Jakob Julius David
Die Tochter Fortunats
Jakob Julius David

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Bis in die späteste Nacht saßen die beiden beisammen: denn es war kein Zweifel, daß der Podesta eilen würde, sein junges Weib heimzuführen, und so wollte es Renate fast scheinen, als gehöre sie nur noch diese Nacht ihrem Vater ganz an, und es bedünkte sie plötzlich das, was sie ihm zuliebe getan, doch gering neben der Last, die so lange und so wuchtig in der Pein seines Gewissens, in der ungewohnten Not auf ihn gedrückt hatte. Das konnten nur verdoppelte Liebesbeweise, in die kürzeste Frist zusammengedrängt, wieder gutmachen. Sie zwang ihn, sich zur Ruhe zu begeben, und ließ ihm ihre Hand, die er erfaßt hatte, als wolle er sich vergewissern, daß sie ihm noch nicht verloren sei. Während sie aber über seinen Schlummer wachte, zog ein befremdliches Spukgesicht vor ihren ermattenden Sinnen auf; in langer Reihe schritt ein stattliches Geschlecht an ihr vorüber. Allesamt waren sie hochgewachsen, und ihre Zahl war schier endlos; alle sahen einander ähnlich; alle trugen aber auch denselben Zug der Schmerzen zwischen verdüsterten Brauen. Als letzte aber, hart hinter zweien Greisen, kam sie selber.

Schon mit dem nächsten Tage erschienen Handwerksleute, um das Heim der beiden in Stand zu setzen; denn was für Fortunat gut genug gewesen war, das war es nicht für den Schwiegervater des mächtigen Podesta, der sich nur aus der würdigsten Umgebung die Braut heimholen wollte. Renata ließ sie schalten nach Gefallen. Ein alter Herzenswunsch war ihr allerdings erfüllt, aber welchen Preis hatte sie dafür zahlen müssen! Es wollte ihr fast ahnen, als wären die Tage noch immer die besten ihres Lebens gewesen, die sie unter diesem verfallenden Dache verbracht. Sie wich nicht mehr von der Seite ihres Vaters; beide waren unzertrennlich. Den Tag über schwiegen sie; wenn es aber zu dunklen begann, wenn das Geklopfe und das Gehämmer ringsum verstummt war, dann sprachen sie einander gar liebevoll zu. Nur zu oft kamen dem Manne die Tränen; die Augen des Mädchens blieben immer trocken, und Fortunat hatte sich bald so sehr daran gewöhnt, von der Tochter bemitleidet zu werden, daß er sich beinahe für den Bedauernswerteren hielt. Als aber dann die fürstlichen Brautgeschenke kamen, die Herr Andrea seiner zukünftigen Gattin zusendete, als der Greis erst wieder durch reichgeschmückte Räumlichkeiten wandeln durfte, da freute er sich, war guten Mutes und staunte, daß sein Töchterlein so wenig Freude an dem herrlichen Leben hatte, welches ihnen nun für alle Zukunft beschieden schien. Am liebsten hätte er es deshalb tüchtig ausgeschmäht; nur fehlte dazu jede Gelegenheit, weil es immer schwieg, und er begann sich fast vor ihrer Ruhe zu fürchten. Sie aber bemerkte mit innerer Angst, daß des Vaters Gedanken wechselten wie die eines Fiebernden, und daß auf die ungewohnte Freudigkeit nur zu bald der Trübsinn folgte, den sie nur zu gut von früher her kannte. Wollte ihr das vielleicht wieder ein Unheil vorbedeuten? Vielleicht gar den Verlust des einzigen, der ihr auf Erden noch wert war?

Beschwingt enteilte die Zeit. Das Brautgewand kam und wurde geprüft. Eng umschloß seine Pracht die hohe, fast überschlanke Gestalt Renates. Die dunklen Fluten ihres Haares ergossen sich aufgelöst darüber, ihre rätselvollen Augen leuchteten heller als das reichste Geschmeide. Und dennoch steckten diejenigen, die das alles gebracht, die Köpfe zusammen und raunten, als sie entlassen wurden. Auch der Dispens kam; der Verlobungsring wurde feierlich an den Finger Renates gesteckt. An demselben Tage sah Fortunat, wie die Tochter träumerisch am Herde stand und in die Gluten starrte. Plötzlich ergriff sie ein scharf geschliffenes Beil und ließ es hastig wider ihre Linke zucken; die Axt sank aber wieder, noch ehe der Angstruf des Vaters das Ohr des Mädchens erreichen gekonnt. Eine unsägliche Traurigkeit überschattete dabei ihr Antlitz. Nur noch wenige Tage trennten sie von der Vermählung; in ihnen hat Renata die letzten Male gebetet, und nur noch einmal in ihrem Leben hat die Tochter Fortunats eine Kirche betreten.

Das war an ihrem Hochzeitstage, und alles Volk von Ravenna war hinzugeströmt. Die Menschen drängten sich in den Straßen rings um San Francesco – denn die vornehmste Kirche der Stadt war für die Malespina wie eine Hauskapelle. Tagelöhner standen hier, welche an diesem Vormittag ihr Handwerkszeug feiern ließen; Mädchen, die neugierig waren, was für Schmuck und was für Kleider die Braut tragen werde; junge Edelleute endlich, die bei den Zuschauerinnen ihren Spaß zu finden hoffen durften. Spöttische Scherze wurden laut; man lachte über böse Reden, die das Alter des Podesta mit dem seiner Braut verglichen.

Als der Brautzug erschien, verstummten alle. Ratsherren in der Tracht ihres Amtes schritten vorauf; ihnen folgte Andrea, die Tochter Fortunats an seiner Seite. Noch kein Weib von Ravenna hat kostbareres Geschmeide getragen als sie, da sie zur Kirche ging; der Brautschleier, wie ein Nebel wallend und schimmernd, überfloß das Kleid, das die Schönheit ihres unberührten Leibes trotz der Umhüllung andeutend verriet. Ins dunkle Haar war ein einziger Rubin gebettet; sein rotes, flimmerndes Licht strahlte durch das feine Gewebe des Schleiers. Die teuersten Kleinodien, die der Schatz der Malespina verwahrte, leuchteten an ihrem weißen Halse. Aber es ist in dieser Stadt auch noch nie ein schöneres Weib zum Altare geschritten; ein Staunen befiel die Menge und bannte ihre Zungen, als sie die Braut des Podesta ersahen, wie sie züchtig, die Wimpern gesenkt und dennoch freien Hauptes, dahinwandelte. Nur daß ihre Schönheit nicht herzerfreuend erschien; ihr Antlitz war so blaß wie das der Toten. Und als sie hart an der Kirche waren und der Zug der Festgenossen kleinere Schritte machte, da erklang mitten aus dem Volke heraus eine helle Stimme: »Nun führt der blasse Tod gar einen Arzt zur Hochzeit! Unrecht und Undank!«

Renata hatte eben die Kirchenschwelle überschreiten wollen. Nun stockte ihr der Fuß, und sie wandte das Haupt. Diese Stimme kannte sie. Hart am Eingange stand Renatus; der Gewaltige überragte alle. Sie schlug langsam das Auge auf und sandte ihm einen vollen Blick der Trauer und des Hasses. Renatus fühlte sich durchschauert, und das helle Rot seiner Wangen erblich; dann aber stieg ihm sein ungestümes Blut zu Häupten, und er fühlte, wie eine fremde Glut heiß in ihm erglomm. Es überfiel ihn wie ein Schwindel; an das Gestein des Tores mußte er sich lehnen, und es bot ihm willkommene Stütze und Kühlung, denn ein Zucken durchlief seine Glieder und lähmte ihm die Füße. Aber dieser lohe Frost hielt ihn nur kurze Zeit gefangen; dann drängte er nach, schob achtlos die beiseite, welche ihn umstanden. Er mußte sehen, wie die Ringe gewechselt wurden. Alles, alles! Wozu? Er wußte es nicht. Man hatte aber bemerkt, daß Renate nach rückwärts gesehen hatte, und ein häßliches Weib krächzte: »Eine Braut, die sich an der Kirchentür umsieht... das bedeutet Unheil.« – »Hexe, du hast ja auch den Bräutigam gesehen. Da braucht man denn doch kein zauberisches Wissen und keine Vorzeichen für eine solche Weissagung«, wurde hämisch erwidert.

Langsam hatten sich die Menschen verlaufen, und Renatus blieb allein auf dem Platze. Er umkreiste ruhelos und unablässig das Haus der Malespina, und es zog ihn gewaltig hinein. Er mußte Renate zur Rede stellen. Wer hatte ihr das Recht gegeben, ihn so anzublicken? Wenn er daran dachte, dann schlossen sich ihm die Augen, als führe eine Flackersäule, deren Glanz er nicht zu ertragen vermochte, aus dem Boden, und er glaubte wiederum ein starres und marmornes Gesicht leibhaftig vor sich zu sehen. Was hatte nicht alles in jenem Blicke gelegen! Haß, Groll, Anklage – selbst Verachtung. Nein, die nicht; das durfte nicht sein. Alle anderen Gefühle mochte sie ihm immerhin entgegenbringen, denn er konnte sie ja ehrlich zurückgeben, alle bis auf dieses eine. Dabei fühlte er, daß ihm ein Mann, an den er kaum je zuvor gedacht, plötzlich im Tiefsten widerwärtig geworden war: Herr Andrea. Immer war Renatus ein Mann der Tat und nicht des Nachsinnens gewesen; dem Augenblicke hatte er gedient, und von seinen Eingebungen allein war die Richtung bestimmt worden, die er seinem Leben gab. Um so mehr verwirrten ihn also diese flutenden Gedanken. Eine ihm unbekannte Zaghaftigkeit befiel ihn, wenn er des Augenblickes gedachte, da er ins festliche Gemach vor Renate hintreten würde, um Rechenschaft von ihr zu fordern. »Es ist, weil du ein ungeladener Gast bist«, sprach er zu sich selber. Er schüttelte das Haupt; nein, das hätte ihn sonst so wenig angefochten, als es ihn jemals gekränkt hatte, daß der Arme und Elternlose trotz seines alten Adels, der allein dem der Malespina nachstand, viele Genossen und nicht einen Freund hatte. Warum kam es ihm nur so plötzlich, daß er vereinsamt war? Hatte ihn das je zuvor bekümmert? Fürchtete er vielleicht, noch einmal dem Aufschlag jener Augen zu begegnen? Als wollte er sich ermutigen, so zog er seinen langen spanischen Raufdegen halb und stieß ihn mit Macht wieder in die Scheide. Sein Geklirre ergötzte ihn. Und schließlich – wann hatte sich denn Renatus Spada zuvor vor Frauenaugen gefürchtet?

Im Palaste der Malespina war an jenem Tage ein solcher Andrang von Gästen, daß man ihn gar nicht beachtete, als er eintrat. Ein fürstliches Mahl war angerichtet; an der langen Tafel aber saß nur ein junges Gesicht. In geschliffenen Pokalen aus Venedig leuchteten die kostbarsten Weine, welche die Inseln Griechenlands, welche Süditalien und Spanien jemals erzeugt. Die verdrossenen Mienen der Gäste wurden dennoch bei ihrem würzigen Arom, beim Wohlgeschmack der allerteuersten Speisen nicht heller. Scharfgespitzte Wortspiele flatterten auf; höhnische Scherzworte tauschte der Nachbar mit den Nachbarn. Eine innere Unruhe trieb Renatus hinter den Stühlen um, und so erlauschte er eines und das andere. Er lachte sonst gern, heute konnte er's nicht; denn ihm war, als läge ein dumpfer, schwüler Hauch, die Brust beklemmend, über allem, und dann hatte er nur für eine Augen: für Renate.

Zwischen Vater und Oheim saß das junge Weib stolz und ruhig. Für ihre Gäste hatte sie keinen Blick; wenn sich einer erhob, sein Glas auf ihr Wohl zu bringen, dann neigte sich ihr feiner Hals dankend. Auch ihres Gatten achtete sie gar nicht. In der einen Hand hielt sie den Brautfächer, ihre Rechte aber lag in der Hand ihres Vaters. Unter den schattenden Wimpern hervor lugte sie oft und besorgt nach dem Greisenantlitz, auf dem die Farben heute kamen und gingen wie noch nie. Es schien ihr, als verzehre eine wahnwitzige Unruhe Fortunat; er trank mehr als billig, und häufig bewegte sich sein Mund, als wolle er sprechen und finde die Worte nicht. Nur seine Hand – sie glühte – erwiderte mit aller Kraft den Druck, den ihm die seiner Tochter gab.

Im Saale wurde es lauter und lauter. Der Wein übte seine Macht. Offen und ohne jede Rücksicht tauschten die Ratsherren von Ravenna Wort und Antwort, so wenig diese auch für die Ohren ihres Oberhauptes oder gar der Jungvermählten geeignet sein mochten. Plötzlich sprang Renata auf; sie hatte ein krampfhaftes Zusammenfahren ihres Nachbars empfunden, mit lähmendem Entsetzen bemerkt, daß in der ihrigen eine kalte und starre Hand lag. Das Haupt Fortunats war müde vornüber gesunken; sie sah ihrem Vater ins Angesicht, begegnete verglasten Augen, und auf halboffenen bleichen Lippen schien ein letzter Angstruf festgebannt. Ein furchtbares Erschrecken beklemmte ihr das Herz; sie taumelte. Ein starker Arm umfing sie; und während so das Haupt Renates für kürzeste Weile an der Brust des Renatus ruhte, war es dem Jüngling, als wäre die ganze Welt in einem Flammenmeere versunken, das in seine tiefste Seele versengend hinüberschlug. Bald stand sie wieder auf starken Füßen; die Stimme erhob sie – sie bebte noch – ein Blick wie vor der Kirche flog nach rückwärts, und diese Worte klangen laut und hallend durch den Raum: »Verzeiht, ihr Herren! wir bedürfen keiner Gäste mehr, Herr Fortunat ist gestorben.«

Die Trunkenen sahen auf. Sie erblickten den regungslosen Fortunat, Herrn Andrea, der sich um den Schwiegervater bemühte. Im Augenblicke zerstoben sie ohne allen Gruß und Dank. Ein Getümmel erhob sich. Dann tiefstes Schweigen. Kerzenlicht überströmte hell einen leeren Saal. Renatus allein war geblieben. Er hob den Toten auf, und mit starken Armen und leichten Trittes trug er die schaurige Last durch ein Gewirre umgestürzter Stühle. Vor ihm her ging Renate; die nächste Türe stieß sie auf, und man sah ein einsames, reich geschmücktes Brautlager, das nur eine Ampel mit ungewissem Lichte umflimmerte. Hier versagten ihr die Füße; sie brach am Ende des Bettes zusammen. Ohne zu fragen, legte Renatus seine Bürde darauf nieder. Ein leichter Luftzug von der Tür her ließ die Ampel flackern; sie war allein mit ihrem Toten.

Nicht lediglich Trauer war es, was die Seele der letzten Malespina so heftig bewegte, während sie das schmerzverklärte Antlitz neben ein stummes Haupt bettete, um dann wieder ihre heißen Lippen auf eine kalte, welke, müde Hand zu pressen. Eine ungeheure Einsamkeit umfing sie; die Lücke, die dieses Sterben in ihre Seele gerissen hatte, die konnte niemand mehr ausfüllen. Und dann fiel ihr die Fruchtlosigkeit ihres Wollens und ihres Strebens schwer aufs Herz. Ihr ganzes Leben hatte diesem Toten gegolten; ihr ganzes Sein und Sinnen war ihm unlösbar verpfändet gewesen. Für ihn hatte sie alles dahingegeben: ihre Vergangenheit, nun auch ihre Zukunft. Sie, deren Lippen zuvor noch nie von einer Lüge befleckt worden waren, hatte kaum erst einen Meineid geschworen – seinetwillen. Der Himmel aber hatte ihre Opfer angenommen ohne jeglichen Lohn. Was dem liebsten Menschen hätte frommen sollen, das war dem Verhaßtesten zugute gekommen. Zugute? Nein, nichts, was an ihr lag, sollte Andrea Malespina jemals zugute kommen dürfen.

Sie fühlte ihre Hand berührt. Im brütenden Schmerze hatte sie nicht bemerkt, wie sich Herr Andrea still über ihren Vater gebeugt hatte. Nun erkannte er das Zwecklose jedes Hilfeversuches; mit gedämpfter Stimme, wie man in der Gegenwart Abgeschiedener zu sprechen pflegt, begann er: »Stehe auf, Renata! Dir bleibt noch Zeit zur Trauer. Ihm war der Tod eine Erlösung – du aber gedenke der Lebenden. Deinen Vater wirst du bestatten – ich aber will dir Vater sein wie Gatte.«

Beim ersten Laut der verhaßten Stimme erblich der Schimmer ihrer Augen. Sie riß ihre Hand gewaltsam los und erhob sich langsam vom Boden; wie ein Marmorbild war sie anzuschauen. Dumpf und tonlos klang ihre Antwort: »Du?«

»Ich, denn ich liebe dich, Renate, wie ich's nie geahnt hätte.«

Sie hatte allmählich ihre Besinnung wiedergefunden; denn noch ganz wirr war sie von seinem ersten Anruf getroffen worden, und nur ihr immerwacher Abscheu vor ihm hatte ihr eine Antwort erpreßt. Nun wich sie langsam zurück; auf die andere Seite des Bettes trat sie, so, daß der Tote scheidend zwischen ihnen lag. Sie strich das Haar aus der Stirn, und wiederum – und schon klang der Hohn im Tonfall ihrer Worte – fragte sie: »Du liebst mich also, du?«


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