Alphonse Daudet
Das Mädchen von Arles
Alphonse Daudet

Alphonse Daudet

Das Mädchen von Arles

Steigt man von meiner Mühle hinab ins Dorf, so geht man an einem Haus vorüber, das dicht an der Straße im Grunde eines mit Ulmen bepflanzten großen Hofes liegt. Es ist das echte provenzalische Bauernhaus, mit seinen roten Dachziegeln, der breiten dunklen Fassade mit den unregelmäßig in das Mauerwerk gebrochenen Fenstern; mit dem Wetterhahn ganz oben über dem Heuboden, der Rolle, um die Bunde in die Höhe zu winden, und ein paar herauslugenden Büscheln von braunem Heu.

Warum war dieses Haus mir aufgefallen? Warum schnürte sich vor diesem festverschlossenen Tor mein Herz zusammen? Ich hätte es nicht sagen können, und doch fror mich an dieser Stätte. Es war zuviel Stille ringsum ... Wenn man vorüberging, bellten keine Hunde, die Perlhühner flüchteten lautlos... Drinnen keine Stimme! Nichts, nicht einmal der Schellenton eines Maultiers... Ohne die weißen Gardinen an den Fenstern und den Rauch, der von den Dächern aufstieg, hätte man den Ort für unbewohnt gehalten.

Gestern Schlag zwölf kam ich aus dem Dorf, und um die Sonne zu vermeiden, ging ich an den Mauern des Gutshofes entlang, im Schatten der Ulmen ... Auf der Landstraße vor dem Haus beluden Knechte schweigend einen Karren mit Heu ... Das Tor war offengeblieben. Ich warf im Vorbeigehen einen Blick hinein und sah im Grunde des Hofes einen hochgewachsenen, ganz weißhaarigen Greis in zu kurzer Jacke und zerlumpten Hosen, die Ellbogen auf einen großen steinernen Tisch gestützt und den Kopf in den Händen... Ich blieb stehen. Einer der Leute sagte ganz leise zu mir: »Pst! Der Herr... So ist er seit dem Unglück mit seinem Sohn.«

In diesem Augenblick gingen eine Frau und ein kleiner Junge, beide in Schwarz, mit dicken vergoldeten Meßbüchern an uns vorüber und traten in das Gutshaus.

Der Mann setzte hinzu:

»Die Frau und der Kleine. Sie kommen aus der Messe. Sie gehen alle Tage hin, seit der ältere Sohn sich das Leben genommen hat... Ach, Herr, welches Herzeleid! Der Vater trägt noch die Kleider des Toten; man kann ihn nicht dazu bringen, sie abzulegen... Hü, Brauner!«

Der Karren setzte sich schwankend in Bewegung. Ich aber wollte mehr wissen, ich bat den Knecht, mich zu ihm aufsteigen zu lassen, und dort oben im Heu erfuhr ich die ganze traurige Geschichte...

Er hieß Jan. Er war ein prächtiger junger Bauernbursche von zwanzig Jahren, keusch wie ein Mädchen, kräftig, und mit offenem Blick. Da er sehr schön war, sahen sich die Frauen nach ihm um; er aber hatte nur eine einzige im Kopf – ein Mädchen aus Arles, ganz in Samt und Spitzen, das er einmal in der Arena in Arles getroffen hatte. Auf dem Gut sah man diese Bekanntschaft zunächst nicht mit Freude. Das Mädchen galt für kokett, und die Eltern waren nicht aus der Gegend. Aber Jan wollte mit aller Macht sein Mädchen von Arles. Er sagte: »Es wird mein Tod sein, wenn ich sie nicht bekomme.«

Man mußte ihn gewähren lassen. Es wurde beschlossen, sie nach der Ernte zusammenzugeben.

Eines Sonntagabends nun saß die Familie im Hof des Gutes beim Essen. Es war beinah ein Hochzeitsmahl. Die Braut war nicht dabei, aber man hatte die ganze Zeit auf ihr Wohl getrunken... Ein Mann erscheint am Tor und verlangt mit bebender Stimme, Herrn Estève unter vier Augen zu sprechen. Estève steht auf und geht hinaus auf die Straße.

»Herr«, sagt der Mann zu ihm, »Sie sind im Begriff, Ihren Sohn mit einer liederlichen Person zu verheiraten, die zwei Jahre lang meine Geliebte gewesen ist. Was ich behaupte, kann ich beweisen: Hier sind ihre Briefe!... Die Eltern wissen alles und hatten sie mir versprochen; aber seit Ihr Sohn sich um das Mädchen bewirbt, wollen weder die Eltern noch die Tochter mehr etwas von mir wissen... Ich sollte aber meinen, nach alldem könnte sie nicht die Frau eines andern sein.«

»Es ist recht!« sagt Herr Estève, nachdem er die Briefe angesehen hatte. »Kommen Sie herein, ein Glas Muskateller trinken.«

Der Mann erwidert: »Danke. Ich habe mehr Kummer als Durst.« Und er geht.

Der Vater kommt zurück; gelassen nimmt er seinen Platz am Tisch wieder ein, und das Mahl geht vergnügt zu Ende...

An diesem Abend gingen Herr Estève und sein Sohn zusammen durch die Felder. Sie blieben lange draußen; als sie zurückkamen, wartete die Mutter noch auf sie. »Frau«, sagte der Bauer und führte den Sohn zu ihr, »küß ihn! Er ist unglücklich ...«

Jan sprach nicht mehr von dem Mädchen aus Arles. Indessen liebte er sie immer noch, und mehr als je, seit man sie ihm in den Armen eines andern gezeigt hatte. Nur war er zu stolz, um etwas zu sagen; und das war's, was ihn getötet hat, den armen Jungen!... Manchmal verbrachte er ganze Tage allein in einem Winkel, ohne sich zu rühren. An anderen Tagen machte er sich mit wütendem Eifer über den Acker her und schaffte ganz allein die Arbeit von zehn Tagelöhnern ... Wenn es Abend war, sah man ihn dann auf der Straße nach Arles, und er ging seines Weges, bis er im Westen die schlanken Türme der Stadt aufsteigen sah. Dann kehrte er um. Niemals ging er weiter.

So sahen ihn die Leute vom Gut, stets einsam und traurig, und sie wußten nicht mehr, was tun. Man fürchtete ein Unglück... Einmal bei Tisch sah die Mutter ihn mit nassen Augen an und sagte:

»Höre, Jan, wenn du sie trotz allem willst, werden wir sie dir geben...«

Der Vater senkte den Kopf, rot vor Scham...

Jan verneinte stumm und ging hinaus...

Von diesem Tag an änderte er sein Leben, spielte den Lustigen, um seine Eltern zu beruhigen. Jetzt sah man ihn wieder auf dem Tanzboden, im Wirtshaus, bei den Festen des Landes. Auf der Kirchweih in Fonvieille führte er sogar die Farandole an.

Der Vater sagte: »Er ist geheilt.« Die Mutter aber wurde die Angst nicht los und ließ den Sohn weniger als je aus den Augen... Jan schlief mit dem Kleinen zusammen, ganz nahe bei der Kammer für die Seidenraupen; die arme Alte ließ sich ein Bett im Nebenzimmer aufschlagen... Die Seidenwürmer konnten sie vielleicht brauchen in der Nacht.

Da kam das Fest des heiligen Eligius, des Schutzheiligen der Ackersleute.

Der Jubel war groß auf dem Gut... Es gab Chateauneuf für alle, und der süße Most strömte wie Regen. Dann Böllerschüsse, Feuerwerk auf dem Anger, voll bunter Laternen die Ulmen im Hof... Hoch der heilige Eligius! Man tanzte bis zum Umsinken die Farandole. Der Kleine verbrannte sich die neue Bluse... Selbst Jan sah fröhlich aus; er forderte seine Mutter zum Tanze auf; die arme Frau weinte vor Glück.

Um Mitternacht ging man zu Bett. Alles brauchte Schlaf... Jan aber schlief nicht. Der Kleine erzählte später, daß er die ganze Nacht geschluchzt hat... Ach, den hatte es grausam gepackt, das könnt Ihr mir glauben ...

Am folgenden Tag beim Morgengrauen hörte die Mutter jemand durch das Zimmer rennen. Etwas wie eine Ahnung kam ihr:

»Jan, bist du's?«

Jan antwortet nicht; er ist schon auf der Treppe. Schnell, ganz schnell steht die Mutter auf:

»Jan, wohin gehst du?«

Er steigt zum Heuboden hinauf; sie läuft hinter ihm her:

»Mein Sohn, ums Himmels willen!«

Er schließt die Tür und schiebt den Riegel vor.

»Jan, mein lieber Jan, gib Antwort. Was hast du vor?« Tastend, mit ihren zitternden alten Händen, sucht sie die Klinke... Ein Fenster geht auf, der Aufprall eines Körpers auf dem Pflaster im Hof, nichts weiter... Der arme Junge, er hatte sich gedacht: ›Ich liebe sie zu sehr... Ich gehe...‹ Ach, arme Herzen, die wir sind! Ein bißchen viel ist es aber doch, daß Verachtung die Liebe nicht auslöschen sollte!...

An diesem Morgen fragten sich die Leute im Dorf, wer da drüben, von Estèves Gut her, so schreien mag...

Es war – im Hof vor dem steinernen Tisch, der feucht war von Tau und Blut – die Mutter, nackt, wehklagend, den toten Sohn in ihren Armen.