht hatte. »Der Mensch leidet mehr oder weniger und bereitet mehr oder weniger Leiden, je nach der Beschaffenheit seines Herzens. Es ist zwecklos, die Ursache unserer physischen oder moralischen Krankheiten in den anderen Organen zu suchen. Wenn das Herz gut in der Mitte des Körpers sitzt und dem Blut genaue Befehle erteilt, ist alles gut. Es ist wie der Kommandant eines Heeres. Ihr Herz ist gut. Beunruhigen Sie sich also nicht, wenn Sie wegen der Bronchitis ein bißchen schwer atmen. Schwitzen Sie, trinken Sie heiße Milch und decken Sie sich gut zu. Schluß.«

Am Nachmittag wurde das Fieber und die Atemnot heftiger. Wenn sie sich dem Bett näherte, hatte Ornella den Eindruck, vor dem Kochherd zu stehen, wenn der Topf summt. Der Kranke schwieg, klagte nicht einmal, wenn der röchelnde Husten ihn zwang, sich aufzurichten und sich vor Schmerzen zu krümmen. Und sie betrachtete ihn ängstlich und war im Zweifel, ob sie seine Verwandten verständigen sollte oder nicht.

Dieser Zustand ließ beide den seltsamen Besuch von gestern Abend vergessen. Wenn die Krankheit ihn nicht plagte und er ruhig dalag, warf der Schulmeister die Person des Vatermörders und andere Personen, die er im Fieberwahn sah, durcheinander. Alles war ein Traum gewesen. Alles war ein Traum, und selbst sein Leben, das so schnell verging wie jener trübe Regentag, war nichts als ein Traum.

*

Die Bauern waren bei dieser Gelegenheit von rührender Dienstbeflissenheit und Sorge, sie kamen jeden Augenblick, um sich zu erkundigen, und Gesuino zündete sogar ein Licht vor einem Heiligenbild an, das neben seinem Bett hing. Proto erinnerte sich, daß seine Frau alle Krankheiten mit einem Aufguß von gekochten Lindenblüten heilte. Er gebrauchte dieses Mittel auch, und er beschloß, für den Schulmeister einen Tee zu kochen. Er trug ihn ganz heiß in einer Tasse zu ihm und gab ihn ihm zu trinken. Dann erbot er sich, die Nacht bei ihm zu wachen.

»Nein, nein,« sagte der Kranke, »morgen wird es schon besser sein.«

Am nächsten Tage wurde es schlechter.

*

So gingen die Tage dahin, und er fühlte, wie er tiefer und immer tiefer fiel, als ob die Matratze sich unter ihm geöffnet hätte. Das Wetter draußen war auch krank. Von dem immer schwarzen Himmel fiel unaufhörlich Regen, und das Meer und der Wind begleiteten ihn mit ihrem Heulen. Auch Ornella war blaß geworden, und ihre feuchten Haare sahen dunkel aus. Glücklicherweise besorgten die Bauern alles. Unter dem Schutz des großen blauen Familienschirms ging Proto in die Stadt, um einzukaufen, und wenn er zurückkam, sahen seine Schuhe wie zwei Barken aus, die man in dem Sturm mit Mühe aus dem Wasser gezogen hatte.

Eines Abends brachte er eine in weißes Papier gut eingewickelte Flasche, die nach Apotheke roch, und sagte naiv, daß er den zweiten Arzt konsultiert habe.

»Mein Bruder Gesuino hat Bronchitis. Verschreiben Sie mir etwas,« sagte ich zu ihm. Und er hat mir diese Medizin verschrieben. Sie löst gut den Schleim. Einen Löffel jede Stunde. Da.«

Er nahm die Flasche und stellte sie auf den Schrank. Dann bat er Ornella um einen Löffel.

»Sehr gut,« sagte der Schulmeister. »Und Sie behaupten, an keinen Arzt und an keine Medizin zu glauben.«

»Der Arzt, der herkommt, läßt die Leute sterben, weil er keine Medizin verschreiben will,« erwiderte Proto, um sich nicht zu widersprechen.

Und er zwang den Kranken, einen Löffel von der Medizin zu nehmen, die nichts anderes war als ein harmloser Sirup gegen Kinderhusten.

An diesem Abend begann sich sein Zustand zu bessern.

*

Nun gestattete der Schulmeister, daß Gesuino seine Familie von seinem Zustand benachrichtigte, auch weil das Wetter sich aufgehellt hatte und Marga dann vielleicht kommen würde, um ihn zu besuchen.

Gesuino kam etwas verlegen wegen der Antwort zurück.

»Ihre Schwiegertochter wird gleich da sein, sie kommt mit dem Kind, aber ...«

»Aber?«

Gesuino schnitt eine Grimasse mit dem Mund, indem er auf Ornella zeigte. Ja, es war besser, daß die Kleine Ornella in diesem Zustande nicht sah. Aber warum? fragte sich der Schulmeister. Ola war zu unschuldig, um den Zustand Ornellas zu begreifen. Die Großen sind es, die den Kleinen ihre eigene Bosheit zutrauen und sie in ihnen erwecken. Aber Ornella hatte schon selbst verstanden und wollte sich nicht zeigen, vor allen Dingen nicht vor Marga. Sie hatte auch die Absicht, sich an Gesuino zu rächen.

»Gesuino, während du einen Augenblick hier bleibst, werde ich an eurem Brunnen schnell ein paar Sachen waschen, denn es ist noch Sonne. Du gestattest doch?«

Und sie ging, auch ohne seine Erlaubnis. Er verfolgte sie mit einem bösen Blick, der durch den Gedanken erzeugt wurde, daß sie sich jetzt mit Proto unterhalten würde.

»Was hat Ihnen Marga gesagt?« fragte der Schulmeister mit dünner und zittriger Stimme. Aber auch diese armselige Stimme war nicht imstande, die Entrüstung Gesuinos zu zügeln. In dem gelblichen, weiten, pelzbesetzten Mantel, mit der Mütze, die gleichfalls aus Fell und wie eine Haube über das rötliche Gesicht gezogen war, erweckte er, zornig wie er war, den Eindruck eines wilden Eskimos.

Aufgeregt ging er im Zimmer auf und ab, dann pflanzte er sich breitspurig vor dem Bett auf.

»Was mir die Schwiegertochter gesagt hat? Nichts hat sie mir gesagt. Sie scheint vom Mond zu kommen. Sie scheint nicht einmal etwas von dem Zustand des Mädchens zu wissen.«

Und als der Schulmeister ihn mild und schweigend ansah, fuhr er auf:

»Wissen Sie aber, daß sie frech ist, dieses Mädchen? Was hat sie jetzt am Brunnen zu tun? Sonne ist keine mehr. Sie ist es, die mit Proto sprechen will.«

»Lassen Sie sie doch sprechen. Was ist dabei?«

»Nichts. Aber die Leute klatschen. Und schließlich würde es besser sein, wenn dieses Mädchen sich nicht vom Hause wegrührte.«

»Aber Sie selbst haben ihr doch jetzt zu verstehen gegeben, daß sie verschwinden sollte.«

»Sie hätte ja auf den Dachboden hinaufgehen können,« sagte Gesuino und blickte tragisch in die Höhe. Und der Schulmeister lächelte, aber leise, denn der andere fragte mit brutaler Naivität: »Wo wird sie entbinden?«

»Jesus wurde in einem Stall geboren. Gott wird schon helfen.«

Gesuino wurde über das ganze Gesicht violett und brummte:

»Gott ... Gott ...« dann schien er über ein anderes Thema zu sprechen: »Ihre Schwiegertochter sagte mir, daß ihr Mann seit voriger Woche in Geschäften draußen ist und daß er sich deswegen nicht hat sehen lassen.« »Das macht nichts. Und sagen Sie mir, Gesuino, hat sie Ihnen geraten, daß Ornella verschwinden soll?«

»Aber wenn ich Ihnen sage, daß sie nichts weiß. Oder stellt sie sich nur, als ob sie nichts weiß? Die ganze Welt weiß es doch schon,« fügte er ungeduldig hinzu. Und da er noch furchtbar unter dem Gedanken einer möglichen Unterhaltung zwischen Proto und Ornella litt, ging er zur Tür hinaus.

»Lassen Sie sie gehen«, beharrte der Schulmeister. »Die werden ja doch heute oder morgen heiraten. Was sagen Sie dazu? Geben Sie mir nicht recht?«

»Wie Gott will«, sagte der Bauer, indem er sich resigniert umdrehte.

Da brachte der Schulmeister den von Gesuino bereits angedeuteten Gedanken zum Ausdruck.

»Gott, Gott, ja, gut, aber wir laden Gott alle Verantwortungen auf, die uns lästig sein können.«

»Ganz richtig. So ist es.«

»Und überhaupt, einer von euch beiden muß Ornella heiraten. Ob Proto, ob Sie, das ist mir gleich.

»Das Fleisch des Hirschen hat mir nie geschmeckt,« sagte Gesuino mit einer Grimasse des Ekels. Und er schien zu bereuen, schon zu viel gesagt zu haben, und entschlossen zu sein, nichts weiter zu sagen. Aber nachdem er sich ans Feuer gesetzt hatte und sich bückte, um es anzufachen, fühlte er das unwiderstehliche Verlangen, seinen Entschluß zu erklären: »Wenn mein Bruder diese Dummheit begeht, versichere ich Ihnen, daß das Mädchen anständig wird. Das lassen Sie meine Sorge sein, Himmelkreuzdonnerwetter!«

Die Ankunft Margas und Olas hinderte den Schulmeister, seine Meinung zu sagen. Übrigens wurden alle Krankheiten der Welt vergessen, als Olas Gegenwart die Luft ringsum erhellte, und tatsächlich strahlte ihr rotes Wollkleidchen ein Gefühl von Licht und Wärme aus.

Aber ihre Händchen, die der Großvater in den seinen hielt, waren kalt, als ob sie im Eis begraben gewesen wären. Und auch die Nasenspitze, die sein Gesicht streifte, hinterließ den Eindruck einer gefrorenen Frucht. Aber aus dem Mund kam ein warmer Hauch, wie aus der Erde in der Morgendämmerung des Frühlings, und ihre Augen erinnerten an die aufgehende Sonne.

»Ich küsse dich nicht, um dich nicht anzustecken,« sagte der Großvater, indem er sie gegen seinen Willen zurückhielt, »setz dich zum Kamin und wärm dich.«

Ola betrachtete jedoch mit Mißtrauen den gelblichen und rauhen Mann, der immer noch gebückt ins Feuer hineinblies.

»Er ist kein Menschenfresser. Ola, geh nur.«

»Was ist er denn?« sagte sie mit ihrer unschuldigen Frechheit. Das genügte, um den Großvater nach so langer Zeit wieder zum Lachen zu bringen. Die Falten, die der Schmerz und die Krankheit in sein Gesicht gegraben hatten, glänzten wie die Ackerfurchen nach einem Regen, wenn die Sonne wieder da ist.

Marga sah bald den einen, bald den anderen an, ohne Neugier, ruhig und kühl. Das Winterkleid aus schwarzem Samt, das mit einer bäuerischen Goldspitze garniert war, verlieh ihr das Aussehen einer alten Dame, und auch ihr glattes Gesicht, das von der Kälte ungewöhnlich rot war und um das sie einen Schal aus weißer Wolle gebunden hatte, schien bemalt und gefirnist zu sein.

»Warum haben Sie nicht sofort nach uns geschickt?« tadelte sie mit Sanftmut. »Antonio ist seit voriger Woche unterwegs, da er den direkten Versand der Fische an die Grossisten in der Provinz versuchen möchte. Auch ich war nicht auf dem Posten, und niemand hat mir etwas von Ihnen gesagt.«

»Macht nichts,« sagte er, indem er sich ein bißchen aufrichtete, um Ola besser sehen zu können. »Jetzt ist das Schiff wieder in Ordnung und alles geht besser. Was hast du da in dem Paket mitgebracht? Du weißt, Marga, daß ich nichts brauche.«

»Das ist Ola gewesen. Nicht wahr, Ola, du hast doch dem Großvater etwas mitbringen wollen? Dreh dich ein bißchen herum und steh still, du, meine Verzweiflung.«

Ola versuchte auf den Dachboden hinaufzusteigen, und da man es ihr nicht erlaubte, fragte sie, wo Ornella wäre, und als sie hörte, daß sie bei den Bauern war und Wäsche wusch, fragte sie, ob sie hingehen dürfe, um sie zu sehen. Da erhob sich Gesuino und erbot sich, sie zu begleiten.

»O Gesuino,« rief der Schulmeister, indem er ihm mit der Hand drohte. »Du mußt wissen, Marga, daß unser Gesuino in Ornella verliebt ist.«

Marga lachte nicht und sprach nicht, aber aus der Art, wie sie sich umdrehte, um den Bauern zu betrachten, als ob sie ihn zum ersten Male und unter außerordentlichen Umständen sähe, ersah der Schulmeister, daß er mit seinem Scherz in ihr eine tiefe Hoffnung erregt hatte.

Gesuino strafte ihn nicht Lügen, blieb aber unbeweglich wie ein Klotz vor dem Kamin stehen, entschlossen, seine innere Raserei nicht noch mehr zu verraten.

*

Am Abend brachte der Briefträger, den man in dieser Gegend nur sehr selten sah, einen eingeschriebenen Brief für Ornella. Sie nahm ihn entgegen und betrachtete ihn genau von allen Seiten, dann riß sie mit einer fast gierigen Bewegung den Briefumschlag auf, entfaltete das Blatt, um die Unterschrift zu sehen, und las blitzschnell hin und her, was darin geschrieben war. Dann las sie ihn wieder, langsam, zu langsam, als ob sie nicht imstande wäre, die Worte zu entziffern, und hielt von Zeit zu Zeit inne, wie jemand, der den Weg studiert, den er zu gehen hat. Schließlich sagte sie:

»Dieser Dummkopf von meinem Vetter, der jetzt beim Militär dient, schreibt an mich, weil er seit zwei Monaten von Hause keine Nachricht hat.«

Sie ließ den Brief auf dem Tisch liegen, als ob ihr nichts an ihm läge. Der Schulmeister verlangte nicht, ihn zu lesen, machte auch keine Bemerkungen, aber er glaubte nicht ein einziges Wort von ihr. Wer schrieb ihr? Vielleicht Antonio, unter einem anderen Namen?

Auch sie sprach nicht weiter darüber, aber jede ihrer Bewegungen verriet die Erregung, die in ihr verborgen war. Sie besah sich in dem kleinen Spiegel, den der Schulmeister beim Rasieren brauchte, und glättete sich mit beiden Händen die Haare, dann begann sie, im Zimmer im Kreise herumzugehen, ohne Ziel, indem sie Gegenstände, die sie nie berührte, von ihrem Platz nahm und wieder hinstellte, und jeden Augenblick vor dem Fenster stehen blieb, wie eine Fliege, die sich einbildet, durch die Scheiben hindurch fliegen zu können, und schließlich ging sie auf den Dachboden hinauf, kam aber sofort wieder herunter, und ihr erster Blick galt dem Brief.

»Ich muß morgen seine Leute verständigen,« sagte sie, indem sie den Brief zusammenfaltete und in ihre tiefe Tasche steckte, und runzelte die Stirn, als ob sie sich ärgerte.

Später, als sie hinausgegangen war, um das Gitter zu schließen, kam sie mit einem lächelnden und höhnischen Gesicht zurück, und ihre Augen funkelten vor Bosheit.

»Diese beiden Mameluken streiten sich, und wie! Ich habe sie noch nie so wütend gesehen. Gesuino ist wild wie ein Stier.«

»Warum streiten sie?«

»Weiß ich nicht. Hören Sie? Ihre Stimmen hört man bis hierher. Heute abend bringen sie sich um.«

Und da sie wußte, daß sie die Ursache war, bog sie sich und barst beinahe vor Lachen.

Vom Bett, über das die vom Feuer vergoldete Dunkelheit bereits ihren Schleier breitete, beobachtete und erriet der Schulmeister alles. Die beiden Brüder gerieten wegen des in weiter Ferne liegenden Besitzes Ornellas aneinander, und sie lachte, weil sie niemals einem von den beiden angehören würde. Der Brief, den sie in der Tasche trug und auf dem ihre Hand lag, mußte ihr eine ganz andere und bessere Zukunft sichern. Aber wer bot ihr diese an? Das Geheimnis reizte den Schulmeister, aber er schwieg und versteckte sich, um es enthüllen zu können.

Sie blieb bis zu später Stunde auf. Sie sah jetzt ruhig aus, als sie am Tisch saß und arbeitete. Sie strickte ein Paar Wollstrümpfe für ihn. Es war ihre Idee gewesen, denn von Zeit zu Zeit an zeigte sie sich wirklich von rührendem Eifer, und an diesen Strümpfen arbeitete sie mit einer gewissen Lust und Liebe. Aber an diesem Abend arbeitete sie mechanisch weiter, ohne ein anderes Interesse, als das, sie fertig zu machen.

»Ornella,« sagte er mit einem Male, indem er eine Absicht verfolgte, »du müßtest doch eigentlich daran denken, für dein Kind die Ausstattung zu machen.«

»Ich habe daran gedacht,« antwortete sie, ohne den Kopf zu erheben, »Morgen, wenn ich den Brief von meinem Vetter hintrage, werde ich auf dem Markt ein Stück Leinwand kaufen.«

Sie dachte daran: sie dachte daran auszugehen, um wohin zu gehen? Sie hatte weder von diesem Vetter noch von ihren Verwandten je ein Wort gesprochen.

Und als sie auf dem Dachboden war, löschte sie nicht wie sonst das Licht sofort aus. Da zündete der Schulmeister, den sie eingeschlummert glaubte, sein Licht wieder an, und bemerkte, daß vom Tische das Tintenfaß und der Federhalter verschwunden waren.

Als am Morgen darauf Proto kam, um sich zu erkundigen, schickte er Ornella weg, damit sie die Einkäufe besorgte, und bat den Bauern, einen Augenblick bei ihm zu bleiben. Der Mann wünschte sich nichts Besseres. Er blickte finster, seine Augen waren geschwollen, als ob er eine häßliche Nacht verbracht hätte, und er hatte den Wunsch, sein Herz auszuschütten.

»Haben Sie gestern Abend diesen Lärm gehört? Ich fange an zu glauben, daß mein Bruder Gesuino vom Teufel besessen ist. Ich meine das im Ernst. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich erinnere mich an die Geschichten, die meine Frau erzählte. Sie sagte, daß die verdammten Seelen in der Welt herumirren und in den Körper einfacher Menschen eindringen. Und deswegen glaube ich, daß Gesuino vom Geiste des von seinen Söhnen ermordeten Vaters besessen ist.«

»Gut. Und Sie, Sie bleiben ihm nichts schuldig. Sind Sie auch besessen?«

»Ja, Sie haben wirklich recht«, sagte Proto.

»Das ist das Gute an euch Brüdern. Mir gebt ihr immer recht, aber nachher schlagt ihr euch fortwährend herum. Warum habt ihr euch gestern gestritten?«

»Wer kann das wissen? Gesuino ist von hier in einer grimmigen Stimmung zurückgekommen. Zuerst hat er den Hund durchgeprügelt und ich habe natürlich protestiert. Das war die Ursache unseres Streits.«

»Hören Sie, Proto«, sagte nach einem kurzen Schweigen der Schulmeister. »Ich brauche Sie noch. Ornella hat gestern Abend einen eingeschriebenen Brief bekommen, den sie gestern Nacht beantwortet hat. Ich möchte wissen, von wem der Brief ist.«

»Ich habe ihn gesehen. Er kommt aus Genua, und die Schrift ist von einer gebildeten Person. Warum haben Sie sie nicht gefragt?«

»Ich will keinen Druck auf sie ausüben. Das ist nicht gut.«

»Aber lassen Sie sie doch in die Hölle gehen, von wo sie gekommen ist.«

»Die Hälfte von ihr ist das Kind. Man muß das Kind retten.«

»Meinetwegen soll das Kind auch zum Teufel gehen«, bekräftigte Proto, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Sie sind noch ein Mann vom alten Schlag. Sie werden sehen, was Ihnen eines Tages passieren wird.«

Der Schulmeister fürchtete sich vor nichts, nicht einmal vor der Flut von Flüchen und Schimpfreden, die der Bauer gegen Ornella, gegen Gesuino, gegen Gott und alle Menschen ausstieß. Er hatte eine neue Idee. Der Brief kam aus Genua, die Schrift war von einer gebildeten Person! Der Brief war bestimmt von Adelmo Bianchi! Von diesem windigen Patron war alles zu erwarten.

Er rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sich an jenem ersten Abend seiner Krankheit zugetragen hatte. Er sah den Vatermörder wieder, der Omella mit seinen irren Augen ansah, und war keinen Augenblick länger im Zweifel.

»Proto,« sagte er leise, »das Mädchen muß überwacht werden. Ich muß wissen, wohin sie heute morgen geht und was sie tut.«

Der Bauer ließ sich von einem Gefühl der Neugierde fangen, auch trieb ihn das Verlangen, Ornella nachzuspüren und sich möglicherweise an ihr zu rächen.

»Sie können beruhigt sein. Mittag werde ich Ihnen alles sagen können. Jetzt gehe ich.«

Um Mittag wußte der Schulmeister bereits, daß Ornella tatsächlich gewisse Verwandte aufgesucht hatte, dann hatte sie ein Stück Leinwand bei einem Kaufmann auf dem Platz gekauft und schließlich war sie in das Postamt hineingegangen.

*

An jenem Tage setzte das schlechte Wetter wieder ein. Wie ein Heer sich nach kurzer Rast mit neuer Kraft auf den Feind stürzt, so wüteten der Wind und der Regen und die Kälte und auch der Schnee um das verfluchte Haus.

Trotzdem verließ der Schulmeister das Bett. Ornellas Strümpfe, ein Schal, den ihm Marga in Olas Namen geschenkt hatte, und seine alte Wollmütze waren ihm von großem Nutzen und vervollständigten seine Wintertoilette. Als er sich so eingepackt im Spiegel sah, kam er sich wie der leibhaftige Winter vor. Dennoch fühlte er sich innerlich ganz erneuert, auch was seine Vorsätze für die Zukunft anging. Er setzte sich ans Feuer und las die rückständigen Zeitungen. Aber er ließ Ornella nie aus den Augen und wartete den günstigen Augenblick ab, um den Versuch zu machen, sie aus der neuen Gefahr zu erretten, der sie blindlings entgegenging.

*

Ornella ließ sich nie in der Nähe des Feuers nieder. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, setzte sie sich an den Tisch und nähte die Ausstattung für ihr Kind. Er hörte ihren schweren Atem und er war noch nicht überzeugt, daß sie im Geheimen irgend einen dunklen Plan schmiedete.

Manchmal fragte er sich, ob es nicht besser war, wie Proto riet, sie sich selbst und ihrem Instinkt zu überlassen, der ihr, diesem egoistischen Tier, schließlich nur nützen konnte. Es bestanden keine Bande des Blutes zwischen ihm und ihr, und wenn er sie bei sich aufgenommen hatte, weil er fürchtete, daß das alte Drama sich wiederholen könnte, und weil er dafür büßen wollte, wenn er ferner jetzt eine Möglichkeit hatte, in einer anderen besseren Stellung ruhig und sorglos zu leben, so war kein Grund vorhanden, sie länger zu behalten.

Aber nein, darum handelte es sich nicht. Im Grunde fühlte er, daß ein anderer Grund mitsprach, daß ein Band da war, stärker als das des Blutes, daß er ihr Kind haben wollte, weil es seinen Ursprung von dem Wesen herleitete, das er gezeugt und getötet hatte, also die Fortsetzung seines eigenen Lebens war. Und er wollte es, weil er es mit dem wahren Leben erfüllen wollte, das ist mit dem Leben des Guten, während Ornella, wenn das Kind in ihrer Obhut blieb, ihm nur schlechte Lehren geben würde.

Nachdem er zu dieser Erkenntnis gekommen war, war er entschlossen zu kämpfen. Das war ein Grund zu leben und jetzt fühlte er in sich die Kraft, die in seinem Innern brennende Flamme des Guten zu retten.

Dann begann er wieder mit dem Versuch, Ornella moralisch aufzurütteln, indem er ihr das einfache und malerische Leben seiner fernen Heimat schilderte: ein altes Bild, armselig und ganz verschmutzt, das er mit den Farben und dem Firnis seiner Phantasie restaurierte.

»Um diese Zeit ist auch bei uns Schnee und Kälte, aber das ist ganz anders als hier. Die Kälte ist trocken, der Schnee wird hart und glitzert wie Alabaster. Alles ist rein und lebendig. Und drinnen in meinem Häuschen, das ich wiederzukaufen hoffe, lebt es sich herrlich. Da ist eine Küche mit einem herrlichen Kamin, das Eßzimmer geht auf das Tal hinaus, während die oberen Zimmer die Aussicht auf das Gebirge haben. An schönen Tagen sieht man die mutigen Jäger, wie sie zwischen den Felsen die schmalen Pfade hinaufsteigen. Sie sind in Pelze gekleidet und scheinen die Eigentümer des Waldes zu sein. Sie gehören zu den reichsten Familien des Landes und wetteifern miteinander an Flinkheit und Kühnheit. Da ist einer, mein Schüler, der kein Tier anrührt, das er schießt. Wenn das Fleisch gut ist, wie zum Beispiel das des Damhirsches oder des Wildschweins, schenkt er es, wie der König, einem seiner Freunde. Er kam oft des Abends zu mir, und dann wurden die wunderlichsten Geschichten erzählt, von Tieren, die er sprechen gehört hat, von Vögeln, die stehlen und Juwelen und Goldmünzen verstecken, von Wölfen, die früher einmal Männer waren. Einmal ...«

Er bemühte sich, die außerordentlichen Geschichten des jungen Jägers zu wiederholen, indem er die kargen Erinnerungen der Wirklichkeit mit den Jagderlebnissen durcheinander mengte, die er in Abenteurerbüchern gelesen hatte. Es war das einzige Mittel, um das barbarische Gemüt der Frau zu fesseln. An der spannendsten Stelle brach er plötzlich ab und ließ sie aufgeregt und voll Spannung zappeln, um dann die Erzählung mit größerer Sicherheit wieder fortzusetzen. So tut die Schildkröte, wenn sie die giftige Spinne packt und vorsichtig zubeißt.

An manchen Abenden kamen die Bauern, dann brachte Gesuino die soeben gerösteten Kastanien in einem Taschentuch, das glühend heiß war.

»Fühl nur, fühl nur«, sagte er zu Ornella, indem er es ihr auf den Nacken legte. Aber sie bückte sich entrüstet. Nachdem sie den eingeschriebenen Brief erhalten hatte, gestattete sie nicht, daß die Bauern sich einen Scherz mit ihr erlaubten. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie die Kastanien in eine Schüssel, goß Wein ein, wie der Schulmeister ihr befohlen hatte, dann nahm sie ihren Platz am Tisch wieder ein und nähte, nähte, ohne Unterbrechung, und nur wenn sie die Nadel gegen das Licht hielt, um einzufädeln, oder wenn sie einen Knoten mit Hilfe der Zähne auflöste, machte sie eine kleine Ruhepause.

Wenn die beiden zugegen waren, nahm der Schulmeister seine Erzählungen nicht auf. Er fühlte, daß das eine unnütz vergeudete Mühe war, denn sie merkte nicht auf, stand vielmehr im Banne einer entgegengesetzten Macht, die in ihrem Innern zu ihr sprach. Diese selbe gleichgültige und geringschätzige Art, die Bauern zu behandeln, enthüllte seine Vereinsamung. Und auch diese schienen nur auf ihre eigene Unterhaltung zu achten, dennoch beobachtete er, wie Gesuino jeden Augenblick zu Ornella hinüberschielte, als ob er bereit wäre, ihr einen Lasso um den Hals zu werfen, wenn sie den Versuch machen sollte sich zu entfernen.

*

An einem dieser Abende, als Gesuino sich gerade bückte, um die schwarzen Schalen der Kastanien ins Feuer zu werfen, und Proto den zweiten Becher Wein in langsamen glücklichen Zügen trank, klopfte es an die Tür.

Ornella zitterte am ganzen Körper, als ob sie im Schlaf überfallen worden wäre, erhob sich aber nicht, um zu öffnen. Gesuino stand auf, ging stirnrunzelnd zur Tür, als ob hinter ihr ein Wolf wäre, und öffnete, ohne zu fragen, wer da war.

Als wäre sie vom Wind hergetragen worden, trat eine hohe Gestalt in einer Kapuze ein, in einem schwarzen, wasserdichten Regenmantel, der von Wasser troff. Auf den ersten Blick hielt ihn der Schulmeister für den Arzt, aber dann erkannte er sofort, daß es Antonio war.

»Meinen Besuch hast du nicht erwartet«, sagte dieser, halb ernst, halb heiter. »Entschuldigen Sie, meine Herren, wenn ich durch Ihr Gitter gegangen bin, aber das war einfach offen.«

»Das stimmt schon«, gab Proto zu, »aber unser Gitter ist immer offen.«

Gesuino öffnete den Mund, um zu sprechen, aber er tat nichts dergleichen. Und nachdem er sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, blickte er Antonio, der den Regenmantel ungeniert ablegte, von hinten an, dann sah er Ornella an, die bis in die Fingerspitzen rot geworden war, und schließlich setzte er sich wieder auf seinen Platz.

Es folgte ein Augenblick des Schweigens.

Draußen trieb der Wind den Regen vor sich her und klatschte ihn mit metallischem Klang gegen die Mauer. Der Schulmeister hatte die Empfindung, daß das Wasser bis ins Zimmer drang.

Antonio sah sich überall um, wo er den Regenmantel hinlegen könnte, aber als er keinen Platz fand, warf er ihn auf die Treppe zum Dachboden, wo er im Halbschatten wie ein gefallenes Gespenst aussah.

Proto hatte inzwischen seinen Wein zu Ende getrunken, erhob sich, um den Becher auf den Tisch zu stellen, und warf gleichfalls einen schnellen Blick auf Ornella. Sie war derart bestürzt, daß er zu sich selbst sagte:

»Oho, mein lieber Freund, hier bist du und dein Bruder überflüssig. Verschwinde.«

Er ging zum Kamin und drückte einen Finger auf die Schulter seines Bruders.

»Komm, Gesuino, es ist spät.«

Und da niemand sie aufhielt, entfernten sich die beiden Brüder, nachdem sie allen verlegen Gute Nacht gesagt hatten.

Der Schulmeister hatte auch diesmal, wie beim Besuch des Vatermörders, das Gefühl zu träumen. Trotzdem spürte er, daß Antonio einen Hauch von grausamer Wirklichkeit mit sich brachte. Die Träume mußten jetzt in sich zusammenfallen, wie das Gespenst aus schwarzer Leinwand auf der Treppe zum Dachboden.

»Marga und Ola grüßen dich«, sagte Antonio, indem er Gesuinos Platz einnahm und die Beine ausstreckte, die in hohen Lederstiefeln steckten.

Diese Namen und dieser Gruß besänftigten das Herz des Schulmeisters, sein Blick erhellte sich, sein Geist erhob sich und beherrschte nochmals die Ereignisse.

Da bemerkte er, daß Antonio körperlich sich verändert hatte, wie jemand, der eine Krankheit durchgemacht hat oder lange in einem fremden Lande gewesen ist. Sein Gesicht war hart geworden, hatte, obzwar es seine klassischen Züge bewahrt hatte, einen anderen Ausdruck bekommen, wie das einer Statue, an der der unzufriedene Bildhauer kleine Verbesserungen vorgenommen hat. Die Haare, die früher weibisch gescheitelt waren, trug er jetzt hochgebürstet, und waren hinten in dem kräftigen Nacken wegrasiert. Und auch die Augen, obzwar sie in das Feuer starrten, leuchteten nicht mehr, sondern lagen unbeweglich unter den Augenbrauen, die er zusammenzog und wieder glättete, je nachdem das Feuer hoch oder niedrig brannte.

Nachdem die Bauern sich entfernt hatten, hatte seine Stimme auch ihren gewöhnlichen theatralischen Akzent abgelegt, und nachdem er es sich vor dem Kamin bequem gemacht hatte, sagte er, die Arme über der Brust gekreuzt:

»Ich bin gekommen, um die Angelegenheit mit Ornella zu ordnen.« Jedes Wort schien senkrecht auf die Erde zu fallen und dort zu zerschellen, wie gewisse harte Früchte, wenn die Schale reif ist.

Keiner von den beiden gab eine Antwort. Ornella senkte den Kopf noch tiefer und fühlte sich nicht mehr als eine Person, sondern als eine Sache in seinen Händen.

Er fuhr fort:

»Wir sind zum Gespött der Gegend geworden. Von meiner Frau angefangen, kennen alle die Wahrheit und stellen sich, als ob sie sie nicht kennen, aber nicht aus Achtung vor mir, sondern weil sie sich vor meinen Fäusten fürchten, versteht sich. Aber alle machen sich lustig, weil sie neidisch sind, das ist auch selbstverständlich, und wenn ich ein armer Hund wäre und wenn meine Frau mich quälen würde, würde sich kein Teufel darum scheren. Glücklicherweise ist das nicht der Fall, das heißt, ich bin der, der ich bin, und meine Frau ist eine kluge Frau, aber ich weiß, daß auch sie leidet, daß sie auch Anspruch auf Achtung hat, und nicht auf das geheuchelte Mitleid und auf das versteckte Gelächter der Nachbarn, und ich will überhaupt, daß dieser Skandal ein Ende hat.«

»Hast du dies alles erst jetzt bemerkt?« fragte der Schulmeister.

»Ja, mein Herr! Wenn ich es früher bemerkt hätte, hätte ich schon früher Abhilfe geschafft.«

»Vermeiden wäre besser gewesen, als Abhilfe schaffen.«

»Man kommt nicht mit Zähnen auf die Welt. Man sagt im Gegenteil, daß man erst weise wird, wenn einem die Zähne ausfallen.«

»Was hast du also vor?«

»Etwas ganz Einfaches: Ornella in eine Gebäranstalt bringen, wo ich bereits einen Platz für sie belegt habe, und warten, bis das Kind auf die Welt kommt.«

»Und dann?«

»Dann werde ich für beide sorgen. Wer eine Schuld auf sich geladen hat, muß büßen.«

»So wirst du also zwei Familien haben.«

»Wenn es nötig ist, werde ich zwei Familien haben und für beide arbeiten. Ich werde schon meinen Pflichten nachkommen.«

»Weiß deine Frau, was du vorhast?«

»Sie wird es schon erfahren, vielleicht, denn sie errät verdammterweise auch meine geheimsten Gedanken. Aber wie gewöhnlich schweigt sie und läßt mich gewähren, da sie im Grunde sicher ist, daß ich doch nicht der Schuft bin, der ich scheine. Sie hat nur über dich mit mir gesprochen und mich gebeten, alles zu tun, damit du wieder zu uns kommst. Und ich habe es ihr versprochen und hoffe, mein Versprechen zu halten.«

Der Schulmeister antwortete nicht gleich. Er schien noch einmal über die beste Lösung des Abenteuers nachzudenken und noch einmal fand er eine einzige.

»Ich werde in meine Heimat zurückkehren, wo ich schon wegen des Rückkaufs des Hauses verhandle. Ornella wird mit mir gehen, und wenn es nötig ist, werde ich ihr und ihrem Kinde meinen Namen geben.«

Antonio begann zu lachen, aber er verstummte sofort und wurde traurig.

»Das sind ja wunderschöne Romane, aber hier in unserer Gegend hat man kein Verständnis dafür.«

»Aber bei uns immer noch«, beharrte der Schulmeister, indem er neuen Mut faßte.

»Nein, dort auch nicht. Jetzt sind die Leute praktisch und lachen über die armen Christen, die ihre Zeit damit totschlagen, Löcher ins Wasser zu machen.«

»Meinetwegen sollen sie lachen, aber sag mir lieber, was das für Löcher im Wasser sein sollen.«

»Es werden keine zwei Monate vergehen, daß Ornella dir entweder wegläuft oder dich mit deinem besten Freund betrügt.«

Diesmal war sie es, die ein Lächeln unterdrückte. Die Unterhaltung der beiden Männer belebte sie. Sie hob den Kopf, begann wieder zu nähen und dachte darüber nach, wie sie dem Schulmeister beistehen könnte, damit sie sich von der Tyrannei Antonios befreite. Im rechten Augenblick würde sie schon für sich gesorgt haben. Aber ihre Pläne waren so nebelhaft finster und versteckt, daß sie sich von neuem als seine Gefangene fühlte, wie eine Übeltäterin, die sich von ihrem Geliebten ertappt sah.

Der Schulmeister sagte:

»Lassen wir die Zukunft beiseite und sprechen wir von der Gegenwart. Sprechen wir vor allen Dingen über deine Sinnesänderung. Wie kommt es, daß du Ornella jetzt gewissermaßen zu deiner zweiten Frau machen willst, nachdem du sie mit Fußtritten aus deinem Haus gejagt hast?«

Antonio beugte sich ein wenig vor und sprach mit leiser und ernster Stimme, als ob er wünschte, daß Ornella ihn nicht hörte.

»Und du hast nie deinen Sinn geändert? Hast du nie bereut, etwas Schlechtes getan zu haben? Auch ich habe gelitten in diesen Monaten. Und du würdest deine Grundsätze verleugnen, die du mich als Knaben gelehrt hast, wenn du tatsächlich glaubst, daß ich ein gefühlloser Übeltäter bin. Gestern bin ich dreißig Jahre alt geworden,« sagte er, indem er aufsprang. »Es ist Zeit, vernünftig zu werden, und auch auf die eigene Würde zu sehen. Manchmal werden Menschen von Gewissen aus Eigenliebe und Stolz zu Räubern. Und da wir gerade von Räubern sprechen, muß ich dir sagen, daß in dieser ganzen Geschichte auch ein Verbrecher seine Hand im Spiele hat. Adelmo Bianchi, der seinen Vater umgebracht hat, ist hier bei dir gewesen.«

Da wendete sich der Schulmeister zu Ornella und sah sie an. Als er sie von der Seite sah, mit gesenktem Kopf, der fast die Leinwand in ihrer Hand berührte, und in einer Haltung, die sie gewöhnlich einnahm, wenn sie ihre Gedanken verbergen wollte, da verstand er alles.

Ohne sich wieder zum Feuer zurückzuwenden, antwortete er mit veränderter, aber starker und entschiedener Stimme:

»Ja, Bianchi ist einmal hier gewesen, vor meiner Krankheit. Warum?«

»Sag mir zuerst, was er hier wollte?«

»Was weiß ich? Vielleicht wollte er sich von seinem Hause verabschieden, bevor er ins Ausland geht.«

»Das sagt er! So ein unverschämter Geselle, bei dem jedes Wort eine Lüge ist. Übrigens ist er ein geschlagener Mensch. Es genügt, wenn man weiß, was er getan hat. Nun gut, er ist noch in derselben Nacht von hier abgereist. Er ist nach Genua gefahren, ohne einen Soldo in der Tasche, denn es gelingt ihm immer, sich aus der Schlinge zu ziehen und zu verschwinden wie ein Fuchs In Genua findet er im Hafen Arbeit und lernt kochen, weil er die Absicht hat, sich auf einem Südamerikadampfer als Koch anwerben zu lassen. Er hat einen falschen Paß, aber um sich einzuschiffen, wartet er, daß das Fräulein Ornella mit ihrem Gepäck nachkommt.«

Wie im Anfang sprach keiner von beiden ein Wort. Der Schulmeister sah immerzu auf Ornella. Er sah, wie sie den Kopf mit einem gewissen Stolz hob, ihn aber unter seinem Blick sofort wieder senkte.

Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, fuhr Antonio fort:

»Er hat ihr einen eingeschriebenen Brief geschrieben, den du vielleicht gesehen hast, und macht ihr darin ausgerechnet den Vorschlag, so schnell als möglich nachzukommen, sobald sie sich einen Paß verschafft hat. Und wer weiß, was er ihr alles noch zu verstehen gegeben hat. Sie hat ihm geantwortet, daß sie einverstanden ist, daß sie sich die Papiere bis zu ihrer Abreise rechtzeitig beschaffen wird und daß sie ihr Gepäck in Ordnung hat.«

Sie und ihr Gepäck! Diese Worte taten dem Schulmeister weh, als ob sie Faustschläge wären. Und er wußte nicht, welches tiefe Rachegefühl auch ihn leitete, Antonio zu beleidigen.

»Jetzt verstehe ich den Beweggrund deines Handelns. Das ist nicht Würde, das ist Eifersucht.«

Vielleicht war es Eifersucht, denn Antonio kam nicht aus der Fassung, sondern bemerkte nur:

»O nein, es ist nicht Würde! Und wenn der Vatermörder eines Tages ergriffen wird, und wahrscheinlich seine Gefährtin mit ihm, und in dem Prozeß, der nochmals vertagt worden ist, gerade weil man den Bianchi sucht und hofft, ihn zu erwischen, diese ganze lächerliche Geschichte zur Sprache kommt, hältst du das für etwas Schönes?«

»Entschuldige«, sagte der Schulmeister, »aber woher weißt du das alles?«

»Das ist egal. Ich weiß es eben.«

»Aber bist du auch sicher, daß das wahr ist?«

Da drehte sich auch Antonio auf seinem Sitz herum, als ob er auf einem Drehstuhl säße, und drohte Ornella mit dem Finger.

»Frage sie, ob es wahr ist.«

»Ornella,« sagte der Schulmeister, »ich weiß, du hast einen eingeschriebenen Brief bekommen, aber du sagtest, daß er von einem Vetter war. Was hast du auf die Behauptungen Antonios zu antworten?«

»Der Brief, den ich bekommen habe, war wirklich von meinem Vetter,« erwiderte sie und nähte weiter, indem sie eine gewisse Gleichgültigkeit heuchelte. »Sie können ja bei meinen Verwandten nachfragen.«

»Aber was für ein Vetter! Was für ein Vetter!« schrie Antonio, der die Geduld verlor. »Dem Heiligen da kannst du etwas weiß machen, aber nicht mir. Du hast keine Vettern, aber deine Verwandten halten dir in dieser schmutzigen Angelegenheit die Stange. Und es ist ausgerechnet diese Kupplerin von einer Tante, die dir die Papiere besorgt.«

»Die Papiere,« sagte sie ruhig, »brauche ich, weil ich die Absicht habe, mit dem Herrn Schulmeister von hier wegzugehen.«

Antonio fluchte, halb empört, halb belustigt, dann sagte er:

»Daß du frech warst, wußte ich, aber so frech nicht. Sag mir eines: du warst am vergangenen Sonnabend morgen auf der Post und hast einen zweiten eingeschriebenen Brief bekommen, den du am Montag eingeschrieben expreß beantwortet hast. War das auch ein Brief von deinem Vetter?«

Ornella antwortete nicht. Da kam ihr nochmals der Schulmeister zu Hilfe.

»Ornella, wir wollen dir doch nichts Schlechtes zufügen. Im Gegenteil, du siehst, daß wir um dich kämpfen, wie die Griechen und Trojaner um Helena. Du solltest schon wenigstens aus Erkenntlichkeit die Wahrheit sagen. Wenn du übrigens die Absicht hast zu gehen, so wird dich niemand ...«

»Das gibt es nicht,« unterbrach ihn Antonio, der schon etwas ärgerlich war. »Ich habe meine Meinung gesagt und ändere sie nicht. Ich muß nur noch etwas sagen und wiederholen: Wenn du dich nach der Geburt des Kindes aufhängen oder wenn du, was noch schlimmer ist, mit diesem jämmerlichen Burschen durchbrennen willst, meinetwegen, aber das Kind ist mein, das gehört mir.«

»Ornella, überleg dirs gut.«

»Wo sind die Briefe Bianchis?«

»Ach, gebt doch endlich Ruhe!« rief sie mit plötzlichem Mut aus. Und nachdem sie das Stück Leinen, das sie gerade einsäumte, auf die Erde hatte fallen lassen, zog sie aus ihrer Tasche zwei zusammengefaltete Briefe und machte Miene, auch diese wegzuwerfen, sie legte sie aber auf den Tisch.

»Gib die Briefe her«, befahl Antonio mit seiner herrischen Stimme, und als er sie in der Hand hielt, betrachtete er die Briefumschläge: der erste Brief war Villa Bianchi adressiert, der andere war postlagernd. Also war er gut informiert gewesen.

»Lies laut vor,« befahl nun der Schulmeister.

In diesem melancholischen Zimmer, wo sich dieses Drama in einem gewöhnlichen Rahmen und ohne Farben abspielte, wehte noch, dank dem Verbrecher, Vatermörder, Letzten aller Menschen, der Hauch der Poesie und der luftigen Höhen, wohin nur die Phantasie gelangen kann.

»Ornella, verzeih mir, wenn ich mir erlaube, dich bei deinem Vornamen zu nennen und dich mit du anzureden. Aber seit dem Abend, wo ich dich in meinem verfluchten Hause wiedersah, spreche ich immerzu mit dir, und du begleitest mich auf meiner Reise ins Glück. Und am Tage sprechen wir und in der Nacht schlafen wir, von derselben Traumwolke umfangen, zusammen.«

»Ornella, mein Schicksal ist vielleicht das des Ewigen Juden, der immerfort um die Welt wandern muß und für den die Welt ein kleiner Garten ist, in den er auf seiner langen Wanderung eingesperrt ist, dem kein anderer Trost, keine andere Verzweiflung bleibt, als zu den Sternen aufzusehen und die Sonne zu bitten, daß sie ihn mit ihren Strahlen auflöst. Aber auch das ist ihm versagt, und er muß in alle Ewigkeit leben, in alle Ewigkeit leiden. Er hat sich gegen Gottes Liebe vergehen wollen, er hat sich den Gesetzen widersetzt, die das Leben des Menschen regeln, und seine Strafe ist, daß er nun außerhalb der Gesetze gestellt worden ist. Er darf nicht sterben, er darf nicht mehr leben. Das ist mein Los ...«

An dieser Stelle fragte Antonio, der sich gegen seinen Willen von dem Klang seiner eigenen Stimme hinreißen ließ, halb ironisch, halb neugierig:

»Aber was zum Teufel hat dieser Kerl getan?«

»Als Christus auf dem Wege zum Calvarienberg unter der Last des Kreuzes zusammenbrach, sagte einer der Umstehenden: Auf, geh, geh!« Da erhob sich Jesus und sagte: »Und du wirst in alle Ewigkeit gehen!« erklärte ernst der Schulmeister. »Das ist Ahasver, der Ewige Jude.«

Antonio fuhr fort zu lesen:

»Das ist mein Los, wenn du, Ornella, mir deine Hilfe weigerst. Wenn du mit mir kommst, Mutter, Weib, Schwester, werde ich wieder zum Leben erwachen, ich werde wie das unschuldige Kind sein, das du gebären wirst, und wir beide, ich und dein Kind, das auch das meine sein wird, werden von dir und deiner Liebe leben.«

»Ich schwöre dir, Ornella, daß ich nicht einmal deine Fingerspitzen küssen werde, bevor du deine heilige Pflicht als Mutter erfüllt hast. Und ich werde dich mit aller meiner Liebe umgeben, ich werde mich zu deinen Füßen hinlegen, wie ein treuer Hund, und du wirst ruhig schlafen können, auch wenn das Unwetter um uns herum wüten oder unser Haus von Löwen umringt sein wird.«

»Bums!« schrie Antonio. Aber er lachte nicht und seine Augen konnten sich nicht von dem Briefe trennen.

»Es war eine Eingebung von Gott gewesen, daß ich an jenem Abend in mein trauriges Haus einkehrte. Ich hatte die Vorstellung, daß das Feuer dort noch immer brannte und daß die versöhnten Geister meiner Eltern mich erwarteten, um mir zu verzeihen und mich zu segnen. Und ich wollte irgendein Andenken mit mir nehmen, die Okarina, die mit ihrer traurigen Melodie die ersten Träume meiner Liebe begleitete, und den Trauring meiner Mutter. Und das Feuer, ja, ich habe es brennend wieder gefunden, in deinen Augen von Gold, Ornella, und die Musik und den Trauring habe ich in meinem kindlichen Herzen mitgenommen, mit meiner Liebe zu dir, Ornella.«

»Ornella! Wenn ich diesen Namen ausspreche, höre ich noch das Rauschen der Erlen um den besonnten Weinberg, im Mittag des Sommers, wenn die Trauben rot zu werden beginnen und die Nachtigall die reife Feige pickt, um ihr Lied zu versüßen. Wir werden weit gehen, Ornella, aber wenn du mich lieben wirst, werden wir überall, auch in der Wüste oder in den schmutzigen Städten, den sommerlichen Weinberg wiederfinden und die Nachtigall wird in unseren Herzen singen.«

*

Der Schulmeister hörte aufmerksam zu, gespannt wie eine zum Schwingen bereite Saite. Auf dem Platz, wo Antonio saß, dessen Gesicht gerötet war und von teils echter, teils gemachter Heiterkeit strotzte, sah er den traurigen Vatermörder, und er dachte an die Wirkung, die die Worte des einen im Munde des anderen auf eine Frau machen mußten. Als er sie aber von der Seite betrachtete, sah er, daß sie wieder in gebückter Stellung nähte, und daß sie um den entrüsteten Mund nur einen ganz leisen Zug von Ekel hatte. Doch als sie sich beobachtet sah, verschwand auch dieser oberflächliche Zug. Sie verbarg sich hinter einer Mauer von völliger Gleichgültigkeit.

Im zweiten Brief war von praktischen Sachen die Rede, die die Mitteilungen Antonios bestätigten. Der Mörder arbeitete im Hafen von Genua und verhandelte wegen eines Engagements als Schiffskoch auf einem großen Überseedampfer. Er erwartete Ornella, die trotz des Zustandes, in dem sie sich befand, versprochen zu haben schien, so schnell als möglich nachzukommen.

*

»Sehr gut!« rief Antonio aus, als er die beiden Briefe wieder zusammenfaltete und sie in seine Hosentasche steckte. Dann stand er einen Augenblick nachdenklich da und runzelte die Stirn. Auch draußen war es still geworden, und in diesem plötzlichen Schweigen des Zimmers hatte man das Gefühl, daß die graue Nacht sich an den Fensterscheiben festklammerte, um an dem Drama teilzunehmen.

Da begann die Angelegenheit eine dramatische Wendung anzunehmen, als Antonio, der plötzlich auffuhr wie ein Soldat, der gegen seinen Willen in der Stunde des Aufbruchs eingeschlafen war, entschieden sagte:

»Und jetzt, Ornella, pack deine Sachen und komm mit. Morgen zeitig früh,« fuhr er, zum Schulmeister gewendet, fort, »wird Marga dir das Dienstmädchen schicken, damit sie alle deine Sachen mitnimmt.«

Ornella hob den Kopf nicht, aber hörte auf zu nähen und ließ die Nadel in der Leinwand stecken. Und ihr Verhalten erinnerte an das Verhalten der Schildkröte, die, wenn sie sich verfolgt sieht, stehen bleibt, um sich ganz in ihren Panzer zurückzuziehen.

Er schwieg, er fühlte, daß man an einem Scheideweg angekommen war, in dunkler Nacht, wenn der Instinkt allein den Menschen zu retten vermag. Und er erwartete, daß Ornella, die von allen Drei den sichersten Instinkt hatte, ein Wort sagen würde. Sie zog die Nadel aus der Leinwand und begann wütend zu nähen, dann hob sie stolz den Kopf.

»Ich gehe nicht mit.«

Aber Antonio verlor seine Ruhe nicht. Et wendete sich von neuem an den Schulmeister.

»Rede du ihr zu. Ich hoffe, daß du deine Pflicht tun wirst.«

»Ich weiß am besten, was meine Pflicht ist. Ornella soll hier bleiben, und ich werde ihr zureden, daß sie ihrerseits ihre Pflicht erfüllt.

»Du bist immer betrogen worden und wirst immer betrogen werden. Verzeih, wenn ich dir das so frei heraus sage. Es werden keine drei Tage vergehen, daß Ornella dir durchgeht. Und ich gebe es nicht zu, bei Gott, nein, daß mein Kind auf der Straße geboren wird und in der Welt mit Gaunern und Zigeunern herumwandert.«

»Wenn sie durchgehen will, wird sie auch aus dem Hause durchgehen, wo du sie hinbringst.«

»Nein, durchaus nicht! Ich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Und übrigens, ich wiederhole es, sobald das Kind geboren ist, ist sie von selbst frei. Hast du verstanden?« schrie er sie an, »rühr' dich endlich.«

Sie rührte sich nicht. Und jetzt starrten seine Augen den Schulmeister an, als ob sein Schicksal von ihm und nicht von einem anderen abhängen würde. Aber auch dieser befand sich wieder in einem Nebelkreis, und aus dem Tone Antonios hörte er eine solch unerbittliche Entschlossenheit heraus, daß er nicht wußte, was tun. Er wendete sich wieder an Ornellas Instinkt, und indem er auf ihren flehentlichen Blick antwortete, sagte er ruhig:

»Ornella, du mußt frei sein, um dich zu entscheiden. Zwischen dir und Antonio kann ich nicht mehr vermitteln. Zwischen euch beiden steht das Kind und es muß für seine Rettung alles geschehen.«

»Ich will wenigstens noch ein paar Tage hier bleiben. Ich lasse mich nicht zwingen«, sagte sie, aber Antonio ließ sie nicht weiterreden.

»Und ich werde dich zwingen, sofort mit mir zu gehen. Ich kenne dich, das weißt du. Du hast dich sofort zu entscheiden.«

»Und wenn ich nicht will? Und wenn ich schreie?«

»Laß mich nicht meine Geduld verlieren, Ornella. Du kennst meine Fäuste.«

Mit diesen Worten ging Antonio auf Ornella zu, als ob er ihr seine hohe Gestalt besser zeigen und sie an seine Kräfte erinnern wollte. Oder aber auch, um in ihr den fleischlichen Zauber seiner Person wieder zu erregen, der allein sie überreden konnte, ihm zu folgen.

Ornella rührte sich nicht, sie veränderte keine Miene, fest und kühl saß sie da, mit der Nadel in der Hand, ihrer einzigen Waffe.

Da verlor er tatsächlich die Geduld. Er packte sie an der Schulter, als wollte er sie weit wegschleudern, und schüttelte sie durcheinander. Die Leinwand entglitt ihrem Schoß und in dem tragischen Schweigen hörte man, wie eine Haarnadel, die aus ihrem Haar gefallen war, mit hellem Klang auf dem Boden aufschlug.

Der Schulmeister erhob sich und stützte sich mit der Hand auf den Stuhl, wie wenn er sich anschickte, die ungehorsamen Schüler seiner Schule zur Ordnung zu rufen. Aber seine angenommene Gesetztheit und Strenge wichen einem nervösen Zittern, als er sah, daß Ornella sich der Gewalt Antonios widersetzte und dieser ihr einen Faustschlag mitten in den Rücken gab.

Da ging er ganz nahe an die beiden heran und packte den Mann am Arm. Antonio drehte sich ganz überrascht um, als ob er ihn gänzlich vergessen hätte, und wurde rot vor Wut.

»Scher dich zum Teufel!« sagte er, indem er ihn brutal zurückstieß. »Du hast dich schon genug in unsere Sachen eingemischt. Steh auf«, wiederholte er, zu Ornella gewendet, »steh auf oder ich übernehme keine Verantwortung mehr für mich.«

Und da sie nicht gehorchte, zog er aus der Tasche einen kleinen Revolver, den er in der Faust wie einen Schlüssel zusammenpreßte.

*

Sofort erhob sich Ornella und mit dem kraftlosen Gang der vom Bändiger bedrohten Bestie ging sie auf die Treppe zu.

Der Schulmeister ließ sich wieder in der Nähe des Kamins, mit dem Gesicht zum Feuer, nieder. Er wollte Antonio nicht mehr sehen. Er fühlte, daß jetzt alles aus war. Das Problem seines Gewissens war aufgelöst, wie die Holzscheite im Kamin sich in Feuer und Asche auflösten. Und fast hätte er über sich selbst gelacht, als er an seinen ganzen, langen und unnützen Leidensweg dachte. Aber es sollte ein bitteres Lachen werden, denn im Grunde bedrückte ihn der Schmerz mehr als früher.

Während oben auf dem Dachboden Ornella ein anderes Kleid anzog und ihre Sachen zusammenpackte, legte auch Antonio seinen Regenmantel um und näherte sich dem Kamin. Er sagte mit verstörter Stimme:

»Verzeih mir, wenn ich lieblos gewesen bin. Aber es muß sein. Ich muß dir auch sagen«, setzte er leise hinzu, indem er sich zu ihm hinbeugte, »daß ich dies auf Veranlassung von Marga tue, um dich aus einer lächerlichen und peinlichen Lage zu befreien.«

»Du hast dich nicht mehr um mich zu kümmern, weder du, noch Marga, noch sonst wer«, antwortete der Schulmeister fest, indem er in das Feuer starrte. »Ich kenne keinen Menschen mehr.«

»Du wirst dich wieder beruhigen und wirst sehen, daß sich alles regeln wird. Ich tue meine Pflicht und schlage doch nur den Weg ein, den du mir eines Tages angegeben hast. Erinnerst du dich? Du wolltest, daß ich Ornella aus meinem Hause und aus der Gegend, in der meine Familie lebt, entfernte und für das Kind sorgte, das sie gebären sollte. Hast du das gewollt oder nicht? Und das tue ich.«

Aber da der Schulmeister nicht überzeugt und umsoweniger zufriedengestellt zu sein schien, fuhr Antonio fort, indem er sich ungeduldig erhob:

»Verstehst du denn nicht, daß ich dein Sohn bin, mehr als du glaubst? Ich weiß alles von dir, von deiner Vergangenheit, von dem Band, das uns eint. Marga hat mir alles erzählt und jetzt werden wir zu Dritt das Übel bekämpfen, damit Ola vor jedem Rest von Strafe bewahrt bleibt.«

Der Schulmeister hob den Kopf. Und als der Feuerschein sich auf den leuchtenden Kleidern Antonios blutrot spiegelte, hatte er nochmals eine Halluzination: er sah die tote Frau mit dem Kinde in ihrem Leib.

»Ola ist jetzt gerettet«, sagte er, »aber was zugrunde gehen wird, das ist das Kind Ornellas.«

Er sprach kein Wort mehr, auch nicht als Ornella mit ihrem Bündel herunterkam und es auf den Tisch stellte, um es zu vervollständigen. Zuerst stopfte sie ihre Hausschuhe hinein, dann das Stück Leinwand, das noch auf der Erde lag, nachdem sie es ausgebeutelt und zusammengelegt hatte. Schließlich blickte sie sich um, ruhig und gleichgültig, und suchte mit den Augen irgend etwas, was sie vergessen haben konnte. Ihr Auge blieb für einen Augenblick auf der »Flucht nach Ägypten« haften, aber sie senkte rasch den Blick, denn bei ihren Fluchtplänen hatte sie auch die Absicht gehabt, dieses Bildchen mitzunehmen, obzwar sie nicht einmal wußte warum. Vielleicht weil dies der einzige wertvolle Gegenstand in der Wohnung war.

Sie hatte das Gefühl, als ob der Schulmeister ihren Gedanken erriet, und um ihn besser zu verbergen, bückte sie sich, um die auf die Erde gefallene Haarnadel zu suchen. Als sie sich nach einem Augenblick wieder erhob, schien sie eine andere zu sein, ihr Gesicht war gelb wie ihre Flechten und die großen Augen waren angsterfüllt. Sie hob die Arme, um die Haare hochzunehmen und die Haarnadel wieder auf ihren Platz zu stecken, und als ob diese Nadel ihr den Nacken durchbohrt hätte, brüllte sie auf wie zwei Ochsen, wenn sie den tödlichen Schlag bekommen.

Die beiden Männer glaubten, daß das nur Komödie wäre, aber sie warf sich in einen Stuhl und legte ihren Kopf auf das Bündel, indem sie die Zähne zusammenbiß, um nicht hinauszuschreien.

Im nächsten Augenblick erfüllte ein zweiter Schrei das Zimmer mit Lärm und Schrecken. Es war ein seltsames Heulen, das aus ihren Eingeweiden kam, wie aus einem unterirdischen Ort, wo sich entsetzliche Dinge ereignen. Sie schrie um Hilfe und im selben Augenblick war es ein Fluch.

»Ornella«, sagte Antonio ängstlich. Aber sie schlug mit den Armen um sich, wie ein gejagter Vogel mit den Flügeln, um ihn fernzuhalten und ihm auch wehzutun.

»Laß mich, laß mich!« schrie sie mit rauher Stimme. »Du Verbrecher, du Elender, laß mich!«

In dieser dumpfen Stimme zitterte ein tiefer Haß, eine Klage, die erschütternder war als die Schreie vorher: der alte Haß der Frau gegen den Mann, der sie gezwungen hat zu gebären, der aus Genuß und Begierde ihren Körper zerfleischt und aus ihrem Schoß das Nest des Schmerzes gemacht hat.

Der Schulmeister begriff und erhob sich.

»Das sind die Geburtswehen«, sagte er einfach. »Du mußt sofort die Hebamme holen. Steh auf, Ornella, leg dich in mein Bett.«

Er nahm sie am Arm und zwang sie aufzustehen. Sie kam, von ihm gestützt, wieder zu sich, machte einige Schritte auf das Bett zu, dann besann sie sich anders, machte sich von ihm los und stieg, fast auf allen Vieren kriechend, die Treppe zum Dachboden hinauf, wie ein Tier, das sich verkriecht, um zu gebären.

*

Trotz seiner heroischen Vorsätze verstand sich Antonio nicht dazu, die Hebamme zu holen, vielmehr überlegte er, ob es nicht vielleicht im Interesse seiner eigenen Würde angezeigt war, sich einen anständigen Rückzug zu sichern.

Proto wurde geschickt, die Hebamme zu holen. Proto eignete sich für alles, und diese Aufgabe schien ihm Spaß zu machen. Er nahm sich vor, sich mit der Hebamme einen Scherz zu erlauben, indem er ihr zu verstehen gab, daß es sich um eine sehr mysteriöse Geschichte handelte, um eine fremde Dame, die, um ihren Fehltritt zu verheimlichen, hierher gekommen war, um zu entbinden. Und er lachte unter seinem riesigen, vom Regen gepeitschten Regenschirm in sich hinein, als er im Dunkel der schmutzigen Straße ging.

Er kam jedoch etwas gedämpft zurück. Die Hebamme half bei einer anderen Geburt, bei reichen Leuten, und als sie verstanden hatte, um wen es sich handelte, hatte sie ihn kühl und feindselig empfangen.

»Sie kommt, wenn sie dort fertig ist.«

»Es sieht so aus, als ob ich auch die Hebamme werde machen müssen«, sagte der Schulmeister lustig, der das Bündel Ornellas aufgemacht hatte und daraus die von ihr vorbereiteten Leibchen und Wäschestücke nahm. Dann bemühte er sich, sich das ins Gedächtnis zurückzurufen, was er in einem wissenschaftlichen Buche über die einer Gebärenden zu leistende erste Hilfe gelesen hatte.

Proto sah gespannt zu. Die wenigen Sachen Ornellas, ihre Hemden, Hausschuhe, Strümpfe, die auf dem Tische verstreut lagen, erregten in ihm ein Gefühl von verletzter Scham, aber auch von Angst, als ob es die am Strande zurückgelassenen Kleider eines Menschen wären, der sich hat ertränken wollen.

»Man muß diesem armen Teufel doch helfen«, sagte er, »vielleicht will sie etwas zu trinken haben.«

»Das ist eine Medizin, die immer zur Hand ist«, rief der Schulmeister aus, indem er sich über die Einfältigkeit des Bauern lustig machte.

Plötzlich wurde an die Tür geklopft. Beide stürzten zur Tür, um zu öffnen, in der Hoffnung, es sei die Hebamme, und beide lachten, als sie das verstörte Gesicht Gesuinos sahen. Er war in Mantel und Hut gekommen, da er es vor krankhafter Neugier nicht aushielt. Auf dem kurzen Wege von seiner Wohnung bis zur Wohnung des Schulmeisters war er vom Regen ganz durchnäßt worden, und jetzt zitterte er vor Kälte, wie ein erfrorener Hund.

»Was willst du?« fragte sein Bruder scharf, der ihn nicht hereinlassen wollte. »Geh nach Hause.«

Aber der Schulmeister wollte auch Gesuinos guten Willen auf die Probe stellen, und indem er ihm den Familienschirm reichte, sagte er:

»Proto ist bei dieser Pfuscherin von einer Hebamme gewesen, die hat sich aber geweigert sofort zu kommen. Wir werden uns über sie beschweren, aber inzwischen gehst du, Gesuino, in meinem Namen zum Doktor und bittest ihn zu kommen. Es handelt sich darum, zwei Menschen zu retten.«

Gesuino nahm den Regenschirm, öffnete ihn mit einem Ruck dort auf der Schwelle, hielt ihn wie einen Schild dem Unwetter entgegen und entfernte sich im Galopp.

»Armer Teufel, er ist doch ein guter Kerl, mein Bruder«, sagte Proto, mehr zu sich als zum Schulmeister.

*

Es war eine denkwürdige Nacht für alle. Draußen schüttete es unaufhörlich, und das heftige Unwetter schien die Wohnung des Schulmeisters von der ganzen übrigen Welt zu trennen, um das schuldbeladene Weib jeder Hilfe zu berauben.

Aber je entfesselter die Elemente wüteten, desto zäher erwies sich der Wille der Männer, die Schwierigkeiten des Augenblicks zu überwinden.

Gesuino kehrte in Begleitung des Arztes zurück, der bereits den Schulmeister behandelt hatte. Und nachdem er Ornella untersucht hatte, sagte der gute Doktor, daß es sich um eine Frühgeburt handelte, die ohne Zweifel auf irgendeine Anstrengung oder große Aufregung zurückzuführen sei. Der Schulmeister sagte nichts von dem Besuch Antonios.

Er ging jeden Augenblick auf den Dachboden hinauf. Ornella war noch angezogen, bald lag sie, bald saß sie auf dem Bett, das ganz in Unordnung war. Beim Lichte einer Kerze, deren Flamme flackerte und sich dehnte, als ob sie mit der Luft spielen würde, erschien ihre Gestalt in dunklen Umrissen auf dem Hintergrunde der weißen Wand, und wenn sie, den Kopf auf die verschränkten Arme gebeugt, da saß, glich sie einer Gefangenen, die ihre Fesseln zernagte.

Und in der Tat glich der kleine Raum mit dem schießschartenähnlichen Fensterchen, der umgestülpten Lade, deren Inhalt über Tische und Stühle verstreut lag, und dem Nachttopf unter dem Bett, einer Kerkerzelle.

Der Schulmeister konnte sich nicht erinnern, je ein solch trauriges Bild gesehen zu haben. Der Regen, der aufs Dach prasselte, erweckte in ihm die Vorstellung einer vulkanischen Eruption, die das Haus mit einem Steinhagel überschüttete. Und der Tod war da, sichtbar, selbst im Schatten Ornellas. Dennoch empfand er ein geheimnisvolles Gefühl von Freude, das auf dem Grunde allen Seins ruht. Gottes Gegenwart und Allmacht hatten sich ihm nie so offenbart, wie in dieser Nacht. Gott, der mit seinem Stab die Grenze zwischen dem Willen und der Ohnmacht des Menschen, das Schicksal zu gestalten, bezeichnet: Gott, der ihm wieder jenes Weib mit ihrem Kind im Mutterleibe in die Arme legte, der die Zeit, den Raum, selbst den Tod aufhob und ihn glauben ließ, daß sie noch die Frau war, die er getötet hatte.

*

Der Doktor hatte sich entfernt mit der Bemerkung, daß die Geburt gegen Morgengrauen stattfinden und daß er selbst die Hebamme zwingen würde, ihre Pflicht zu tun.

Die Stunden gingen vorbei. Die beiden Bauern stellten sich dem Schulmeister abwechselnd zur Verfügung. Niemand sprach, als ob man nicht bei einer Wöchnerin, sondern bei einer Toten wachte.

Und auch da waren die beiden Brüder aufeinander eifersüchtig, nicht so sehr wegen des Mädchens, sondern weil jeder von ihnen alles tun wollte. Als Gesuino ankam, der trotz seiner Brummigkeit und Heftigkeit der schwächere der beiden Brüder war, entstand auf der .Schwelle ein stummer Kampf. Proto sah ihn drohend an, stieß ihn zurück, und nur die Tatsache, daß er sich vom Schulmeister beobachtet sah, hinderte ihn, seinen Bruder ernstlich zu verjagen.

Gesuino trat triumphierend ein, während Proto sich wütend entfernte, entschlossen, nicht wieder zurückzukommen.

Gegen Morgengrauen ließ der Regen nach, und in dem unerwarteten Schweigen schien der Hahn mit seinem Schrei zu verkünden, daß ein geheimnisvolles Wesen von weither gekommen sei, um dem Orte der Schmerzen Frieden zu bringen.

Auch Ornella war eingeschlummert. Der Schulmeister deckte sie mit seinem Regenmantel zu und erneuerte in dem Leuchter die Kerze, die sich zu einem guten Teil in einen Klumpen weißer Tränen aufgelöst hatte. Die neue Kerze brannte mit milder und ruhiger Flamme und schien erst zu flackern, als der zweite Hahnenschrei wie ein Sonnenstrahl durch das kleine Fenster des Dachbodens drang.

Der Schulmeister ging hinunter und bereitete den Kaffee zu, während Gesuino am Kamin eingenickt war, wie ein Hund, der horcht, obwohl er schläft.

Auch der Schulmeister horchte. Er hatte das Gefühl, überhaupt keinen Schlaf zu haben und trotzdem lange gegen seinen Willen geschlafen zu haben. Und in dem Schweigen hörte er draußen ein undeutliches Knirschen und Knistern, als ob die Nacht einen Sprung bekäme, um das Licht durchzulassen, und die vom Unwetter geknickten Gegenstände sich schaudernd wieder aufrichteten, indes aus der Wasserdecke, die über der Erde lag, die Sträucher, die Binsen des Strandes, die Pilze herausragten, wie die Gipfel der Wälder nach einer Sintflut.

Dieser Eindruck, einer Sintflut entronnen zu sein, und mit sich, wie Noah auf seiner Arche, das Samenkorn einer neuen Menschheit gerettet zu haben, verließ ihn nicht mehr. Und er fühlte, wie er nochmals auf einem Meere herumtrieb, das schrecklicher war als das wirkliche Meer, aber die Zuversicht glücklich zu landen, war so stark, daß er nicht einmal das Bedürfnis spürte, das alte Lied von dem Seemann, der Gott anruft, anzustimmen. Denn der Herrgott war hier anwesend, er war drinnen in seinem Gewissen und in seiner Kraft, und vor allem in seinem Willen zu siegen.

Beim dritten Hahnenschrei traf die kleine Hebamme auf dem Rade ein.

*

Sie war klein und noch sehr jung und sah wie ein Kind aus, wenn nicht diese in Falten gezogene Stirn und diese beiden schwarzen müden Augen gewesen wären, in denen die Schlaflosigkeit aller durchwachten Nächte aufgespeichert zu sein schien.

Während sie hinter der Tür das Fahrrad aufstellte, Heß sie ihren Blick mißtrauisch über das ganze Zimmer schweifen und glaubte zunächst, daß man sich einen Scherz mit ihr erlaubt hätte. Als sie die Treppe entdeckte, legte sie sofort den Mantel ab, unter dem sie noch einen weißen Mantel trug, den sie bei Entbindungen anlegte, und kletterte wie ein Eichhörnchen auf den Dachboden hinauf.

Der Schulmeister genierte sich ihr zu folgen. Diese kleine Frau, die schweigend, wie ein weißer Vogel mit schwarzen Flügeln, gekommen war, erregte in ihm ein geheimnisvolles Gefühl, und rief ihn gleichzeitig in die grausamste Wirklichkeit zurück.

Tatsächlich hörte man, daß sie Ornella aus ihrem gefährlichen Schlaf weckte und ihr mit tiefer männlicher Stimme befahl, sich auszuziehen und auf den Rücken zu legen. Dann trat sie oben an den Treppenrand und sagte:

»Warmes Wasser, aber schnell.«

Der Schulmeister wollte den Topf auf den Herd stellen, aber Gesuino war flinker. Er schürte das Feuer an und befestigte an dem Haken der Kette, die über dem Feuer hing, den kleinen Kochtopf aus Kupfer, der voll von Wasser war.

»Das wird ein schönes Durcheinander werden,« sagte er ganz glücklich und stolz über seinen geistreichen Einfall.

Auch der Schulmeister lachte und schöpfte neuen Mut. Und um einen Grund zu haben hinaufzugehen und nachzusehen, trug er für die Hebamme eine Tasse kochendheißen Kaffee mit viel Zucker hinauf.

*

Das Kind kam mit Sonnenaufgang zur Welt. Ja, sogar die Sonne sandte bereits ihre Strahlen durch das kleine Fenster, dessen Scheibe wie eine Kugel leuchtete.

»Es ist ein Junge,« kündigte die Hebamme an, und da es wegen seiner Größe bei der Geburt fast erstickt wäre und nicht schrie, und der bläuliche, mit Blut bedeckte Körper einem toten Kinde zu gehören schien, nahm sie ihn bei den Füßen, mit dem Kopf nach unten, und gab ihm einen tüchtigen Klaps auf den Hintern, als ob er schon irgendeine Missetat begangen hätte.

Da unterbrach ein schreiähnlicher Laut das Schweigen und die Verblüffung des Hauses: es war das Kind, das sich zum Leben meldete.

Mit einer geschickten Bewegung der Hände, als ob sie mit einem Spielzeug spielte, stellte sie das Kind wieder auf, wickelte es in ein warmes Tuch und legte es dem Schulmeister in die Arme.

»So ist gut. Und jetzt wollen wir uns der Mutter widmen.«

Als sie die Mutter in Ordnung gebracht und verbunden hatte, suchte sie das Kind mit den Blicken und sah, daß der Schulmeister sich nicht einen Millimeter von der Stelle gerührt hatte, wo er es in Empfang genommen hatte. Vielleicht hatte er nicht einmal geatmet, so voll Erstaunen und Angst war sein Gesicht und so unbeweglich waren seine Hände, die dieses seltsame Bündel trugen, das unmenschliche Schreie und Seufzer ausstieß.

*

Gesuino hatte einen zweiten Topf mit Wasser aufgestellt, obzwar es gar nicht nötig war, als Proto mit einem Paket eintrat, das er zu verbergen suchte.

»Jetzt geh nach Hause und mach, was zu machen ist,« befahl er brummig dem Bruder, auf dessen Widerspruch er gefaßt war. Aber zu seiner Überraschung sah er, daß Gesuino mit dem Finger auf den Dachboden hinaufzeigte und ihm bedeutete zu schweigen, worauf er sich wortlos entfernte.

Unruhig und neugierig wie er war, konnte er den Blick nicht von oben wenden und war überzeugt, daß sich seit gestern abend nicht das Geringste geändert hatte.

Tatsächlich hatte sich nichts geändert. Die Hebamme war schon weg, ein tiefes Schweigen herrschte im Zimmer und auf dem Dachboden. Nur schien es, daß der Schulmeister und Ornella auf und davon gegangen waren und in dem Hause sich nichts Lebendes befand als das Herdfeuer mit dem Topf darüber, in dem das Wasser wütend kochte.

Aber Proto war nicht der Mann sich verblüffen zu lassen. Er legte das Paket auf den Tisch, und als er den Topf kochen sah, machte er sich diesen Umstand sofort zu Nutze. Er zog aus dem Paket ein schön gerupftes Huhn heraus, dessen Kopf zwischen den Schenkeln lag, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß das Wasser rein war, warf er es hinein. Dann nahm er eine Handvoll Salz und warf es auch in den Topf, bereute es aber sofort, denn er wußte, daß man Kranken besser ungesalzene Brühe gibt.

Und er wartete, aber unten dauerte das Schweigen fort. Dann faßte er sich Mut und stieg die Treppe hinauf, und da sah er Ornella schlafend und den Schulmeister auf der Truhe sitzend, beide unbeweglich wie auf einem Gemälde. Seine Knie waren mit dem Regenmantel zugedeckt und darunter hielt er etwas, was niederzulegen oder zu zerbrechen er sich offenbar fürchtete. Und das kleine, runde, blaue Fenster war wie ein großes Auge und in der Mitte war die Pupille der Sonne.

*

Als der Schulmeister den Bauern bemerkte, gab er ihm mit dem Kopf zu verstehen, sich zu entfernen, um den Schlaf Ornellas nicht zu stören. Dann hob er den Zipfel des Mantels. Er hatte immerzu Angst, das Kind zu ersticken. Übrigens konnte er es nicht auf das allzu schmale Bett der Mutter legen, und hinuntertragen wollte er es auch nicht.

Aber da er nun ruhig auf die Rückkehr der Hebamme warten konnte und sicher war, daß unten Proto das Haus besorgen würde, überließ er sich seinen Gedanken.

Da die Hebamme es übernommen hatte, beim Bürgermeisteramt die Geburt des Kindes anzumelden, konnte er auch da beruhigt sein. In dem Bündel Ornellas hatte er genug Geld gefunden, um die dringendsten Ausgaben zu bestreiten. Sein einziger Wunsch war nur, daß Antonio nicht wiederkommen sollte. Trotzdem ging ihm seine Abwesenheit nach allen seinen Großsprechereien von gestern abend sehr nahe. Aber was tat es? Alles geht nach Gottes Willen und er fühlte in sich eine außerordentliche Kraft, die ihn befähigte, das ihm vom Schicksal anvertraute Kind, koste es was es wolle, zu verteidigen.

Auch Ornella, die, bleich, mit halboffenem Munde auf dem Kopfkissen ihrer gelben aufgelösten Flechten schlief, erregte in ihm großes Mitleid. Ihm schien, als habe sie sich mit dem vergossenen Blut und den erlittenen Schmerzen entsühnt und gereinigt. Nun lag sie da, unbeweglich, wie eine Statue aus Wachs, die er nach Belieben modeln konnte. Sie hatte auch ihren schweren Atem verloren, und Stirn und Nase hatten kindliche Linien.

Und plötzlich sah er sich, warum wußte er nicht, in der Schule seiner Heimat wieder. Fünf arme, kleine Kinder, alle häßlich und frech, saßen auf den Bänken und starrten ihn an, indem sie ihn verspotteten.

»Ja«, sagte das eine von ihnen, das kleinste und frechste, »Herr Giuseppe, der uns nicht leiden konnte, muß jetzt die Amme bei diesem halbnackten Wurm machen.«

Die andern lachten. Einer von den wohlerzogenen Knaben, einer von den wohlhabenden, erhob sich und begann, schreckliche Grimassen zu schneiden.

»Und mir wollen Sie keine Milch geben, Herr Lehrer?«

Die ganze Klasse war von der Epidemie erfaßt, zu lachen und Grimassen zu schneiden. Einige Buben bewarfen ihn mit Eicheln und faulen Oliven, indem sie weniger ihn als das Kind zu treffen suchten. Er versuchte sich zu erheben, aber er konnte nicht, wollte es auch nicht, und hielt seine Arme schützend über das Kind.

»Auch das ist eine Strafe«, dachte er, »weil ich Kinder nie gern gehabt habe.«

Mit einem Male stieg jemand die Treppe herauf, und oben auf dem Treppenrand wurde der schöne Kopf Olas sichtbar, mit seine schwarzen Locken und den Augen von braunem Gold. Er fühlte, wie er rot wurde, und suchte das Kind besser zu verbergen, aber Ola wußte alles, sprang mitten in die Dachkammer und sagte:

»Gib mir eine Rute, damit ich mein Brüderchen gegen diese Meerkatzen verteidigen kann.«

Die Knaben aber waren verschwunden, und an Stelle der Schule war das Meer da mit den aufgeregten Wellen. Die Knaben waren verschwunden, wohin? Er hatte das Gefühl, als ob ihm alle auf den Knien herumgesprungen wären und sich zwischen den Falten des Mantels versteckt hätten. Und dieser lastete auf ihm und drohte hinunter zu fallen, und er fiel auch tatsächlich hinunter, und das Kind fiel in vollkommen bläulichen und blutigen Stücken hinaus.

Er fuhr entsetzt aus seinem Halbschlaf auf und hob nochmals den Zipfel des Mantels hoch, wie um sich zu vergewissern, daß das Kind unversehrt war. Es lag da, den dicken Kopf in einem Häubchen aus roter Wolle, mit offenen, ausdrucklosen Augen, und diese Augen und dieses helle und rote Gesicht hatten eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Puppe Olas.

*

Auch Antonio kam wieder, gemessen und steif. In den hohen Lederschäften, eine Reitpeitsche in der Hand, sah er wie ein Jockey aus, der sich gerade anschickt, zu einem gefährlichen Rennen in den Sattel zu steigen. Er sagte, daß er in Geschäften, aber auch aus einem anderen Grunde, den er nur dem Schulmeister anvertraute, verreisen müßte.

»Ich werde ein Häuschen suchen, wo ich Ornella und das Kind unterbringen will, sobald sie wieder auf den Beinen stehen kann. Inzwischen ...«

Er wollte ihm Geld geben. Der andere war im Zweifel, ob er es nehmen sollte oder nicht. Er nahm es, aber er legte es abseits, wie einer, der entschlossen ist, fremdes Geld nicht für sich zu verwenden.

Antonio wünschte, auch das Kind und Ornella zu sehen. Die Hebamme, die zum zweitenmal kam, hatte alles so vorbereitet, daß die beiden neben dem Bett stehen konnten, während die Mutter das Kind säugte.

Als Antonio auf den Dachboden hinaufstieg, gab Ornella, die etwas zur Seite gewendet lag, ihrem Kinde, mit dem sie sich ganz eins fühlte, tatsächlich zu trinken. Sie hatte die Empfindung, daß dieses weiche Mündchen, das an ihrer Brust hartnäckig saugte und ihr weh tat, obwohl es ein Gefühl von Wollust in ihr erregte, sich nie mehr von ihr losreißen dürfe. Und sie fühlte, daß, wenn jemand versuchen sollte, ihr das Kind von der Brust zu reißen, sie sich sofort in ein wildes Tier verwandeln würde, um es zu verteidigen.

Als Antonio sich tatsächlich über das Bett beugte und sie sich an seine bösen Pläne erinnerte, glühten ihre Augen vor Haß.

Antonio dachte jedoch nicht daran, eine sentimentale Szene aufzuführen, im Gegenteil, seine Gleichgültigkeit gegenüber der Mutter und dem Kinde war m seinem verärgerten Gesicht zu lesen. Seine einzige Sorge im Augenblick war, daß der Schulmeister ihn nicht für geizig und seiner Pflicht für entbunden hielt. Als sie wieder unten waren in dem Zimmer, aus dem Proto klugerweise verschwunden war, wollte er ihm noch Geld anbieten.

»Nein, nein«, sagte der Schulmeister, indem er mit Widerwillen auch die Hand zurückstieß, die er ihm reichte. »Genug!«

Dieses Genug hatte noch eine andere Bedeutung. Antonio verstand ihn und beharrte:

»Ich komme übrigens in drei oder vier Tagen zurück. Dann werde ich schon wissen, wo ich Ornella unterbringen werde, und wenn Ornella wieder herumgehen darf, wird alles in schönster Ordnung sein.«

Der Schulmeister antwortete nicht, und als Antonio gegangen war, erinnerte er sich, wie er ihn vor seiner Flucht aus dem Vaterhause zum letzten Male gesehen hatte.

»Eben noch hatte er mein Brot gegessen und meinen Wein getrunken. Er ist gegangen, ohne einen Blick des Mitleids für mich. Aber es muß wohl so sein«, dachte er und ging wieder zu Ornella hinauf.

Er fand sie rot und aufgeregt, ängstlich blickend.

»Was hat er Ihnen gesagt?« fragte sie mit lauter und argwöhnischer Stimme.

»Nichts hat er mir gesagt.«

»Nein, nein, ich kenne seine Absichten. Er will das Kind umbringen.«

»Du bist verrückt, Ornella. Was fällt dir denn ein?«

»Es ist so, wie ich sage. Sie werden sehen. Und gestern abend hat er mich nicht umbringen wollen? Und das Kind mit mir? Ist das das erstemal?«

»Ruhig, reg dich nicht auf und denk nicht. Du wirst dir die Milch vertreiben.«

Aber Ornella nahm keine Vernunft an, ängstlich wie der Vogel, der den Habicht vorüberfliegen gesehen hat.

»Sie werden sehen, Sie werden sehen. Er wollte mich wegschaffen, um dann das Kind verschwinden zu lassen. Und das wird er wieder tun, wenn ...«

»Wenn?«

»Wenn man nicht flieht. Das war auch der Grund, warum ich mit dem Bianchi fortwollte. Der ist tausendmal besser als dieser Mörder hier.«

»Ornella!« sagte der Schulmeister gedemütigt und schmerzerfüllt. »Sprich keine häßlichen Worte, denn jetzt hört dich dein Kind.«

Sie betrachtete das Kind, als ob es sie tatsächlich hörte, und streckte die Lippen vor, als ob sie weinen wollte.

Da legte ihr der Schulmeister, um sie zu beruhigen, eine Hand auf den Kopf und sprach, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, seltsame Worte.

Es waren die Verse aus der Bibel, in denen von der Verfolgung des Herodes die Rede ist.

»Da erschien der Engel des Herrn dem Joseph im Traum, und sprach: Stehe auf, und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir, und fliehe in Egyptenland, und bleibe allda, bis ich dir sage; denn es ist vorhanden, daß Herodes das Kindlein suche, dasselbe umzubringen. Und er stand auf, und nahm das Kindlein und seine Mutter zu sich, bei der Nacht, und entwich in Egyptenland.«

Ornella begriff vollkommen, um was es sich handelte, und wie der erschreckte Vogel, der sich in seinem Schlupfwinkel geborgen fühlt, beruhigte sie sich und reichte dem Kinde von neuem die Brust.

*

Derjenige, welcher sich den Umständen entsprechend am nützlichsten erwies, war Gesuino.

Er wusch die Sachen des Neugeborenen, besorgte im Hause alles, und um nicht hinter seinem Bruder zurückzustehen, brachte auch er sein Geschenk: ein schönes Stück Schweinefleisch, das mit Fett durchsetzt war.

»Das möchte ich gern nach meiner Weise braten, Ornella soll sich die Finger danach ablecken.«

»Das scheint mir ein bißchen zu früh zu sein, ihr Schweinefleisch zu geben,« bemerkte gutmütig der Schulmeister, und um Gesuino nicht zu beleidigen, fügte er hinzu: »Wir werden lieber eine kleine Feier unter uns veranstalten.«

So geschah es. Am Abend ging Proto aus, um Wein zu kaufen, jenen Wein, der ihm so gut schmeckte, und der Wirt, der auch den wahrhaft köstlichen, mit Lorbeerblättern und Rosmarin zubereiteten Braten hinunterschwemmen wollte, trank nach vielen Jahren der Abstinenz wieder und betrank sich natürlich. Aber es war ein bewußter und freiwilliger Rausch, der ihm das Gefühl verlieh, seine Seele an einem schönen Sommermorgen spazieren zu führen, indem er ihr erlaubte, hin und her zu fliegen, wie die Schmetterlinge am Ufer des Meeres, sie aber immer im Auge behielt, damit sie sich keiner Gefahr aussetzte.

So beherrschte er seinen Wunsch, den Bauern von seinen Zukunftsplänen zu erzählen. Übrigens sprachen auch sie sehr wenig an jenem Abend, um Ornella nicht zu stören. Ein wenig Lärm gab es doch, als die kleine Hebamme gekommen war und die Wöchnerin und das Kind für die Nacht in Ordnung gebracht hatte.

»Trinken Sie einen Becher mit uns«, bat der Schulmeister. Und sie ließ sich nicht lange bitten.

»Ich habe heute nacht zu tun und will nicht in den Straßengraben fallen«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, und goß den Wein in einem Zug hinunter, als ob sie ihn zum Fenster hinaus gießen würde.

»Einen Becher auch für mich«, sagte höflich Proto, indem er sich erhob und ihr den vollen Becher reichte. »Geduld«, sagte sie und nahm den Becher in ihre kleinen Hände, als ob sie sich oder den Wein wärmen wollte. »Es wird mir bestimmt nicht gut tun.«

Da erhob Gesuino seinen Riesenschädel, dessen lockiger Schatten sich auf der Wand hin und her bewegte wie der eines mit Dornen besetzten Baumes, und sagte seinen Spruch:

»Da der Wein keine schlechten Folgen hat, muß man drei Becher trinken.«

»Ja, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

»Amen«, antwortete ernst der Bauer und reichte ihr auch seinen vollen Becher. »Wenn Sie nicht trinken, beleidigen Sie mich.«

»Damit der Wein keine schlechten Folgen hat, müssen Sie etwas essen«, sagte der Schulmeister, den die Sicherheit der Hebamme beunruhigte. »Setzen Sie sich.«

»Ich habe zu tun, sage ich Ihnen«, schrie die Frau.

Aber Proto erhob sich, faßte sie an der Schulter und zwang sie sich zu setzen. Der Schulmeister setzte ihr eine Scheibe Braten, Brot und Salz vor. Und sie blieb bis spät in die Nacht.

Sie sprachen leise, und sie erzählte Geschichten von allen Familien aus der Gegend, mit schrecklichen Einzelheiten und Ausdrücken, im Vergleich zu denen die trüben Zeiten Ornellas nichts waren. Wenn man im Dunkeln dort gewesen wäre, hätte man sie für ein übles Subjekt halten können. Der Schulmeister und sogar Gesuino hatten nicht nur Mitleid mit ihr, sondern hörten ihr auch mit perversem Genuß zu.

Proto hingegen wurde nervös, und um den boshaften Reden ein Ende zu bereiten, wollte er eine seiner gewöhnlichen Geschichten erzählen:

»Also, in einem weltverlorenen Dorf war ein Propst, der sich langweilte, allein zu sein. Da schickte er eines Abends seinen Diener mit dem Wagen fort, um den Doktor zu bitten, daß er sofort kommen solle, da er sich nicht wohl fühle. Der Doktor kommt, der übrigens sein Freund war. »Also, wie geht's? Was ist los?« »Das ist los«, sagte der Propst, »daß ich mich sterbenskrank fühle. Ich habe hier oben auf dem Kopf schreckliche Schmerzen und dann hier in der Ellenbogenspitze und hier in der Fußspitze. Dann sehe ich auch nichts in der Nacht, wenn ich das Licht auslösche.« »Ah, du Hundesohn«, schrie der Doktor. Und dann blieb er zum Abendessen beim Propst und um Mitternacht spielten und tranken sie immer noch.«

Alle lachten, obzwar der Schulmeister diese Geschichte schon oft gehört zu haben glaubte.

Nachdem die Hebamme endlich gegangen war, ging er auf den Dachboden, um zu sehen, ob der Lärm Ornella aus dem Schlaf gestört habe. Sie saß auch tatsächlich mit offenen Augen da, denn in der Nacht bemühte sie sich nicht einzuschlafen, aus Angst, sie könnte das Kind im Schlaf ersticken.

»Wir haben seine Geburt gefeiert«, flüsterte der Schulmeister, indem er sich über das Lager beugte, das nach Stroh und Milch roch wie eine Krippe. »Diese gutmütigen Bauern haben Geschenke mitgebracht.«

»Warum zeigen Sie ihnen nicht das Kind?« fragte sie mit schläfriger und träumerischer Stimme, die ihn an die Margas erinnerte. »Es ist so hübsch und stark,« wiederholte sie in selbstgefälligem Ton.

»Morgen.«

»Warum nicht jetzt? In der Nacht ist es noch schöner«, beharrte sie, indem sie das Kind liebkoste, das ganz warm und naß von Milch war.

Der Schulmeister befand sich noch in einem Zustand leichter Trunkenheit, die ihm alles leicht und schön erscheinen ließ. Er trat also oben an den Treppenrand und rief die Bauern.

»Ornella will euch das Kind zeigen.«

Und beide, voran Gesuino, überstürzt, und hinter ihm Proto, bedächtig, stiegen die Treppe hinauf, kamen näher und schauten.

»Schön, sogar sehr schön.«

»Es wird fünf Kilo wiegen«, sagte Proto, »es scheint ein fettes Schwein zu sein.«

»Der Vergleich verletzt nicht«, sagte Ornella vielmehr geschmeichelt. Und während sie vor dem Lager standen, das nach Stroh und Milch roch, glaubte der Schulmeister in sich und den Bauern die Heiligen Drei Könige zu erblicken, die das große Kind anbeten.

*

Am dritten Tage nach der Geburt erklärte Ornella, aufstehen zu wollen. Sie fühlte sich vollkommen wohl, viel kräftiger, weil beweglicher als früher.

»Ich muß auf ein paar Stunden ausgehen. Es ist besser, daß du im Bett bleibst, für den Fall, daß Antonio kommt,« sagte der Schulmeister zu ihr.

Sie verstand sofort und setzte keinen Widerstand entgegen. Ihre Intelligenz schien sich nach der Entbindung ganz außerordentlich entwickelt zu haben.

Der Schulmeister bat Gesuino zu bleiben, solange er außer Hause war. Und der Bauer ging sofort daran, sich im Zimmer niederzulassen, indem er eine zerbrochene Waschschüssel mitbrachte, die er mit Eisendraht und Mastix wieder in Ordnung bringen wollte.

Der Schulmeister war nie abergläubisch gewesen, aber als er die beiden Hälften der Waschschüssel sah, die innen grün und außen rot war, und von der Absicht Gesuinos, sie zusammenzuleimen, hörte, dachte er:

»Wenn bei meiner Rückkehr die Waschschüssel wieder ganz ist, so bedeutet das, daß auch meine Angelegenheiten nach meinem Wunsche gehen werden.«

Und er ging in die benachbarte Stadt, wo das Gericht war, um seinen Verzicht auf die Bewachung des sequestrierten Hauses zu erklären. Er ging zu Fuß, längs des Meeresstrandes.

Das Wetter hatte sich völlig aufgeklärt. Es war kalt, es war eine trockene Kälte, und das Meer schien unter dem kristallblauen Himmel vor Wonne zu erschauern, daß es die Durchsichtigkeit und den Glanz der heiteren Tage wiedergefunden hatte. Der Sand war unberührt, und der Schulmeister scheute sich fast, ihn mit seinen Spuren zu verletzen. Die Erinnerung an Ola überkam ihn jedesmal mit leidenschaftlicher Heftigkeit, als ob dieses kleine, frische und eigensinnige Persönchen ihm von hinten um den Hals fallen würde. Aber er riß sich von diesem Gedanken los, als ob das ein sündhafter Gedanke wäre.

Die Straße war jetzt eine andere, er ging sie, ohne fröhliche Rast zu machen. Und sie war lang, lang wie der ganze Rest seines Lebens. Er mußte sich also beeilen. Und er beeilte sich. Das rosige und lachende Land dort unten schien ihm entgegenzukommen, um ihm zu helfen. Auch der Sand wurde hart unter seinen Füßen, und der ganze graue und goldene Strand glich einer breiten Allee längs dem blauen Garten des Meeres.

*

Er fuhr mit dem Zuge zurück und brachte für Ornella ein Päckchen mit Bäckereien mit.

Gesuino war noch da und kehrte vor dem Hause aus.

»Wo ist die Waschschüssel?« fragte der Schulmeister.

»Ach, ich habe sie zerschlagen,« sagte der Bauer, aber seine Augen sprühten vor Arglist. Die Waschschüssel stand in ihrer ganzen Herrlichkeit drin im Zimmer auf dem Tisch, tadellos und rein, als ob sie direkt aus dem Schaufenster käme. Und der Schulmeister drehte sie neugierig hin und her, als ob er an eine Mystifikation glaubte. Dann lachte er wie ein Kind.

»So ist gut,« rief er aus, indem er die Kapuze mit jugendlicher Frische ablegte. »Ist niemand gekommen?«

»Niemand, außer der verdammten Hebamme. Fast hätte sie mich verprügelt, weil kein warmes Wasser da war. Aber sie ist ein tüchtiges Weib. In zwei Minuten war sie fertig.«

»Hast du Ornella etwas zu essen gegeben?«

Gesuino zögerte mit der Antwort. Aber er war ein gewissenhafter Mensch und kein Freund von Lügen.

»Ich wollte ihr eine Tasse Brühe geben, wie Sie angeordnet haben, aber das Mädchen hat angefangen zu gähnen und Grimassen zu schneiden. Sie sagte: Ich habe Hunger, dann habe ich noch das Kind, das mein Blut trinkt. Und sie hat so lange gemacht und getan, bis ich ihr Brot und ein Stück Speck gegeben habe.«

»Hoffentlich schadet ihr das nicht,« sagte der Schulmeister beunruhigt. Und er ging zu ihr hinauf mit den Bäckereien, in dem Glauben, Ornella werde sich sofort dankbar zeigen. Sie saß auf dem Bett und gähnte dermaßen, daß sie sich den Mund mit der offenen Hand zuhalten mußte.

»Die werden für das Kind gut sein. Ich habe Lust auf Bohnen und Makkaroni.«

*

Dieser Hunger, den der Schulmeister, so gut es ging, zu stillen suchte, und zwar mit Speisen, die weniger derb waren, als die Ornella begehrt hatte, hatte eine gute Wirkung. Am vierten Tage erhob sie sich, kämmte sich, wobei sie vor Schmerz schrie, weil ihre Haare so verfilzt waren, dann ging sie in das Zimmer hinunter und übernahm wieder die Leitung des Haushalts. Aber jeden Augenblick spannte sie die Ohren, und da sie bekannte Schritte zu hören glaubte, stürzte sie auf den Dachboden, um sich zu verstecken und ihr Kind zu verteidigen.

Ihr Haß gegen Antonio ließ sie die Gefahr übertreiben, sie konnte nicht vergessen, daß er den Revolver auf sie und das noch nicht geborene Kind angelegt hatte. Der Schreck lag ihr noch in den Gliedern und sie konnte nicht genug vernünftig denken, um ihn zu überwinden.

Am Abend des fünften Tages, als Antonio sich noch immer nicht hatte sehen lassen, kam Proto mit der Nachricht, daß Adelmo Bianchi, der Vatermörder, in Genua verhaftet worden sei, als er sich gerade nach Amerika einschiffen wollte.

Ornella schien die Nachricht gleichgültig aufzunehmen, aber als der Bauer gegangen war, sagte sie heftig:

»Das ist er gewesen, Antonio, er hat ihn verraten ...« Der Schulmeister ließ sie nicht weiterreden. Sie hatte ihn noch nie so entrüstet gesehen.

»Ich verbiete dir, Antonio in einer solchen Weise zu verleumden. Hast du mich verstanden?«

In der Tat erschien diese Nachricht am nächsten Tage in einem anderen Licht: Adelmo Bianchi hatte sich freiwillig gestellt.

»Vielleicht hat er erfahren, daß ich entbunden habe und infolgedessen nicht nachkommen kann,« sagte Ornella ohne Eitelkeit. Und der Schulmeister, der sich über ihr Bekenntnis freute, ließ ihr diese Illusion. Aber Proto hatte ihm bereits gesagt, daß Bianchi sich gestellt hatte, weil sein Bruder im Gefängnis gedroht hatte sich umzubringen, wenn der Prozeß nochmals verschoben werden sollte.

*

Dieses Nachspiel zu dem schrecklichen Drama sowie ein anderes, aber weniger bedeutendes Ereignis, das am selben Tage stattfand, bestätigten in dem Schulmeister die Überzeugung, daß alles in Gottes Hand steht.

Der Mann, dem er sein Haus unter der Bedingung des Rückkaufs verkauft hatte, war gestorben, und der Sohn schrieb, daß die Familie nichts gegen den Vertrag einzuwenden hatte. Der alte Eigentümer müßte aber zugegen sein, damit die Übertragung in gesetzlicher Weise vor sich gehen könnte.

Er zeigte Ornella diesen Brief.

»Die Übertragung könnte auch durch Vollmacht erfolgen,« sagte er, indem er den Brief nahm und ihn anstarrte, um sie nicht ansehen zu müssen. »Das kostet sehr viel. Ich denke, daß ich persönlich hinfahre. Ich habe auch schon dafür gesorgt, daß das Gericht so schnell als möglich einen neuen Wächter herschickt. Sobald er da ist, übergebe ich ihm alles und fahre.«

»Und ich? Und das Kind?«

Er erhob, noch ein bißchen unsicher, die Augen.

»Wenn du mitkommen willst mit dem Kind, so fahren wir zusammen.«

»War das nicht so abgemacht?« sagte sie böse.

»Ja. Also dann hör mich an, Ornella. Du gehst mit mir und wirst das sein, was du selbst sein willst. Aber das Kind betrachte ich als mein Kind. Wenn wir erst unten sind, werde ich alles in Ordnung bringen, dann taufen und legitimieren wir es. Und es wird in der Gewißheit aufwachsen müssen, daß es tatsächlich mein Kind ist. Ich werde für euch arbeiten, denn ich fühle mich noch sehr rüstig. Und dann noch eins: Wir müssen heimlich von hier fort, um der Neugier der Leute zu entgehen. Wir fahren von der nächsten Station mit dem Zug. Einverstanden?«

»Ja,« antwortete sie. Und sie sprachen kein Wort mehr darüber.

Und der Schulmeister beschloß, seine und Ornellas Flucht den Bauern nicht mitzuteilen. Sie würden ihn für undankbar gehalten haben. Aber wer will, daß ein Geheimnis Geheimnis bleibt, muß es zuerst bei sich behalten.

Übrigens schienen ihn die Umstände geheimnisvoll zu unterstützen. Der neue Wächter kam, in Begleitung eines Gerichtsbeamten, den der Schulmeister bereits kannte, eines Abends an, als die Bauern nicht zu Hause waren.

Alles war für die Abreise bereit, und nachdem er die Villa und die Wohnung des Wächters übergehen hatte, blieb dem Schulmeister nichts übrig, als zu gehen.

Er hatte seine und Ornellas Sachen in die zwei Koffer gepackt, mit denen er gekommen war. Nahm den kleinen Teppich, der die Flucht nach Ägypten darstellte, von der Wand, rollte ihn zusammen, wickelte ihn in Seidenpapier ein, und als er und Ornella, mit dem Kind im Arm, das mit seinem Schal zugedeckt war, an dem Hause der Bauern vorbeikam, warf er die Rolle durch eine zerbrochene Fensterscheibe in ihr Zimmer.

Sie kannten den Wert des Geschenks und würden die Bedeutung verstehen.

Dann gingen sie längs des Strandes, in grauer Nacht, die von den großen winterlichen Sternen erhellt war, er, Ornella und das Kind, das allein keine Spuren zurückließ.


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