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Drittes Kapitel.

Shakespeare war auf dem Wege nach Amsterdam. Er ging mit raschen Schritten einher und fühlte kaum die Last seines Quersackes auf dem Rücken. Die Luft war heiß und feucht. Die unsichtbare Sonne verhüllte mit einer Art von goldenem Nebel die Straßen, die grünen Wiesen, die ruhigen Kanäle, die nahen oder fernen Umrisse der Mühlen. Aber angesichts dieses flachen Horizontes, dieser regelmäßigen, von einem leuchtenden Nebel gebadeten Baumgruppen sang die Seele des Dichters ein seltsames, stürmisches Lied. Er gedachte der zwei letzten Tage, des Todes Moorels' und des Geliebten Evas, die man fest aneinander gebunden, mit geschwollenen Leibern und entschlossenen Mienen an derselben Stelle, an der sich das junge Mädchen ertränkte, aus dem Kanal gezogen hatte. Sie hatten den Mut, sich umzubringen, aus der Liebe geschöpft. Er hörte die scharfe Stimme des Alten, sein Stöhnen, das stolze Geständnis des jungen Mannes. In wenigen Stunden hatte sich auf einem kleinen Raume eines jener plötzlichen Dramen abgespielt, die die Alten so großartig darzustellen verstanden. Jede heftige, verzweifelte That trägt gleich einer ausgerissenen Wurzel Teilchen des Menschengeistes an sich, dem sie ihr Dasein verdankt. Aber wie soll man diese Bröckchen sammeln, wie kann man vereinigen, was das Schicksal zerstreut? Der Kiesel hier, den ich mit dem Fuße fortstoße, gehört einem fernen Felsen an; neben ihm wächst ein Strauch, dessen vom Winde verwehte Blätter wie verlaufene Herden über die Ebenen eilen werden. Ist es nicht mit uns dasselbe? Was unser Schicksal bestimmt, entgeht uns. Jener Frauenblick, das Funkeln jenes Juwelen, der Duft jener Rose werden vielleicht fortan unser Leben beherrschen, das nun in einem neuen Kanale dahin fließt, während eine schreckliche Katastrophe keinen Eindruck darauf gemacht haben würde. Große Mühlen drehen sich unablässig. Ein Mühlstein zermahlt uns, um die Zukunft zu schaffen; und um uns zu mahlen, zerstört er uns. Wenn die Leidenschaften Fasces bilden, glänzt in ihrer Mitte stets das Beil des Liktors – – »Werde ich mit Worten je die eindrucksvolle Wirkung des Zufalls erreichen, herrliche Thatsachen aus ihrer Zerstreuung in der Reuse meiner Reflexion fangen können? In dem scheinbaren Chaos der Welt herrscht eine unermeßliche Harmonie, herrschen unterirdische und stumme Gesetze. Wir bahnen uns den Weg mitten durch Vorzeichen, die unsere unwissenden Augen nicht zu lesen verstehen.«

Er gelangte an ein kleines Gehölz. Der Weg zog sich an einem roten Ziegelhause vorüber. Vor der Thüre stand ein hübscher Wagen, und neben dem Pferde ein mit einer Peitsche bewaffnetes Kind. Der Vater wollte fortfahren und umarmte die Mutter, die ein kleines Mädchen auf dem Arme trug. Eine alte Dame schüttelte zum Abschied ihr runzeliges Haupt, und auf der Schwelle glättete eine schwarze Katze ihr Fell. Es war ein traulicher, sanfter Moment. Das Pferd wieherte, die Peitsche knallte, und der Wagen setzte sich, während ihm Kußhände und Gelächter folgten, in Bewegung. Dieses Bild brachte Shakespeare Gedanken an Ruhe und Glück. Er dankte dem Zufalle für dieses Geschenk. –

Etwas weiter bot sich ihm ein anderer Anblick. Am äußersten Rande eines Grabens saß in nachlässiger Stellung ein Trupp Geusen; sie hatten struppige Gesichter, staubige Gewänder, und ihre Waffen lagen am Boden. Eine Megäre mit einem erbarmungslosen Gesichte hetzte sie wütend auf. »Ihr Feiglinge, Ihr ruht, nachdem man Euch Euren Führer getötet hat! Eure Beine sind aus Kork, Eure Hände aus Papier! Maulwurfsgesichter!« Sie drohte ihnen mit der Faust. Diese Schmähungen berührten die Geusen nicht. Einige lachten sogar. Als Shakespeare vorüberging, fühlte er neugierige Blicke auf sich ruhen, und eine Stimme rief ihn an:

»Wohin des Weges, Kamerad?«

»Nach Delft.«

»Kommt doch näher!«

Er trat in den Kreis und antwortete auf die ihm gestellten Fragen. Das schreiende Weib setzte seine Verwünschungen fort.

»Genug, Mutter! Du zerreißt uns die Ohren; wenn das noch weiter dauert, jagen wir dich davon.«

»Maulwurfsgesichter! Maulwurfsgesichter! Farnese wird Euch hängen, ertränken, verbrennen lassen. Haha!«

Sie stieß ein schreckliches Lachen aus. William schritt weiter. Die Visionen des Hasses hatten ihn wieder ergriffen und ließen ihn bis Delft nicht mehr los.

Er betrat diese Stadt durch ein rotschimmerndes Thor, denn die Sonne ging gerade am Horizont unter. Die feurigen Bändern gleichenden Kanäle, die flammenden Häuser, das Glockengeläute, das wie Sturmläuten klang, das Hin- und Herwogen einer kriegerisch gestimmten Menge, all' das erinnerte an die einstigen Brände, deren schreckliche Schilderungen bis nach England gedrungen waren. Shakespeare folgte dem Volke, dessen Bewegung instinktiv stets zu dem bewegtesten Punkte führt. Längs eines von Weiden begrenzten Kanales schritten bunt durcheinander Schützen, Bürger, Greise, Kinder, hübsche Mädchen in goldenen Farben. Die Stimmen klangen laut und hell. Er strich an einer alten Kirche vorüber, von der unaufhörliches Glockengeläute erscholl. Dann trat er in den Hof eines großen, düstern Palastes. Dort stand ein weißbärtiger Mann neben einer Treppe und schrie, indem er mit dem Finger auf die Mauer deutete: »Ihr seht die Spuren der Kugeln; Blut liegt auf den Stufen! Tag und Nacht ächzt dieses Blut, und durch das ganze Land schreit es nach Rache. Erhebt euch, Söhne Hollands! Man hat euren Vater mit den tapferen und mitleidigen Händen getötet. Man hat den getötet, der über euch wachte, dessen Schatten euch noch beschützt. Er ist für eure Freiheit, eure Privilegien, für eure Religion gestorben. Aber diese Thüre, die sich stolz hob, wenn er durch sie schritt, diese Mauern, die stolz darauf waren, ihn zu beschützen, diese Stufen, die die Last seines armen, durchbohrten Leichnams trugen, alles, alles schreit euch zu, die Verräter zu vernichten!« Die kräftigen Arme des Redners zitterten; seine tief eingesunkenen Augen, die Bewegungen seines Bartes und seine Beredsamkeit machten tiefen Eindruck auf die Zuhörerschaft, die durch ein grimmiges Murren ihre Zustimmung ausdrückte. Mittlerweile klärte ein Bürger Shakespeare auf. Vor einem Monat ist in diesem dunkeln Winkel Wilhelm von Oranien von Gerard ermordet worden. Seither regt dieser alte Diener täglich zur selben Stunde die Menge auf. »Das Sonderbare dabei, Herr, ist, daß das ein stiller und schüchterner Mann war, der ebenfalls den Beinamen der Schweigsame verdient hätte. Das Unglück hat ihn gleichsam wütend gemacht. Er galt für ein wenig einfältig und stotterte sogar. Jetzt ist er ein brüllender Löwe.«

Der Greis war auf die Knie gefallen, und in verzückter Stellung, den Körper weit zurückgebogen, erinnerte er an die erhabenen Tugenden seines Herrn. »Wie gut er war, wie weise! Sein Herz schlug nur für euch; er sprach nur von euch. Ein elendes Stück Blei hatte das alles zerstört.« – Er deutete auf die verhängnisvolle Stelle. – »Es ist, als wäre es gestern gewesen. Ich höre den Schuß, laufe herbei und finde ihn noch atmend auf der Treppe liegen. O erwache! Kehre in unsere Mitte zurück, laß' uns nicht allein, wie verlassene Kinder!« Er schluchzte, und die großen Thränen, die seine Runzeln befeuchteten, waren aus der Ferne sichtbar. Ringsum nahmen die fanatisierten Gesichter den Ausdruck an, den seine aufwiegelnde Rede hervorrufen wollte. William bewunderte die zusammenschweißende Kraft des Hasses noch mehr als in Rotterdam, noch mehr als bei den Erzählungen der Geusen. An der Stelle des Verbrechens selbst heischte einer laut schreiend die Sühne. Das war die Quelle des Rachestroms, der die ruhigen Kanäle aufwühlte; das Bellen dieses alten, treuen Hundes ließ die Leidenschaften nicht einschlafen und sollte noch lange die Niederlande durchhallen. Aber als der Dichter den Kopf hob, sah er über all' diesem Aufruhr ein mächtiges, geschlossenes Stück des rosigen, gleichmütigen Himmels; denn das vollkommene Gleichgewicht der Natur stellt überall der Energie die Ruhe und eitlem Lärm Schweigen entgegen. Während der Alte immer eifriger predigte, gab ihm der junge Mann im Geiste Antwort. »Habt nie einen anderen Gedanken als die Rache – schärft eure Schwerter, gießt Kugeln, denkt an diese treue Heldengestalt.« –

»Heute ist sie starr und kalt und verliert im Grabe langsam ihre Form, sowie sie sie in der Geschichte verlieren wird.«

»Er fordert von uns die Zerschmetterung der Verfluchten« –

»Wenn er etwas fordern würde, wäre es Friede und Stille.«

»Keine Vergebung, kein Mitleid!« –

»Im Himmel und auf Erden nichts als Vergebung, nichts als Mitleid. Zwei Meter unter dem Boden kann man noch lächeln; aber die häßliche Grimasse der Wut ist nicht mehr möglich.«

So kam es, daß Shakespeare diesen finstern, von haßerfülltem Lärm widerhallenden Palast mit einem großen Bedürfnis nach Ruhe und Liebe verließ. Da sein Herz immer sich plötzlichen Regungen ganz hingab, verabscheute er nun die Gewalt ebenso, wie er sie ein paar Stunden zuvor geschätzt hatte.

Einige Stunden später schritt Shakespeare gegen Leyden zu. Es war eine brennend heiße, mondlose Nacht. Obwohl er sich über den Weg sehr genau erkundigt hatte, blieb er manchmal zögernd an der Kreuzung zweier Wege, an einem Zaun, beim Eingange einer Allee stehen, die dem Rachen eines Ofens glich. Die Gespenster der Mühlen erhoben sich überall ringsum. Er empfand eine abergläubische Angst. »Ein Glück, daß ich die Gnomen und Kobolde dieses Landes nicht kenne. So streife ich an ihnen vorbei, ohne mich aufzuregen. Zweifellos steht hinter jeder dieser Mühlen der kleine, verderbenbringende Wächter mit seinem wunderlichen Lachen und den dicken Füßen, die über den Boden trippeln. Aber mit einem Fremden weiß er nichts anzufangen. Welche Einsamkeit!« Er gedachte seiner Angst in der Kinderzeit, der Teufelsgeschichten, die abends flüsternd erzählt wurden, der wirklichen Abenteuer der Nachbarn. So war dem Vater Johnson, als er um Mitternacht nach Stratford zurückkehrte, ein hochgewachsener Mensch entgegen getreten, der eine fremde Sprache redete; plötzlich schlug er seinen Mantel zurück und zeigte dem entsetzten Mann einen von mehr als zwanzig Dolchstichen durchbohrten Leib; jeder einzelne dieser Dolchstiche wäre tödlich gewesen. Der Fährmann war eines Abends während eines heftigen Regens von drei Herren angerufen worden; kaum waren sie in seinem Boote, so bemerkte er mit Erstaunen, daß ein jeder zwei Gesichter, vier Arme und vier Beine hatte, die in gespaltene Füße ausliefen. »Welche Freude bereiteten mir diese schrecklichen Abenteuer, während ich in einem Winkel des Zimmers saß! Die vertrauten Gegenstände nahmen rätselhafte Gestalten an, und die nächtlich gefärbte Fensterscheibe wurde die Thüre des Geheimnisses, die man nur zitternd betrachtet. In mir regte sich die Furcht, die ebenso thätig, ebenso entstellend ist wie die Liebe und das Weltall mit Larven bevölkert. Sie ist die Herrscherin des Unbekannten und regiert ihr Fabelreich mit Zähneklappern, mit vor Schreck erweiterten Augen, mit Händen, die, wer weiß was, zurückstoßen – – Der heisere Schrei eines kleinen Kindes bei Anbruch der Nacht, das Winseln des Hundes bei Mondschein, sprechende Tierblicke, das Grauen vor dem Zurückschauen, vor einem Spiegel, vor einem Teiche, vor gewissen Worten, – das sind die Boten der mächtigen, in Grün und Schwarz gekleideten Fürstin, die uns von der Geburt bis zum Abgrunde des Todeskampfes mit eisigem Finger über den Rücken fährt. Wer fühlt, hat Furcht, denn jede Leidenschaft ist flüchtig, jede Liebe läßt ein fahles Zeichen auf der Haut zurück. Wer denkt, hat Furcht, denn die Einsamkeit des Gedankens ist grauenhaft; auch wer durch den Wald der Reflexionen schreitet, pfeift, um sich selbst zu ermutigen. Wer zerstört, hat Furcht, denn er horcht auf das Geräusch der stürzenden Trümmer, und wer aufbaut, hat Furcht, weil er nicht weiß, was die Zukunft seinem Streben vorbehält! Die Abgründe des Raumes und der Zeit verursachen uns diesen moralischen Schwindel.«

Ein dumpfes Rollen des Donners führte den Dichter in die Wirklichkeit zurück. Er war in Schweiß gebadet und blieb einige Augenblicke aufatmend stehen. Vor und hinter ihm lag undurchsichtiges Dunkel, und die Nacht lastete wie schwarzer, heißer Stein auf den Büschen, Kanälen und Wiesen. Er wischte sich die Stirne und rückte seinen Quersack zurecht. Ein seltsamer Schrei, der halb wie ein Eulenruf, halb wie Lachen klang, und in eine Art Zähneklappern ausging, durchschnitt den Raum. Shakespeare dachte an einen verspäteten Uhu. Er horchte. Der Schrei wiederholte sich, aber schwächer; diesmal klang es deutlich, wie Hohnlachen. Wenn die herzzerreißende Ironie, die in den Dingen steckt, sich hörbar machen könnte, würde sie sicherlich diesen Klang und diesen Ausdruck haben.

In dem Augenblick, als der Schrei von neuem, nur näher und schriller ertönte, erhellte ein riesiger Blitz zwei Mühlen, eine Baumgruppe, den ganzen Horizont, und Shakespeare bemerkte in einiger Entfernung auf der Straße den rasch wieder verschwindenden Umriß eines stämmigen, eilig dahinstrebenden Mannes. »Das also ist mein Schreier!« – Er lief ihm nach; Angst und Neugier gaben ihm die Sporen. Das Getöse des Donners brach wie ein mächtiger Steinkatarakt über seinem Haupte los, die wilden Rosse des Windes rasten wieder in wütendem Galopp dahin. Unsichtbares Laub rauschte. Der Blitz war diesmal blendend hell, und gleich darauf folgte ein wahrer Kanonenschuß. Aber Shakespeare erblicke ein paar Schritte vor sich den seltsamen Wanderer. »Geht Ihr nach Leyden?« schrie er mit einer Stimme, die so klang, als drücke ihn ein Alp. Da er keine Antwort erhielt, wiederholte er seine Frage in dem Gebrause. Ein gewaltiger Blitz zeigte ihm, daß er sich neben einem kleinen, bärtigen, ärmlich gekleideten Greise mit glänzenden Augen befand, der unbekümmert mit seinen gebrechlichen Beinen über den Boden dahinlief.

»Ihr seid kein Schwätz –« rief der junge Mann, hielt aber inne. Die Luft erzitterte – ein ungeheures Lichtbild in Grün und Rot, das lila Zickzacklinien durchschossen, ließ auf einen Augenblick das flammende Feld erschauen, und die von allen Seiten ertönenden Echos verlängerten diese chaotische Episode. Der Regen begann in großen, warmen Tropfen zu fallen, die in dem unbegrenzten Raume, wie das eilige Trappeln einer Herde klangen.

In der nun folgenden Stille rief William den Greis an.

»Seid Ihr es, den ich eben schreien hörte?« Sie gingen nebeneinander und hielten gleichen Schritt. Der Dichter bemerkte, daß sein Gefährte kurz und eilig atmete, als ob er fortwährend seufze. Er erwartete ängstlich eine Antwort, die beweisen sollte, daß er es mit einem Lebenden zu thun hätte. Endlich erfolgte sie, mit trockener, erregter Stimme. »Ja, ich war es! Ich sang.« –

»Aus der Ferne klang es, als wenn Ihr lachtet.«

Zähneknirschen war die Antwort; dann war es eine Weile still, und hierauf fuhr die Stimme fort:

»Ich weiß nicht, wohin ich gehe.«

»Seid Ihr von hier?« fragte William.

»Ich bin von überall. Ueberall, wo Ihr einen menschlichen Schritt seht, da ist mein Gebiet. Ich bin der Vater der irdischen Fußtapfen.« Hier verstärkte das sonderbare Glucksen die Seltsamkeit der Rede.

Ihr Gespräch wurde von Regenschauern, Donnerschlägen und dem Heulen des Windes unterbrochen. Der Sturm regte Shakespeare auf, und seine Furcht war verschwunden. Jeder neue Blitz bewies ihm die wirkliche Existenz seines Gefährten, aber im Dunkeln zweifelte er an dieser Existenz und hoffte auf irgend eine Enthüllung aus diesem finsteren Munde, auf irgend ein prophetisches Wort der fieberhaften, abgebrochenen Stimme, die durch den Aufruhr der Natur mit sardonischem Gelächter an sein Ohr drang.

»Ihr geht rasch! Gewiß habt Ihr es eilig!«

»Ja, ich habe Eile, in mein Königreich zurückzukehren.«

»Was für ein Königreich ist das?«

»Es liegt im Schatten meines Scepters. Sie haben mir den Schweigsamen getötet, aber ich werde ihn ersetzen, hihi! Ich werde ihn ersetzen!«

»Das ist ein Narr,« dachte Shakespeare, und ein plötzlicher Blitz, der ihm das eingefallene Gesicht und die starren Augen zeigte, bestärkte ihn in dieser Gewißheit. Er beschloß, diesem Wahn während des entfesselten Orkans zu schmeicheln und während der Dauer dieser seltsamen Nacht selbst den Wahnsinnigen zu spielen.

»Wer hat Euch denn abgesetzt?«

»Man hat mich geplündert, geschlagen, verjagt! Meine armen Kinder, mein Weib, mein Thron! Sie haben alles genommen, alles geplündert. Aber diese bösen Zeiten werden ein Ende nehmen, hihihi! Ich werde meine Staaten wiederfinden. Mein edler Vetter hütet sie mir; hört Ihr mich?«

»Das Gewitter ist über uns. Es scheint nachzulassen. Die Heftigkeit des Regens nimmt ab.«

»Sturm, Regen! Ah, Ihr seid auch einer, der mir meinen Ruhm nehmen will. Das sind die Kanonen, die mir zu Ehren donnern. Auf den Wällen drängt sich eine aufgeregte Menge und ruft mir zu –« Abermals ertönte das schmerzliche, laute Gelächter – »Hihihi! Jeder erkennt sein Unrecht.«

»Auch mir hat man viel Leid gethan.«

»Hat man Euch Euer Königreich genommen?«

»Ach ja, es ist dieselbe Geschichte. Ich war ein halbes Jahr im Kerker. Man gab mir nichts zu trinken als verfaultes Wasser.«

Shakespeare fühlte, wie eine Hand die seine suchte und dann mitleidig drückte. Die Stimme des Narren verlor ihre Härte; er seufzte tief auf. »Dann sind wir ja Brüder, und das Schicksal hat uns vereint. Kommt an meinen Hof, ich werde Euch meine Tochter zur Gemahlin geben. Sie ist schön, und mächtige Herren haben sie bereits von mir begehrt. Wo liegt denn Euer Königreich?«

»Auf der äußersten Spitze eines Felsens auf dem Meere. Mein Palast ist aus Karfunkel, und Tag und Nacht brennen dort tausend Lichter. Ich gebe darin glänzende Feste. Ihr werdet mein Gast sein.«

»O nein, nein!« – Die Stimme klang jetzt erschreckt und schüchtern. »Ich bin ein armer, alter Mann. Wenn sie wüßten daß ich reich bin, würden sie mich töten. Sie haben mir schon viel Leid angethan. Seit zwei Tagen habe ich nichts gegessen.«

»Bleiben wir einen Augenblick stehen,« sagte Shakespeare mit gebieterischer Stimme. Die Windstöße wurden schwächer, der Donner klang ferner, aber große Blitze zuckten noch. – »Das sind meine Ritter« rief der Narr, indem er auf die Mühlen zeigte. »Das sind ihre Damen« – und er zeigte auf die Bäume, und dann auf den Weg: »Er ist mit Gold bestreut.«

Der Dichter zog ein Stück Brot und etwas Fleisch, die Ueberreste seines Mittagmahles, aus dem Quersacke und gab sie seinem Gefährten, der sie gierig ergriff und gefräßig verzehrte. Das Geräusch seiner Kinnbacken trat an die Stelle seines knöchernen Lachens, und Shakespeare empfand großes Mitleid mit diesem Heißhunger, der stärker war, als sein Wahn. Nachdem der Hunger des Königs gestillt war, sprach er gelassen, in vernünftigem Ton, der wunderbar zu dem leichten, feinen Regen und dem durchnäßten Boden paßte: »Sowie ich in meine Staaten komme, werde ich Euren Feinden den Krieg erklären und Euch zu meinem Premierminister machen. Ihr werdet Euch mit der Ernährung des Volkes beschäftigen. Es ist sehr notwendig, daß das Volk ernährt wird. Ihr werdet auch darüber wachen, daß jeder genügend gutes Bier bekommt. Ich will über fette und wohlgenährte Unterthanen herrschen.«

»Werde ich täglich Brot backen?«

»Gewiß, sonst wird es altbacken und hart wie ein Ziegel ... Während der Belagerung von Leyden verschlangen wir zuletzt Erde und die Würmer, die sich darin befanden. Ich nannte das die Rache der Toten.«

»Wie lange dauerte die Belagerung?«

»Hunderteinunddreißig Tage; wir glaubten, daß es kein Ende mehr nehmen würde.«

»Habt Ihr Eure Truppen selbst befehligt?«

»Aber, Kamerad, ich war ja Schuster, der kleine Schuster in der Straße neben der Kirche auf der linken Seite.«

»Ihr seid Schuster?«

»Wer sagt das? Meine Gegner wollen Euch damit täuschen. Sie wenden teuflische Listen an. Sie haben mir mein Scepter versteckt. Ich suchte es acht Tage lang. Es lag in einem Düngerhaufen. Und was haben sie Euch gethan?«

»Sie haben mich von England nach Holland gebracht. Ich kenne dieses Land nicht und weiß nicht, ob ich auf dem rechten Wege bin.«

»Gewiß, Ihr geht nach Leyden. Das ist meine Stadt. Ich irre mich nicht. Aber warum stellt Ihr mir diese Fragen? Seid Ihr etwa auch ein Verräter? Haben sie Euch vielleicht zu mir geschickt, um mich zu belauern, um mich in eine Falle zu locken, wie den Schweigsamen?«

Der Greis war stehen geblieben. Er schien niedergedrückt, und seine Stimme war wieder hart und ungestüm geworden. Plötzlich stieß er sein schreckliches Wiehern aus und sprang behend von dannen. »Verfluchter, Verfluchter!« schrie er. »Ich werde Euch hängen und zerstampfen lassen! Einen Knochen nach dem andern lasse ich Euch zerbrechen! Ich werde Euch die Zunge ausreißen lassen! Man wird Eure Eingeweide entleeren, damit sie eine Halsbinde für meine Königin werden. Hihihi!«

Bei einem grelleren Blitze sah Shakespeare, wie er schon in der Ferne sprang und Grimassen schnitt. Dann begann er aus Leibeskräften zu laufen, und man hörte, wie er durch den Kot trabte. Der Dichter sah sich allein, und ein Problem, das noch viel dunkler war, als die Nacht, erfüllte ihn mit Unruhe. »Während ich mich seinem Wahnsinne hingab, fühlte ich, welche schwache Schranken mich von wirklichem Wahnwitz trennten. Meine Stimme hatte einen neuen Klang, und ungezügelte Gebärden hätten ihr zu Gebote gestanden. In maßlosem Stolze vermeinte ich, dieser mächtige Aufruhr der Natur sei nur um meinetwillen erregt. Wer hat nicht wenigstens Sekunden lang an sein eigenes Königtum geglaubt! Selbst in diesem Augenblicke bilde ich mir, ohne es mir einzugestehen, ein, daß hierdurch nur meiner Phantasie ein reicher Stoff zu künstlerischer Verarbeitung geboten werden sollte, daß das Gewitter losbrach, um meinen Geist zu schrecklichen Schönheiten zu erheben, und daß dieser arme Mann mit seinem wirren Lachen nur ein Ziel hatte: mein Gehirn mit neuen Empfindungen und Anschauungen zu bereichern. Stolz und Schmerz, die beiden haßerfüllten, im selben Winkel der Seele kauernden, sich stets verwundenden und zerreißenden Verwandten herrschen abwechselnd. Wer zu viel leidet, wird König sein, und wer regiert, wird mehr leiden als die anderen. Bedrückung und Dürftigkeit, das ist ja der gewöhnliche Zustand des Geistes. Die Empfindungen fallen uns von überall an und verwandeln sich sofort in Dunst. Ich fasse einen Menschen, einen Ton, einen Duft, ein Gefühl, aber nichts halte ich fest als nichtssagende Aufschrift, logische Spreu, eingebildetes Leben. Nun schreie ich, daß man mich entthront hat, daß ich in mein Königreich zurückkehren will; dann werde ich mißtrauisch, erschrecke und fliehe, ohne rückwärts zu schauen. Der Stolz hat den Schmerz bezähmt und gebietet hinfort über den Hampelmann. Wie gut läßt sich beim Scheine des Blitzes im eigenen Herzen lesen!«

Nachdem Shakespeare in einer verlassenen Hütte geschlafen hatte, die ihm ein Blitz bezeichnete, langte er in sehr guter Laune in Leyden an. Der Morgen war hell und rosig; die Begegnung mit dem Narren hatte die Empfindsamkeit des jungen Mannes gesteigert, denn was sich ihm bot, assimilierte er sich sofort. So sagte er sich, während er die Schwelle der Stadt überschritt, und die Holländer sich mit der fieberhaften Hast von Ameisen, die ihre verwüstete Wohnung wieder aufbauen, um ihn regten:

»Ich habe diese Nacht einen jener Momente durchlebt, die die Persönlichkeit und den Charakter bestimmen. Der Regen, der Sturm, das rasche Laufen, und was weiß ich welche verborgene Neigung meines zwanzigsten Jahres machte mich jedem Eindruck zugänglich. Die Sprache, der Anblick, die krankhafte Ausströmung dieses Narren schlug in meinem Innern auf klingende Platten, deren Echos nicht verhallen werden. Ich befand mich in jenem Zustande unbestimmter Wollust, der dem Erwarten eines neuen Gefühles gleicht, den man in tollen Träumen, in der höchsten Angst, der Eifersucht, bei flammenden Gewissensbissen empfindet. Alles nehme ich in meine Seele auf und mache ich mir zu eigen. Ich bin der Baum und die Frucht, der Hund und das Pferd, der Fürst und der Schalksnarr. Eben vorhin war ich dieser Narr, da ich ein solcher sein wollte. Der innere Sturm des Verlangens war stärker als der Sturm außen; die Dämonen in mir drehten sich in wütendem Tanz. Wenn sie in die Welt hinauskämen, wäre die Welt verloren.«

Er befand sich auf einem mit Bäumen bewachsenen, von großen und schönen Gebäuden umgebenen Platze. Eines dieser Gebäude war schwarz, eines, das einer Kirche glich, weiß, und zwei waren kleiner und grau. Die bunte Volksmenge schien auf etwas zu warten. Goldhauben, Helme und Federhüte, grüne, gelbe und rote Wämser und Kleider aus vielfarbigem Sammt, Degen und glänzende Kürasse bildeten gleichsam einen Teppich mit beweglichen Arabesken. Die silbernen Töne mehrerer Glocken glichen ätherischen Stimmen: Die hohen Häuser warfen ihre Schatten über den Platz, und in diesem Schatten standen zahlreiche Bürger, die die Augen auf denselben Punkt gerichtet hielten. Shakespeare wandte sich fragend an einen jungen Mann, dessen Ellenbogen in seine Brust eindrangen. Er hatte ein scharfes, schmales Gesicht, einen kurzen aufgedrehten Schnurrbart, eine tiefe Falte inmitten der Stirn, und als er antwortete, verzogen sich seine Lippen ironisch.

»Herr, wir warten auf den Aufzug der Tuchmacher; wenn die Geißel des Krieges aufgehört hat, beginnt die Geißel der Langweile.«

Die Unkenntnis, in der sich Shakespeare über die zeitgenössischen Ereignisse befand, entzückte ihn. »Wie, Herr, Ihr seid schon mehrere Tage in Holland, und meine wackern, meine ehrenhaften, meine ruhmreichen Landsleute haben Euch noch nicht gründlich über ihre kleinen Zwistigkeiten mit den Spaniern aufgeklärt? Das ist ja unverzeihlich, denn wir sind geschwätzig, außerordentlich geschwätzig. Der arme Wilhelm – Gott habe seine Seele – ward der Schweigsame genannt, weil er nicht mehr als hundert Worte in der Minute aussprach. Wisset denn, daß diese Stadt vor 10 Jahren eine denkwürdige Belagerung erlitt, die von einer ebenso denkwürdigen Hungersnot begleitet war. Meiner Ansicht nach war sie notwendig, denn das Volk erstickte im Fett. Ihr könnt Euch wohl nicht vorstellen, daß diese Ochsen sich wie die Löwen schlugen. Aber als Wilhelm von Oranien, nachdem er die Deiche durchbrochen hatte, mit Vorräten in die Stadt einzog, war dies, scheint's, der schönste Augenblick in unseren Annalen. Heute, da wir gesiegt haben, fallen wir wieder in unsere natürliche Apathie zurück, und Ihr seht nun, womit sich die öffentliche Neugierde befriedigt: mit dem Aufzuge von Händlern. Heute findet das Fest der Tuchmacher statt; bis zum Abend giebt es Schmausereien und Gelage. Man wird so viele kupfrige Gesichter und fettglänzende Lippen sehen, daß ich mich frage, wie der Teufel, der die Gefräßigkeit zu bestrafen hat, sich am Sonntag wird ausruhen können.«

Die spöttische Miene des jungen Mannes fiel Shakespeare auf. Jener bemerkte es. »Ihr wundert Euch über mich? Das kommt daher, weil ich ein neues Produkt bin. Die Generationen schreiten rasch, wenn man die Großväter röstet und die Väter schindet. So bin ich also Student der guten Universität Leyden. Vor zehn Jahren hättet Ihr meinesgleichen in den ganzen Niederlanden nicht gefunden. Als die Stadt von den Spaniern befreit wurde, wollte sie Wilhelm von Oranien für ihre Tapferkeit belohnen und gab ihr die Wahl, zwischen einem Steuernachlaß und einer Universität. Welcher Zauber ließ diese trefflichen, aber dummen Leute die Universität vorziehen? Ich weiß es nicht. Sie mußten wohl glauben, es sei das eine unbekannte Fleischsorte. Auf jeden Fall bin ich ein Kind ihres Irrtums. Ich und meine Kameraden führen hier ein eifriges Leben. Wir lassen uns in Schlemmerei und Unzucht, in Logik wie Philosophie weder von den Franzosen, noch von Euch Engländern, oder von Deutschen, nicht einmal von den Schweden übertreffen. – Aber Achtung, das Schauspiel fängt an.«

Die Thorflügel des düstersten Hauses öffneten sich mit lautem Knirschen, und inmitten der Zurufe des Volkes stiegen die Syndici der Tuchmacher feierlich die Stufen der Freitreppe herab. Sie waren von den Spitzen der Schuhe bis zu den breitkrempigen Filzhüten in Schwarz gekleidet und trugen um den Hals Spitzenkrausen von blendender Weiße. Sie machten den Eindruck eines soliden, auf Sparsamkeit und Arbeit gegründeten Reichtums und sahen aus wie energische gesetzliebende Männer. Ein Sonnenstreifen erhellte gerade ihre männlichen, ruhigen Gesichter. Der, der an der Spitze schritt, und ein großes Kontobuch wie ein Gebetbuch hielt, besaß einen katzenähnlichen Kopf, einen feinen, hochblonden Schnurrbart und helle Augen, so daß das Licht sein Antlitz rötlich erschimmern ließ. Die knochigen Züge des Zweiten, sowie seine reichen, gekräuselten Locken schienen mit Gold besprengt zu sein. Die Folgenden blieben im Schatten; aber bald war auch an ihnen die Reihe, durch den leuchtenden Streifen zu schreiten, und sie durchmaßen ihn mit gleichmäßigem, sicherem Schritt. – Mittlerweile drängte sich unter dem dunkeln Thore der Schwarm der Tuchmacher, und ein freudiger Lärm erhob sich, als man ihr Banner flattern sah. Die Querpfeife ließ ihre schrillen Töne erschallen, die Menge bildete Spalier, und die hoch gehobenen Kinder staunten den langen Zug an. Einige erkannten ihre Väter, und die Frauen bezeichneten ihre Gatten; aber nichts störte die ernsten Gestalten des Zuges, der sich wie ein schwarzes Band durch die grellen Farben durchschlängelte.

»Sieht es nicht wie ein Begräbnis aus?« murmelte der Student eifersüchtig. »Soviel Flausen wegen ein paar Tuchmachern!«

»Es ist doch schön,« entgegnete Shakespeare.

Er hatte die Stadt verstanden. Wie die Sonne zeigte, hatten diese Männer, diese wieder zu Bürgern gewordenen Syndici ihre heroische Zeit gehabt. In diesen noch rauchenden Mauern hatte der Glaube die Vernunft angegriffen und war besiegt worden, was auch der Ritter John darüber denken mochte. Eine solche Rasse ist unzerstörbar.

Der Student zog den Poeten in einen kleinen Gasthof und setzte dort sein Geplauder fort. »Herr, es giebt nichts Interessanteres, als die Jahre nach einer Katastrophe. Ich war jung, und doch habe ich das Leben wie einen seltsamen Trank eingeschlürft. Der Tod macht die Rechnung. Betrachtet die Leute, die hier an uns vorübergehen! Manche haben entstellte, herzzerreißende Mienen; das sind die Untröstlichen. Sie haben zu starke Schläge erlitten. Wenn man seine Kinder verliert, zeugt man neue. Wenn man sein Vermögen verliert, baut man es wieder auf. Wenn man aber Kinder und Vermögen verliert, da kann man wohl unheilbarer Schwermut verfallen. Wenn Ihr diesen dort ansprächet, würde er Euch rauh zurückstoßen oder Euch mit einem tiefen Seufzer aus dem Wege gehen. Das ist ein Menschenfeind. Jener andere dort klappert, wenn es Abend wird, vor Angst und glaubt fortwährend schießen zu hören. Glockengeläute bedeutet für ihn Sturmläuten, festliche Beleuchtung einen Brand. Jener andere ist wahnsinnig geworden: er ist der Herzog Alba und will seine Mitbürger niedermetzeln. Er ist Wilhelm der Schweigsame und trägt das Schicksal seines Landes in seiner Hand. – Wir haben einen, der die Jesuiten fürchtet und sie in seinem Schranke und unter seinem Bette sucht; einen, den die Hungersnot furchtbar habgierig und so geizig gemacht hat, daß er seine Kinder hungern läßt. Wir haben einen, der sich einschließt und nicht ausgehen will, einen, der sich fürchtet, durch die oder jene Gasse zu gehen, weil der Geruch eines Leichnams ihm einst dort die Kehle zuschnürte.«

»So haben sich also die Temperamente von oberst zu unterst gekehrt, und man kann sehen, wie sich der Charakter verwandelt?« fiel Shakespeare ein.

»So ist es! Bei den Familienmahlzeiten erkennt man sich nicht mehr. Der Schüchterne ist hochmütig, der Frohe schwermütig geworden, der Kaufmann deklamiert Balladen, der Maler verkauft Wolle; es ist ein allgemeines Durcheinander. Aber Ihr habt ja eben die begeisterte Versammlung auf dem großen Platze vor dem Stadthause gesehen; das ist die imposante Masse der Getrösteten – was sage ich, der Ausgelassenen. Wenn die Not aufgehört hat, ergreift uns eine wahnwitzige Lebenslust. Ich bin heute einundzwanzig Jahre alt; zur Zeit der Belagerung war ich elf. Das unwiderstehliche Bedürfnis, mich von abscheulichen, blutigen Bildern zu befreien, ist in mir zurückgeblieben. Ich laufe, tanze, springe mit meinen Kameraden; wir veranstalten Lustbarkeiten, die fünf bis sechs Tage dauern und uns im Zustande köstlicher Ermattung zurücklassen. Einige wurden Geusen und kämpfen in Flandern. Doch klafft im Feuerberg der tollen Freude eine Spalte. Unsere Gesichter haben einen bitteren Zug, den unsere Vorfahren nicht besaßen. Wir zweifeln an viel mehr Dingen. Nationale oder religiöse Fragen, die sie begeisterten, lassen uns gleichgültig; wir besitzen einen spöttischen Skepticismus, der ihnen vollkommen unbekannt war. Das erkennen wir vor allem unseren alten Professoren gegenüber. Manche unter ihnen scheinen uns eine sonderbare, vorurteilsvolle Sprache zu reden, die uns verdrießt. Soll ich es Euch gestehen, Herr« (hier nahm der Student eine zerknirschte Miene an) »ich habe gar keine Religion, und viele von uns befinden sich in diesem Zustand.«

»Ich bin gleichzeitig Christ und Pantheist,« sagte Shakespeare.

»Desto besser. Da Ihr ein Fremder seid, glaubte ich, daß Ihr von irgend einem absoluten Glauben heimgesucht wäret. Wir lieben die Reformation aus Widerspruchsgeist. Wenn die Spanier uns nicht mit ihren Scheiterhaufen und ihren Drohungen gereizt hätten, wären wir sehr laue Protestanten; so oder so, Wandlung oder Gnade, wirkliche oder virtuelle Gegenwart – mir liegt soviel daran, wie an der Nase Luthers. Habt Ihr von den Wiedertäufern reden hören?«

»Nein!«

»Das ist seltsam! Hat Euch denn niemand darüber aufgeklärt?«

»Ich will Euch das Geständnis ablegen, daß bestimmte Einzelheiten mich nicht interessieren, außer wenn sie durch einen Geist, wie der Eure es ist, gegangen sind. In diesem Falle ist es wieder dieser Geist, der mich mehr interessiert, als dieses oder jenes vergängliche Phänomen, das ich mir auch ganz anders auslegen könnte.«

»Bravo! Nun schwimmen wir mitten in der Scholastik. Aber warum reist Ihr?«

»Wegen der Mannigfaltigkeit der menschlichen Atmosphäre, um Leben in meine Ideen zu bringen.« Eine Frau von auffallender Schönheit ging an ihnen vorüber. Sie besaß ein regelmäßiges Profil mit spöttischem Ausdruck, eine matte Hautfarbe, ein zierliches Ohr und trug ein von Juwelen funkelndes Mieder; das Feuer der Steine strahlte durch ein Gewirre von Spitzen. Dieser Anblick begeisterte den Poeten und flößte ihm Kraft ein. »Da Ihr Student seid, lest Ihr den Plutarch,« fuhr er feurig fort. »Das ist mein Brevier. Es ist ein Repertorium der Leidenschaften. Ich liebe auch die alten Legenden voll Verbrechen und Zauberspuk, die mit dem Dufte einfacher Empfindung die Jahrhunderte überdauern. Sie bieten uns – versteht mich, Kamerad! – die Grunddramen, Dramen, die seit dem Tage, da es eine Familie, eine Stadt und Gesetze giebt, nicht stattfinden konnten – Dramen, die gleichsam die erste Reaktion der Sinne des frisch geschaffenen Menschen gegenüber dem Meere, dem Walde, den Tieren und der Einsamkeit darstellen. Heutzutage haben unsere Gewohnheiten und die unserer Ahnen in uns diese stürmischen Eindrücke, die meisten dieser tragischen Stimmungen erstickt. Denn was die Tragödie ausmacht, ist weniger lauter Lärm und ein Dolchstich, als eine Atmosphäre der Angst und Ueberraschung, die die Gesichter bleicht und das Fleisch schlottern läßt. Wenn ein reicher Vater mehrere Töchter hat, wird die eine arm und verachtet sein, und immer wird ein Kind die Strenge des Schicksals tragen. Denn die Laren sind ungerechte Götter. Wenn ein für ein grausames Schicksal gezeichneter Mensch geboren wird, enthüllt sich ihm seine Zukunft, sobald er das Mannesalter erreicht, und er wird ihr nicht entgehen. Die Könige müssen natürlich verbannt, und durch die allmächtige Hilfe der Feen wieder in den Besitz ihrer Königreiche eingesetzt, notwendig müssen die Königinnen, die in schrecklichen Kerkern eingeschlossen sind, durch edle Ritter mit flammenden Schwertern befreit werden. Könnt Ihr Euch vorstellen, daß ein reisender Ritter nicht auf den Gedanken kommt, die Treue seiner Frau zu erproben, und daß ein Diener sie nicht verrät, während ein anderer die Pläne des Bösen voll Eifer und Liebe vereitelt? Aber abgesehen von all' diesen Legenden, deren Bildung ebenso regelmäßig ist, wie die des Reifes auf den Fensterscheiben oder des Baches in der Schlucht, haben wir unsere eigene Legende, die sich durch den Lauf unseres Schicksals bildet, und der jede Minute ein Runzeln oder ein Lächeln hinzufügt. Mein Lieber, wir selbst schaffen unaufhörlich unser Ich. Das lehrt man nicht an Eurer Universität. Die Schönheit ergiebt sich aus dem Aufeinanderschichten der beiden Arten von Legenden. Darum reise ich.«

»Wollt Ihr also Dramen oder Denkwürdigkeiten nach der Art der Alten schreiben?«

»Ja, das ist mein Streben; aber ich will vor allem in mir eine Art Königreich errichten, dessen unbeschränkter Herrscher ich bin. Dieses Königreich soll glänzen, wie das Mieder dieses herrlichen Geschöpfes, das eben an uns vorüberging oder wie die nachdenklichen Gesichter jener Tuchmacher. Freund, die Hauptsache ist nicht, wie ihr sagt, die Gnade, der Calvinismus oder das Luthertum, der Kampf Spaniens und der Niederlande. Das erklärt Euch auch, warum ich dieses Zufällige vernachlässige. Die Hauptsache ist die Verteilung des Lichtes. Ob in uns oder außer uns – was liegt daran! Der Tod des Schweigsamen ist ein von Licht bestrahltes Ereignis, und alle Gesichter, die sich über diesen Leichnam beugen, haben einen Charakter, ein Relief. Das gefällt mir mehr als alles. Indem ich so mit Euch spreche, stelle ich mich ins volle Licht. Da ich Eure Rasse nur wenig und Eure Familie gar nicht kenne, bleibt Ihr für mich im Halbdunkel. Der große Dramaturg ist die Sonne. – Jetzt begreift Ihr, warum ich nach dieser oder jener besondern Episode, dieser oder jener Aufschrift, die ein Windhauch wegfegen mag, diesem oder jenem Namen, dessen Buchstaben sich verwischen werden, nichts frage. Geduldet Euch mit mir, wie mit einem Goldschmied, der aus dem Staube Diamantensplitter sammelt.«

Während dieser von ausdrucksvoller Gebärde begleiteten Rede hatten die Züge des Studenten ihre spöttischen Falten verloren: »Welch' ein Unglück, daß Ihr nicht länger in unserer Stadt bleibt!« seufzte er. »Es wäre mir ein lebhaftes Vergnügen, mit Euch zu disputieren. So ist also die Geschichte nichts als eine Kette von Ereignissen? Ich sprach Euch von den Wiedertäufern. Statt sie Euch zu schildern, werde ich mich begnügen, zu sagen, daß sie der neueste Ausdruck des Dissidententums sind.«

»Merkt auf!« entgegnete Shakespeare lächelnd. »Das wäre eine etwas frostige Erklärung. Entwickeln sollt Ihr, nicht beschränken. Euch ins Licht, in die Wärme, stellen, denn ein Sonnenstrahl, ein schöner Vers, ein edles Schauspiel lassen denselben wollüstigen, leichten Schauer über das Rückgrat laufen. Wisset, mein Guter, daß ich auf meiner Reise auch die Temperamente studiere. Es ist höchst wichtig zu wissen, ob dieser hier dick, kräftig und blutreich, jener mager und blutarm, jener fahl und geschwollen ist. Das ist die Persönlichkeit, das ist das Amalgam von Fleisch, Knochen und Blut, das der Gebärde, der Haltung und dem Verbrechen erst den Wert giebt. Ihr wißt, daß ein Bart eine Hauptrolle in einem Leben spielen, zum Zeichen der Verachtung gezupft, zur Schwächung abgeschnitten werden kann; er kann eine unselige Liebe, einen verhängnisvollen Widerwillen, unheilbare Verwirrung hervorrufen. Das sind die Requisiten, manchmal der Knoten der Handlung. Plutarch, die Chronisten und die Legenden geben uns nur diese charakteristischen Züge und vernachlässigen den anderen Plunder. Ahmen wir ihnen nach, da sie es der Sonne nachthun.«

»Warum sucht Ihr Euch da den Norden aus? Lockt Euch Italien nicht mehr?«

»O, Italien!« Die Augen des Dichters glänzten in seltsamem Lichte. »Das ist der Punkt, den der Zauberstab des Lebens berührt hat, die unveränderliche Quelle der Schönheit, der Pracht und des Heldentums. Dort sitzt ein Geschlecht wunderbarer Komödianten, dessen Kraft sich nimmer verliert. Wann werde ich in den nackten und so weichen Armen Italiens schlafen, wann werde ich seine Freuden kosten, indem ich ihm die meinen mitteile! Aber jetzt, Kamerad des Zufalls, dem ich meinen Geist öffne, jetzt gehe ich zu meinem Blute, den Töchtern des Nordens, die auch im Genuß einen Hintergedanken bewahren. Der Duft blonder Haare ist etwas Kompliziertes, und in blauen Augen liegt das Unbegrenzte. Wir bedürfen zur Glückseligkeit keiner körperlichen Berührung, die Mischung der Blicke gewährt einen viel feineren und erhabeneren Genuß, der auch keine Sättigung kennt. Ich trage in mir eine Grundidee, die einen Teil meines Ich und damit das Wesen vieler Menschen wiederspiegelt. Aber auch in ihr ist etwas Schatten mit mehr Licht gepaart, so daß sie mit Italien nicht harmoniert.«

William, der den fieberhaft lauschenden Studenten betrachtete, bemerkte, daß in seinem Gehirn sich etwas Neues rege, und freute sich darüber; denn einen Geist schaffen, ist eine gewaltigere Freude, als das Zeugen eines Kindes. »Herr,« rief der junge Schüler, »vertraut mir, ehe wir uns verlassen, eine nützliche und seltene Regel an – irgend ein Geheimnis, das ich allein studieren kann, das mich in düsteren Tagen nährt.«

»Hört also die fünf Regeln an, die ich mir selbst zusammengestellt habe, um sie immer zur Hand zu haben,« antwortete der Dichter und zählte sie an den Fingern auf: »Betrachte alles, als ob du noch nichts betrachtet hättest! – Empfinde alles mit Begeisterung! – Geh' an Frauen und an Erinnerungen vorüber, bleib' vor Blumen und Kindern stehen, rede mit den Landstreichern! – Weile lange auf dem Wege, der vom Herzen zu den Träumen führt! – Entfaltest du, was an der Oberfläche deiner Seele ruht, so halte die Ordnung ein: Weinen, Lachen, Schauern – was in der Tiefe ruht, das rühr' nicht an!«

Ein paar Stunden nach dieser Unterredung verließ Shakespeare die Stadt im Wagen eines wackeren Bauern, den der Student entdeckt hatte; er kehrte in seine Heimat im Norden Hollands zurück, nachdem er in Leyden ein kleines Erbteil behoben hatte. Dieser Mann war von unbestimmtem Alter, und sein rundes, bärtiges Gesicht drückte zugleich Heiterkeit und Mißtrauen aus. Er trug eine Seemannsmütze, ungeheure Ledergamaschen, breite, bauschige Hosen, ein blaues Wollhemd. Seine Sprache war eine wunderliche, deutsche Mundart, und das Gespräch ging anfangs mühsam von statten. Bald aber hatte sich der Dichter eine Art elliptisches, nur aus den unerläßlichsten Worten bestehendes Wörterbuch zusammengestellt und fand an dieser abgekürzten Sprache ein besonderes Vergnügen.

Sie kamen durch Vorstädte, die von einer fröhlichen Menge erfüllt waren. Burschen und Mädchen sangen und lachten; sie feierten das Fest der Tuchmacher. Dazwischen bewegten sich ernsthafte Bürgergarden, Zunftmitglieder, die sich um ihr Banner gruppierten, Herren, in glänzenden Kostümen. Beflaggte Boote glitten über die Kanäle, Querpfeifen und Trommeln traten an die Stelle der krystallhellen Stimmen der Glocken. An den Fenstern der roten Häuser standen zusammengedrängt die Familien und klatschten in die Hände.

Der Bauer war verwundert. Eine solche Pracht hatte er sich gar nie vorgestellt. Er ließ sein Pferd langsamer gehen und murmelte mit runden, erstaunten Augen: »Ei nun, ei nun!«

»Nie in Leyden gewesen?«

»Nein!«

»Schön, he?«

»Ja!«

»Nie andere Stadt gewesen?«

»Nein!« – Er hatte noch nie sein Dorf verlassen, und Shakespeare vermochte keine Auskunft über dies Dorf aus ihm herauszulocken, als daß es in der Nähe des Meeres lag, und die Vögel in unzähligen Schwärmen in der Umgegend ihre Eier legten. Er kannte kaum den Namen seines Volkes, und jede Anspielung auf die Kriege mit den Spaniern rief ein spöttisches Lächeln auf seinem dicken Gesichte hervor.

»Wißt Ihr, ob sie von Holland fort sind?«

»Nein!«

»Habt Ihr welche gesehen?«

»Nein!«

Diese vollständige Unkenntnis von allem, was über seine Nase hinausging, und diese Albernheit unterhielten Shakespeare. Er setzte das Verhör fort, und sein Gefährte kam ihm wie der Bewohner eines anderen Planeten vor. Endlich, nach einem Stillschweigen, das so unermeßlich war, wie die grüne, feuchte Ebene, durch die das magere Pferdchen sie trug, wagte er eine letzte Frage: »Und Wilhelm der Schweigsame, Wilhelm von Oranien?«

Das Gesicht des Bauern veränderte sich. Er schüttelte den Kopf, und eine erschreckte Grimasse bewies, daß diese in die ungestalte Masse seiner Vorstellungen gefallenen Worte ein Gefühl erweckten.

»O furchtbar! furchtbar! O!« – Er hob den Arm, der die Zügel nicht hielt, und ließ ihn dann schwer herabfallen. William war bewegt. »Ja, der Tod der Könige, der Angriff gegen geheiligte Personen ist die ewige Tragödie. Wenige Meilen von Rom lebten menschliche Wesen, die diesen glichen, abseits von den politischen Kämpfen, und nährten sich nur von dem Ertrag des Erdenwinkels, in den der Zufall sie gepflanzt hatte. Eine Bachlänge hielt sie in Unkenntnis über etwas, was ich trotz der Entfernung um Jahrhunderte erfahren konnte. Aber den Tod Cäsars erfuhren sie doch. Vom ersten Schrei drang's hin zum Ohr, von Ohr zum Mund, von Mund zum Ohr, so lief die Kunde bis in die entlegensten, stumpfesten Seelen und ließ sie vor Grauen erstarren. Derjenige, der Wilhelm von Oranien getötet hat, jene, die den römischen Gewalthaber erdolchten, erlangten einen Ruf, wie alle Bilderstürmer. Jeglicher Ruhm erwächst aus den höchsten Ruinen.«

Zwischen den zahlreichen Mühlen, die gleich großen Insekten ihre raschen Fühler unter dem klaren Himmel bewegten, fiel Shakespeare schon von Ferne eine besonders große auf. Er zeigte sie seinem Gefährten.

»Was ist das?«

»Weiß nicht!«

Als sie näher kamen, wurden die wunderlichen Flügel noch unverständlicher; es sah aus, als wären sie mit dicken Werghaufen umwickelt. Aber plötzlich ward es ihnen klar, daß diese unförmliche Masse aus fest zusammengebundenen, menschlichen Körpern bestand, die sich in toller Drehung befanden. Der Bauer wurde totenbleich vor Entsetzen. Da die Pferde etwas witterten, setzten sie sich in Galopp, und mit größter Schnelligkeit, wie in einem bösen Traume dahinjagend, unterschieden die Reisenden stark gebaute Leichname, die infolge der Beweglichkeit ihrer Grabstätte alle möglichen Stellungen annahmen. Himmel und Erde schoben einander blutige Gliedmaßen und verkrümmte Beine zu; Vögel umschwärmten die schwer zu fassende Beute. Ein Regen von Bluttröpfchen spritzte aus den geschwärzten Gesichtern mit den ungeheuren, roten Augenhöhlen. Das Knirschen der überlasteten Achse, das Klatschen der Leinwand auf den Flügeln, das Kreischen der Raubvögel bildeten ihr Totenlied.

»Gräßlich, nicht wahr?« –

»Ach ja!«

Der Mann bedeckte sich mit der freien Hand das Gesicht. William betrachtete lange diese öde, düstere Henkerstätte unter dem bleichen, wolkenbedeckten Himmel. »Und die Religionen haben die Hölle erfunden,« dachte er. »Aber mit welchen neuen Martern, die hienieden nicht schon ausgeübt wären, wollen sie denn die Hölle erfüllen!«

Gegen Abend erreichten sie Harlem. Dort verließ Shakespeare seinen Gefährten, und am nächsten Tage, am achtundzwanzigsten August, zur heißen Tagesstunde, befand er sich in Amsterdam und erkundigte sich nach dem Gasthof zur »Roten Laterne.« –


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