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L Laß uns zum Presseball gehen, Armin!«

»Was sollen wir dort?«

»Uns unterhalten, den Abend totschlagen.«

»Guter Kerl, das hilft mir auch nicht darüber hinweg.«

»Aber es lenkt dich ab.«

»Als ob meine Gedanken heute einen Weg gingen, der nicht schließlich doch da hinführte, wo sie nicht sein sollen! Ich möchte lieber nach Hause.«

»Um Grillen zu fangen. Das hat doch keinen Zweck.«

»Es hat ebensowenig Zweck, daß ich zum Presseball gehe. Da soll ich am Ende noch geistreich sein. Nein, Hans, ich mag heute keine Menschen sehen.«

»Du bist dir selbst der schlechteste Gesellschafter. Komm nur mit! Schlieven und Werdern sind auch dort.«

»Ein Grund mehr für mich, wegzubleiben. für diese beiden großen Frauenverächter wäre ich heute eine Zielscheibe des Spottes. Sie wissen so gut wie du und ich, daß Alexandra Wendhoven heute Hochzeit hält und daß ich von ihr zum Narren gemacht wurde. Für ihren Zynismus wäre das gefundenes Futter. Ich mag diese beiden Pessimisten überhaupt nicht leiden. Trotzdem mich eine Frau verriet, glaube ich noch an die Frau. Um sie frivol in den Staub ziehen zu lassen, hab ich meine Mutter zu hoch verehrt und geliebt. Nein – laß mich zufrieden. Gehe du doch allein hin, wenn dich danach verlangt.«

Hans von Rippach drehte an seinem blonden Schnurrbart und zuckte die Achseln.

»Mir liegt nichts daran,« sagte er abwehrend. »Ich wollte nur für dich Zerstreuung.«

»Du meinst es gut, Hans, ich danke dir. Aber da hilft Zerstreuung nichts. Solche Stunden muß man wehrlos über sich ergehen lassen. Denkst du, ich könnte heute einem andern Gedanken Raum geben, als dem an sie? Daß sie heute das Eigentum eines andern wird und über den Toren lacht, der sich vermaß, sie an seine Armut fesseln zu wollen. Als ob eine Alexandra zu nichts Besserem auf der Welt wäre, als zu warten, bis ein simpler Assessor für sie und sich eine bescheidene Brotstelle errungen hat!«

Es klang eine tiefe Bitterkeit und grimmige Selbstverspottung aus seinen Worten. Armin von Leyden litt scheinbar schwer an dieser Enttäuschung.

Schweigend gingen die beiden jungen Leute weiter. Rippach sah ein, daß es besser war, dem Freunde nachzugeben. Nach einer Weile fragte er ruhig:

»Willst du mich los sein, dann sag es ehrlich, ich nehme es dir nicht übel.«

»Nein, wenn du dich durch meine Mißstimmung nicht stören läßt, dann laß uns in irgendeinem ruhigen Winkel eine Flasche Wein trinken.«

»Gut, das ist doch ein Wort, wo wollen wir hingehen?«

»Einerlei.«

»Dann hier rechts um die Ecke. Da finden wir, was wir brauchen.«

Sie bogen in eine stillere Nebenstraße ein. In wenigen Minuten hatten sie ein Weinlokal erreicht. Durch Holzwände mit Kunstverglasungen waren hier Nischen gebildet. In einer derselben nahmen sie Platz.

Rippach bestellte Wein und schenkte ein. Als er dem Freunde zutrank, sagte er ernst:

»Auf baldige Heilung deiner Herzenswunde! Eine Alexandra ist es nicht wert, daß sich ein Mann sein Leben durch sie verpfuschen läßt.«

Leyden tat ihm schweigend Bescheid. Die Unterhaltung schleppte sich mühsam hin. Leyden zwang sich zu Rede und Gegenrede, und Rippach konnte den lustigen, lebensfrohen Ton nicht finden, auf den er sonst gestimmt war. Sein hübsches, frisches Gesicht trug den Ausdruck großen Unbehagens. Es war ihm sehr niederdrückend, dem Freund nicht helfen zu können.

Nach zwölf Uhr stand Leyden plötzlich auf.

»Nimm es nicht krumm, Hans, ich möchte nach Hause, bin wahrhaftig müde.«

»Auch gut – wie du willst.«

Er rief den Kellner und zahlte. Dann verließen sie das Lokal.

Rippach begleitete Leyden schweigend bis an seine Wohnung. Dort trennten sie sich mit einem kurzen, warmen Händedruck.

»Morgen auf Wiedersehen.« –

Leyden stieg langsam die Treppe hinauf und betrat seine Wohnung, die aus Wohn- und Schlafzimmer bestand. Noch im Dunkeln warf er den Überrock ab, tastete nach den Streichhölzern und zündete die Lampe an.

Starr sah er eine Weile in das zuckende Licht. Es beleuchtete sein ausdruckvolles, scharfgeschnittenes Gesicht und spiegelte sich in seinen dunklen Augen wider.

Dann sank er willenlos in einen Sessel, stützte den Kopf auf die Hände und vergrub sein Gesicht darin. Stundenlang saß er so, ohne sich zu regen. Dann endlich weckte ihn die Kälte aus seinem Brüten. Er erhob sich und trat ans Fenster. Das war mit Eisblumen bedeckt. Nur eine zackige Ecke an jeder Scheibe war frei davon. Drunten auf der Straße zuckte das Laternenlicht im eisigen Windhauch. Armin seufzte tief auf, verlöschte dann sein Licht und ging mit einer brennenden Kerze ins Schlafzimmer.

Ruhe fand er aber nicht diese Nacht.

*

Als er am nächsten Tage eben vom Amt nach Hause gekommen war, trat Rippach bei ihm ein.

»Servus, Armin! Ich hatte dich am Alexanderplatz im Gewühl verloren. Dachte mir, daß ich dich hier finden würde, hast du nicht was Trinkbares?«

»Kognak kannst du haben.«

»Her damit!«

Leyden kramte aus einem Schränkchen eine Flasche und zwei Glaser. Als er sie vollgeschenkt hatte, schob er Rippach auch Zigarren und Feuerzeug hin.

»Bediene dich!«

»Danke. Rauchst du nicht?«

»Doch, gleich nach dir.«

Beide steckten sie sich Zigarren an. Eine Weile rauchten sie und bliesen nachdenklich den Rauch von sich. Dann trat Leyden plötzlich mit leichtem Lächeln an Rippach heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Du brauchst dich nicht aufzuopfern, mein Alter. Ich erkenne ja den guten Willen dankbar an. Es ist aber nutzlos, daß du dich in meiner Gesellschaft langweilst.«

»Unsinn,« fuhr Rippach auf, »ich langweile mich gar nicht! Habe manchmal ganz gern so 'ne stille, beschauliche Stunde.«

»Hm, das ist mir neu an dir. Übrigens könntest du solche Beschaulichkeit bedeutend gemütlicher in deiner eleganten Wohnung genießen.«

»Hier gefällt es mir gerade sehr gut.«

»Schön, dann bleib. Ich gehe aber heute nicht aus.«

»Vortrefflich. Ich habe ebenfalls keine Lust dazu. Muß man denn jeden Abend in der Kneipe sitzen oder Konzerte und Theater unsicher machen?« sagte Rippach mit großer Überzeugung.

Armin lachte.

»Du bist ein Heuchler.«

Rippachs Gesicht strahlte.

»Gottlob, jetzt hast du endlich einmal wieder gelacht. Sag mal, hast du schon zu Abend gegessen?«

»Nein, meine Wirtin besorgt mir Tee und belegte Butterbrote, willst du mithalten?«

»Aber selbstredend, Hunger hab ich, und wenn du durchaus hierbleiben willst, mußt du mich bewirten.«

»So gut ich kann. Bist ein guter Kerl, Hans.«

»Na, wieso denn?« wehrte dieser verlegen ab.

»Weißt schon, wieso. Aber ich lasse dir Bier holen, oder eine Flasche Wein, damit deine Freundschaft auf keine zu harte Probe gestellt wird, was willst du haben?«

»Also Bier – da bin ich kein Unmensch.«

Sie saßen dann ganz gemütlich beim Abendessen. Rippach trieb allerhand Allotria und freute sich wie ein Kind, wenn Leyden zu seinen Schnurren lachte. –

Die beiden waren schon seit Jahren eng befreundet.

Leydens Vater war Arzt gewesen und schon vor Jahren gestorben. Damals stand Armin mitten im Studium, viel Vermögen hinterließ der Vater nicht, es hätte nur gerade für seine Witwe ausgereicht zum schlichten Lebensunterhalt. Aber Frau von Leyden war eine jener Mütter, die für ihre Kinder lächelnd das Schwerste vollbringen. Sie hatte sich jede Annehmlichkeit versagt, um Armin das Weiterstudieren zu ermöglichen. Als ihr Sohn Assessor geworden war, starb ihm auch die Mutter. Nun konnte er die Zinsen des kleinen Vermögens für sich verwenden, und seine Lage war damit eine angenehmere geworden. Rippach hatte in allen Schicksalsfügungen in treuer Freundschaft neben ihm gestanden. Als Sohn vermögender Eltern kannte er Lebenssorgen nicht. Sein heiteres, lebensfrisches Temperament übte stets einen wohltätigen Einfluß auf den etwas schwerblütigen Freund aus, dessen geistige Überlegenheit er ebenso neidlos anerkannte, wie seine körperlichen Vorzüge. Und Armin bremste hinwiederum oft, wenn Rippach über die Stränge schlagen wollte. Die beiden ergänzten einander vorzüglich, und dieser Umstand befestigte ihre Freundschaft mehr und mehr. Denn Gegensätze ziehen sich an.

Daß Armin sich mit der ganzen Innigkeit seines Herzens in die schöne, verwöhnte, aber vermögenslose Alexandra Wendhoven verliebte, machte Rippach von Anfang an Sorge. Er hätte den Freund gern davor behütet, denn er erkannte mit seinem klaren, praktischen Blick bald, daß Alexandra sehr kokett und gefallsüchtig war und viel zu verwöhnt, um die Frau eines armen Assessors zu werden. Seine Warnungen fruchteten natürlich nichts, wann hätte ein Liebender sich durch Vernunftgründe besiegen lassen? Die Verlobungsanzeige Alexandras erhielt Leyden zwei Tage nach einem Ball, auf dem ihn die Geliebte zärtlicher und liebenswürdiger denn je behandelt hatte. Der Schlag traf ihn unerwartet und verwundete ihn um so mehr, als er den Unwert der Geliebten erkennen mußte. Trotzdem er sie verachten mußte, hörte er nicht auf, sie zu lieben. Und der gestrige Tag, der Alexandra zur Gattin eines anderen machte, eines Mannes, der nichts als ein riesiges Vermögen in die Wagschale zu werfen hatte, rüttelte alle Schmerzen wieder in ihm wach.

Hans Rippach bewährte sich auch in diesem Falle als treuer, ergebener Freund. Und Armin wußte es ihm Dank, wenn er auch ebensowenig Worte darüber verlor, als Rippach.

*

Inmitten der Thüringer Berge liegt auf einer Anhöhe Schloß Burgwerben. Diese Anhöhe wird, von zwei schmalen Flußarmen umspült und bildet eine Insel. Eine breite Brücke führt über den Fluß auf die Fahrstraße, die zum Schloß hinaufführt. Schloß Burgwerben ist ein großes graues Gebäude mit einem hohen Mittelbau und zwei viereckigen, schmucklosen Ecktürmen. Es steht fest und trutzig auf dem kleinen Inselberg und wirkt trotz mangelnder architektonischer Schönheiten in der landschaftlich reizvollen Umgebung sehr malerisch. Jenseits des Flusses breiten sich fruchtbare Täler und prächtige Waldungen aus bis zu den waldbewachsenen Höhenzügen.

Das schmucke Dörfchen, welches den gleichen Namen führt wie das Schloß, zieht sich mit seinen freundlichen roten Ziegeldächern längs des Flusses hin, der dicht hinter dem Burgberg seine beiden Arme wieder vereinigt. Eine kleine, sehr malerisch wirkende Kirche strebt mit schlankem Turme über die Bauernhäuser hinaus.

Einige Villen und Landhäuser liegen verstreut teils am Waldrand, teils oben am Fluß. Die Schönheit der Gegend hat manchen gelockt, sich hier anzusiedeln, und die Gemeinde tritt gern für blankes Geld ein Stück des Bodens zu diesem Zwecke ab.

Schloß Burgwerben samt dem dazugehörigen großen Grundbesitz ist das Eigentum Friedrich von Leydens. Dessen Vater hat durch die Heirat mit der letzten Gräfin Burgwerben diesen herrlichen Besitz und ein großes Vermögen an sich gebracht. Und Friedrich von Leyden ist der einzige Sohn dieses Paares. Er ist jetzt etwa sechzig Jahre alt und unverheiratet. Einst ein lustiger, lebensfroher Gesell, der alle Freuden der Welt in vollen Zügen genoß, war er vor fünfundzwanzig Jahren als ein finsterer, stiller Mann heimgekehrt aus der großen Welt. Der Verrat einer Frau, ein damit zusammenhängendes Duell, in dem er seinen besten Freund erschoß, hatte den Grund zu seinem veränderten Wesen gelegt. Näheres erfuhr niemand.

Friedrich von Leyden wurde ein menschenscheuer Sonderling. Frauen litt er nicht in seiner direkten Umgebung. Was auf dem Schlosse an weiblicher Bedienung gebraucht wurde, mußte in den Wirtschaftsgebäuden untergebracht werden und sich seiner Person möglichst fernhalten. Er lebte nur seinen Büchern und der Bewirtschaftung seines ausgedehnten Besitzes. Darin unterstützte ihn Inspektor Scheveking, ein knorriger, kurzangebundener Mann, der gleich seinem Herrn von den ›Frauensleuten‹ nichts hielt und ebenfalls unbeweibt in der Inspektorwohnung hauste.

Das weibliche Regiment lag in den Händen Mamsell Wunderlichs. Die kleine, behäbige Person rächte sich für den auf Schloß Burgwerben herrschenden Frauenhaß durch eine offen zur Schau getragene Männerfeindschaft. Sie stand fortwährend auf Kriegsfuß mit Scheveking, und die beiden Leute, die miteinander alt und grau geworden waren, sagten sich täglich die auserlesensten Grobheiten. Das gehörte zu ihrem Wohlbefinden. –

Friedrich von Leyden hatte einen großen Verwandtenkreis. Die Leydens waren aber alle arm, wie es sein Vater vor seiner Verheiratung war. Als man nun merkte, daß der Besitzer von Burgwerben ehelos blieb, kam man angezogen, um sich in Erinnerung zu bringen. Es begann eine seltsame Jagd nach dem Glück. Friedrich von Leyden wurde von seinen Verwandten mit Liebe überschüttet, einer lief dem andern den Rang ab, einer übertrumpfte den andern mit Liebesbeweisen.

Der finstere Mann wehrte sich dagegen. Ein grimmiges, spottdurchtränktes Lächeln setzte er all den süßen Reden entgegen. Da drängten sich die Frauen der Familie an ihn heran. Das war ihm zu viel. Er ließ sich einfach nicht vor ihnen sehen. Die Klügeren schickten deshalb ihre Frauen schleunigst wieder nach Hause, um sich ihm angenehm zu machen. Andere, die von dem Liebreiz und der Klugheit ihrer Frauen und Töchter überzeugt waren, ersannen einen anderen Plan, um Friedrich von Leyden mit ihnen zusammenzubringen.

Sie beriefen nach dem nächsten Städtchen einen allgemeinen Leydenschen Familientag. Ein Hotel wurde zum Versammlungsort bestimmt und der Herr von Burgwerben so lange um sein Erscheinen angebettelt, bis er sein Kommen zusagte.

Mit einem undurchdringlichen Gesicht war er zum Familientag in das Städtchen gefahren. Mit einem ebensolchen Gesicht war er heimgekehrt und hatte am nächsten Tage seinen Rechtsanwalt holen lassen. In Gegenwart von Inspektor Scheveking hatte er sein Testament gemacht und dieses dann bei Gericht niedergelegt.

Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. –

Danach war das Leben weitergegangen. Das Schmeicheln seiner Verwandten, die sich gegenseitig bei ihm verleumdeten, um in Gunst zu kommen, widerte ihn an und verbitterte ihn immer mehr, von den Frauen hatte auf dem Familientag keine einen günstigen Eindruck auf ihn gemacht. Man hatte sich verrechnet.

Scheveking und Mamsell Wunderlich hatten einen Punkt, wo sie sich sympathisch begegneten. Das war der Ärger über die ›lieben Verwandten‹ ihres Herrn, die ihm das Leben schwer machten. Sie wären am liebsten mit einem kräftigen Donnerwetter dazwischengefahren. Scheveking bereitete nur der eine Umstand Genugtuung, daß er genau wußte, keiner dieser kriechenden Erbschleicher würde sein Ziel erreichen. Er allein wußte außer dem Rechtsanwalt, wen Friedrich von Leyden zu seinem Erben eingesetzt hatte.

Im letzten Spätherbst begann Leyden zu kränkeln und blieb ans Zimmer gefesselt. Noch stiller und wortkarger wurde er darüber. Seine Augen schweiften oft mit einem seltsam schwermütigen Blick zum Fenster hinaus in das herbstlich gefärbte Land. Er empfing keine Besuche, auch seine Verwandten nicht, so sehr sie sich auch bemühten, Einlaß in sein Zimmer zu finden. Der Schloßherr mußte schweren, drückenden Gedanken nachhängen, dem Ausdruck seines Gesichts nach zu urteilen, von seinem Rechtsanwalt empfing er oft lange Berichte, die ihn scheinbar sehr interessierten. Nur diese Berichte rissen ihn zuweilen aus seinem Dahinbrüten.

Das Ergebnis dieser Grübeleien war eine erneute Beratung mit seinem Rechtsanwalt, die zur Folge hatte, daß Leyden sein vor fünfzehn Jahren niedergelegtes Testament erneuerte und mit einem Anhang versah. Dieser Anhang enthielt eine Bestimmung, von der auch Scheveking nichts erfuhr. Er hätte wohl auch sehr verwundert den Kopf dazu geschüttelt.

Als wenn ihn nun nichts mehr am Leben hielte, so verfiel Friedrich von Leyden zusehends. Wohl raffte er sich noch einige Male auf und unternahm sogar in der Silvesternacht, wie jedes Jahr, wenn Schnee lag, eine lange, einsame Schlittenfahrt. Dabei zog er sich aber eine Erkältung zu, die ihn aufs Krankenbett warf.

Der herbeigerufene Arzt stellte Lungenentzündung fest.

Hartnäckig bestand der Kranke darauf, daß man ihm seine Verwandten fernhielt. Außer dem Arzt durfte nur sein alter treuer Diener Dillenberger und Inspektor Scheveking zu ihm. Diese beiden von ihm erprobten Männer übernahmen abwechselnd die Pflege ihres Herrn und verteidigten seine Tür, daß niemand zu ihm gelangen konnte, den er nicht sehen wollte.

Die Lungenentzündung hatte ein Nierenleiden im Gefolge. Der Zustand des Kranken gab zu Besorgnis Anlaß genug.

Inzwischen verging der Winter, im März kamen schon warme Tage. Schnee und Eis gab es seit Mitte Februar nicht mehr. Auf den Feldern sollte die Arbeit beginnen. Scheveking mußte den Kranken jetzt viel mit Dillenberger allein lassen. – – –

An einem hellen, sonnigen Märzmorgen ritt Scheveking mit trübem Gesicht vom Felde heim. Am Rande des Waldes, der sich neben dem Fahrdamm der Eisenbahnlinie dahinzog, kam ihm ein junges, schlankes Mädchen in Trauerkleidung entgegen. Ihr blasses, liebliches Gesicht zeigte die Spuren vergossener Tränen. Scheveking hielt dicht vor ihr sein Pferd an.

»Guten Morgen, Fräulein Delius!«

»Guten Morgen, Herr Inspektor! wie geht es Herrn von Leyden?«

Das Gesicht des Alten umschattete sich wieder.

»Er hatte keine gute Nacht. Ich fürchte, es steht schlimm.«

»Der arme alte Herr!«

Es klang warmes, herzliches Mitleid aus diesem Ausruf. Scheveking nickte.

»Ja, das weiß Gott – er ist mehr zu bedauern, als man glaubt. Na, und Sie? haben wieder geweint, kommen gewiß wieder vom Kirchhof?«

Sie wandte die Augen von ihm fort, um zu verbergen, daß es feucht darin aufstieg.

»Ich habe meinem Vater ein paar Blumen hingetragen, die ich zur Blüte brachte. Er liebte die Blumen so sehr.«

Scheveking nickte wieder.

»Sie sind ein gutes Kind, mal eine Ausnahme Ihres Geschlechts. – Nun sind schon drei Wochen um, seit der Herr Professor da draußen unter der Erde schläft. Den hat auch eine von denen auf dem Gewissen, die der Herr im Zorne erschuf. Was macht denn die Frau Stiefmama, he?«

Ein wilder Grimm lag in seiner Stimme.

Eva Marie Delius zog die Stirn wie im Schmerz zusammen.

»Sie schilt und jammert über unsere Armut. Lieber Herr Inspektor, wenn doch Herr von Leyden bald wieder gesund würde! Er wollte uns doch unser kleines Anwesen für fünfunddreißigtausend Mark abkaufen. Die Zinsen würden wenigstens meiner Stiefmutter ein bescheidenes Auskommen sichern.«

»Na, und Sie?«

»Sobald ich wieder fähig bin, mich aufzuraffen, will ich mir eine Stellung suchen, ich bin jung und gesund und habe allerlei gelernt.«

»Sie sind imstande zu so einer Dummheit. Unsinn, der Frau Stiefmama alles hinzugeben! Sie sind genau so gutmütig wie Ihr Herr Vater,« polterte Scheveking los.

Eva Marie schlang die Hände ineinander.

»Ich kann nicht länger anhören, wie sie auf meinen Vater schilt. Sie soll alles haben, damit sie Ruhe gibt.«

Scheveking lachte grimmig auf.

»So ist's recht, stecken Sie ihr das letzte auch noch zu, damit sie es auch noch durchbringt, wie das ganze schöne Vermögen Ihres Vaters. Und Sie drücken sich dann bei fremden Leuten herum. Herrgott nochmal, da kann einen die Wut wieder packen!«

Er riß wild an den Zügeln, so daß sein Pferd erschreckt zur Seite sprang. Das junge Mädchen blickte mit wehmütigem Lächeln zu ihm auf.

»Zanken Sie nicht, ich weiß ja doch, daß Sie nicht halb so bös sind, als Sie sich immer den Anschein geben.«

Scheveking machte ein schnurriges Gesicht.

»Guten Morgen! Ich muß mich beeilen, um zu meinem Kranken zu kommen.«

Damit brach er das Gespräch kurz ab, gab seinem Pferd die Sporen und ritt eiligst davon.

Eva Marie sah ihm eine Weile nach, dann setzte sie ihren Weg fort. In unmittelbarer Nähe der kleinen Bahnstation lag am Waldrand ein schlichtes Landhäuschen inmitten eines großen Gartens. Dieses Häuschen hatte Professor Delius früher mit seiner Familie nur als Sommerfrische benutzt. Seit aber sein Vermögen durch die Verschwendungssucht seiner zweiten Frau verloren gegangen war und eine lange Krankheit ihn zwang, seine Professur niederzulegen, hatte er sich ganz hierher zurückgezogen. Seine Frau, einst eine bewunderte Schönheit, jetzt ein übermäßig starkes, aufgedunsenes Weib, machte ihm und seiner Tochter das Leben zur Hölle durch Klagen und Schelten über das ›jammervolle Knauserleben‹, das sie doch durch ihre Verschwendungssucht selbst verschuldet hatte.

Eva Marie suchte mit der schmalen Pension das Leben in dem kleinen Häuschen so erträglich wie möglich zu gestalten und dem Vater ein wenig Sonnenschein zu geben. Als Botaniker liebte er die Blumen sehr. Seine größte Freude war sein Garten, in dem er von früh bis abends schaffte, solange seine Kräfte reichten. Er zog die schönsten Rosen in der Umgegend, und Eva Marie unterstützte ihn nach Kräften. –

Nun war Professor Delius seit drei Wochen tot. Damit erlosch auch seine Pension. Die beiden Frauen besaßen nun nichts mehr, als das kleine Unwesen und die bedeutend zusammengeschmolzene Bibliothek des Professors. Den größten Teil derselben hatte Frau Professor Delius vor vierzehn Tagen für tausend Mark verkauft. Davon fristeten die beiden Frauen jetzt ihr Leben.–

Eva Marie war zu Hause angelangt und begab sich gleich in ihr Zimmer. Zu der Küche schalt die kreischende Stimme ihrer Stiefmutter das junge Dienstmädchen aus, welches die Hausarbeit besorgte. Sie hatte die Milch überkochen lassen, das merkte man an dem scharfen Geruch, der das Haus durchdrang. Da gab es sicher wieder Anlaß zu endlosen Klageliedern. Und davor fürchtete sich das junge Mädchen unsagbar. Ihrem vornehmen, feinen Empfinden war das ganze Wesen der Stiefmutter stets peinlich gewesen. Sie hatte nie verstehen können, daß ihr verehrter, geliebter Vater diese Frau hatte lieben können. Sie wußte in ihrer jugendlichen Unerfahrenheit nichts von jenem oft rätselvollen Zug, der den Mann zum Weibe zieht ohne Rücksicht auf alles andere, blind für alle Fehler und Schwächen.

So lieb sie ihren Vater gehabt hatte, so fern stand sie innerlich ihrer Stiefmutter. Die beiden Frauen hatten nicht eine Saite gemeinsam, auf der sie harmonisch zusammenstimmten. In Eva Marie stand es seit dem Tode ihres Vaters fest, daß sie ihr Leben von dem der Stiefmutter trennen wollte. Nichts hielt sie mehr bei dieser fest. Und wenn sie ihr den Kaufpreis für das Anwesen überließ, würde es ihr gewiß nicht einfallen, sie zurückzuhalten. Nur einige Monate wollte sie noch hier verbringen, bis das Häuschen verkauft war, dann würde sie sich inzwischen nach einem Unterkommen bei fremden Menschen umgesehen haben.

*

Friedrich von Leyden war am zwanzigsten März gestorben in den Armen seines treuen Dillenberger. Niemand war zugegen, als der Arzt und Hermann Scheveking. Bis zum letzten Atemzuge ihres Herrn hatten die beiden treuen Menschen den beutegierigen verwandten den Weg zu ihm versperrt. Friedrich von Leyden war in Ruhe und Frieden eingeschlafen. Noch ehe er beerdigt war, fielen die Leydens über Scheveking her und suchten ihn auszuforschen, ob der verstorbene ein Testament hinterlassen und wer zum Erben bestimmt war. Scheveking fuhr sie in seinem Schmerz um den Toten grob an und schob die buschigen Augenbrauen immer finsterer zusammen.

Das trug ihm feindliche Blicke genug ein. Alle waren einig, daß Scheveking ›fliegen‹ müsse, wenn das Gericht erst die Erben bestimmt hatte. An ein Testament glaubten die wenigsten, hatte doch niemand eine Ahnung davon, daß es seit jenem Familientag schon bei Gericht lag. War kein Testament vorhanden, so erbten alle etwa zu gleichen Teilen, da kein naher Verwandtschaftsgrad bestand. Das Vermögen würde dann in fünfzehn Teile gehen, und jeder hatte schon ausgerechnet, wie viel auf seinen Teil kam.

Da gab es nun eine große Aufregung, als es plötzlich kund wurde, daß Friedrich von Leyden doch ein Testament hinterlassen hatte. Die Gemüter waren sehr beunruhigt, denn keiner konnte sich rühmen, daß Friedrich von Leyden ihm ein Zeichen besonderen Wohlwollens gegeben hatte. Im Gegenteil. So ängstlich sie es auch den andern verhehlten, sich selbst gestanden sie es doch ein, daß er stets unfreundlich gewesen war.

*

Armin von Leyden hatte nach schweren inneren Kämpfen seine Ruhe wiedergefunden, Hans von Rippach konstatierte mit Vergnügen, daß er wieder ein leidlich vernünftiger Mensch wurde. Daß Armin Alexandra Wendhoven noch nicht vergessen hatte, sondern sie trotz allem noch liebte, gestand er nur sich selbst ein. Er sprach mit Rippach nicht mehr davon.

Zum Glück weilte die junge Frau mit ihrem Gatten während des Winters an der Riviera. Er brauchte ihr also in der Gesellschaft nicht zu begegnen. So fehlte es den beiden Freunden nicht an Zerstreuung. Sehr oft verkehrten sie im Hause von Rippachs Oheim, der gern junge Leute um sich sah und, selbst kinderlos, seinen zahlreichen Neffen und Nichten oft Gesellschaften gab. Seine Gattin, von Hans instruiert, verstand es vorzüglich, Armin von seinem Schmerz abzulenken und ihm etwas philosophischen Gleichmut einzuimpfen. So ging der Winter vorüber.

Eines Tages saßen die beiden Freunde im Kaffeehaus und blätterten Zeitungen durch. Da stieß Armin plötzlich einen leisen Ruf der Überraschung aus. Rippach sah auf.

»Was gibt's?«

»Ich lese hier eben, daß Friedrich von Leyden gestorben ist.«

»Ein Verwandter von dir?«

»Ja, so über sieben Dörfer hinweg. Ein Vetter meines Vaters. Übrigens ein Naturwunder.«

»Wieso?«

»Der einzige Leyden, der Geld hat, Geld und einen herrlichen Grundbesitz in Thüringen. So hörte ich von meinem Vater.«

»Etwa eine Art Erbonkel? Dann gratuliere ich.«

»Nicht nötig. Er ist zwar unverheiratet und ohne Leibeserben. Indes hat meine ganze Verwandtschaft vor Anbetung fast auf dem Bauche vor ihm gelegen. Ein widerliches Treiben. Mein Vater hat sich stets von ihm zurückgehalten, der war gottlob zu ehrlich zum Erbschleicher. Friedrich von Leyden pochte auf seinen Reichtum und war der unliebenswürdigste, kratzbürstigste Mensch, den man sich denken kann.«

Rippach hatte seine Zeitung weggelegt und sah Leyden interessiert an.

»Hast du ihn gekannt?«

»Ein einziges Mal bin ich mit ihm zusammengetroffen. Das ist aber schon sehr lange her. Ich war damals noch auf dem Gymnasium. Die Familie Leyden hatte nämlich aus irgendeiner Veranlassung einen sogenannten Familientag einberufen. Dazu hatten sie meinen Vater auch stark genötigt. Dieser unternahm gerade zu derselben Zeit mit mir eine Fußtour durch Thüringen. Der Familientag war, jedenfalls dem reichen Leyden zu Gefallen, in die seinem Gute nächstgelegenste Stadt verlegt worden. So konnte mein Vater ohne Mühe dabei sein. Und ich wurde mitgenommen und kam mir ungeheuer wichtig vor. Wer weiß, was ich mir unter so einem Familientag gedacht habe. Jedenfalls etwas Welterschütterndes. Ich fand jedoch nur eine Anzahl Menschen von sehr uninteressantem Aussehen, die sich alle riesig um einen Menschen bemühten, der mich sehr interessierte. Das war der bewußte Friedrich von Leyden. Mein Vater hatte mir unterwegs erzählt, daß dieser seinen Freund im Duell erschossen hatte vor langen Jahren. Na, kannst dir ja denken, daß ich ihn ansah mit einem Gefühl, aus Grauen und Bewunderung gemischt.«

»Kann ich mir sehr gut vorstellen. Aber erzähle weiter, das interessiert mich.«

»Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Mein Vater hielt sich sehr abseits von diesem Reigen um das goldene Kalb. Und ich begriff nicht, warum sich alle die Menschen von Friedrich von Leyden so schlecht und verächtlich behandeln ließen, habe wohl auch recht finstere Blicke zu ihm hinübergeworfen. Irgend etwas muß ihn aufmerksam auf uns gemacht haben. Er schob plötzlich energisch all die andern von sich und trat auf uns zu. Ich sah ihm gespannt entgegen und ballte die Hände in den Taschen. Wollte er etwa auch mit uns so umspringen? Ich sah ihn fest und kampfesmutig an. Ein leises Lächeln glitt über seine finsteren Züge, und seine Augen bohrten sich in die meinen. Mir wurde unter diesen durchdringenden Augen gar nicht wohl, aber ich hielt seinen Blick aus. Dann wandte er sich zu meinem Vater und reichte ihm die Hand.

»›Du bist Adolf von Leyden, und das ist dein einziger Lohn Armin?‹

»›So ist es,‹ sagte mein Vater und legte seine Hand nur flüchtig in die des reichen Vetters.

»›Warum begrüßest du mich nicht auch so freundlich wie die da?‹

»Er zeigte auf die übrigen. Mein Vater zuckte die Achseln.

»›Ich bin zu ehrlich, um dir mehr Freundschaft zu heucheln, als ich empfinde.‹

»›Also du bist mir nicht freundlich gesinnt?‹

»›Ich kenne dich zu wenig.‹

»›Ja, du besuchst mich nie. All die andern kommen oft. Du niemals.‹

»›Ich habe als Arzt wenig freie Zeit – und was soll ich bei dir?‹

»Da lachte Friedrich spöttisch, aber voll Bitterkeit.

»›Ein bißchen erbschleichen, wie die andern auch.‹

»Mein Vater sah ihn ernst an.

»›Du kennst mich nicht, sonst würdest du so nicht reden. Ich habe es nicht nötig, mich zu demütigen, und täte es auch nicht, wenn ich's nötig hätte.‹

»›Ah, du bist selbst vermögend?‹

»›Nein, aber ich verdiene als Arzt, was ich brauche, um meine Familie zu ernähren.‹

»›Aber du hast einen Sohn, tätest du es auch nicht für ihn?‹

»›Der wird sich seinen Platz im Leben auf ehrliche Weise schaffen wie sein Vater. Davor ist mir nicht bange.‹

»Friedrich von Leyden sah meinen Vater lange durchdringend an, dann mich in gleicher Weise. Schließlich legte er mir die Hand auf den Kopf.

»›So – meinst du?‹ fragte er langsam.

»Ich schüttelte im Knabenungestüm seine Hand ab und sah ihn trotzig an.

»›Laß mich, ich mag dich nicht, du sollst meinen Vater in Ruhe lassen!‹ rief ich laut.

»Da lachte er in sich hinein und sah die andern an, die sich unser abweisendes Verhalten zunutze machten und ihn doppelt umschmeichelten. Er hat uns kein Wort und keinen Blick mehr gegönnt, wir waren wohl gründlich in Ungnade gefallen.

»Mein Vater sah sich das Treiben nicht lange mehr mit an. wir entfernten uns bald. Unterwegs machte ich meinem Unmut über Friedrich von Leyden Luft. Da sagte mein Vater: ›Sei still, Armin, schilt ihn nicht. Er ist ein armer, beklagenswerter Mensch, trotz seines Reichtums.‹

»Ich vergaß ihn lange nicht. Manches Wort, das meine Eltern über sein Schicksal verloren, hielt mein Interesse an ihm wach. Seit ich von zu Hause fort bin, hörte ich nichts mehr von ihm, bis ich eben seine Todesanzeige las.«

Rippach sah nachdenklich aus.

»Da bin ich doch nun neugierig, wen er zum Erben eingesetzt hat. vielleicht fällt doch ein Teil auf dich.«

Armin lachte herzlich.

»Der Wunsch ist der Vater des Gedankens, weil du es in deiner Freundschaft für mich wünschest, hältst du es für möglich. Darüber kannst du ruhig schlafen. Er wird uns die schnöde Abweisung nicht vergessen haben. Nun sei so gut und laß mich mit dem Thema zufrieden. Zu viel sprachen wir schon davon.«

»Also dann ein ander Bild, was tun wir heute abend?«

»Weiß nicht. Gib mal die Zeitung her!«

Armin durchblätterte die Zeitung.

»Opernhaus: Carmen. Da gibt es keine Einlaßkarten mehr. Schauspielhaus: Schwur der Treue. Danke, nichts für uns. Deutsches, Lessing-, Berliner-Theater: dasselbe. Römische Oper: Hoffmanns Erzählungen – das wäre etwas, wollen wir?«

»Hm. Einverstanden.«

Sie zahlten und gingen. Unter den Linden war reger Verkehr. Die kaiserliche Familie wurde von einer Ausfahrt zurückerwartet. Da stauten sich die Menschen.

Als die Freunde bis zu Schulte gekommen waren, sahen sie einen dichten Menschenknäuel vor dem Kunstinstitut stehen um ein Automobil vom Hofe. Gleich darauf kam der Kronprinz mit seinen drei Brüdern heraus von Schulte. Nur Prinz Adalbert fehlte, der zurzeit im Süden weilte.

Lachend und freundlich für die Grüße dankend, stiegen die Söhne des Kaisers in das Automobil. Es war sehr klein, sie mußten eng zusammenrücken, fast aufeinander sitzen. Das machte ihnen Spaß und dem angesammelten Volke auch.

Endlich fuhr das Automobil davon. Gleich darauf fuhr auch des Kaisers Automobil über die Linden. Die beiden Majestäten und Prinzeß Viktoria saßen darin.

Equipagen und Droschken jagten hintereinander her. Dazwischen Automobile und andere Fahrzeuge. Auf dem breiten Gehweg schoben die Menschen auf und ab. Verkäufer von Zeitungen und großen Büscheln Veilchen boten ihre Waren an. Es war ein buntes, bewegtes Bild. Leyden und Rippach hatten viel zu grüßen, sprachen auch zuweilen einige Worte mit diesem und jenem Bekannten. Schließlich nahmen sie einen davon ins Schlepptau, der seinen Abend noch nicht untergebracht hatte. Es war ein junger Offizier, Otto von Sanden.

Mit diesem zusammen suchten sie später das Theater auf.

*

Einige Tage später saß Leyden beim Frühkaffee, ehe er ins Amt ging. Seine Wirtin brachte ihm einige Briefe und Drucksachen, die er während des Frühstücks durchsah.

Es war nichts von Bedeutung darunter. Er legte alles schnell beiseite. Nur auf dem letzten Brief ruhte sein Blick länger, trotzdem er nur wenig Worte enthielt.

 

»Sehr geehrter Herr von Leiden!

In einer dringenden Angelegenheit habe ich mit Ihnen zu verhandeln. Wenn Sie nicht anders bestimmen, werde ich heute nachmittag um drei Uhr in Ihrer Wohnung sein, hochachtungsvoll

Heinrich Beckmann, Rechtsanwalt.«

 

Armin schüttelte verwundert den Kopf.

»Kenne ich nicht, diesen Herrn Beckmann. Was gibt er denn für eine Adresse an? Ah hier, Hotel Kaiserhof! Hm! Also um drei Uhr. Das läßt sich machen. Erwarten wir demnach diesen Herrn Rechtsanwalt, wahrscheinlich irgendeine amtliche Sache mit privatem Anhang.« So dachte er.

Ruhig beendete er sein Frühstück und ging. – –

Schon vor drei Uhr betrat er seine Wohnung, und pünktlich stellte sich Rechtsanwalt Beckmann bei ihm ein.

Armin lud ihn zum Sitzen ein, nahm ihm gegenüber Platz und fragte artig:

»Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« Beckmann entnahm seiner Brusttasche ein Schriftstück.

»Bitte, Herr von Leyden, wollen Sie dieses Schriftstück durchsehen. Es ist die Abschrift eines Testaments meines Auftraggebers, Friedrich von Leyden.«

Armin nahm das Papier mit zögerndem Staunen.

»Sie sind beauftragt, mir dies Schriftstück zu überbringen?«

»Ja, von dem Verstorbenen selbst. Aber bitte, nehmen Sie Einsicht, ehe wir weitersprechen.«

Armin las zögernd, mit einiger Befangenheit. Sein Gesicht verriet beim Lesen das ungläubigste Staunen, und plötzlich sprang er auf.

»Herr, das ist ein schlechter Scherz!« rief er zornig.

Beckmann lächelte.

»Es ist Ernst und volle Wahrheit, Herr von Leyden,« sagte er nachdrücklich.

Armin strich sich durch das dunkle Haar, lief einige Male hin und her und blieb dann wieder vor Beckmann stehen.

»Ich kann das nicht fassen, nicht glauben. Mich soll Friedrich von Leyden zum Erben seines Besitzes und seines Vermögens eingesetzt haben, mich allein? Warum gerade mich? Ich habe ihm doch nie nahe gestanden.«

»Darüber wird Ihnen am besten ein Schreiben Auskunft geben, welches der Erblasser mir für Sie übergeben hat. Ehe ich Ihnen dasselbe ausliefere, bitte ich Sie, von diesem Testamentsanhang Kenntnis zu nehmen, der eine Bestimmung enthält, die mit dem Testament im Zusammenhang steht.«

Damit überreichte er Armin ein zweites Schriftstück.

Mit unruhiger Hand öffnete es dieser und las es durch. Er schüttelte wieder den Kopf.

»Sie haben doch mit Herrn von Leyden persönlich verkehrt, mein Herr?«

»Gewiß, sehr oft.«

»Haben Sie ihn für geistig normal gehalten? verzeihen Sie die Frage, aber all das kommt mir so sonderbar vor.«

»Herr von Leyden ist bis zu seinem Tode geistig klar gewesen. Er war einer der klügsten Männer, die mir im Leben begegnet sind, trotz seiner stark ausgeprägten Menschenfeindlichkeit. Die hatte wohl ihren Grund in trüben Erlebnissen des verstorbenen, übrigens ist das Testament bereits vor fünfzehn Jahren entstanden, nur erneuert und mit einem Anhang versehen worden in den letzten Tagen, bevor der verstorbene ganz ans Bett gefesselt war.«

Armin war noch immer fassungslos.

»So soll ich das wirklich glauben? Ich wäre demnach der Besitzer Burgwerbens und des großen Barvermögens?«

»Mit Ausnahme einiger kleinerer Legate. So ist es.«

»Und alle die andern Verwandten sollen leer ausgehen?«

Beckmann lächelte.

»Doch nicht ganz. Jeder dieser Herrschaften bekommt zweitausend Mark ausgezahlt, sofern er sich verpflichtet, Schloß Burgwerben und dessen nächste Umgebung nie mehr zu betreten. Außerdem erhält der Inspektor Hermann Scheveking für treue Dienste fünftausend Mark, Mamsell Emilie Wunderlich und der Diener Karl Dillenberger aus gleichem Anlaß je dreitausend Mark. Die drei letztgenannten Personen sollen außerdem bis an ihr Lebensende auf Schloß Burgwerben eine Freistatt erhalten. Alles andere gehört nach der letztwilligen und unanfechtbaren Bestimmung des Erblassers Ihnen, sofern Sie sich der Bedingung unterziehen, die Herr von Leyden in dem Testamentsanhang bestimmte. Wenn Sie die Erbschaft antreten wollen, müssen Sie sich also verpflichten, sich innerhalb eines Jahres zu verheiraten. Der letzte Termin zur Eingehung einer Ehe würde für Sie also der dreißigste März nächsten Jahres sein.«

Armin hielt sich den Kopf fest.

»Verzeihen Sie, ich bin so überrascht, so fassungslos – ich kann mich jetzt noch gar nicht entscheiden.«

»Ist auch nicht nötig, Herr von Leyden, Sie haben Zeit, sich alles klarzulegen. Ich lasse Ihnen die Abschrift hier, ebenso den Brief des Verstorbenen. Wenn Sie meiner bedürfen, bitte ich um Nachricht oder um Ihren Besuch.«

Armin atmete tief auf.

»Bleiben Sie noch in Berlin, Herr Rechtsanwalt?«

»Nein, ich reise heute noch zurück, da ich Geschäfte zu erledigen habe.«

»Dann werde ich Ihnen also schriftlich Bescheid zugehen lassen.«

»Ich bitte darum.«

Beckmann erhob sich und verabschiedete sich mit einem Händedruck von dem jungen Mann.

Dieser sank, als er allein war, in einen Sessel und sah starr vor sich hin. wie ein törichter Traum erschien ihm das alles. Er brauchte lange, um sich den ganzen Sachverhalt klarzulegen. Und über allem stand die Frage: »Warum bin ich, gerade ich, zum Erben bestimmt?«

Erst nachdem er sich den Kopf zergrübelt hatte, fiel ihm der Brief ein, der ihm von Beckmann übergeben worden war. Vielleicht brachte ihm dieser Aufklärung oder wenigstens einen Hinweis.

Er nahm ihn zur Hand und öffnete ihn. Die Blätter, die er dem Umschlag entnahm, waren mit großen, steilen Buchstaben dicht bedeckt. Armin faltete die Blätter auseinander und begann zu lesen:

 

»Lieber Armin! Du wirst überrascht sein, daß ich Dich zum Erben über mein Hab und Gut eingesetzt habe. Auch wirst Du erstaunt sein über die Bedingung, die ich meinem Testament hinzugefügt habe. Ich, der ich ehelos geblieben bin, verlange von Dir, daß Du Dich innerhalb eines Jahres verheiraten sollst. Du könntest denken, es sei eine unvernünftige Schrulle von mir, eine jener Sonderlingslaunen, die man mir in Menge andichtet. Es ist aber nicht so, ich habe mir alles reiflich überlegt und es so für gut befunden.

Ich fühle, daß ich nicht mehr lange zu leben habe, und das Verlangen, einem einzigen Menschen mein Inneres zu enthüllen, hat von mir Besitz genommen. Deinem Vater hätte ich lieber gebeichtet, denn er war älter und erfahrener als Du und hätte mich vielleicht besser verstanden. Aber er ist vor mir dahingegangen, und das Erbe, welches ich zuerst ihm bestimmt, geht nun auf Dich über. So nimm Du auch meine Beichte entgegen. Ich weiß, daß Du jetzt eine trübe Erfahrung in Herzensangelegenheiten hattest, das wird Dich, trotz Deiner Jugend, fähig machen, mich zu verstehen.

Ich habe in meinem Leben viel unter Falschheit, Gemeinheit und Heuchelei leiden müssen, habe schwere Schuld auch auf mein Gewissen geladen. Das alles hat mich verbittert und elend gemacht und die Freude aus meinem Dasein gestrichen.

Nach einer sonnigen Kindheit auf Schloß Burgwerben, wo ich von meinen Eltern nur Liebes und Gutes erfuhr, trieb es mich hinaus in die große Welt In stürmischem Drang genoß ich mein Leben – bis eine tiefe und reine Liebe mein ganzes Wesen verwandelte. Ich habe mich nie in kleinen Gefühlen verzettelt, deshalb umfaßte mein Herz die geliebte Frau mit gewaltiger, großer Leidenschaft. Und als ich erfuhr, daß ich wiedergeliebt wurde – da wußte ich nicht, wohin mit aller Seligkeit. Drei Monate überschwenglichster Glückseligkeit waren mir beschieden. Damals hielt ich mich für den beneidenswertesten Menschen, denn auch einen Freund hatte mir das Schicksal beschert, der mein Glück teilend mehrte. Ich empfand es kaum, daß ich meine Eltern damals verlor, denn alles ersetzte mir die Geliebte und der Freund. Und weil sie mir alles waren, wurde ich bettelarm, als ich beide verlor in einer einzigen Minute. Das Weib, welches ich anbetete, war eine Dirne, die auch den Freund in ihre Netze gelockt hatte und mich mit ihm verriet. Ich fand sie in seinen Armen – und schoß ihn nieder. Sterbend bat er mich um Verzeihung und beschwor mich, nicht als Mörder mich den Gerichten zu stellen. In seine erkaltende Hand legte ich die meine und schwor, mich nicht selbst anzuzeigen. Er erklärte vor Zeugen, daß wir uns im Duell gegenübergestanden und er dabei verwundet worden war.

Ich hatte nur zu gut getroffen, er starb.

Jenes Weib war entflohen – ich habe es nie wiedergesehen.

Nachdem ich meine Festungshaft verbüßt, kehrte ich nach Burgwerben zurück – und wurde ein Sonderling.

Unsere gemeinsamen verwandten hatten kaum vernommen, daß ich unverheiratet bleiben wollte, da kamen sie und machten mir das Leben schwer. Sie umschmeichelten mich, entkleideten sich aller Würde in meinen Augen und verleumdeten aus Habgier einander. Es war ein ekelhaftes Schauspiel. – Da wurde ich vollends zum Menschenfeind. Und nun komme ich zu Dir. Du erinnerst Dich vielleicht nicht mehr jenes Leydenschen Familientages, da wir uns das erste- und letztemal im Leben begegneten. Du und Dein Vater, Ihr fielet mir auf. Ich sah, Ihr wäret anders geartet als die andern. Als ich mit Euch sprach und Euch ins Herz sah, – das Leid hatte mein Auge geschärft, – da erkannte ich in Euch beiden ehrliche Menschen. Und an jenem Tage beschloß ich, Euch beide als meine Erben einzusetzen.

Mit Deinem Vater hätte ich gern Freundschaft geschlossen, er hatte etwas in den Augen, was mich zu ihm zog – aber ich versagte es mir, um einen Freund zu werben, hatte ich doch das Blut des Freundes vergossen.

So bin ich einsam geblieben, mein schönes Burgwerben umschloß mich wie einen lebendig Begrabenen. Manchmal brannte die Sehnsucht in mir, Dich zu mir zu holen. Du solltest Dir ein Weib nehmen, fröhliche Kinder sollten durch die stillen Gemächer tollen, und ich wollte daran mein Herz erlaben. Aber ich tat es nicht – Buße war mein ganzes Leben.

Aus der Ferne habe ich Dich beobachten lassen. Ich weiß, daß Du ein Mensch nach meinem Sinn geblieben bist, weiß, daß Du Dich ehrlich auch durch schwere Zeiten schlugst, und daß ich dabei eine stille Freude empfinden konnte, danke ich Dir. Ich weiß auch, daß Dir vor kurzem ein Weib Wunden schlug. Eines Wortes hätte es bedurft, und Du hättest als mein Erbe bei jenem Mädchen willig Gehör gefunden. Aber man berichtete mir, daß es eine herzlose Kokette war, die Dich noch unglücklicher gemacht hätte, wenn sie Dein Weib geworden wäre. So wurde sie eines andern Gattin, und Du wähnst jetzt, daß Du sie nie vergessen kannst. Deshalb bestimme ich, daß Du in Jahresfrist heiraten sollst, denn ich will nicht, daß mein Nachfolger auf Burgwerben auch einsam sein soll wie ich. Es ist ein grenzenloses Elend, ohne Weib und Kind alt zu werden, glaub mir das. Jetzt, wo Dein Herz noch an der Treulosen hängt, wirst Du leidenschaftslos und vernünftig Dir ein Weib erwählen, die als Dein Freund, als Dein treuer Kamerad das Leben mit Dir teilt, die Dir Kinder schenkt und Deinem Leben Segen gibt. Nun wirst Du alles verstehen, und ich glaube, Du wirst nun nicht mehr meine Hand von Dir stoßen wie damals als trotziges Bürschlein. Du wirst nicht mehr denken: ›Ich mag dich nicht,‹ sondern: ›Ich beklage dich, Friedrich von Leyden‹.

Und wenn ich Dich erfreut habe damit, daß ich Dich zu meinem Erben machte, so erfüll auch meinen Wunsch und suche Dir eine ehrliche, gesunde Frau und sorge, daß ein ehrlich Geschlecht in Burgwerben ersteht.

Zum Schluß laß Dir noch meinen alten Inspektor Hermann Scheveking empfehlen. Er ist trotz seines rauhen Äußern ein ehrlicher Mann und wird Dich gern unterstützen, bis Du selbst ein tüchtiger Gutsherr geworden bist. Er liebt Burgwerben, als wäre es sein eigen. Auch meinen alten Diener Dillenberger empfehle ich Dir warm. Zuletzt noch Mamsell Wunderlich, die zwar ihren Namen mit Recht führt, aber eine sehr brauchbare und ehrliche Person ist.

Und daß ich Dir mit einiger Bosheit die lieben Verwandten vom Halse halte, laß Dir lieb sein – ich mag das Geschmeiß nicht über meinem Kopf herumlaufen lassen, wenn ich unter der Erde liege.

Dir aber wünsche ich, daß Du Deine Tage glücklicher in dem alten, lieben Schlosse verbringst als Dein unglücklicher Vorgänger

Friedrich von Leyden.«

 

Lange saß Armin unbeweglich und sah vor sich hin, nachdem er zu Ende gelesen hatte. Tiefe Ergriffenheit malte sich in seinen Zügen. Das ganze freudlose Leben des alten Mannes zog an ihm vorüber. Das Herz tat ihm weh vor Mitleid. Und eigner Schmerz mischte sich unter fremdes Leid. Wahrlich – er verstand den Unglücklichen nur zu gut.

Wie arm, wie bettelarm war dieser Mann trotz seines Reichtums gewesen! Tiefer und tiefer spann sich Armin in seine Gedanken ein. Daß er so bald heiraten sollte, war ihm sehr unangenehm, und doch griffen ihm Friedrich von Leydens mahnende, warme Worte ans Herz. Er hatte es gut mit ihm gemeint, wollte ihn behüten vor gleich einsamem Geschick. Jedenfalls übte er nur aus Herzensgüte diesen Zwang auf ihn aus.

Wie sehr hatte er diesen Mann verkannt! Er bat ihm in Gedanken das Unrecht ab und nahm sich vor, den Wunsch des Verstorbenen zu erfüllen. Es würde sich ja eine Frau finden lassen, mit der er in ruhiger Sympathie eine Ehe eingehen konnte. So wie Alexandra konnte er nie mehr ein Weib lieben, aber es gab Ehen genug, die ohne dies Himmelhochjauchzen zustande kamen. Und es waren nicht immer die schlechtesten.

*

»Mensch, Glückspilz, Allerweltskerl – das ist ja – Herrgott – was stell ich nur mit dir an vor lauter Freude! Also wirklich Universalerbe – na – hab ich's nicht gleich geahnt, daß da für dich etwas abfiele? Freilich, so viel dachte ich nicht. Ich muß dich umarmen, Armin – es geht nicht anders, ich freue mich zu sehr.«

Mit diesen Worten und dem Ausdruck herzlichster Freude nahm Hans von Rippach die Nachricht auf von der Erbschaft Leydens. Und als er die näheren Umstände vernahm, wurde er noch vergnügter.

»Famos, ganz famos, du mußt heiraten, mein Junge! Das hat der Alte großartig gemacht! Darauf bringe ich ihm einen Ganzen! Na, du – das wird die schöne Alexandra ärgern; hätte so schön Schloßherrin werden können und muß nun simple Bankiersfrau bleiben! Das gönne ich ihr, weiß Gott! Na ja – mach nur kein Gesicht, ich bin ja schon still. Du, da wollen wir doch gleich mal Umschau halten unter den Töchtern des Landes. Soll ich dich mit einer meiner Cousinen verkuppeln? Nein – nicht dein Genre, sind zu klein, zu sehr Nippes? Ja, ein bißchen groß und rank und schlank muß sie sein, na, laß mich nur machen, ich suche schon was hübsches, Liebes aus.«

Armin legte ihm die Hand auf den Arm und sagte lächelnd:

»Ich soll doch heiraten.«

»Natürlich du – meinetwegen brauche ich mich nicht zu bemühen, du weißt doch, daß ich halb und halb vergeben bin.«

»Wenigstens, daß du halb und halb verliebt warst diesen Winter. Seit die Bälle zu Ende sind, schienst du mir abgekühlt.«

»Der Schein trügt. Ich will mich nur nicht übereilen. Man muß da sehr vorsichtig zu Werke gehen.«

»Bis dir ein anderer zuvorkommt. Auf was wartest du noch?«

»Erstens auf dich – so eine Doppelhochzeit ist riesig romantisch – und ich bin nun mal romantisch veranlagt.«

»Ach nein! Seit wann denn?«

»Seit ich liebe, du Kamel.«

»Danke. Und dann zweitens also?«

»Zweitens ist meine Herzdame, wie du weißt, noch sehr jung. Sie wurde diesen Winter das erstemal ausgeführt. Da ist natürlich der erste schneidige Tänzer das erkorene Ideal. Es will also gar nichts sagen, daß sie mich auszeichnete.«

»Also hältst du dich für einen schneidigen Tänzer?« neckte Armin.

»Tue ich, und mit Recht. Aber bitte, unterbrich mich nicht immer. Ich lasse also der Kleinen Zeit, sich zu besinnen, ob sie mich wirklich gern hat. Ist sie bis nächsten Winter noch nicht von ihrer Vorliebe für mich kuriert, dann – na, das übrige weißt du ja.«

»Schön, also werde ich auch bis nächsten Winter warten. Jetzt gleich ist es ja nicht nötig, daß ich mich verheirate, ein Jahr der Freiheit bleibt mir noch, wenn mir also nicht etwas sehr passendes in den Weg läuft, warte ich auf dich.«

»Ist mir auch recht, was gedenkst du nun aber zu tun? willst du wirklich umsatteln und deinen Kohl selber bauen?«

»Ja. Ich habe immer viel für die Landwirtschaft übrig gehabt. Ich hänge den Juristen an den Nagel und werde Krautjunker.«

»Und willst das ganze Jahr in Burgwerben leben?«

»Im Winter kann man ja zur Abwechslung Großstadtluft schnappen. Und damit ich nicht versaure, verbringst du die Sommerferien bei mir. Burgwerben soll im herrlichsten Teil Thüringens liegen und sehr schön sein.«

»Wann gedenkst du denn deinen Einzug dort zu halten?«

»Sobald ich mich hier von allen Verpflichtungen freigemacht habe. Ich habe Rechtsanwalt Beckmann bereits in diesem Sinne geschrieben.«

»Hm! Na, dann läßt sich nichts dagegen einwenden, und wir könnten ja wohl nun dieses freudige Ereignis mit einer Pulle Sekt begießen.«

»Einverstanden – es dürfen auch zwei sein, weißt du, Hans, was mir jetzt brennend leid tut?«

»Nun?«

»Daß meine Mutter das nicht erlebt hat. – Mein Vater hatte sich wohl auch gefreut – aber ihm galt stets der Mensch mehr als der Besitz. Aber mein kleines, sorgenvolles Mütterchen, – lieber Himmel, – die hätte vor Freude nicht gewußt, wo aus, wo ein!«

Er hatte ganz feuchte Augen, als er das sagte, und Hans drückte ihm stumm die Hand. –

Dann verließen die beiden Freunde Rippachs Wohnung, wo dieses Gespräch stattgefunden hatte, und bummelten durch die belebten Straßen nach einem Weinlokal Unter den Linden.

*

Ein gesundes, ehrliches Geschöpf, mit sanftem Charakter und gütigem Herzen – ob es so etwas gab für ihn? Schön brauchte sie nicht zu sein, aber anmutig und sympathisch. Auch Verstand mußte sie besitzen, natürliche Klugheit. Auf Brillantfeuerwerk von Geistesblitzen legte er keinen Wert. Aber schöne Hände mußte sie haben, auch gesunde Zähne und klare, gute Augen. So malte sich Armin das Bild seiner künftigen Frau aus. Diese Vorzüge mußte sie besitzen, das war unerläßlich, denn er hatte ästhetisches Feingefühl und hätte unmöglich mit einer Frau leben können, die dies Empfinden durch ihr Äußeres oder durch ihr Benehmen verletzte.

Es waren fast zwei Monate seit dem Tode Friedrich von Leydens verstrichen. Inzwischen hatte Armin alle seine Verbindungen gelöst, seine Sachen gepackt, und morgen früh wollte er Berlin verlassen. Zuerst würde er Beckmann aufsuchen in dem kleinen Thüringer Städtchen, in welchem jener Familientag abgehalten worden war. Von dort sollte ihn ein Wagen in Gesellschaft des Rechtsanwalts nach Schloß Burgwerben bringen. So hatte er es mit diesem vereinbart.

Es war alles zu seiner Abreise vorbereitet. Der heutige Abend galt dem Abschied von dem Freunde.

Hans von Rippach holte Armin aus seiner Wohnung ab. Es war ein herrlicher Maienabend, lind, still und duftig. Selbst im Großstadtgetriebe machte sich sein Zauber geltend. Die Damen prangten in Frühlingstoiletten und trugen Blumen in den Händen. Im Tiergarten begann es grün zu werden, der Sommer schickte seine Vorboten aus.

Mit offenen Augen nahm Armin dies alles in sich auf. Und daneben freute er sich auf Burgwerben. Mußte das schön sein, all das Blühen und Gedeihen ringsum zu beobachten! Er liebte die Natur und hatte immer einen offenen Sinn für ihre Schönheiten gehabt. Nun sollte er so ein schönes, gesegnetes Stück Erde sein eigen nennen, sollte es bebauen und im Herbst den goldenen Segen einheimsen! Ganz fromm und andächtig wurde ihm zu Sinn, und immer mußte er an seine Mutter denken. Die hatte daheim vor dem kleinen Doktorhaus ein Gärtchen gehabt. Darinnen hatte er als Bub mit säen und pflanzen helfen dürfen, wenn die nun jetzt mit ihm ziehen könnte auf das große, schöne Gut! – Er seufzte. Vollkommen war kein Glück auf Erden.

Rippach war auch stiller als sonst. Der Abschied von Armin fiel ihm schwer. Er verbrach ab und zu einen etwas gewaltsamen Kalauer, um sich der wehleidigen Stimmung zu erwehren. Das half aber nur im Augenblick.

So verlief der Abend sehr still. Die Freunde trennten sich zeitig, denn Armin mußte am nächsten Morgen früh heraus. Rippach wollte ihm das Geleit zum Bahnhof geben. – –

Als die beiden Freunde am Anhalter Bahnhof vorfuhren, begegnete ihnen ein Wagen, der offenbar Passagiere abgeholt hatte. Zufällig warf Armin einen Blick hinein und zuckle zusammen. Sein Gesicht wurde blaß. Rippach folgte seinem Blick und sah noch einen Augenblick ein schönes, von rotgoldenem Haar umrahmtes Frauengesicht. Solches haar hatte nur Alexandra Wendhoven.

Er legte seine Hand auf Armins Arm und sah ihm besorgt ins Gesicht.

»Die mußte auch gerade noch deinen Weg kreuzen,« sagte er ärgerlich.

»Laß gut sein, Hans – ich sehe sie ja nun so bald nicht wieder.«

»Gott sei Dank! Das hilft mir etwas über den Trennungsschmerz hinweg. An deinem Schreck habe ich erkannt, daß du noch immer nicht damit fertig bist.«

»Doch, die Wunde ist geheilt – aber sie verträgt noch keine Berührung.«

Zehn Minuten später setzte sich der Zug, welcher Armin entführte, langsam in Bewegung. Noch ein fester Händedruck, ein tiefer Blick, und die Freunde waren getrennt.

*

Eva Marie Delius saß in dem kleinen, freundlichen Wohnzimmer am Fenster und schaute hinaus. Ihre großen blauen Augen, die mit klarem, gütigem Ausdruck aus dem lieblichen Gesicht heraussahen, schweiften ins Weite. Die schlanke, aber jugendlich kraftvolle Gestalt lehnte lässig im Sessel, und die schlanken Hände, feine, beseelte Frauenhände, ruhten in plastischer Schönheit auf den schmalen Armlehnen des Möbels.

Sie bot ein anmutiges Bild blühender Jugend.

Damit in seltsamem Gegensatz war die schlichte Trauerkleidung und der wehe Zug um den feingeschnittenen Mund, der ihrem jungen Gesicht ein reiferes Gepräge gab.

Draußen grünte und blühte die schöne, lachende Gotteswelt, durch das offene Fenster wehte köstlich würzige Luft. Still war es ringsum. Auf der Landstraße, die zwischen dem Eisenbahndamm und dem Garten lag, der das Haus umschloß, war kein lebendes Wesen zu sehen. Aber im Hause wurde es jetzt laut, eine schrille Frauenstimme schalt, Türen wurden heftig zugeschlagen und dann die Tür zum Wohnzimmer aufgerissen. Eva Marie war emporgezuckt, und ihre Augen richteten sich mit peinvollem Ausdruck auf die eintretende Stiefmutter. Diese bot einen sehr unerfreulichen Anblick. Wohl zeigte das fette, verschwommene Gesicht noch Spuren einstiger Schönheit, aber die dicke Puderschicht, welche darauf lag und die starke Röte in ein häßliches Blaurot verwandelte, machte es direkt widerlich. Frau Professor Delius schien trotzdem noch immer sehr gefallsüchtig zu sein. Ihre eng zusammengepreßte Taille, die mehr denn geniale Frisur, welche deutlich genug den falschen Aufbau verriet, die auffallend jugendliche Form ihrer Trauerkleidung, alles dies deutete daraufhin. Sie konnte nicht vergessen, daß sie einst schön gewesen war, und im ängstlichen Bestreben, diese Schönheit auch jetzt noch vorzutäuschen, machte sie sich selbst zum Zerrbild, zur Karikatur.

»Du sitzest hier und legst die Hände in den Schoß, Eva Marie! Ich muß mich mit diesem ungeschickten Bauernmädel herumärgern, und meine Nerven versagen mir den Dienst. O mein Gott – ich bin elend zum Sterben!«

Damit ließ sie sich ächzend und stöhnend in einen Sessel fallen und warf anklagende Blicke aus den verschwommenen Augen auf die Stieftochter.

Eva Marie erhob sich und strich mit einer müden Bewegung das dichte, nußbraune Haar aus der Stirn.

»Du solltest dich nicht über jede Kleinigkeit aufregen, Mama.«

Diese lachte höhnisch.

»Ja, wenn man deine olympische Ruhe besäße. Kleinigkeit – bei uns ist ja, Gott sei's geklagt, alles Kleinigkeit, wer mir das an meiner Wiege gesungen hätte!«

Frau Delius liebte solche Ausdrücke. Ihre Wiege hatte zwar in einer viel ärmlicheren Umgebung gestanden, als das kleine Landhaus war. Gesungen hatte ihr überhaupt niemand etwas an ihrer Wiege, dazu hatten Vater und Mutter keine Zeit. Trotzdem glaubte die Dame selbst daran, daß sie zu einem glänzenderen Geschick geboren worden war. Als sie Professor Delius als armes Ladenmädchen hatte kennen lernen und sie zu seiner Frau machte, stieg ihr der Glanz zu Kopf. Sie warf das Geld mit vollen Händen hinaus, das ihr der schwache und blind verliebte Gatte immer wieder gab. Ihre Toiletten verschlangen Unsummen, und eine Equipage mußte angeschafft werden. Sie wollte glänzen und gefallen, wollte beneidet werden. So führte sie den Ruin herbei, und nun war mit der Schönheit auch der Glanz entflohen. Das betrachtete sie aber als ein unverdientes und grausames Geschick. Daß ihr Mann und ihre Stieftochter unter den ungünstigen Verhältnissen ebenfalls zu leiden hatten, galt ihr nichts. Nur sie selbst kam sich bedauernswert vor. Ja – wenn sie ihre Jugend und Schönheit noch besessen hätte, dann hätte sie doch noch einen Wechsel auf die Zukunft gehabt. Aber so – was blieb ihr da noch vom Leben?

Eva Marie kannte diese Klagelieder zur Genüge.

Sie ließ sie vollständig unberücksichtigt.

»Du mußt mehr Geduld mit Mina haben, Mama. Sie hat wirklich den guten Willen, alles gut zu machen, sie ist nur noch zu jung und unbeholfen.«

»Das ist ja das Elend. Glaubst du, sie kann mir eine Bluse ordentlich schließen oder meine Stiefel richtig zuschnüren? Da, sieh dir das an! Erst waren sie viel zu fest, nun sieht es aus, als ob ich Elefantenfüße hätte. Ich mit meinen kleinen Füßen, die einen Dichter begeistert haben!«

In Eva Maries Gesicht zuckte es.

»Laß mich versuchen, ob es mir besser gelingt, ich hab dir doch schon oft angeboten, dir bei der Toilette zu helfen.«

Frau Delius zog schnell den vorgestreckten Fuß wieder zurück.

»Nein – laß nur. Es würde wohl dann heißen, ich erniedrige meine Stieftochter zur Kammerzofe. Als Stiefmutter wird man schon so genug bekrittelt.«

Im Grunde hätte sie Eva Marie sehr gern dieses Amt zuerteilt, ihrer geschickten Hände und des vornehmen Geschmackes wegen. Sie wollte nur nicht, daß diese hinter ihre zahlreichen Toilettengeheimnisse kam, das wäre ihr doch unangenehm gewesen.

Das junge Mädchen trat zurück und wollte das Zimmer verlassen.

»Wo willst du hin, Eva Marie?«

»In den Wald, es ist so schön draußen.«

»Ja – lauf du nur sorglos draußen herum und laß mich mit meinem Kummer hier allein. Ich kann ja sehen, wie ich mit meinen Sorgen fertig werde.«

Das junge Mädchen kam zurück und stellte sich an den Tisch, ihrer Stiefmutter gegenüber.

»Wir müssen abwarten, bis der neue Herr von Burgwerben einzieht, Mama. Das kann heute oder morgen schon geschehen. Rechtsanwalt Beckmann und Inspektor Scheveking wollen gleich in den ersten Tagen mit Herrn von Leyden sprechen über den Ankauf unseres Hauses.«

»Das ist auch so ein bitterer Tropfen in meinem Leidenskelch, daß ich diesem groben, unverschämten Scheveking noch gute Worte geben soll.«

»Das sollst du nicht – ich habe ihn schon darum gebeten. Er ist gar nicht so schlimm, poltert nur zuweilen ein wenig, wir haben ihm schon manche Gefälligkeit zu danken, und Papa hielt viel von ihm.«

Frau Delius zuckte die Achseln.

»Dein Vater – der sah ja an jedem Menschen nur die edelsten Eigenschaften, deshalb ist er auch von allen Seiten so ausgenützt worden, und wir haben nun die Folgen zu tragen. Ach, es war ein Elend mit diesem schwachmütigen Mann!«

Eva Marie wurde blaß, und ihre Augen erschienen fast schwarz, als sie sich zürnend auf ihre Mutter hefteten.

»Du sollst so nicht von Papa reden, ich kann es nicht hören! Ja, gut und edel war mein Vater, deshalb glaubte er allen Menschen. Aber du sollst ihn deshalb nicht schelten.«

»Aber du kannst doch nicht in Abrede stellen, daß er uns in trostlosen Verhältnissen zurückgelassen hat. Von dem Erlös für die Bücher habe ich, trotz aller Knauserei, kaum noch zweihundert Mark übrig. Davon sollen wir leben, bis das Haus verkauft ist. Und dann geht das Elend weiter, wenn wir im günstigsten Falle fünfunddreißigtausend Mark bekommen dafür – du lieber Gott, die Zinsen reichen knapp für eine Person, viel weniger für zwei.«

Eva Marie trat ans Fenster.

»Sie brauchen auch nur für eine zu reichen, Mama.«

Frau Delius richtete sich empor. Ein lauernder Blick streifte die Tochter.

»Was willst du damit sagen?«

»Daß ich dir die Zinsen allein überlassen werde. Sobald der Verkauf des Anwesens geordnet ist, suche ich mir eine Stellung als Gesellschafterin, Erzieherin oder Stütze. Es ist ganz gleich, was ich finde. Ich will gern arbeiten, um mir meinen Unterhalt selbst zu verdienen.«

»Das ist sehr vernünftig von dir. Ich hätte dir schon diesen Vorschlag gemacht, aber du hättest mir das gar als Lieblosigkeit ausgelegt. Es ist aber die einzige Möglichkeit, die uns eine leidlich sorgenfreie Existenz sichert. Und du bist jung und hübsch, wer weiß, welches Glück dir winkt! Wenn ich meine Jugend noch hätte – ich täte es auch. Aber was kann ich arme, gebrochene Frau noch leisten! – Wann ist dir dieser gescheite Einfall gekommen?«

»Schon lange, Mama. Ich kann ihn nur nicht eher ausführen, als bis hier alles geordnet ist.«

»Das hättest du mir auch gleich sagen können. Da wäre mir viel Sorge erspart geblieben.«

»Ich wollte erst mit allem im klaren sein. – Du kannst dir dann in der Stadt eine kleine Wohnung mieten und in Ruhe leben.«

»Ja, ja, knapp wird es ja noch werden, zumal ich doch auch darauf rechnen muß, daß du mal stellenlos oder krank wirst. Dann muß ich dich doch bei mir aufnehmen.«

»Ich hoffe, daß beides nicht der Fall sein wird. Jedenfalls werde ich sparen, so viel ich kann, daß ich auch im Falle der Not deine Hilfe nicht brauche.«

»Nun, das muß ich sagen, du bist eine vernünftige Person.«

Das war die einzige Anerkennung, die Eva Marie für ihre Aufopferung zuteil wurde.

Sie verlangte aber auch keine. Ihr einziger großer Wunsch war jetzt, das Haus zu verkaufen und sich dann für immer von der Stiefmutter trennen zu dürfen. Sie hatte nie etwas Herzliches für diese Frau fühlen können, auch als Kind nicht. Schon da empfand sie die wenig vornehme Art und Denkungsweise der Stiefmutter als einen Schimpf, der ihrem vergötterten Vater angetan wurde. Seit sie aber älter und vernünftiger wurde und diese Frau mit klaren Augen ansah, war sie ihr direkt widerlich. Nur um ihren Vater nicht zu betrüben, stellte sie sich äußerlich mit ihr auf einen höflichen Ton, der freilich nie warm wurde. So gütig und warmherzig Eva Marie sonst auch zu allen Menschen war, für ihre Stiefmutter fehlte ihr jedes Verständnis, jede Entschuldigung, jede Zuneigung.

Nach einer Weile wandte sie sich um.

»Erlaubst du mir nun, daß ich eine Stunde in den Wald gehe?«

Frau Delius machte ein sehr freundliches Gesicht.

»Aber gewiß, Kind, geh nur. Ich muß mich ja nun doch langsam daran gewöhnen, dich zu entbehren.«

»Dann auf Wiedersehen bis nachher.«

»Adieu, Eva Marie!«

Das junge Mädchen stieg die Treppe zum ersten Stock empor. Parterre lag nur das Wohnzimmer, der Salon und ein kleines Stübchen, in welchem Professor Delius früher zu arbeiten pflegte. Nach hinten hinaus die Küche und ein Vorratskämmerchen. Oben im ersten Stock waren die Schlafzimmer und ein Rumpelkämmerchen. Das war alles. Während Eva Marie sich oben zum Ausgehen fertig machte, erhob sich Frau Delius schwerfällig, zupfte sich vor dem Spiegel die falschen Stirnlöckchen zurecht und schlich dann leise zu einem Schränkchen heran. Dies öffnete sie mit einem Schlüssel, den sie bei sich trug, und nahm einen kleinen Karton heraus. Damit zog sie sich auf den bequemen Diwan zurück, legte sich behaglich nieder und naschte vergnügt aus dem Karton. Er enthielt Kognakpralinen, wofür sie eine große Vorliebe besaß. Sie ließ sich heimlich, trotz der peinlichen pekuniären Lage, von Zeit zu Zeit ein Postpaket davon kommen. – –

Als Eva Marie aus dem Haus trat und durch den Garten schritt, hörte sie einen Wagen auf der Landstraße daherkommen. Sie trat an das Gartentor und sah ihm entgegen. Da hob sie plötzlich mit dem Ausdruck des Schreckens die Hände, und ein banger Ruf entfloh ihren Lippen. Sie sah, daß die Pferde vor dem Wagen in toller Hast dahinstürmten. Der Kutscher schien die Herrschaft über die scheuen Tiere ganz verloren zu haben.

Und nun kam zum Unglück von der entgegengesetzten Seite ein Zug heran. Die Landstraße überschritt unweit des Häuschens den Bahndamm, und der Bahnwärter hatte die Schranke bereits geschlossen. Auch er sah mit Schrecken und Besorgnis dem Gefährt entgegen und wußte nicht, was er tun sollte, wenn die Tiere so weiterstürmten und die Schranke zertrümmerten, war ein Zusammenstoß von Zug und Wagen zu befürchten.

Eva Marie schrie ihm zu:

»Das Haltesignal, geben Sie doch das Haltesignal!«

Er verstand und schickte sich an, dem Zuge entgegenzugehen. Da erhob sich plötzlich im Wagen eine schlanke Männergestalt und nahm dem Kutscher die Zügel aus der Hand. Mit einem gewaltigen Ruck riß der Mann in die Zügel; das eine Pferd bäumte empor und brach dann in die Knie. Die Wagendeichsel fuhr gegen einen Baum und zerbrach, und das andere Pferd blieb mit bebenden Flanken stehen. Durch den gewaltigen Ruck aber war der Mann aus dem Wagen geschleudert worden und lag nun regungslos neben einem Meilenstein.

In diesem Augenblick fuhr der Zug vorbei. Die Insassen standen dichtgedrängt an den Fenstern, um zu sehen, was geschehen war. – Aus dem Wagen stieg mit bleichem Gesicht ein zweiter Herr. Es war Rechtsanwalt Beckmann. Der ganz benommene Kutscher kletterte von seinem Bock herab und sah instinktiv zuerst nach seinen Pferden.

Eva Marie aber war schnell zu dem Bewußtlosen hinübergeeilt und beugte sich voll Mitleid über ihn. Nun trat Beckmann zu ihr heran. Sie hob das erblaßte Gesicht.

»Sie sind es, Herr Rechtsanwalt? So ist der Ärmste hier gewiß Herr von Leyden?«

»So ist es, Fräulein Delius. Das ist ein schlechter Empfang. Mein Gott – er ist doch nicht tot?«

Eva Marie beugte sich herab und legte ihr Ohr auf die Brust des Verunglückten.

»Nein, gottlob, er lebt,« sagte sie aufatmend. Dann richtete sie sich empor. Aus dem Hause waren wehklagend die Magd und Frau Delius herbeigekommen und machten ein großes Lamento. »Schnell eine Schüssel mit Wasser und ein Tuch!« rief Eva Marie der Magd zu. Die stob eilig davon. Eva Marie untersuchte den Kopf des Verwundeten. Er schien unverletzt. Aber das linke Bein lag steif und schwer an dem Meilenstein, und als es Eva Marie wegziehen wollte, seufzte der Ohnmächtige und schlug die Augen auf.

»Ich fürchte, das Bein ist gebrochen, Herr Rechtsanwalt. Bitte, helfen Sie mit dem Kutscher, den Herrn in unser Haus zu tragen. Ich habe bei den Samaritern einen Kurs genommen und will versuchen, die erste Hilfe zu bringen, ehe das Bein anschwillt. Nach dem Schloß kann er jetzt nicht gebracht werden.«

Während Beckmann, vor Schreck noch immer fassungslos, den Kutscher herbeiholte, beugte sich Eva Marie zu Leyden hernieder.

»Haben Sie Schmerzen, mein Herr?« fragte sie sanft und voll Güte.

Er wollte sich lächelnd aufrichten, fiel aber sofort zurück und biß die Zähne zusammen.

»Mein Bein – was ist mit meinem Bein?«

Sie haben sich bei dem Sturz aus dem Wagen verletzt. Fühlen Sie sonst noch Schmerzen?«

»Nein – nur im linken Bein, mir scheint, es ist gebrochen.«

Beckmann und der Kutscher wollten ihn aufheben. Eva Marie hielt sie zurück.

»Bitte, warten Sie!« sagte sie hastig und eilte ins Haus, wenige Minuten später kam sie wieder heraus mit einem schmalen Brett und einer Tasche mit Verbandutensilien.

»Es ist besser, ich stütze das Bein, ehe wir ihn hineintragen,« sagte sie zu Beckmann, und mit einem lieben, wahrhaften Samariterlächeln fuhr sie zu Armin gewendet fort: »Ich muß Ihnen gleich hier auf der Landstraße einen Verband anlegen, sonst verschiebt sich beim Transport der Bruch, und Sie leiden doppelte Schmerzen.«

Armin antwortete nur mit einem schwachen Lächeln, welches andeutete, daß er mit allem einverstanden sei.

Ohne Prüderei, nur vom Drange, zu helfen, beseelt, schnitt Eva Marie mit einer scharfen Schere das Beinkleid des verletzten auf, ebenso den Stiefel. Beckmann half ihr dabei; er war nun leidlich ruhig geworden. Ohne einige Schmerzen ging es für Armin nicht ab, so zart und behutsam das junge Mädchen auch hantierte. Als sie sich überzeugt hatte, daß das Bein wirklich gebrochen war, bat sie ihre Stiefmutter, den Diwan im Wohnzimmer mit Kissen und Decken zu versehen. Frau Delius lief jammernd ins Haus.

Zu dem Kutscher sagte Eva Marie ruhig und bestimmt:

»Halten Sie sich bereit, auf dem einen Pferde sofort zur Stadt zu reiten. Sie müssen den Arzt herbeischaffen, sobald wir den Verwundeten ins Haus gebracht haben.«

Nun legte sie vorsichtig das gebrochene Bein auf das herbeigeholte Brett, suchte es gleich in die richtige Lage zu bringen und befestigte es mit Verbandstreifen. Das alles ging schnell vonstatten. Eva Maries Besonnenheit und Ruhe wirkten auch ansteckend auf die andern. Nachdem das gebrochene Bein Stütze und Verband erhalten hatte, wurde Leyden vorsichtig ins Haus getragen und auf den Diwan gelegt. Er war etwas bleich, aber bei vollem Bewußtsein.

Eva Marie legte ihm kühle Umschläge auf das Bein und reichte ihm einige Tropfen stark duftender Essenz in einem Glas Wasser.

»Bitte, trinken Sie!« bat sie freundlich.

Er nahm ihr das Glas ab und sah sie dankbar an.

»Sie sind so gütig, mein gnädiges Fräulein! Ich danke Ihnen herzlich.«

Sie lächelte errötend.

»Es gibt nichts zu danken, Herr von Leyden.«

»Darf ich den Namen meiner gütigen Helferin erfahren? Ich weiß gar nicht, wo ich mich befinde.«

Beckmann beeilte sich nun, Eva Marie und deren Mutter vorzustellen. Frau Delius erging sich in wortreichen Beileidsbezeigungen und war überschwenglich liebenswürdig. Den neuen Herrn von Burgwerben zu Danke zu verpflichten, konnte nur vorteilhaft sein. Eva Marie konnte es nicht mehr mitanhören. Sie sah recht gut, wie Armins Blick ungläubig staunend zwischen Mutter und Tochter Vergleiche zog. wie kam solche Mutter zu so einer Tochter?

Peinlich berührt unterbrach Marie den Wortschwall.

»Bitte, sprich nicht mehr mit Herrn von Leyden, Mama. Er bedarf der Ruhe.«

Frau Delius zog sich mit entrüsteter, beleidigter Miene in den Hintergrund des Zimmers zurück. Beckmann trat ans Fenster, um nach dem zurückgebliebenen Pferd zu sehen. Der Kutscher hatte es an den Baum gebunden. Es war unverletzt geblieben und wieder ganz ruhig. Auch der Wagen war hell, bis auf die zerbrochene Deichsel. Eva Marie packte indessen ruhig ihr Verbandzeug wieder ein. Mitleidig flog ihr Blick wieder und wieder zu dem Verwundeten hinüber, der jetzt mit geschlossenen Augen auf dem Diwan lag. Sein blasses Gesicht mit den edlen, scharfgeschnittenen Linien gefiel ihr sehr gut. Also so sah der neue Herr von Burgwerben aus! –

Beckmann trat wieder ins Zimmer zurück. Leyden schlug die Augen auf und versuchte ein Lächeln.

»Das ist ein schlechter Anfang, lieber Herr Rechtsanwalt. Wenn ich abergläubisch wäre, könnte ich das für ein böses Vorzeichen halten. Aber meine gottesfürchtige selige Mutter pflegte in solchen Fällen zu sagen: ›Wer weiß, weshalb der liebe Gott hier Einsprache erhebt, er will immer nur unser Bestes, auch wenn es anders scheint‹.«

»Daran halten Sie nur fest, Herr von Leyden. Die Vorsehung führt uns oft sonderbare Wege.«

Er sah dankbar zu Eva Marie hinüber. Sie lächelte gütig und erneuerte die Kompresse. Dann sagte sie ernst:

»Und den größten Glücksumstand vergessen Sie zu erwähnen, wenn es Ihnen nicht gelungen wäre, die Pferde zum Stehen zu bringen, so wäre ein viel größeres Unglück möglich gewesen. Ein Zusammenstoß mit dem Zuge hätte verhängnisvoll für viele werden können.«

»Also will ich als einziges Opfer meinen Unfall mit Würde ertragen. Mich peinigt nur der Gedanke, daß ich Ihnen als lästige Störung in Ihr friedliches Heim falle.«

Sie sah ihn ernst an.

»Wenn es wirklich eine Störung wäre, lästig würde uns das Ausüben einer einfachen Menschenpflicht sicher nicht sein. Ich bitte Sie aber nun ernstlich, nicht mehr zu sprechen bis zur Ankunft des Arztes. Bevor wir nicht genau wissen, ob Sie nicht noch andere Verletzungen davongetragen haben, ist Vorsicht am Platze.«

Er schloß gehorsam die Augen und sprach nicht mehr.

Die Zeit bis zur Ankunft des Arztes verging sehr langsam. Nie erscheinen die Minuten länger, als in solchen Fällen. Endlich sah Eva Marie seinen Wagen auf der Straße herankommen. Sie kannte ihn genau von der Krankheit ihres Vaters her.

Doktor Schmalfeldt war derselbe, der auch Friedrich von Leyden behandelt hatte. Der Kutscher hatte ihm erzählt, was sich zugetragen, und er war mit allem versehen, was er in solchen Fällen brauchte.

Als er Armin gründlich untersucht und Eva Maries Verband von dem gebrochenen Bein entfernt hatte, machte er ein zufriedenes Gesicht.

»Sie haben mir da hübsch ins Handwerk gepfuscht, Kindchen. Da bleibt mir kaum noch was zu tun. Hut ab, das haben Sie famos besorgt! Nun können Sie mir wohl auch noch ein bißchen zur Hand gehen, bis wir das Bein ordentlich eingepackt haben,« sagte er lächelnd zu Eva Marie.

»Gern, Herr Doktor; wenn ich irgend etwas helfen kann, bin ich bereit.«

»Schön, das ist ein Wort. Nun, Herr von Leyden, jedenfalls hat Ihnen Fräulein Delius durch ihr schnelles und sicheres Eingreifen eine Menge Schmerzen erspart.«

»Ich bin ihr auch sehr dankbar, Herr Doktor. Gnädiges Fräulein – Sie machen mich für immer zu Ihrem Schuldner.«

Eva Marie schüttelte nur abwehrend den Kopf und ging dem Arzt flink und geschickt zur Hand.

»Es ist alles noch gut abgelaufen, Herr von Leyden, ein glatter Bruch, der schnell und gut heilen wird, ohne irgendwelche Folgen zu hinterlassen. Und sonst ist Ihnen bei dem Sturz nichts geschehen. Es hätte auch ein Schädelbruch werden können.«

»Also kann ich wohl bald nach dem Schloß gebracht werden?«

»I, den Deibel werden wir tun! Nein, nein, das schlagen Sie sich nur aus dem Sinn. Die Damen treten Ihnen gewiß gern das Zimmer ab, bis Sie geheilt sind,

»Eine barmherzige Schwester schicke ich Ihnen heute abend noch heraus, damit Sie niemand aus der Ruhe bringen. Nicht wahr, Fräulein Delius, Sie führen Ihr Samariterwerk zu Ende?«

»Das ist selbstverständlich.«

»Na also, das wußte ich ja. Nun mal stillgehalten, Verehrtester, sonst bekommen Sie ein schiefes Bein.« – –

Beckmann fuhr inzwischen in des Doktors Wagen zum Schloß, um Scheveking zu melden, daß der geplante Empfang des Schloßherrn verschoben werden müsse.

*

So lag nun Armin von Leyden mit gebrochenem Unterschenkel in dem kleinen Landhaus, statt, wie er gehofft hatte, seinen Einzug in Schloß Burgwerben zu halten.

Bereits acht Tage waren seit seinem Unfall verstrichen. Schmerzen fühlte er kaum noch, fühlte sich auch sonst ganz normal. Nur die Langeweile plagte ihn sehr.

Die Diakonissin, die Doktor Schmalfeldt noch am selben Abend aus der Stadt geschickt hatte, war eine ältere, sehr stille und langweilige Person. Sie schien immer müde zu sein, kam zwar ihren Pflichten gewissenhaft nach, war aber nicht für eine kurzweilige Unterhaltung zu haben. Frau Professor Delius kam jeden Tag einige Male zu ihm herein, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen und mit ihrer schrillen Stimme auf ihn einzureden. Diese Dame und ihre ganze Art war ihm aber so unsympathisch, daß er sie immer möglichst kurz abfertigte. Eva Marie hatte er noch nicht wieder gesehen, seit sie an jenem Abend sein Zimmer verlassen hatte und der Diakonissin ihr Amt abtrat. Er beschäftigte sich aber in Gedanken viel mit ihr. Ihr stilles, sanftes und doch zugleich energisches Walten bei seinem Unfall hatte ihm sehr imponiert. Sie schien gemütvoll, ohne Sentimentalität zu sein und keine jener prüden Zimperliesen, die ihm gleich unausstehlich waren wie frivole Frauen. Und ihr Anblick war ihm sympathisch. Sie war keine Schönheit im strengen Sinne, aber anmutig und voll Liebreiz. – Heute war ein wundervoller, klarer Frühsommertag. Die Schwester hatte auf des Kranken Wunsch den Diwan an das Fenster gerollt und dieses geöffnet. Armin atmete mit vollen Zügen die herrliche Luft ein und ließ sein Auge in die Ferne schweifen bis zu den waldbewachsenen Höhenzügen. Ein leises Geräusch im Garten machte ihn aufmerksam. Draußen auf den kiesbestreuten Gartenwegen kam Eva Marie daher und prüfte mit sorgenden Blicken die zahlreichen Rosensträucher. Ein großer, runder Hut beschattete ihr liebes, ernstes Gesicht. Sie trug Bastfäden und eine Schere bei sich und schien Rosenzweige aufzubinden.. Armin machte es Freude, ihre anmutigen Bewegungen zu beobachten. Er verhielt sich ganz still, und sie hatte keine Ahnung, daß er sie sehen konnte.

Leider erschien bald darauf ihre Mutter und gab ihr irgendeinen Auftrag. Die beiden Frauen verschwanden im Haus.

Ein unangenehmes Gefühl beschlich Armin plötzlich. War es möglich, daß Mutter und Tochter so verschieden voneinander waren? – – –

Daß sich Armin während dieser unfreiwilligen Klausur lebhaft mit der Testamentsbedingung beschäftigte, war natürlich. Und ebenso natürlich war es, daß er auch Eva Marie damit in Zusammenhang brachte. Sie schien ihm alle Eigenschaften zu besitzen, die er an einer Frau für sich wünschte. Er urteilte dabei ganz leidenschaftslos und objektiv. Aber diese Mutter? Die mit in den Kauf zu nehmen, mit ihr wohl gar Zusammenleben zu müssen, mit diesem Gedanken konnte er sich nicht abfinden. Nein, dann lieber nicht. Aber schade, sehr schade, es hätte sich sonst so gut gemacht! Das Schicksal hatte ihn geradezu vor ihre Tür geworfen. Wenn mir die Mutter nicht gewesen wäre! – Am Nachmittag kam Beckmann, um sich nach Armins Befinden zu erkundigen und Geschäftliches mit ihm zu erledigen.

Er meldete Leyden auch, daß Scheveking am nächsten Tage seinen neuen Herrn aufsuchen würde. Bisher hatte er es unterlassen, weil er fürchtete, daß der Patient gestört werden könnte.

Armin lächelte.

»Er soll nur kommen, ich bin froh, wenn ich mit einem Menschen ein vernünftiges Wort reden kann. Mich stört der Inspektor keinesfalls.«

»Gut, das will ich ihm mitteilen, ich muß ohnedies noch aufs Schloß,« sagte Beckmann in seiner etwas steifen, bedächtigen Art. Dann räusperte er sich, ruckte seine Brille umständlich zurecht und fuhr mit der Hand an seinem Nasenrücken herab.

»Ich habe nun noch ein Anliegen, Herr von Leyden. Es betrifft die beiden Damen, deren Gastfreundschaft Sie genießen.«

Armin horchte interessiert aus.

»Bitte, sprechen Sie.«

Beckmann erzählte nun von den mißlichen Verhältnissen der beiden Frauen und berichtete, daß Friedrich von Leyden die Absicht gehabt habe, den kleinen Besitz zu kaufen. Er sei nur durch seine Krankheit an der Ausführung dieses Planes verhindert worden. Ob Armin gewillt sei, das Anwesen zu erwerben. Der Kaufpreis betrage fünfunddreißigtausend Mark, und den Damen würde ein großer Gefallen damit erwiesen, hauptsächlich Fräulein Eva Marie sei an der baldigen Regelung der Angelegenheit gelegen, da sie den Kaufpreis ihrer Stiefmutter zum Unterhalt überweisen wolle und sich selbst irgendeinen Wirkungskreis zu schaffen wünsche, der ihr den Unterhalt sichere.

Armin hatte aufmerksam zugehört, und seine Augen verrieten eine angenehme Überraschung.

»Frau Professor Delius ist nur die Stiefmutter der jungen Dame?«

»Ja, und soviel ich von Scheveking hörte, stehen die beiden Frauen auf einem sehr kühlen Ton miteinander. Er behauptet, die Frau sei nicht nur am Ruin, sondern auch am frühen Tode des Professors schuld. Fräulein Eva Marie habe den brennenden Wunsch, sich von ihrer Stiefmutter zu trennen. Ob das alles genau stimmt, weiß ich nicht. Scheveking hält von den Frauen im allgemeinen nichts, von Frau Delius aber, wie es scheint, noch weniger als nichts. Ungefähr wird es aber so sein, wie er spricht, das kann man leicht herausfinden, wenn man die beiden Frauen zusammen sieht.«

Armin nickte zustimmend mit dem Kopfe und sah sehr nachdenklich aus. Dann sagte er lebhaft:

»Natürlich bin ich bereit, im Sinne meines Vorgängers diesen Kauf abzuschließen. Ich bin ja ohnedies verpflichtet zur Dankbarkeit. Sagen Sie, Herr Rechtsanwalt – kann man den Kaufpreis nicht mit irgendeiner Begründung erhöhen? Die Damen haben durch meinen Aufenthalt mehr Ausgaben; es ist mir peinlich, in ihrer Schuld zu bleiben. Könnte man sich da nicht unverfänglich erkenntlich zeigen?«

Beckmann strich wieder an seinem Nasenrücken herunter und nickte dann bedächtig.

»Gewiß, das könnte man tun. Lagen wir also: rund vierzigtausend. Dann haben Sie sich glänzend abgefunden, und die Frauen werden froh sein, einen höheren Preis zu erzielen.«

»Gut, einverstanden.«

»Ich werde mich dann nachher sofort mit den Damen ins Einvernehmen setzen und die Sache regeln.«

»Tun Sie das, lieber Herr Rechtsanwalt. Und bitten Sie zugleich die Damen, ruhig im Hause wohnen zu bleiben, solange sie nicht andere Unterkunft gefunden haben. Das Haus bleibt zu ihrer Verfügung, solange sie es benützen wollen.«

Beckmann verneigte sich.

»Ich bringe Ihnen dann gleich noch Bescheid, ehe ich fortfahre.«

»Bitte, tun Sie das.«

Beckmann ging, und Armin blieb allein. Die Diakonissin war zu einem Spaziergang beurlaubt. – Er mußte lebhaft über die eben empfangene Mitteilung nachdenken.

Daß Eva Marie nur die Stieftochter dieser Frau war, rückte für ihn die Angelegenheit in eine ganz andere Beleuchtung. Und daß sich die junge Dame von der älteren zu trennen wünschte, sprach sehr zu ihren Gunsten, würde es sich da nicht leicht vermeiden lassen, diese gräßliche Frau bei sich zu sehen, wenn er wirklich sich entschloß, um Eva Marie zu werben?

Der Gedanke, dieses junge Mädchen zu seiner Frau zu machen, begann Wurzel zu schlagen. Übereilen würde er natürlich nichts. Erst wollte er sorgsam forschen und prüfen, ob diese Wahl die rechte für ihn sei. Es eilte ihm ja nicht mit einer Entscheidung. Aber ernstlich in Erwägung ziehen ließ sich dieser Umstand.

Daß Eva Marie möglicherweise seine Hand ausschlagen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Im Gegenteil glaubte er, daß sie gern einwilligen würde, seine Frau zu werden, denn eine Heirat mit ihm würde sie der Notwendigkeit entheben, in abhängiger Dienstbarkeit ihr Brot zu verdienen. Sicher würde sie sich doch entschließen, seine Werbung anzunehmen und Herrin von Burgwerben zu werden, wenn sie dadurch aus einer peinlichen Lage erlöst wurde. Daß edle Frauen in solchen Fällen anders empfinden als Männer, bedachte er dabei nicht. Er war jung, stattlich und von anständiger Gesinnung, mit seiner Hand verknüpfte sich ein herrlicher Besitz, ein großes Vermögen – es war nicht anzunehmen, daß ihn eine Frau ausschlug. – –

Beckmann hatte sich durch das junge Dienstmädchen bei den Damen melden lassen und war von ihnen in dem kleinen Salon empfangen worden.

»Ich bringe Ihnen gute Nachrichten, meine Damen,« sagte der alte Herr, nachdem er sie begrüßt hatte, und rieb eifrig an seinem Nasenrücken herum.

Eva Marie sah ihn erwartungsvoll an.

»Sie haben mit Herrn von Leyden über unsere Angelegenheit gesprochen?«

»Kauft er das Haus, lieber Herr Rechtsanwalt?« warf die alte Dame begierig forschend ein.

Beckmann wandte sich an das junge Mädchen.

»Der Kauf ist abgeschlossen, sobald Sie wollen, und unter den günstigsten Bedingungen. Herr von Leyden bietet Ihnen sogar fünftausend Mark mehr.«

Eva Marie fuhr auf. Ihr Gesicht wurde einen Schein blasser.

»Diese fünftausend Mark weisen wir entschieden zurück,« sagte sie fest und abweisend.

»Aber, Eva Marie, du bist doch unklug! weshalb sollen wir ein höheres Angebot nicht annehmen?« rief Frau Delius entrüstet.

»Weil Herr von Leyden uns damit für unsere Gastfreundschaft bezahlen will, Mama. Und so bettelarm sind wir doch nicht, daß wir uns das bieten lassen müssen.«

»So schroff müssen Sie das nicht auffassen, Fräulein Delius,« suchte Beckmann eifrig zu vermitteln.

Sie blitzte ihn mit ihren blauen Augen zornig an.

»Herr Rechtsanwalt, ich werde unter keiner Bedingung dieses Mehrangebot annehmen. Sie selbst haben unser Anwesen geschätzt und Inspektor Scheveking gleichfalls. Beide haben Sie in ehrlicher Überzeugung den Wert auf fünfunddreißigtausend Mark festgesetzt. Von gestern bis heute ist der Wert durch nichts erhöht worden. Folglich bietet uns mit diesen fünftausend Mark Herr von Leyden ein Geschenk an, das wir zurückweisen müssen.«

»Fällt mir ja gar nicht ein, Eva Marie! Da hab ich doch auch noch ein Wörtchen mitzureden. In unsrer Lage ist falscher Stolz gar nicht am Platze, sei doch nicht eine so überspannte Närrin! Unpraktisch wie dein Vater. Gott sei's geklagt! Herr Rechtsanwalt – kehren Sie sich nicht an die törichten Worte meiner Tochter, es ist ja alles Unsinn, was sie spricht. Herr von Leyden wird schon wissen, daß er so viel geben kann, ohne Schaden zu leiden.«

Beckmann rieb sehr aufgeregt seine Nase und sah unschlüssig von einer Dame zur andern.

Eva Marie erhob sich und stützte ihre Hand auf den Tisch.

»Unter diesen Umständen gebe ich meine Einwilligung zum verkauf des Hauses überhaupt nicht,« sagte sie fest und entschlossen.

Frau Delius fing an zu jammern.

»Lieber Gott, ist das ein Kreuz mit solchen närrischen Menschen! Da steckt man nun bis an den Hals in Sorgen, und aus lauter Eigensinn werden sie einem noch vergrößert. Du bist ein unsinniges Geschöpf, Eva Marie. Ach Gott, Herr Rechtsanwalt, reden Sie ihr doch zu, ich bitte Sie!«

Eva Marie zog in bittrer Qual die Stirn zusammen.

»Mama, ich bitte dich, erniedrige uns nicht durch solche Reden. Begreifst du denn gar nicht, welche Demütigung in diesem Anerbieten liegt?«

»Nein, ich begreife nur, daß du mich um fünftausend Mark bringen willst. Dir liegt natürlich nichts daran, weil sie nur mir zugute kommen. Ich lasse mich aber nicht übervorteilen. Das Haus mußt du mich verkaufen lassen, sonst haben wir einfach nichts zu leben.«

Das junge Mädchen sah sie fest entschlossen an. Dann sagte sie kalt und ruhig:

»Gut, tue, was du willst. Wenn du dieses Angebot aber annimmst, verlange ich von dir die Hälfte der fünfunddreißigtausend Mark. Nimmst du es nicht an, bleibt es bei meinem Verzicht, und die Kaufsumme gehört dir allein.«

Damit verabschiedete sie sich von Beckmann, der in artiger weise ihre Hand achtungsvoll an die Lippen führte, und wollte hinausgehen.

»So bleib doch, Eva Marie, bleib! Gut, du sollst deinen Willen haben. Was vermag ich arme schwache Frau gegen deinen Starrkopf! Herr Rechtsanwalt, Sie haben gehört! wir müssen demnach auf das Mehrangebot verzichten.«

Beckmann verneigte sich und sagte dann zu Eva Marie:

»Liebes, gnädiges Fräulein, Herr von Leyden wird außer sich sein, wenn er hört, daß sein gut gemeinter Vorschlag Sie kränkte. Er hat das sicher nicht beabsichtigt.«

Das junge Mädchen zeigte schon wieder ihr ruhig freundliches Gesicht.

»Das glaube ich Ihnen, Herr Rechtsanwalt. Ich zürne auch Herrn von Leyden keineswegs wegen seines großmütigen Anerbietens, wenn ich es auch nicht annehmen kann. Sagen Sie ihm unsern Dank dafür, daß er das Häuschen kaufen will. Und wenn ihn die Dankesschuld zu sehr drücken sollte, die er gegen uns zu haben meint, so mag er die Güte haben, uns zu gestatten, hier zu bleiben, bis Mama eine Wohnung und ich eine Stellung gefunden.«

»Darüber habe ich bereits mit Herrn von Leyden gesprochen. Das Haus steht Ihnen zur freien Verfügung, solange Sie es benutzen wollen.«

»Ich hoffe, wir werden nicht lange nötig haben, seine Güte zu mißbrauchen.«

»Der Kaufpreis kann Ihnen jederzeit in bar ausgezahlt werden, meine Damen.«

»Vielleicht sind Sie Mama behilflich bei der Anlage des Kapitals.«

»Ach ja, lieber, bester Herr Rechtsanwalt, Sie können mir darin gewiß praktische Winke geben,« sagte Frau Delius in süßfreundlichem Tone.

Das Geschäftliche wurde nun zwischen Beckmann und Frau Delius erledigt. Eva Marie zog sich zurück, um ein Inserat niederzuschreiben für ein Stellengesuch. Sie sandte dieses an eine maßgebende Zeitung und trug den Brief selbst in den Briefkasten, der an dem kleinen Stationsgebäude angebracht war.

Armin sah sie von seinem Fenster aus zurückkommen. Ihr Gesicht schien ihm ernst und traurig.

*

Als Beckmann später Armin von der Wirkung seines Angebots berichtete, stieg ein dunkles Rot in das Gesicht des jungen Mannes. War er unzart gewesen? Ja, nach reiflicher Überlegung mußte er das sich selbst eingestehen, und das tat ihm sehr leid. Eva Marie aber stieg in seiner Achtung durch diese Denkungsweise. Er hätte ihr brennend gern selbst gesagt, daß er sie um Verzeihung bitte seiner Taktlosigkeit halber. Als solche mußte sie sein Angebot auffassen. Er hoffte sie einmal im Garten zu sehen. Dann wollte er sie ansprechen und Abbitte leisten. –

Als am Nachmittag Krau Delius bet ihm erschien, um ihm wortreich zu danken, bat er sie dringend, fast aufgeregt, ihrer Tochter zu sagen, daß er sehr bedaure, sie unabsichtlich gekränkt zu haben.

Frau Delius wagte nicht, auf Eva Marie zu schelten« Schlau merkte sie, daß Leyden für ihre Stieftochter einiges Interesse zu haben schien. Sie hatte von der seltsamen Testamentsbestimmung gehört, und daß Herr von Leyden bisher nicht verlobt war, wußte sie auch. Ganz plötzlich stieg ein helles, glänzendes Licht in ihr auf. Warum sollte Eva Marie nicht Schloßherrin von Burgwerben werden? Man mußte da ein bißchen Vorsehung spielen. Aber wie? Eva Marie war ein eigensinniges Geschöpf, das sich nicht beeinflussen ließ. Aber vielleicht half der Zufall. Immerhin konnte man sich den Luxus leisten, einige Luftschlösser zu bauen. – Als sie am Abend mit ihrer Stieftochter in dem kleinen Salon saß, sang sie Leydens Lob in allen Tonarten und spielte darauf an, daß er sich sehr bald eine Frau werde suchen wollen.

Eva Marie achtete gar nicht darauf. Ihr Interesse für Leyden schien erschöpft, seit sie ihr Samariterwerk an ihm beendet hatte.

Aber es schien nur so. Sie dachte viel an ihn, mehr als nötig war. Er hatte einen sehr günstigen Eindruck auf sie gemacht. Um so mehr hatte es sie gekränkt, daß er ihr eine Art Almosen hatte anbieten lassen. Aber sie suchte ihn doch bei sich zu entschuldigen. –

Am nächsten Tage erschien Inspektor Scheveking in dem kleinen Landhaus. Im Hausflur traf er auf Eva Marie und begrüßte sie in seiner rauhen, aber herzlichen Art. Er sprach einige Worte mit ihr. Als aber Frau Delius erschien, machte er mit finsterer Miene kehrt und klopfte energisch an die Tür, hinter der er Armin von Leyden suchte.

Armin erwartete Scheveking mit einer gewissen Spannung. Mit scharf prüfendem Blick sah er zu dem alten Manne auf.

Die breitschultrige, mittelgroße Gestalt krönte ein Kopf mit ausgeprägten Linien. Das graumelierte, etwas struppige Haar umgab den starken Schädel noch in dichter Fülle. Das Gesicht, wie aus Bronze gegossen, verriet starke Eigenart und derbe, wetterfeste Entschlossenheit. Über den hellen, klaren Augen hing die Stirn mit den buschigen Brauen wie eine finstere Wetterwand. Auffallend war dagegen der gutmütige, helle Blick, der siegreich über den finsteren Gesamteindruck herrschte.

Armin war sehr zufrieden mit dem Ergebnis seiner Prüfung. Und Scheveking hatte seinen neuen Herrn ebenso aufmerksam und prüfend betrachtet. Auch er fühlte heraus, daß der junge Mann von guter, fester Art war. Als ihm Armin nun mit lächelndem Blick die Hand bot, schlug er kräftig ein, und mit diesem Handschlag wurde ein Band befestigt, das manchem Wetter trotzen sollte.

»Nehmen Sie Platz, Herr Inspektor! Und Sie, Schwester Anna, können jetzt getrost Ihren Spaziergang unternehmen, vorläufig bin ich in guter Hut.«

Während die Schwester sich langsam entfernte, sah sich Scheveking aufmerksam im Zimmer um. Dann, als er mit Armin allein war, wandte er sich diesem zu.

»Herr, ich müßte Ihnen wohl nun eine wohlgesetzte Rede halten, die Ihnen mein Beileid über Ihren Unfall ausdrückt. Aber in solchen Fisematenten kenne ich mich wenig aus. Daß es mir leid tut, Sie hier mit gebrochenem Bein liegen zu sehen, ist selbstverständlich. Ich freue mich, daß es nicht schlimmer ablief, weiß Gott. Und nun wollte ich. fragen, ob Sie irgendwelche Befehle für mich haben.«

Armin lachte über seine knorrige Art.

»Nein, Befehle habe ich nicht. Sie wissen ja viel besser Bescheid als ich. Ich gebe Ihnen vollständig freie Hand in allem.«

»Hm – na ja – das ist ja recht angenehm für mich. Aber ein sehr vorsichtiger Herr scheinen Sie mir nicht zu sein,« erwiderte Scheveking trocken.

»Woraus schließen Sie das?«

»Aus der Art, wie Sie mir so leichtgläubig Vertrauen schenken.«

Das klang ernst und vorwurfsvoll. Armin amüsierte sich über den Alten.

»Lieber Herr Inspektor, das ist gar nicht so leichtgläubig, als Sie denken. Erstens, was bleibt mir jetzt anderes übrig, als Ihnen freie Hand zu lassen? Und dann – ich bin genugsam über Ihren Charakter orientiert.«

Scheveking sah ihn forschend an.

»So? Durch wen denn?«

»Einmal durch meinen Blick. Ihr Äußeres verrät mir einen ehrlichen Mann.«

»Hm – na ja –! Es sieht aber mancher ehrlich aus, der ein Lump ist.«

»Dann habe ich aber noch einen Gewährsmann. Ihr verstorbener Herr hat mir in einem hinterlassenen Briefe viel Gutes und Vertrauenerweckendes über Sie gesagt.«

Scheveking wischte mit der verkehrten Hand über seinen Bart. Seine Augen glänzten.

»Dann ist das etwas anderes. Was Herr von Leyden über mich berichtet hat, das können Sie ruhig glauben. Mein alter Herr – Gott hab ihn selig – kannte die Menschen, und viel gute hat er weiß Gott nicht gefunden, was der Ihnen berichtet hat, das glauben Sie getrost. Wenn der Ihnen ein gutes Zeugnis ausgestellt hat über mich, dann glaub ich selbst, daß ich es verdiene.«

Er schüttelte nun Armin nochmals die dargebotene Hand, daß sie in allen Gelenken krachte.

»Sie sind schon lange in Burgwerben, Herr Inspektor?«

»Seit reichlich zwanzig Jahren.«

»Und Sie wollen mir ein Lehrmeister sein? Sie wissen doch, daß ich von der Landwirtschaft so viel wie nichts verstehe?«

»Weiß ich, weiß ich. An mir soll es nicht liegen, wenn Sie nicht ein tüchtiger Landwirt werden. Probieren geht über Studieren. Überhaupt, wenn Sie Burgwerben erst kennen, Herr, dann kommt auch die Liebe zu dem Gut. Ist ein Prachtgut – musterhaft – mein alter Herr hatte seine einzige Freude an seinem Besitz. Und wenn Sie den verschandeln wollten, Gottes Donner – das wäre eine Sünde.«

»Das will ich gewiß nicht. Soviel an mir liegt, soll es weiter gedeihen. Ich freue mich, mit daran arbeiten zu dürfen.«

»Gut, sehr gut. wenn man mit Freuden an eine Arbeit geht, ist sie schon halb gelungen. Und gut ist's, daß nun eine junge, frische Kraft ans Ruder kommt. Ich spüre doch schon zuweilen die Sechzig in den Knochen. Bis Sie firm sind, reicht meine Kraft wohl noch aus, dann kann ich, will's Gott, unser Lebenswerk ruhig in Ihre Hände legen.«

»Das hoffe ich. Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.«

»Wenn Sie ein offenes, ehrliches Wort vertragen können, gewiß. Schmeicheln und katzbuckeln habe ich mein Lebtag nicht gekonnt.«

»Braucht es auch nicht, lieber Inspektor. Ein Mann, ein Wort. Und wenn ich im Anfang Dummheiten mache – fassen Sie mich kurz an, ich bin nicht zimperlich.«

»Na, dann ist ja alles in Ordnung, wann werden Sie nun nach dem Schloß kommen?«

»Das weiß ich nicht. Sobald der Arzt es erlaubt, natürlich. Ich muß ihm schon parieren, damit ich wieder fest auf meinen Beinen stehen kann, so unangenehm es mir auch ist, den Damen hier zur Last zu fallen.«

Scheveking blickte finster zur Tür.

»Halten Sie sich man die Alte vom Leibe, Herr. Das ist ein Satan.«

Leyden mußte unwillkürlich lachen.

»Sie sind ein Weiberfeind, wie man mir erzählt hat?«

Der Inspektor machte eine geringschätzige Miene.

»Viel halt ich nicht von den Frauensleuten. Mein Herr und ich, wir sind immer gut ›ohne‹ ausgekommen.«

»Sie waren nie verheiratet?«

Scheveking sah direkt beleidigt aus.

»Bewahr mich der Himmel in Gnaden!« rief er entrüstet. Dann fuhr er fort: »Und die Alte hier im Haus, das ist, mit Respekt zu melden, ein Brechmittel, innen und außen. Alles falsch, Herr, die Haare, die Zähne und das Herz. Und Mehl hat sie pfundweise in der Visage. Um die mache ich einen weiten Bogen, wenn es möglich ist. Die hat ihren Mann auch auf dem Gewissen. Und Fräulein Eva Marie muß das alles ruhig mitansehen! Das arme Kind! Na, zum Glück haben Sie das Haus gekauft, wie mir Beckmann gestern sagte, nun kann das arme Hascherl doch auf und davon. Es giftet mich nur, daß sie der Alten das ganze Geld in den Rachen wirft.«

Armin sah ihn fragend an.

»Fräulein Eva Marie scheint nicht so stark bei Ihnen in Ungnade zu stehen wie das übrige weibliche Geschlecht?«

Scheveking fuhr aufgeregt mit der großen, breiten Hand durch seinen dichten Haarbusch.

»Die? – wissen Sie, Herr von Leyden, es gibt meiner Ansicht nach nur zwei Frauen, die als Menschen zu betrachten sind. Das ist unsere Mamsell Wunderlich oben auf dem Schloß, ein resolutes, mannbares Weibchen, und hier das junge Fräulein im Hause. Trotz ihrer einundzwanzig Jahre – Hut ab vor ihr, Herr, Hut ab! Die beiden nehme ich aus, sonst können mir alle Unterröcke gestohlen werden.«

»Was soll das aber nun werden, wenn eine junge Frau in Burgwerben einzieht? Sie haben doch gehört, welcher Bestimmung ich mich unterziehen muß durch den Testamentsanhang Ihres früheren Gebieters?«

»Hm – na ja! Ich hab schon davon gehört,« sagte Scheveking mit bekümmerter Miene. Und dann sah er Armin forschend an.

»Wissen Sie, was ich glaube?« fragte er.

»Nun?«

»Ich glaube, mein alter Herr ist da nicht mehr recht klar gewesen. Die Krankheit hat wohl seinen Geist etwas getrübt. Das stimmt ja gar nicht mit seinem ganzen Leben. Er hat kein Frauenzimmer um sich gelitten, so lang ich denken kann. Und nun verlangt er das von Ihnen. Nein, das Stimmt ganz Sicher nicht.«

»Gleichwohl muß ich mich dieser Bestimmung fügen, und in Jahresfrist gibt es demnach in Burgwerben eine junge Frau.«

Scheveking kratzte sich den Kopf und schnitt grimmige Gesichter.

»Hm – na ja, dann ist da nichts gegen zu machen. Dann müssen Sie wohl in den sauren Apfel beißen.«

Line nachdenkliche Pause entstand. Dann sagte Armin:

»Wenn ich nur gleich eine Frau fände, eine, die da hineinpaßt in das schöne alte Schloß.«

Scheveking seufzte und blickte finster grübelnd vor sich hin.

»Ja, so was ist rar. Frauen gibt es ja massenhaft – bloß taugen sie alle nichts.«

Leyden sah den Alten lächelnd an. Ein Schalk blitzte in seinen Augen auf.

»Hm – nur zwei machen eine Ausnahme, wie Sie sagen. Mamsell Wunderlich, die mir indes wohl ein bißchen zu alt sein dürfte, und hier im Hause die junge Dame, wie wäre es mit ihr?«

Scheveking fuhr überrascht empor.

»Natürlich – die Eva Marie! Das ist die Rechte – daß ich daran nicht gedacht habe! Die könnt wohl passen – aber nein – nein, es geht doch nicht.«

Und sein eben noch strahlendes Gesicht verfinsterte sich wieder.

»Warum geht es denn nicht?« fragte Armin lächelnd.

»Aber, Herr, bedeuten Sie doch, die Alte – die Alte, Herr! Wenn die nach Schloß Burgwerben käme – das hielte ich nicht aus, da gäbe ich Fersengeld. Und meinen seligen Herrn drehte es wohl im Grabe herum.«

»Dann wäre es also damit nichts,« sagte Armin lächelnd.

Scheveking schien angestrengt nachzudenken. Nach einer Weile richtete er sich straff auf und schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Und es geht doch. Die Alte darf einfach nicht mitkommen. Die schicken wir irgendwohin, nach Berlin oder so. Da laufen ja mehr solche geschminkte Weibsbilder umher. Natürlich, so geht es, Herr – die Alte schicken wir fort.«

»Ob sie sich das aber gefallen läßt, und ob Fräulein Eva Marie einwilligen würde, daß man ihre Mutter wegschickt?«

»Mutter – die und Mutter! Nu nein. Die Eva Marie ist heilfroh, wenn sie die Alte nicht mehr sieht. Die kann ihr nicht vergeben, daß sie den Herrn Professor so gedrangsalt hat. Na, und die Alte, die muß wollen. Das müssen Sie gleich vorher ausmachen, womöglich verbrieft und versiegelt, das ist sicher. Und wenn Sie ihr hiermit ›unter die Arme greifen‹,« – er machte die Gebärde des Geldzählens, – »dann geht sie auch. Aber nicht zu viel, Herr, bei der fällt alles durch die Finger wie Wasser durch ein Sieb.«

Armin sah nachdenklich durch das Fenster. Da ging eben draußen Eva Marie vorbei, mit ernstem Gesicht und gesenktem Kopf.

Die beiden Männer sahen ihr nach und blickten sich dann in die Augen.

»Eine hübsche, gesunde Person ist sie auch, keine solche neumodische Zierpuppe, die umfällt, wenn man sie anbläst,« sagte Scheveking aus seinen Gedanken heraus anerkennend.

Armin nickte nur mit dem Kopf. Beinahe stand es schon fest bei ihm, daß Eva Marie Delius seine Frau werden sollte. – –

Als sich der Inspektor dann verabschiedete, sagte Leyden, ihm die Hand drückend:

»Besuchen Sie mich zuweilen, lieber Inspektor. Mich plagt hier die Langeweile.«

»Will sehen, ob es geht, Herr. Jetzt gibt es viel zu tun auf den Feldern und in der Wirtschaft. Aber wenn ich's irgend machen kann, sehe ich schon wieder mal mit herein.«

»Schön, es soll mich freuen. Und mit dem Fräulein da draußen, das lasse ich mir mal durch den Kopf gehen. Das will überlegt sein.«

»Wohl, wohl! Und gründlich, Herr; heiraten ist kein Pferdekauf. Das vergessen Sie man nicht. Also adjüs denn und auf Wiedersehen!«

*

Einige Tage später, als die Sonne sich bereits zum Untergang anschickte, gelang es Armin endlich, bei Eva Marie persönlich seine Bitte um Verzeihung anzubringen. Das junge Mädchen ging zufällig dicht an seinem Fenster vorbei. Er rief sie kurz entschlossen an.

»Gnädiges Fräulein, bitte einen Augenblick!«

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und erwiderte freundlich seinen Gruß.

»Wie geht es Ihnen, Herr von Leyden?«

Er sah sie bittend an.

»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein. Außer der Langeweile plagt mich nur noch der Gedanke, eine Taktlosigkeit begangen und Sie gekränkt zu haben.«

Sie errötete lebhaft.

»Bitte, sprechen Sie doch nicht mehr davon.«

»Doch. Es sollte mir furchtbar leid tun, meiner liebenswürdigen Samariterin ein Leid zugefügt zu haben. Ich wollte Sie wirklich nicht kränken.«

»Nein, Sie wollen uns nur auf unverfängliche Art unsere Gastfreundschaft vergüten,« sagte sie herb, und ihr Mund preßte sich fest zusammen.

»Bitte, nicht so bitter. Liebes, gnädiges Fräulein, ich bitte herzlich, verzeihen Sie mir.«

Seine offenkundige Verlegenheit und Betrübnis entwaffneten sie vollständig.

»Ich weiß, Sie haben es gut gemeint, und ich verzeihe Ihnen gern.«

»Geben Sie mir die Hand darauf.«

Sie reichte ihm lächelnd die Hand hinauf. Er zog sie an seine Lippen. Ehe er jedoch weitersprechen konnte, war sie davongegangen.

Am nächsten Tage ließ er seinen Diwan gleich frühmorgens an das Fenster rücken. Eva Marie gab draußen bereits ihren Rosen Wasser. Er sah ihr lächelnd zu. Es war ein liebliches Bild, wie sich die jugendfrische, schlanke Mädchengestalt so eifrig zu schaffen machte.

Schwester Anna war schon am Tage vorher von Armin für einige Stunden beurlaubt worden, um heute in die Stadt zu gehen. Sie brach frühzeitig auf, um gegen Mittag zurück sein zu können. Als die Schwester durch den Garten ging, fragte Eva Marie nach dem Befinden des Patienten. Die Schwester zeigte lächelnd nach dem Fenster.

»Herr von Leyden befindet sich sehr wohl. Ich muß nach der Stadt und denke, daß ich ihn unbesorgt allein lassen kann.«

Während die Schwester fortging, sah Eva Marie zu Armin hinüber und nickte ihm lächelnd zu. Als sie dann näher zu ihm herankam, rief er ihr zu:

»Sie sind schon am frühen Morgen so fleißig, gnädiges Fräulein!«

Sie unterbrach ihre Beschäftigung und sah ihn an.

»Die Blumen brauchen Pflege, und unsere Magd hat ohnedies Arbeit genug.«

»Daran ist wohl mein Aufenthalt in Ihrem Hause schuld?«

»O nein,« rief sie in lächelnder Abwehr, »das hat gar keinen Einfluß. Schwester Anna läßt uns gar keine Arbeit übrig.«

»Aber ich habe Sie Ihres gemütlichen Wohnzimmers beraubt. Sie müssen sich meinetwegen sicher sehr einschränken.«

»Auch das nicht. Im Sommer sind wir doch meist im Garten. Bitte, machen Sie sich darüber keine Kopfschmerzen.«

»Ich glaubte, Sie zürnten mir ein wenig, daß ich Ihnen so störend in Ihr Heim fiel.«

Sie sah ihn ernst an.

»Wie sollte ich? Sie können doch wahrlich nichts für Ihren Unfall.«

»Allerdings nicht. Aber ich suchte bisher vergeblich nach einem Grund, warum Sie, seit Sie mir so gütig die erste Hilfe angedeihen ließen, nie mehr ein Wort mit mir gewechselt haben. Ich sah Sie so oft vorübergehen. Nie sprachen Sie mit mir, grüßten mich nicht einmal.«

Sie lachte leise. Es klang wunderhübsch, dieses Lachen.

»Weil ich Sie nicht gesehen, überhaupt nicht am Fenster vermutet habe.«

»Und ich hätte manchmal so gern ein wenig mit Ihnen geplaudert. Sie glauben gar nicht, wie mich die Langeweile plagt.«

»Ist Schwester Anna nicht unterhaltend?«

»Du liebe Zeit! Diese gute Dame sitzt mir meist gegenüber und schläft, wenn ich ihre Hilfe nicht gerade brauche. Und ich gönne ihr die Ruhe. Diese armen Wesen müssen so oft für andere wachen. Aber wirklich, Sie tun ein gutes Werk, wenn Sie zuweilen ein wenig mit mir plaudern.«

Ein reizendes Schelmenlächeln erschien auf ihrem Gesicht.

»Man muß keine Gelegenheit versäumen, ein gutes Werk zu tun. Wenn Sie also die Langeweile zu sehr plagt, brauchen Sie mich nur zu rufen. Ich bin ja meist im Garten.«

»Tausend Dank für Ihre Bereitwilligkeit. Ich fürchte, Sie werden bald bereuen, mir diese Erlaubnis gegeben zu haben.«

»Sie werden ja nicht unbescheiden sein,« scherzte sie.

»Das kann ich gar nicht versprechen.«

Eva Marie beschäftigte sich wieder mit ihren Blumen.

»Wunderschöne Rosen haben Sie im Garten,« sagte er bewundernd.

Ihr Blick umflorte sich.

»Die hat Papa alle noch gepflanzt und gezogen. Er liebte die Blumen so sehr. Sie scheinen mir ein liebes Vermächtnis.«

»Und doch wollen Sie das Haus samt dem Garten verlassen?«

Sie hielt in ihrer Arbeit inne und sah sich mit trüben Blicken um.

»Wollen? – O nein. Aber müssen, Herr von Leyden.«

»Ist es wirklich Ihr fester Wille, sich in eine abhängige Stellung zu begeben? Glauben Sie, daß dies so leicht ist?«

Sie schüttelte den Kopf und seufzte:

»Nein, leicht ist es gewiß nicht. Aber es muß sein, und deshalb gehe ich mutig meinem Geschick entgegen. Manchmal freue ich mich sogar darauf, meine Kräfte regen zu dürfen.«

»Aber nicht immer?«

»Nein. Aber bitte, lassen Sie uns ein anderes Thema wählen. Dies ist sicher nicht interessant für Sie.«

Er sah sie eigentümlich an.

»Vielleicht doch.«

Sie hob abwehrend die Hand.

»Lieben Sie die Blumen?« fragte sie ablenkend.

»Ja, sehr. Zumal Rosen,« antwortete Armin etwas zerstreut. Er merkte, daß ihr das Gespräch unangenehm war, und wollte sie nicht quälen.

Sie schnitt schnell einige sehr schöne Rosen ab, band sie mit einem Bastfaden zusammen und reichte sie ihm lächelnd hin.

»Nehmen Sie, damit Sie sich auch an ihrem Duft erfreuen können. Ich will Ihnen aber gleich eine Vase dazu holen, damit sie frisch bleiben.«

Ehe er ihr danken konnte, war sie im Haus verschwunden. Nachdenklich sog er den süßen Duft der Blumen ein.

»Es wird sich gewiß ganz friedlich und behaglich mit ihr leben lassen,« dachte er und suchte sich das in lichten Farben auszumalen. Aber da schob sich ein süßes, zauberschönes Frauenköpfchen in seine Gedanken hinein. Es war von rotgoldenen Locken umgeben, und Nixenaugen lachten ihm heiß und lockend daraus entgegen. Das Herz tat ihm weh vor Sehnsucht nach Alexandra Wendhoven. Er konnte sie nicht vergessen, ihren Verlust nicht verschmerzen, trotzdem, sie ihn verraten hatte. Und mit diesem Gefühl im Herzen sollte er um ein anderes Weib freien? –

Als Eva Marie zurückkam, schrak er aus seinem Brüten auf. Sie ordnete mit geschickten Händen die Rosen in der Vase, ohne zu sprechen. Er sah ihr zu.

Was sie für schöne schlanke Hände hatte! Darüber freute er sich und zwang seine Gedanken in eine andere Richtung.

»Waren Sie jemals in Schloß Burgwerben, gnädiges Fräulein?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein. Ich glaube, solange Ihr Vorgänger dort lebte, ist überhaupt keine Frau ins Schloß gekommen.«

»Aber Sie haben Herrn von Leyden gekannt?«

»Ja – das heißt, ich bin ihm oft auf meinen Spaziergängen begegnet. Zuweilen hat er mir sogar ›Guten Tag‹ gesagt. Aber manchmal konnte er durch mich hindurchsehen. Er sah dann noch finsterer aus als sonst.«

»Da haben Sie sich gewiß gefürchtet?«

Sie sah ihn ernsthaft an mit ihren ehrlichen, gütigen Augen.

»Gefürchtet? Nein. Aber leid hat er mir getan, der Arme. Er war so unglücklich trotz seines herrlichen Besitzes.«

»Woher wissen Sie, daß er das war?«

»Das lag mir im Gefühl. Er sah so verbittert aus, und nur Unglück und schlimme Erfahrung verbittern die Menschen. Man spottete ihn hier in der Umgegend aus, seiner Weiberfeindlichkeit wegen. Die Menschen sind oft so gedankenlos. Sicher hat eine Frau Unheil in sein Leben gebracht. Es gibt Frauen, die einem Manne das ganze Leben verbittern können.«

»Das ist eine seltsame Weisheit aus Ihrem Munde, woher kommt Ihnen solche Erfahrung?«

Ihr Blick flog am Hause entlang. Sie wollte etwas erwidern, preßte aber errötend den Mund zusammen.

»Kennen Sie das Schloß bereits?« fragte sie ablenkend.

Er verstand, weshalb ihr das Thema peinlich war, und ging auf ihre Frage ein.

»Nein, ich war nie dort.«

»Es liegt wunderschön, man muß eine herrliche Aussicht von dort haben. Sie freuen sich gewiß sehr, daß all das Schöne nun Ihnen gehört.«

»Ja, zumal ich nicht gerade in glänzenden Verhältnissen aufgewachsen bin. Mir kam diese Erbschaft sehr unerwartet. Im Grunde habe ich sie einer Unart zu danken, die ich als Bub mir zuschulden kommen ließ.«

Sie sah ihm mit lächelnder Frage ins Gesicht.

»Ich war nämlich gegen Herrn von Leyden sehr unhöflich, als ich ihn das erste- und letztemal im Leben sah.«

»Ach ja – nun weiß ich. Inspektor Scheveking hat mal in seinem Ärger meinem Vater gegenüber auf die verwandten seines Herrn gezankt. ›Wenn sie nur wüßten, daß sie umsonst katzbuckeln, dann würden sie schleunigst Fersengeld geben. Mein Herr hat sich schon einen Erben ausgesucht, der nicht um ihn herumkriecht, sondern mit geradem Rücken durchs Leben geht. Und dazu sag ich gottlob, denn mit denen, die da oben herumscharwenzeln, will ich nichts zu tun haben, lieber gehe ich fort von Burgwerben.‹ So sagte er zu meinem Vater mit großer Genugtuung.«

Armin mußte lachen, als er sich Scheveking im Geiste dabei vorstellte.

»Sie sind mit Scheveking befreundet, gnädiges Fräulein?«

Sie hob in schelmischer Abwehr beide Hände.

»Wenn er das hörte, daß sie ihn der Freundschaft mit einem weiblichen Wesen verdächtigen!« Dann fuhr sie ernster fort: »Er ist übrigens gar nicht so grimmig, wie er sich anstellt, und ich fürchte mich gar nicht vor ihm.«

»Das brauchen Sie auch nicht, er hält große Stücke auf Sie, das hat er mir ganz offen gesagt.«

Nun schoß wieder eine Blutwelle in ihr Gesicht.

»Darauf kann ich wirklich stolz sein. Er hat wohl einen Teil der Freundschaft für meinen Vater auf mich übertragen.«

»Mag sein. Jedenfalls ist er sehr gut auf Sie zu sprechen.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, trat ihre Stiefmutter aus dem Haus und rief ihren Namen. Als sie Eva Marie jedoch bei Leyden stehen sah, trat sie mit süßlichem Lächeln heran.

»Ach, du unterhältst unsern lieben Gast, Kind! Dann bleib nur ruhig, ich wollte nur sehen, wo du bleibst. Bist du fertig mit Gießen? Sonst kann Mina nachher noch mithelfen.«

Leyden sah, daß sich Eva Maries Gesicht sofort verfinsterte, als ihre Stiefmutter erschien. Sie war gleich eine andere.

»Nein, das ist nicht nötig, ich werde gut allein fertig,« sagte sie ruhig und nahm ihre Arbeit wieder auf.

Frau Professor Delius blieb bei Armin stehen und sah die Rosen in der Vase.

»Das liebe Kind, sie hat Ihnen Rosen gebracht, um Sie zu erfreuen! Darauf können Sie stolz sein, Herr von Leyden. Eva Marie geizt mit diesen Blumen, weil ihr Vater sie selbst gezogen. Mir stellt sie trotz meiner Bitten nie welche ins Zimmer.«

Eva Marie hatte das gehört. Sie wurde dunkelrot.

»Du kannst dich ja hier draußen im Garten an ihrem Duft erfreuen. Herr von Leyden ist, wie du weißt, ans Zimmer gefesselt.«

»Ja, ja Kind, ich meine ja nur. Das soll ja kein Vorwurf sein.«

Sie redete nun wie ein Wasserfall auf Armin ein. Er hätte am liebsten das Fenster geschlossen, legte sich wie müde zurück und warf nur einige Worte ein. Dabei beobachtete er Eva Marie, die mit peinvoll zusammengezogener Stirn ihre Arbeit beendete.

*

Seit diesem Morgen plauderten die jungen Leute oft zusammen. Armin machte wirklich reichlichen Gebrauch von Eva Maries Erlaubnis, sie zu rufen, wenn er Langeweile empfand. Er beurlaubte Schwester Anna sehr oft, um einen Vorwand zu haben. Da es ihm peinlich war, daß die junge Dame draußen stehen mußte, während er im Diwan lag, bat er sie, sich doch einen Sessel herbeizuholen. Das tat sie auch.

So saßen sie sich oft gegenüber und tauschten ihre Gedanken aus. Armin ließ sich von Eva Marie mancherlei Interessantes aus der Umgegend berichten und erzählte ihr dafür aus der Berliner Gesellschaft. Sie kamen sich durch diese Plauderstunden näher, als manche Menschen im jahrelangen gesellschaftlichen Verkehr. Er erzählte ihr von seinen Eltern, von seinem Freund Hans von Rippach, und sie sprach ihm von ihrem Vater, von seiner großen Herzensgüte und seinem frühen Tode.

Diese Plauderstunden wurden ihnen lieb, und wenn einmal ein Regentag kam und Eva Marie im Haus blieb, unerreichbar für ihn, da wurde er ganz ungeduldig. Er empfand eine herzliche, warme Freundschaft für das junge Mädchen, und der Gedanke setzte sich in ihm fest, daß sie die geeignetste Frau für ihn sei.

Und Eva Marie? Sie gab sich nicht Rechenschaft über das, was sie für Armin empfand, wies auch alle grübelnden Gedanken darüber von sich. Daß ein niegekanntes Frohgefühl ihre Seele beherrschte, wenn sie in sein Gesicht sah, konnte sie sich selbst nicht leugnen. Und daß alles, was er zu ihr sprach, ein wertvolles Ereignis für sie wurde, daß sie sich freute, wenn er nach ihr rief – was lag daran? In kurzer Zeit würde er geheilt in sein Schloß einziehen, und sie würde hinausgehen in die Welt, irgendwohin, wo man sie gebrauchen konnte. Dann war ja doch alles vorbei. Sie wollte sich nicht mit unnötigen Grübeleien das bißchen Glück trüben, das ihr der Zufall in den Schoß warf.

Frau Professor Delius störte die beiden jungen Leute nicht mehr. Aber sie beobachtete scharf, und fing schon an, Luftschlösser zu bauen. Wenn Leyden wirklich darauf verfiel, Eva Marie zu heiraten, so würde für sie selbst allerhand Gutes dabei herauskommen. Er war sehr reich. Wenn man es geschickt anfing, konnte man da eine hübsche Rente herausschlagen. Oben auf dem alten Schlosse zu hausen, würde ihr dann nicht einfallen. Eva Marie war ihr durchaus nicht sympathisch. Und sie gab sich auch keinen Täuschungen hin in bezug auf das, was ihre Stieftochter für sie empfand. Die würde froh sein, sie loszuwerden. Dann kamen doch vielleicht noch goldene Tage für sie in Freiheit und Wohlleben. Ja – wenn's nur erst so weit wäre! Die kluge Dame ahnte nicht, wie sehr ihre Hoffnungen und Pläne mit denen Leydens übereinstimmten.

*

Eines Nachmittags saß Eva Marie wieder vor Armins Fenster. Sie hatten schon eine Weile zusammen geplaudert und hingen nun jedes seinen Gedanken nach.

Leyden sah sinnend auf das junge Mädchen, das mit einem Holzstäbchen, wie man es zum Aufrichten von Pflanzen verwendet, Buchstaben in den Sand zeichnete. Sie war ihm ein lieber Anblick. Es ging so etwas Frisches, Starkes und Gütiges von ihr aus. Ganz friedlich wurde ihm immer ums Herz, wenn er in ihr liebes Gesicht sah. Der Schmerz um Alexandra verblaßte, solange sie ihm nahe war. Er war nun mit sich ganz im klaren, daß sie seine Frau werden sollte. Ihr Charakter schien ihm Bürgschaft für ein harmonisches Zusammenleben. Und sie schien ihn sehr gern zu haben. Daß sie nie empfinden sollte, daß ihr nicht sein ganzes Herz gehörte, gelobte er sich selbst. Er wollte sie hochhalten und ihr alle Rücksichten angedeihen lassen, die auch eine geliebte Frau beanspruchen konnte. Es würde ihm gar nicht schwer fallen, liebenswürdig und freundlich zu ihr zu sein. Er war ein famoser, prächtiger Mensch, ohne Zweifel. Er wollte auch gar nicht lange mehr zögern, ihr seinen Antrag zu machen. Weshalb sollte er sie sich lange quälen lassen mit Sorgen um ihre Zukunft? Er sah oft genug, wie ängstlich und unruhig sie dem alten Landbriefträger entgegensah, ob er ihr wohl gute Nachricht brachte wegen einer Stellung. Bei der nächsten passenden Gelegenheit würde er sie kurz entschlossen fragen, ob sie seine Frau werden wollte. –

Sie zeichnete noch immer im Sande. Er hob lächelnd den Kopf und versuchte zu entziffern, was sie aufzeichnete.

»Was malen Sie da für rätselhafte Inschriften, gnädiges Fräulein?«

»Nichts Rätselhaftes. Nur meinen Namen,« sagte sie lächelnd.

»Ach richtig! Jetzt sehe ich selbst. ›Eva Marie‹. Und da sagen Sie, das sei nichts Rätselhaftes?«

»Ist es doch auch nicht.«

»Ansichtssache. Eva Marie – eine eigenartige Zusammensetzung. Eva, das Urweib, die Stammmutter der Menschheit, und Maria, die gebenedeite Mutter des Erlösers. Das Weib des Alten und des Neuen Testamentes. Wahrlich, des Rätselvollen genug, denn jedes Weib ist ein Rätsel, und Ihr Name schließt gleichsam alles, was Weib heißt, in sich ein.«

Sie lachte herzlich und stützte den Kopf auf die Hand.

»Machen Sie mir nicht gruselig vor meinem eigenen Namen, unter dem ich mir bisher eigentlich gar nichts gedacht habe. Da ist mir der Ihre schon interessanter, zumal er gar nicht für Sie paßt.«

»Da muß ich doch bitten. Warum denn nicht?«

»Armin ist so deutsch wie nur irgend möglich. Sie sehen mit Ihrem dunklen Haar, den dunklen Augen und dem gebräunten Gesicht eher wie ein Südländer aus.«

»Trotzdem bin ich ein echter Deutscher, mit allen Vorzügen und Fehlern meines Volkes. Und dann bitte meine Größe und Schulterbreite, so etwas gibt es bei den Südländern nicht.«

»Leider hatte ich bisher nie Gelegenheit, Sie aufrecht gehen zu sehen. Ein Urteil über Ihre Größe kann ich mir also nicht erlauben.«

»Allerdings, daran dachte ich nicht. Jedenfalls überrage ich Sie um Haupteslänge, trotzdem Sie nicht zu den Kleinen Ihres Geschlechts gehören. Ich bitte also sehr darum, mich als guten Deutschen einzuschätzen.«

»Schön, sobald ich mich von Ihrer Größe überzeugt habe,« neckte sie.

»Hoffentlich dauert das nicht mehr gar zu lange. Es ist greulich, wenn man so stilliegen muß, ohne daß man sich krank fühlt. Eigentlich bin ich doch ganz gesund.«

»Ja, aber nur eigentlich. Doch nur noch ein wenig Geduld, das wird ja auch eines Tages überstanden sein.«

»Ein Glück, daß ich Sie habe, gnädiges Fräulein, ich wäre sonst wahrscheinlich längst auf meinem gesunden Bein davongelaufen.«

Sie mußte lachen. Gleich darauf erhob sie sich.

»Ich muß Sie jetzt Ihrem Schicksal überlassen. Erstens sehe ich dort den Postboten kommen und hoffe, daß er mir endlich Nachricht bringt, und zweitens wird es Zeit, daß ich an meine Arbeit gehe.«

»Aber Sie kommen doch heute noch einmal wieder?«

»Vielleicht gegen Abend zu einem Dämmerplausch. Bis dahin auf Wiedersehen!«

Sie nickte ihm freundlich zu und ging davon. Er sah ihr nach. Wirklich händigte ihr der Postbote einen Brief ein. Damit verschwand sie schnell im Haus.

Er blieb mit seinen tiefsinnigen Gedanken allein.

*

Eva Marie hatte sich mit dem empfangenen Briefe auf ihr Zimmer zurückgezogen. Es war wirklich ein Anerbieten auf ihr Stellengesuch. Frau von Soltenau fragte bei ihr an, ob sie geneigt wäre, ihre beiden jüngsten Kinder im Alter von neun und elf Jahren zu unterrichten und sich zugleich im Haushalt nützlich zu machen. Sie möge umgehend eine genaue Angabe ihrer Kenntnisse, ihres Alters und ihrer Verhältnisse einschicken und ihre Gehaltsansprüche mitteilen. Die Stelle in ihrem Hause sei zum ersten August neu zu besetzen, da aber noch einige Damen sich um dieselbe bemühten, möge sie sofort Nachricht geben, falls sie Erfolg wünsche.

Eva Marie antwortete sofort und richtete den Brief an Frau von Soltenau, Berlin W., Tiergartenstraße. So war in dem Schreiben angegeben worden. Sie trug den Brief gleich selbst hinüber nach dem Postkasten und ging dann langsam und nachdenklich zurück. Würde ihr Schreiben den gewünschten Erfolg haben und ihr eine Stellung bringen? Sie hoffte es, und doch fürchtete sie sich vor dem Abschied aus dem kleinen Haus. Das Herz tat ihr weh, wenn sie daran dachte, daß sie von hier fortmüsse. – Aber sie schüttelte diese Empfindung ab wie etwas, das ihr nur lästig sein konnte auf ihrem ferneren Lebensweg.

Als sie durch den Garten auf das Haus zuschritt, rief Armin sie an:

»Gnädiges Fräulein, Sie waren spazieren?«

Sie verhielt den Schritt und sah zu ihm hinüber.

»Nein, nur drüben am Briefkasten,« rief sie und wollte weitergehen. Ihr war jetzt gar nicht zum Plaudern zumute. Er machte ein klägliches Gesicht.

»Erbarmen Sie sich meiner und bringen Sie mir ein Glas frisches Wasser. Dieses hier ist matt und schal geworden in der Hitze.«

»Sogleich, Herr von Leyden.«

Sie holte sich die Wasserflasche, die er ihr durchs Fenster reichte, und füllte sie frisch am Brunnen. Dann füllte sie ihm das ebenfalls zugereichte Glas und stellte beides auf das Fensterbrett. Während er scheinbar mit durstigen Zügen trank, fragte sie lächelnd:

»Ist Schwester Anna noch nicht zurück?«

»Nein, gottlob noch nicht. Ich fühle mich wirklich behaglicher, wenn sie nicht da ist.«

»Aber Sie brauchen sie doch, wie Ihr Durst eben bewies.«

»Ja, zuweilen. Aber schöner ist es, wenn ich ihr schwarzes Kleid und die weiße Haube nicht sehe. Hatten Sie gute Nachrichten mit der Post?«

»Eine Anfrage, was ich leisten kann und so weiter. Hoffentlich wird die Sache perfekt.«

»Haben Sie so große Eile, hier fortzukommen?«

Sie strich mit der schönen schmalen Hand einige mutwillige Haarsträhnchen aus der Stirn zurück und sah von ihm fort in die Weite.

»Einmal muß es doch sein, und je eher, desto besser. Wir haben ohnedies kein Recht mehr, hierzubleiben, und ich möchte Ihre Güte nicht länger mißbrauchen.«

Er richtete sich lebhaft auf.

»Aber, gnädiges Fräulein, Sie werden mir doch die Freundschaft erweisen, so lange hier zu bleiben, als es Ihnen gefällt!«

Sie lächelte wehmütig und seufzte:

»Dann würden Sie sehr lange warten können, wenn es danach ginge. Übrigens müssen wir ohnedies noch einige Wochen von Ihrer Erlaubnis Gebrauch machen. Ich würde im günstigen Falle zum ersten August engagiert werden, habe also noch den ganzen Juli vor mir. Und Mama hat noch keine passende Wohnung in der Stadt gefunden. Ich werde mich aber nun selbst mit darum bemühen. Sollte sie bis zu meinem Weggang noch nicht umziehen können, dann muß ich ohnehin bei Ihnen noch für sie bitten.«

»Das ist nicht nötig, gnädiges Fräulein, ich habe es wahrlich nicht im Scherz gesagt, daß Sie das Haus als das Ihre betrachten sollen, solange Sie wollen. Und der Abschied wird Ihnen so schwer werden von Burgwerben. Ganz traurig sind Sie geworden, und Ihre Augen haben einen trüben Schleier bekommen.«

Sie erzwang ein Lächeln und schüttelte den Kopf. Der Wunsch, ihr zu helfen, erregte ihn. Er sah sie eigentümlich forschend an. Sie raffte sich auf und blickte ihn an. Seine Augen senkten sich tief und fragend in die ihren. Sie erschrak und wurde unsicher.

»Sie wissen ja, daß ich Papas Grab hier zurücklasse. Und Burgwerben ist ein so herrliches Stück Erde. Da geht man natürlich nicht gern fort. Aber einmal muß es doch sein.«

Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest in der seinen. Er fühlte, daß sie leise bebte.

»Nein, Eva Marie, es muß nicht sein. Bleiben Sie hier, werden Sie meine Frau. Liebe Eva Marie, nun habe ich Sie erschreckt – nein, lassen Sie mir Ihre Hand, laufen Sie mir nicht davon, denn ich kann Ihnen ja nicht folgen.«

Sie war jäh erblaßt und dann dunkelrot geworden. Nun lehnte sie kraftlos vor Schreck an seinem Fenster, und ihre Augen sahen bang und ungläubig in sein Gesicht.

»Kind – ich hätte noch warten sollen, Sie sind so fassungslos, Eva Marie. Ich wollte ja erst sprechen, wenn ich wieder herumlaufen kann. Aber ich will nicht, daß Sie sich mit Trennungsgedanken und Daseinssorgen länger herumquälen sollen. Nun sagen Sie mir, ob Sie bleiben wollen als meine Frau, als Herrin von Burgwerben.«

Er sah sie herzlich bittend an. Ihre Fassungslosigkeit rührte ihn, und er sah in ihren Augen einen Ausdruck, der ihm verriet, daß sie ihn liebte und daß diese Liebe ihr erst jetzt so recht bewußt wurde. Und er gelobte sich, sie glücklich zu machen, soweit es in seiner Macht stand.

»Nun, Eva Marie, bekomme ich keine Antwort?«

Da schluchzte sie plötzlich auf und verbarg ihr Gesicht an seiner Hand, die die ihre noch immer fest umschlossen hielt. Er strich mit der anderen Hand sanft über ihre schönen braunen Flechten und spürte, daß heiße Tränen aus ihren Augen fielen.

»Eva Marie – nicht weinen!«

Sie richtete sich auf und wischte lächelnd die Tränen ab.

»Es ist – ach, mein Gott – das kommt so plötzlich, so unerwartet – –«

»Aber du sagst ›ja‹, nicht wahr? Du willst meine Frau werden, mein treuer Freund, mein guter Kamerad. Und du sollst es gut haben bei mir, alle Sorgen will ich von dir nehmen.«

Da sah sie ihn an mit warmer, ehrlicher Liebe, und heißes Rot stieg in ihr Gesicht.

»Ich will – ach, wie gern – ich habe dich lieb, wollte es mir nur nicht eingestehen. Und nun danke ich dir aus tiefstem Herzen, daß du mich liebst und zu deiner Frau machen willst – lieber Armin.«

Und dabei leuchteten ihre Augen im Glanz eines unaussprechlichen Glückes. Er küßte ihr beide Hände und fühlte sich froh und heiter.

»Mädchen – liebes, herrliches Geschöpf – nun kann ich armer Kerl nicht einmal meinen Arm um dich legen und dir einen richtigen, echten Kuß geben. Das ist eine mangelhafte Verlobung. Aber das wird nachgeholt, sobald ich auf bin. Komm doch näher zu mir heran, liebe Eva Marie!«

Er zog sie dicht ans Fenster heran und drückte einen Kuß auf ihre roten Lippen. Nur flüchtig war diese Berührung, und sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig dabei. Aber Eva Marie war zumute, als wenn mit diesem Kuß neue Lebenswonnen in ihr erwachten.

»Armin – lieber Armin,« flüsterte sie und legte ihre heiße Wange schmeichelnd auf seine Hand. Scheu sah sie sich um und küßte ihn dann schnell noch einmal auf den Mund. Und er schloß einen Augenblick die Augen und dachte an Alexandra Wendhoven.

Wie ganz anders würde er beglückt gewesen sein, wenn diese statt Eva Marie hier neben ihm gestanden hätte!

Er drängte aber diesen Gedanken schnell zurück und sah Eva Marie an. Wie reizend sie aussah in ihrem neuen, blühenden Glück! Wie leicht war es doch, so ein gläubiges Frauenherz glücklich zu machen! Ob er sie liebte oder nicht, darauf kam es gar nicht an. Nur, daß sie an diese Liebe glauben konnte, das war die Hauptsache. Glück ist Einbildung.

Eva Marie trat plötzlich erschrocken zurück.

»Schwester Anna kommt,« rief sie leise.

Er lehnte sich lächelnd in den Diwan zurück.

»Soll sie unsere Verlobung nicht erfahren?« fragte er leise.

»Nein, bitte nicht. Solange du hier bist, soll es niemand wissen, ich – ich möchte nicht, daß Mama davon erfährt. Sie ist oft so – so unzart.«

Er drückte ihr die Hand.

»Ich verstehe dich, Eva Marie – und es ist mir lieb, daß du mit deiner Stiefmutter nicht übereinstimmst. Doch davon sprechen wir ein andermal.«

Noch ein Händedruck, ein leiser Liebesgruß, dann ging sie der Schwester entgegen.

»Haben Sie Herrn von Leyden wieder die Langeweile fortgeplaudert?« fragte diese lächelnd.

Eva Marie machte ein eigentümlich leuchtendes Gesicht bei dieser Frage, so daß die Diakonissin sie ganz verwundert ansah.

»Herr von Leyden hatte Durst nach einem frischen, kühlen Trunk. Ich holte ihm Wasser,« sagte sie und ging mit der Schwester ins Haus.

Während diese zu ihrem Patienten eintrat, ging Eva Marie in den kleinen Salon. Dort lag Frau Delius auf dem Diwan und jammerte über die gräßliche Hitze. Unter dem Diwan lag ein kleiner Karton. Sie hatte wieder Kognakpralinen genascht. Eva Marie kannte diese Leidenschaft ihrer Stiefmutter, wie sie auch wußte, daß dieselbe eine heimliche Vorliebe für alkoholische Getränke besaß. Und die eigentümlich schimmernden Augen dieser Frau verrieten ihr, daß trotz mangelhafter Geldverhältnisse wieder Wein oder süße Liköre heimlich angeschafft worden waren.

Ein an Ekel streifender Widerwille trieb das junge Mädchen wieder hinaus. Sie konnte jetzt in ihrem jungen Glück den Anblick noch weniger ertragen als sonst. Daß sie sich um jeden Preis von ihrer Stiefmutter trennen würde, stand fest bei ihr. Armin durfte einem Zusammenleben mit dieser Frau nicht ausgesetzt werden.

Langsam ging sie in ihr Zimmer hinauf. Da stand noch Briefpapier und Schreibzeug von vorhin. Wie seltsam hatte sich ihr Geschick geändert, seit sie das Zimmer verlassen hatte! Eine heiße Dankbarkeit gegen das gütige Geschick stieg in ihr empor. Nun brauchte sie nicht voll Sorgen auf Antwort zu warten. Frau von Soltenau mochte eine andere Bewerberin annehmen. Es war schade, daß ihr Brief schon fort war. Sie konnte nun nicht gut einen zweiten folgen lassen mit einer Absage. Dazu war ja auch immer noch Zeit, wenn die Wahl wirklich auf sie fallen sollte.

Sie räumte die Schreibutensilien fort. Und dabei überkam sie wieder mit Allgewalt das heiße Glücksgefühl. Sie sank in die Knie im Übermaß des Empfindens und hob die Hände.

»Mein Gott – du bist die Güte – hilf, daß ich ihn glücklich mache!« betete sie mit Inbrunst.

Und dann nahm sie ihres Vaters Bild vom Schreibtisch auf und küßte es.

»Papa, lieber Papa – so glücklich ist dein Kind geworden!« flüsterte sie und sah mit feuchten Augen in das schmale, edelgebildete Gelehrtengesicht.

Wenn er das erlebt hätte! Er hatte sich so große Sorge um ihre Zukunft gemacht, so heiße Vorwürfe, nicht besser für sie gesorgt zu haben. Nun war so gut für sie gesorgt.

*

Scheveking kam am nächsten Morgen, gerade als der Arzt wieder fortgefahren war, zu seinem Herrn ins Zimmer. Er kam oft auf eine Viertelstunde, um Armin seine Ergebenheit zu beweisen, trotzdem er viel zu tun hatte.

»Guten Morgen, Herr! Nun, wie ist es? Wann werden Sie aus der Krankenstube entlassen?«

»In gut acht Tagen, lieber Inspektor. Sie können also schon langsam für mich kochen und braten lassen. Nach Ihren Schilderungen versteht ja Mamsell Wunderlich sich ausgezeichnet auf die Küche.«

»Will ich meinen, Herr, will ich meinen! Die versteht überhaupt ihre Sache, wenn sie man auch nur eine Frau ist. Und dafür kann sie ja eigentlich nichts, dieser Fehler ist ihr angeboren.«

Armin mußte lachen.

»Wie steht es mit den Ernteaussichten, ich muß mich wohl dazuhalten, wenn ich noch mithelfen will?«

»Wohl, wohl. Ist ein gesegnetes Jahr. Alle Wetter! So kommt es nicht oft. Wenn's uns in letzter Stunde nicht noch verhagelt, dann treten Sie Ihr Regiment auf Burgwerben mit guter Ernte an.«

Die beiden Männer besprachen dies und das. Plötzlich fragte Scheveking mit emporgezogenen Augenbrauen:

»Na, und wie steht es mit der Eva Marie, Herr, sind Sie im klaren?«

Armin nickte.

»Ganz im klaren, Inspektor. Ich habe sie schon fest in Ketten und Banden gelegt. Aber das sage ich nur Ihnen. Vorläufig braucht das niemand zu wissen.«

Scheveking schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie.

»Alle Hagel, das ist schnell gegangen! Na – nun muß ich wohl meinen Glückwunsch loslassen, Herr. Also ich gratuliere. Wenn schon durchaus eine Frau ins Burgwerbener Schloß kommen soll, dann ist Fräulein Eva Marie schon die beste. Das glauben Sie mir getrost. Na, und schwatzen tue ich natürlich nicht, das ist ausgemacht. Hm – na ja – und die Alte? Die ist doch hoffentlich abgesetzt?«

»Noch nicht. Aber haben Sie keine Bange, die kommt nicht ins Schloß.«

»Gottlob – da käme auch nichts Gutes bei heraus. So, so – also Fräulein Eva Marie! Na, wenn das mein alter Freund, der Professor, noch erlebt hätte! Lieber Gott, hat sich der Mann um sein Kind gesorgt! Dieser Satan, die Alte, hat ihm ja das ganze Vermögen verwürgt. Na, nun ist seine Tochter gut versorgt, und er kann ruhig schlafen.«

»Was an mir liegt, soll geschehen, sein Kind glücklich zu machen. – Sagen Sie mal, Inspektor, ist denn das Schloß so im Stande, daß man eine Frau hineinführen kann?«

Scheveking fuhr unruhig durch seinen Haarbusch.

»Hm! Na ja! Es gibt da eine Menge Zimmer im Schloß, die ich nie zu sehen gekriegt habe. Mamsell Wunderlich ist so ein paarmal alle Jahre mit Staubwedel und Scheuereimer darin herumgefahren und hat heillos gejammert, daß all die schönen Sachen verkommen, ohne jemand Freude zu machen. Seit sie weiß, daß unser seliger Herr die verdrehte – wollte sagen: sonderbare Bestimmung getroffen hat mit Ihrer Verheiratung, da tut sie sich nun sieben Güten. Ei du liebe Zeit! Da wird gescheuert und geputzt mit einem ganzen Heer von Unterröcken. Ich sollte mir gestern unbedingt die ganze Pastete ansehen. Es sei nun alles wieder blank und wie neu. Aber ich danke. Was soll ich mit meinen Kanonenstiefeln auf dem spiegelglatten Parkett herumtreten? Ist nichts für mich. Ich habe nur in den Zimmern zu tun, die mein seliger Herr bewohnte. Die liegen alle im Parterre im Mittelflügel. Na, Sie werden ja bald selbst sehen, ob die oberen Räume für eine junge Frau schön genug sind. Fräulein Eva Marie ist ja nicht verwöhnt.«

»Gut, gut. Es hat ja auch noch Zeit. Wenn wirklich irgendwelche Veränderungen vorgenommen werden müssen, so ist in vier Wochen viel getan.«

»Soll die Hochzeit schon so bald stattfinden?«

»Jedenfalls werde ich nicht sehr lange zögern. Weshalb soll ich lange allein in dem großen Schlosse hausen? Und meine Braut soll nicht länger als nötig hier bei – bei der Frau Professor bleiben.«

»Verstehe, Herr. Und recht haben Sie gewiß. Wenn es einmal sein muß, dann auch nicht lange gezögert. Arznei muß schnell und tapfer hinuntergeschluckt werden. Ja! Und dann will ich nun wieder gehen, ich muß hinüber aufs Vorwerk. Will sehen, ob da alles in Ordnung ist. Der Verwalter da ist ein bißchen jung und hat eine junge Frau. Solchen Narren kann man nicht genug auf die Finger passen. Adjüs denn, Herr, und machen Sie sich bald von den Bandagen los. Ist ja ein Greuel, so lange die Knochen nicht regen zu dürfen.«

Er drückte Armin die Hand, daß diesen alle Finger schmerzten, und ging hinaus.

Im Garten vor dem Haus saß Schwester Anna und schlief. Sie fuhr erschrocken auf, als der Inspektor mit kurzem Gruß an ihr vorüberschritt, und ging zu ihrem Patienten zurück. Armin bat sie, ihm Schreibzeug und Papier zu reichen. Sie baute ihm eine bequeme, feste Unterlage zurecht, damit er schreiben konnte, legte ihm alle Utensilien zur Hand, und setzte sich ihm gegenüber an das andere Fenster. Gleich darauf war sie wieder eingenickt.

Armin lächelte gutmütig, als der Kopf mit der weißen Haube hin und her zu schwanken begann. Dann hielt er Ausschau, ob Eva Marie nicht zu erblicken war. Es regte sich aber nichts in dem sommerlich prangenden Garten.

Da ergriff er die Feder und schrieb:

 

»Mein lieber Hans! Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich kann Dir zur Beruhigung mitteilen, daß mein Unfall außer dem Unterschenkelbruch keine schlimmen Folgen hatte. In etwa acht Tagen kann ich nun endlich meinen Einzug in Schloß Burgwerben halten und hoffe, Dich dann bald auf längere Zeit bei mir zu sehen.

Und nun, mein Alter, eine Neuigkeit. Ich schrieb Dir von der jungen Dame, die mir bei meinem Unfall so mutig die erste Hilfe leistete. Sie ist seit gestern meine Braut. Das sollst Du schon jetzt wissen. Eva Marie ist ein wertvoller, gütiger und lebensfrischer Mensch. Daß sie arm ist, braucht kein Hindernis für mich zu sein. Sie ist gesund, hübsch und anmutig, und ich hoffe, in ihr eine passende Lebensgefährtin gefunden zu haben. Ich hege eine warme Freundschaft für sie, mehr nicht. An einem Mehr hindert mich die Erinnerung an Alexandra, oder vielmehr an das, was ich für sie empfunden habe. Solche himmelstürmende Glut empfindet man wohl nur einmal im Leben. Ich sehne mich auch nicht nach einer Wiederholung, denn darauf kann die Enttäuschung nicht ausbleiben.

Eva Marie liebt mich, das fühle ich, und es rührt mich tief. Sie soll nie erfahren, daß nur äußerer Zwang mich zu einer Ehe mit ihr treibt. Jedenfalls ist sie mir sympathisch genug, um mich mit diesem Muß auszusöhnen. Ich kann mit Ruhe und Behagen an ein Zusammenleben mit ihr denken, und das ist viel in meiner Lage. –

Und Du willst wirklich Deiner Herzliebsten fernbleiben bis zur Eröffnung der Wintersaison, Du willst prüfen, ob ihre Liebe tief genug ist, eine Trennung zu überdauern? Nun, jeder ist seines Glückes Schmied. Ich könnte Dir sagen, junge Liebe soll sich nicht weiter voneinander entfernen, als der Duft einer Rose reicht, aber da Du ein Dickkopf bist und Deine Entschlüsse nicht zu ändern pflegst, so kann ich mich nur darauf beschränken, Dir zu wünschen, daß Deine heimlich Angebetete die Probe besteht und Dir treu bleibt.

Und damit für heute genug. Nun bitte ich Dich zum Schluß, meine Verlobung vorläufig noch geheimzuhalten. Ich möchte sie erst kurz vor der Hochzeit veröffentlichen, da meine Braut noch in Trauer um ihren Vater ist. Mit herzlichem Gruß

Dein treuer Freund Armin.«

*

Äußerlich hatte sich nichts im Verkehr der beiden Verlobten geändert. Eva Marie kam höchstens etwas öfter an Armins Fenster, um mit ihm zu plaudern. Kaum, daß sie ab und zu verstohlen einen Kuß tauschten und die Hände beim Gruß länger umschlossen hielten. Aber das junge Mädchen blühte auf im Besitz ihres großen, heimlichen Glücks. Und Armin war ihr gegenüber voll zartester, ritterlicher Aufmerksamkeit und bedauerte innerlich tief, daß er ihre Liebe nicht in gleichem Maße erwidern konnte.

Eva Marie fiel es gar nicht ein, an seiner Liebe zu zweifeln, weshalb hätte er sonst um sie werben sollen, wenn nicht aus wahrer, tiefer Liebe? Ein Mann wie er, der noch dazu in den glänzendsten äußeren Verhältnissen lebte, hätte doch die Auswahl unter tausend Frauen gehabt. Folglich konnte er sie nur gewählt haben, weil er sie liebte.

Daß er bei seiner Werbung nicht gesagt hatte: »Eva Marie, ich liebe dich,« war ihr gar nicht zum Bewußtsein gekommen, es fiel ihr auch gar nicht ein, diese Versicherung von ihm in Worten hören zu wollen. Sein liebevolles Eingehen auf all ihre Pläne und Wünsche, sein zartes, herzliches Verhalten war ihr Bürgschaft genug für seine Liebe.

Sie legte ihre ganze Seele offen vor ihm dar, und einige Tage nach ihrer Verlobung berührte sie auch ihr Verhältnis zu ihrer Stiefmutter. Armin zeigte sich auch in diesem Punkte als ihr verständnisvoller Freund. Er bat sie, ihm allein die Ordnung dieser Angelegenheit zu überlassen. Er wolle in ihrem und seinem Interesse dafür sorgen, daß ein Zusammenleben mit der alten Dame ausgeschlossen bleibe.

Frau Professor Delius sollte, ehe er ins Schloß übersiedelte, von der Verlobung Kenntnis erhalten. Eva Marie konnte noch so lange mit ihr in dem kleinen Häuschen wohnen bleiben, bis alles zur Hochzeit vorbereitet war. Offizielle Verlobungsanzeigen würden erst kurz vor der Hochzeit ausgesandt werden. Das junge Mädchen überließ vertrauensvoll ihrem Verlobten alle Bestimmungen. In ihre Liebe mischte sich eine heiße Dankbarkeit für ihn. Es war so süß, sich geborgen zu fühlen in so sicherer männlicher Hut.

Schwester Anna schien zu merken, daß Armin sie leicht entbehren konnte. Sie ging jetzt jeden Nachmittag ins Dorf hinüber. Es gab da manchen Kranken, dem sie nützlich sein konnte. Und da Armins Pflege für sie weder mühevoll noch anstrengend war, und sie sich einmal gründlich hatte ausschlafen können, half sie gern, wo sie helfen konnte. So blieb den Liebenden manch freie Stunde in den letzten acht Tagen von Armins Aufenthalt, und sie nutzten diese Zeit gründlich aus, um Pläne zu schmieden und sich innerlich immer näher zu kommen.

Daß Armin kein sehr stürmischer und feuriger Liebhaber war, fiel Eva Marie nicht auf. Sie selbst war eine viel zu stille, ausgeglichene Persönlichkeit, um anderes von ihm zu erwarten. Ihre Liebe war eine tiefinnerliche, die sich nicht durch viele Äußerlichkeiten kundgab, und sie glaubte, Armin empfinde wie sie. Hätte sie eine Ahnung gehabt, daß er im Grunde eine leidenschaftliche, ungestüme Natur war, hätte sie gewußt, wie feurig und überschwenglich er eine andere geliebt hatte, so wären ihr vielleicht Bedenken gekommen. So aber trübte nichts ihre glückliche Ruhe. »Er liebt dich, du liebst ihn« – diese Gewißheit füllte jetzt ihr Leben aus und trug sie hinweg über alles andere. – –

So war denn der Verband abgenommen worden. Armin wurde als geheilt aus der ärztlichen Behandlung entlassen. Große Vorsicht und Schonung seines Beines war ihm natürlich zur Pflicht gemacht worden, und Doktor Schmalfeldt versprach, noch zuweilen nach ihm zu sehen.

Scheveking freute sich ungemein, daß sein Herr nun am nächsten Tage seinen Einzug in Burgwerben halten wollte.

Der erste vorsichtige Gang aus seinem Krankenzimmer führte Armin in den kleinen Salon hinüber. Er hatte Frau Professor Delius um eine Unterredung bitten lassen.

Im Hausflur wartete Eva Marie auf ihn, und zum ersten Male umschloß er sie einen Augenblick mit seinem Arm. Als er die bebende Mädchengestalt an seinem Herzen fühlte, klopfte es ihm dort etwas schneller. Ihre frische Lieblichkeit blieb nicht ohne Eindruck auf ihn.

Herzlich küßte er sie auf den Mund und gab sie dann schnell frei, um, auf seinen Stock gestützt, in den Salon zu gehen.

Frau Delius erwartete ihn mit einiger Unruhe. Daß etwas zwischen ihm und Eva Marie sich ausspann, hatte sie durch heimliche Spionage herausgebracht. Sie war indessen schlau genug, abzuwarten, was sich da entwickeln würde. Ein voreiliges Einmischen ihrerseits konnte nur schaden. Wenn sie sich jedoch klug zurückhielt, konnte nur Gutes für sie herausspringen.

Dieser angekündigte Besuch des Herrn von Leyden konnte nur eine Höflichkeit, eine leere Form sein, es konnte jedoch auch etwas anderes dahinterstecken. »Wer weiß, ob die beiden nicht schon einig sind,« sagte sie sich, »jedenfalls werde ich auf alles gefaßt sein und meinen Vorteil wahren, vielleicht ist mir das Glück doch noch einmal günstig.«

Als Armin nun bei ihr eintrat, erhob sie sich schwerfällig, aber mit süßlich strahlendem Lächeln.

»Mein lieber Herr von Leyden, wie ich mich freue, nein, wie sehr ich mich freue, daß ich Sie nun wieder so wohl und gesund vor mir sehe! Bitte, nehmen Sie Platz, Sie dürfen Ihrem Bein noch nicht zu viel zumuten, nicht wahr?«

Er verneigte sich dankend und nahm Platz. Sie setzte sich ihm lächelnd, ganz Freude und Wohlwollen, gegenüber. Aus ihren verschwommenen Augen fuhr aber verstohlen ein forschender Seitenblick über sein Gesicht.

Armin konnte nichts als Widerwillen bei ihrem Anblick empfinden. Er war aber viel zu sehr Weltmann, um sich das anmerken zu lassen. In verbindlichem, ruhigem Tone erwiderte er:

»Ich komme, um mich zuerst für die überaus freundliche Aufnahme zu bedanken, die Sie mir in Ihrem Hause zuteil werden ließen.«

»Aber bitte recht sehr, mein lieber Herr von Leyden! Das war doch nur Christenpflicht. Wir haben es ja so gern getan, Eva Marie und ich.«

»Das erhöht natürlich meine Dankesschuld, gnädige Frau, und ich will mich nicht von Ihnen verabschieden, ohne Ihnen das auszudrücken.«

»Sie wollen heute nach dem Schloß hinauf, wie ich von Schwester Anna gestern abend hörte?«

»Ja, in einer Stunde etwa wird man mir einen Wagen schicken.«

»Das tut uns natürlich herzlich leid. Es wird nun wieder doppelt still und einsam um uns sein. Sie gestatten uns doch, noch einige Wochen hier zu verweilen, bis sich unsere Verhältnisse so weit geklärt haben, daß wir umziehen können?«

Wieder ein lauernder Seitenblick. Armin fing ihn auf und deutete ihn ziemlich richtig. Er betrachtete scheinbar aufmerksam das Bild des Professors, welches an der Wand hing. Dann sagte er etwas zögernd:

»Darauf wollte ich eben jetzt zurückkommen. Es ist ein Ereignis eingetreten, das Ihnen vielleicht überraschend kommt. Ich habe mich mit Eva Marie verlobt und wollte Sie, gnädige Frau, bitten, bis zu unserer Hochzeit mit meiner Braut hier wohnen zu bleiben. Ihre Billigung unserer Verlobung nahmen wir als sicher an. Von einer Veröffentlichung wollen wir vorläufig absehen. In einigen Monaten hoffe ich alle Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen zu haben. Sie würden uns zu Dank verpflichten, wenn Sie auch bis dahin noch Mutterstelle an Eva Marie vertreten würden. Nachher wollen wir Sie nicht länger in der ländlichen Stille festhalten. Da Sie, wie mir Eva Marie mitteilte, das Großstadtleben vorziehen, bin ich natürlich gern bereit, Ihnen eine Rente auszusetzen, die Ihnen ein behagliches Leben in irgendeiner Großstadt ermöglicht. Sie brauchen sich nur für Berlin, Dresden, München oder sonst einen Ort zu entscheiden. Ich werde Ihre Übersiedlung ganz nach Ihrem Wunsche leiten.«

Er schwieg. Frau Delius war bei der Nachricht von der Verlobung wie ein Gummiball emporgesprungen und schien Lust zu haben, Armin mit mütterlichen Liebesbeweisen um den Hals zu fallen. An seiner ruhig höflichen Haltung erkaltete dieser zur Schau getragene Gefühlsüberschwang, und sie sank in ihren Stuhl zurück. Die Fortsetzung seiner Rede verfolgte sie mit großer Aufmerksamkeit. Sie war schlau genug, zu erraten, daß man durchaus nicht auf mütterliche Gefühlsergüsse ihrerseits rechnete, daß man sie im Gegenteil durchaus als Fremde zu betrachten wünschte. Und da Armin damit schloß, ihr eine Rente und einen Aufenthalt in der Großstadt in Aussicht zu stellen, war sie sehr zufrieden und beglückt über die Lage der Dinge. Sie fand sich mit dem Geschick einer raffinierten Schauspielerin in die ihr zugedachte Rolle und vermied schlau alle Klippen.

»Sie sehen mich aufs höchste erstaunt und erfreut, mein lieber Herr von Leyden. Aber wahrlich, Eva Marie verdient das Glück, Ihre Frau zu werden. Das liebe Mädchen hat schon manches Trübe erfahren. Zuletzt den Tod meines heißgeliebten seligen Mannes. Ach, wenn er das hätte erleben dürfen! Sein großes, gütiges Herz hörte zu früh für uns arme Frauen auf zu schlagen. Wie ich mich freue für Eva Marie! Sie war mir immer mehr eine Freundin als eine Tochter. Ja, ja! Das liebe Kind, Gott erhalte ihr Glück! Wie will ich mich aus der Ferne daran freuen! Ihr gütiges Anerbieten nehme ich mit Dank an. Ich habe hier auf dem Lande gedarbt an geistiger Anregung, zumal, seit mein geliebter Mann von uns ging. Ich war gewohnt, in einer Umgebung zu leben, der Künstler und Gelehrte ihren Stempel aufdrückten. Wenn man jung ist und sich liebhat, ist man sich selbst genug. Aber in meinen Jahren! Ich bin ja gottlob noch nicht alt, Geist und Herz sind noch frisch und jung, aber mein Mann ist mir genommen. Ich würde die Einsamkeit hier nicht ertragen, wenn auch Eva Marie noch von mir ginge.«

Armin hatte diesen Wortschwall still über sich ergehen lassen. Als nun die gute Dame erschöpft und atemlos geendet, erhob er sich.

»Demnach sind wir im Einverständnis, gnädige Frau. Es ist mir lieb, daß wir uns so leicht verständigten. Und nun gestatten Sie mir, daß ich mich zurückziehe. Eva Marie erwartet mich im Garten, ich will ihr noch Lebewohl sagen.«

Frau Professor Delius erhob sich nun gleichfalls und sagte ihm so wortreich Lebewohl, daß sie wieder völlig atemlos wurde.

Als Armin die Tür hinter sich geschlossen hatte, wischte er sich mit dem Taschentuch über Stirn und Augen, als wolle er das Bild verscheuchen.

Langsam schritt er durch den Hausflur in den Garten. Unweit der Tür stand Eva Marie an einen Baum gelehnt. Sie sah ein wenig blaß und befangen aus, wußte sie doch, welch unangenehme Unterredung Armin hinter sich hatte.

Er lächelte ihr freundlich zu, und sie eilte an seine Seite, um ihm beim Überschreiten der Schwelle behilflich zu sein. Als sie dann an seiner Seite zu der Bank schritt, die unweit der Tür unter einem Holunderbusch stand, fragte sie leise und ängstlich:

»War es sehr schlimm?«

Er lachte und drückte ihren Arm fest in den seinen.

»Gar nicht, Eva Marie, es ging alles ganz glatt, und du brauchst nicht so ängstliche Augen zu machen.«

Sie seufzte erleichtert auf.

»Gottlob, daß es hinter dir liegt. Davor war mir bange.«

»Aber nun ist das vorbei. Nun zeigst du mir zum Abschied ein fröhliches Gesicht.«

Sie sah ihm voll zärtlicher Liebe und Hingebung in die Augen.

»Mein Armin, mein liebster, liebster Mensch, wenn ich dich nicht hätte!«

Er küßte ihr die Hand, dann, als er sich überzeugt hatte, daß niemand sie belauschen konnte, zog er sie fest an sich und küßte ihren Mund.

So saßen sie schweigend nebeneinander, Hand in Hand, bis der Wagen sichtbar wurde, der ihn zum Schloß bringen sollte.

»Du kommst doch recht oft zu mir, Armin?«

»Gewiß, Liebling, jeden Tag. Vorläufig muß ich ja fahren. Aber wenn ich erst wieder gut zu Fuße bin, dann treffen wir uns unterwegs, im Walde. Und in drei Monaten spätestens hole ich dich heim.« –

Der Abschied vor Zeugen war kurz und ohne Vertraulichkeiten. Nur ein fester Händedruck, ein tiefer Blick, dann fuhr er davon. Eva Marie sah dem Wagen nach, bis er verschwunden war. Und da schauerte sie plötzlich zusammen in der heißen Mittagssonne. Als wenn die Welt plötzlich kalt und dunkel geworden wäre, da er ihren Blicken entschwunden.

Sie ging langsam ins Haus zurück und trat in das Zimmer, welches er seit Wochen bewohnt hatte. Leise liebkosend glitt ihre Hand über die Möbel, und dann küßte sie scheu und flüchtig die Stelle des Diwans, wo sein Haupt geruht hatte. Da wurde ihr wieder frei und glücklich zumute. Lächelnd und träumend stand sie mit gefalteten Händen mitten im Zimmer. Dann wurde die Tür geöffnet, und ihre Stiefmutter erschien auf der Schwelle.

»Eva Marie – da habe ich dich endlich, kleines Bräutchen! Laß dir Glück wünschen, liebes Kind! Ach mein Gott, du hast das große Los gezogen! Wer hätte das gedacht, daß du hier eine solche Partie machen würdest! Ja, ja, Glück muß man haben, Glück, das ist alles!«

Sie schüttelte Eva Marie die Hand und sah sie neckisch von unten herauf an.

»Und so heimlich, du Bösewicht, mich so zu überraschen! Ich war ja fassungslos, einfach sprachlos. Na, nochmals meinen herzlichsten Glückwunsch!«

»Ich danke dir,« sagte Eva Marie mit ruhiger Würde und begann im Zimmer aufzuräumen, um die frühere Ordnung wiederherzustellen.

*

Inspektor Scheveking war seit dem frühen Morgen schon auf den Beinen, um alles zum Empfang seines Herrn vorzubereiten. Nun war alles in Ordnung, und er konnte den Wagen hinabschicken vor das kleine Professorenhaus.

Die Leute waren seit zehn Uhr dienstfrei und versammelten sich im Sonntagsstaat in dem großen Schloßhof. Dieser wurde auf einer Seite durch die Hinterfront des Schlosses begrenzt. Die zweite Seite bildete das Wirtschaftsgebäude mit der Küche und den Vorratsräumen im Souterrain und Parterre. Im ersten Stock lag die Inspektorwohnung, und im zweiten Stock die beiden Stübchen Mamsell Wunderlichs und die Kammern der im Schloß bediensteten Mägde.

Diesem Gebäude gegenüber lagen die Ställe, und auf der vierten Seite wurde der Hof durch mächtige Mauern und ein breites, hohes Tor begrenzt.

Als der Wagen, der den neuen Herrn von Burgwerben herbeiholen sollte, durch die breite Toreinfahrt verschwand, sah Scheveking nach seiner sehr umfangreichen Uhr.

»Elf Uhr – na ja, da wollen wir mal erst ein bißchen frühstücken,« murmelte er. Er stellte einen Knecht am Tor auf.

»Da stellst du dich hin, Anton, und sobald du den Wagen unten über die Brücke fahren siehst, rufst du mich. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Inspektor!«

»Schön, mein Sohn, nun paß gut auf, sonst soll dir ein Donnerwetter in den Magen fahren.«

Er ging mit breiten, etwas steifen Schritten quer über den Hof auf das Wirtschaftsgebäude zu und verschwand im Hausflur.

»Mamsell – Mamsell!« rief er laut und dröhnend durch den weiten, mit Steinfliesen ausgelegten Raum. Ein frisches, rundes Frauengesicht, von grauen Haaren umrahmt, auf denen eine weiße Haube mit fliegenden Bändern saß, erschien in der geöffneten Küchentür.

»Was ist denn los, wo brennt es denn, weshalb schreien Sie denn so mordsmäßig, Inspektor?«

»Hunger habe ich. Was zu essen will ich.«

»Na, deshalb brauchen Sie doch nicht so zu schreien. Schwach sind Sie, Ihrer Stimme nach, noch nicht vor Hunger geworden. Bin sehr erschrocken, denke, der Herr ist schon da.«

»Unsinn. Nun mal dalli, daß ich einen ordentlichen Happen kriege. Nicht so viel Worte. Aber ohne das kommt das Weibsvolk nie aus.«

Er stampfte die Treppe hinauf in seine Wohnung, und Mamsell Wunderlich zog die Küchentür unsanft ins Schloß. Kurze Zeit darauf trat sie jedoch mit einem gut besetzten Frühstücksbrett bei ihm ein. Ihr breites, resolutes und doch gutmütiges Gesicht, hinter dem die weißen Haubenbänder lustig einherflatterten, sah rot und glänzend aus, wie lackiert. Ihre kleine, rundliche Figur war in ein braunseidenes Kleid gezwängt, das in allen Nähten krachte, und um die breiten Hüften trug sie eine blitzsaubere weiße Schürze.

Scheveking sah sie unter den buschigen Brauen hervor verwundert an.

»Alle Hagel, Mamsell, was haben Sie sich rausgewichst! Wollen wohl den jungen Herrn mit Liebreiz umgaukeln? Das hätten Sie sich man ruhig sparen können auf Ihre alten Tage. Der guckt nicht nach so grauhaarigen Weibsen.«

»Das ist meine Sache, Inspektor, und geht Ihnen gar nichts an. Wenn Sie in Ihrer Dummheit keine Frau ästimieren, dann ist noch lange nicht sicher, daß unser neuer Herr ebenso verbohrt ist. Das wird ja nun überhaupt anders in Burgwerben. Unser alter Herr, Gott hab ihn selig, hat durch sein Testament bewiesen, daß er doch etwas von den Frauen gehalten hat, wenn er man auch immer so tat, als ob er auf 'n Zitronenkern bisse, wenn er mal mit unsereinem reden mußte. Wenn nun erst eine junge Frau hier einzieht, dann ist es ja gottlob vorbei mit der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts.«

Scheveking hatte gemütsruhig eine Portion Schinken auf seinen Teller gelegt und zerschnitt ihn zu kräftigen Bissen.

»Ha, was das anbelangt, Mamsell, Sie haben sich verdeibelt wenig unterdrücken lassen. Ihr Mundwerk ist immer gegangen wie eine gut geölte Schleudermaschine.«

Damit schob er eine handliche Ladung in den Mund.

Mamsell Wunderlich stemmte die Hände unternehmend in die Hüften und lachte kriegsbereit.

»Das hätte ja auch gerade noch gefehlt. Nu nee, Inspektor. Unsereiner weiß doch auch, wozu er auf der Welt ist.«

»Ja, um den Männern das Leben sauer zu machen,« murrte er und schob ein Stück Brot in den Mund.

Mamsell zuckte die runden Schultern.

»Lieber Gott, das verlohnte sich gerade! Wissen Sie was, Sie können mir leid tun. Wenn Sie 'ne tüchtige, brave Frau gekriegt hätten, die Ihnen alle vier Wochen mal Ihren Dickkopf zurechtgerückt, dann wäre noch ein ganz brauchbarer Mensch aus Ihnen geworden, nicht so ein Popanz und Grobian, vor dem sich die kleinen Kinder fürchten.«

Scheveking lachte dröhnend auf.

»Gott bewahre mich in Gnaden. Lieber einen Stein um den Hals und ins Wasser, wo es am tiefsten ist.«

»Sie sind ein alter Esel!« rief sie, glühend vor Zorn.

»Und Sie ein größerer Grobian als ich. Aber das stört mich durchaus nicht in meiner Seelenruhe. Ein Weibsbild kann nicht gegen mich auftrumpfen. Mir schmeckt es ausgezeichnet dabei. Der Kartoffelsalat ist Ihnen wieder famos geglückt.«

»Na also, zu irgend was sind die Frauen doch nütze. Da wären wir ja wieder einig, Inspektor.«

»Das versteht sich, Mamsell, wir beide zanken uns ja gottlob nie, sind immer ein Herz und eine Seele.«

Das war seine volle Überzeugung, und Mamsell glaubte es auch. Die beiden wunderlichen alten Leute wären sehr erstaunt gewesen, hätte man ihnen gesagt, daß sie sich eben gezankt hätten. Mamsell strich gemütsruhig ihre Schürze glatt.

»Jawohl, Inspektor, wir vertragen uns immer gut miteinander, trotzdem Sie ein Mann sind und ich eine Frau. Aber nun muß ich wieder in meine Küche hinunter, sonst brennt mir mein Braten an. Auf die Mädchen ist ja darin kein Verlaß. Die haben immer andere Sachen im Kopf. Und wenn der Herr kommt, dann lassen Sie mich man schnell rufen.«

»Wird gemacht, wird gemacht, Mamsell.«

Die kleine rundliche Person trippelte trotz ihrer Behäbigkeit mit flinken Füßen davon, und Scheveking beendete sein Mahl.

Als er kurze Zeit darauf durch den Hausflur ging, öffnete er die Küchentür.

»Mamsell, schenken Sie mir mal schnell einen Schnappus ein, mir ist so fladderig im Magen.«

»Wahrscheinlich wieder zu viel gegessen,« sagte sie vom Herd her. »Männer sind immer zur Völlerei geneigt.«

Sie trippelte aber schnell zu einem Schrank und brachte eine Flasche und ein Glas herbei. Sie schenkte ein und reichte ihm ein Glas hin.

Er leerte es andächtig.

»Das ist Ihre schönste Eigenschaft, Mamsell, daß Sie einen so guten Pomeranzenlikör brauen können. Und im Kochen ist Ihnen auch keine über, aber sonst ist nichts los mit Ihnen.«

»Gerade wie mit Ihnen. Sie können auch nur das Feld bestellen und auf die Knechte schimpfen, was darüber ist, ist Essig.«

»Na, denn adjüs, Mamsell!«

»Adjüs, Inspektor! Und binden Sie sich man 'nen reinen Kragen um, das erfordert der Anstand.«

»Ach Unsinn, der ist noch lange frisch.«

Er warf krachend die Tür ins Schloß.

Aber draußen schlich er sich leise die Treppe hinauf und wechselte oben in seiner Wohnung den Kragen. Ehe er den schmutzigen fortlegte, sah er ihn prüfend an. »Hm – na ja. Schmutzig ist er schon.« Als er dann über den Hof ging, sah ihm Mamsell Wunderlich vom Küchenfenster aus nach und nickte befriedigt mit dem Kopf. Sie wußte ganz genau, daß er einen frischen Kragen umgebunden hatte.

Überhaupt wußte sie, wie sie mit Scheveking daran war. Die beiden alten Leute lebten nun schon manches Jahr nebeneinander, und ihr Umgangston bestand aus Grobheiten hüben und drüben. Aber wehe demjenigen, der dem einen oder andern etwas zuleide getan hätte! Ihm wäre es schlecht ergangen. Sie hegten trotz allem eine unbegrenzte Hochachtung voreinander und wären gegen jedermann füreinander eingetreten. – –

Auf dem Hofe hatten sich inzwischen die Leute alle aufgestellt. Als Scheveking zu ihnen trat und scharfe Musterung hielt, kamen auch die drei Livreediener mit dem alten Dillenberger an der Spitze aus dem Schloß und stellten sich auf der breiten Sandsteintreppe auf, die zu dem hohen gewölbten Portal führte. Über diesem Portal thronte auf einem vorspringenden Steinsockel die vordere Hälfte eines mächtigen Bären. Es sah aus, als wenn er aus dem Schloß herausgekrochen wäre und nun Umschau halten wollte. Dieses etwas verwitterte Steinbild war der einzige Schmuck an der ganzen Hinterfront des Schlosses. Es wies hier auch keine architektonischen Schönheiten auf. Die Hauptfassade lag auf der andern Seite nach dem Fluß zu. Auch diese war schlicht gehalten. Die langen Fensterreihen fügten sich glatt und ohne Verzierungen in die dicken Mauern. Der Mittelturm und die beiden Ecktürme brachten aber trotz ihrer einfachen Form eine malerische Wirkung zustande, zumal vor dem Schloß herrliche Gartenanlagen mit Terrassen und Springbrunnen zur Verschönerung beitrugen. Der Park mit den hundertjährigen alten Bäumen reichte über das ganze Hügelplateau und setzte sich am östlichen Abhang bis zum Fluß hinunter fort.

Überall im Park, Hof und Schloß herrschte eine wohltuende Ordnung und Sauberkeit. Man sah all diesen Dingen an, daß Friedrich von Leyden sein ganzes Sinnen und Denken auf die Erhaltung des herrlichen Besitztums gerichtet hatte, und vor allem, daß reichliche Geldmittel vorhanden sein mußten, um ihm das zu gestatten. –

Scheveking war zu dem alten Dillenberger getreten und unterhielt sich in seiner derben Art mit ihm. Der alte Kammerdiener Friedrich von Leydens hatte auch schon längst graues Haar, und sein blasses, bartloses Gesicht zeigte Runzeln und Falten in Menge. Er trug gleich den andern Lakaien eine dunkelblaue Livree mit silbernen Tressen und Knöpfen. Seine ruhige, sanfte Ausdrucksweise kontrastierte stark mit Schevekings kräftigem Organ. Er liebte es, sich gewählt auszudrücken. Dies geschah jedoch ohne Ziererei, mit natürlichem Anstand.

Durch seine langjährige vertrauliche Stellung zu seinem alten Herrn hatte er sich zu einer Art Hausmeister aufgeschwungen. Im Schloß hatte Dillenberger das Kommando, und niemand wagte ihm dreinzureden. Selbst Mamsell Wunderlich samt ihren Mägden, Scheuereimern und Besen wagte nicht, ohne seine Einwilligung den Krieg gegen Staub und Schmutz aufzunehmen.

Das Säubern der Zimmer des alten Herrn, das Putzen und Instandhalten des reichen Silberschatzes mit dem eingravierten Bären, dem Wappentier der ausgestorbenen Grafen von Burgwerben, wurde bei Lebzeiten Friedrich von Leydens nur durch die drei Diener besorgt. Und vorläufig ging noch alles seinen alten Gang, da man nicht wußte, wie der neue Herr bestimmen würde.

Armin hatte Scheveking Weisung gegeben, daß ihm die Wohnräume seines Vorgängers zum gleichen Zweck vorgerichtet werden sollten. Er wünschte, daß alles unverändert bleiben möchte. Seine Bücher und sein sonstiges Eigentum hatte Dillenberger, als es von Berlin ankam, nach eigenem Gutdünken untergebracht. Ebenso die Garderobe und die Toilettengegenstände. Man hatte ja reichlich Zeit zu allem gehabt durch den Unfall des Erben von Burgwerben. – –

Und nun fuhr Armin von Leyden im Schloßhof ein, begrüßt von seinen Untergebenen. Scheveking sprach ein paar ehrliche, warme Begrüßungsworte und half ihm vorsichtig aus dem Wagen. Auf der Freitreppe stehend, erwiderte Armin die Begrüßung, versprach in schlichten, energischen Worten, seinen Leuten ein guter und gerechter Herr sein zu wollen, und gab dem Inspektor Weisung, ihnen einen Festtag zu richten zur Feier seines Einzugs.

Dann reichte er Scheveking, Mamsell Wunderlich und Dillenberger die Hand und bat sie, ihm so treu zur Seite zu stehen, wie sie es seinem Vorgänger getan, dessen Lebenswerk er ganz in seinem Sinne fortzusetzen gedenke.

Alle merkten ihm an, daß er ergriffen war durch die Weihe des Augenblicks. Sein Aussehen und Benehmen flößte den Leuten Respekt ein, der neue Herr von Burgwerben imponierte trotz seiner Jugend.

Als Armin später kurze Zeit allein in seinem großen, dunkelgetäfelten Arbeitszimmer stand und durch das breite Mittelfenster hinaussah auf das im hellen Sonnenlicht prangende wundervolle Landschaftsbild, da hob sich seine Brust in tiefen Atemzügen. Er öffnete das Fenster und sah sich um. Das alles, was da vor ihm lag, gehörte nun ihm, ihm allein. Der arme Assessor war mit einem Male einer der reichsten Grundbesitzer des Landes geworden. Erst in diesem Augenblick kam ihm voll zum Bewußtsein, was er an Burgwerben besaß, und er war im Innersten erschüttert. Das alles hatte Friedrich von Leyden besessen, und er hatte es ihm, dem Unbekannten, geschenkt im Vertrauen auf seine Rechtlichkeit und Ehrlichkeit. Fürwahr, er mußte dieses Vertrauen rechtfertigen und sich mühen und bestreben, in seinem Sinne hier zu schaffen. Zugleich erfaßte ihn ein heißes Mitleid mit dem einsamen Mann, der hier, von Schuld und Unglück niedergedrückt, ein freudloses Dasein geführt hatte.

Und als er dann durch die weiten Räume des Schlosses schritt mit den drei Getreuen, – auch Scheveking schritt auf den Fußspitzen neben ihm über die glatten Parkettfußböden, – da war ihm zumute wie einem Fürsten, dem man ein neues Reich zu Füßen legte. All die Zimmer waren noch vollständig möbliert, zum Teil mit kostbaren Möbeln. Wundervolle Intarsien, reiche, prunkvolle Schnitzereien, wertvolles Porzellan und kostbare Marmorfiguren, echte Gobelins und prächtige Kristallgefäße und Leuchter. Die Möbelbezüge meist aus schweren Seidendamasten, ebenso die Portieren und Fenstervorhänge, kunstvolle Gemälde von alten und neueren Meistern und reiche Deckengemälde. Es war zu viel des Schönen und Kostbaren, um es mit einem Male in sich aufzunehmen. Natürlich fehlte es auch nicht an einigen Geschmacklosigkeiten aus vergangenen Zeiten, aber alles trug das Gepräge der Vornehmheit bis in die kleinsten Einzelheiten. In dem kleinen Speisezimmer, welches der frühere Besitzer zu benutzen pflegte, war auch für Armin die Tafel gedeckt mit dem schönen alten Silbergerät. Er bat Scheveking, mit ihm zu speisen, und die beiden Männer hatten während der Mahlzeit viel zu besprechen. Dillenberger bediente selbst, und vor diesem Getreuen brauchte man sich keinen Zwang aufzuerlegen. Scheveking mußte von Friedrich von Leyden erzählen. Armins warmes Interesse tat dem alten Mann, der treu an seinem Herrn gehangen hatte, sehr wohl. –

Am Spätnachmittag durchstreifte der neue Herr noch einmal allein das Schloß. Er wollte prüfen, ob für Eva Maries Einzug hier oben etwas geändert werden müßte. Soviel er dabei beurteilen konnte, würde man alles belassen können bis auf einige intime Räume. Dafür konnte er ihre Wünsche einholen. Er suchte sich im Geist vorzustellen, wie Eva Marie hier schalten und walten würde. Aber statt der schlanken, schwarzgekleideten Mädchengestalt umschwebte ihn plötzlich eine blendende, verführerisch schöne Frau mit lodernden, lockenden Augen und goldglänzendem Haar. Alexandra! Wie hätte sie mit ihrer stolzen, sieghaften Schönheit in diese Räume gepaßt! Nur ein Vierteljahr früher mußte er diesen herrlichen Besitz geerbt haben, dann wäre sie die Seine geworden. Er hätte wonnetrunken das schöne Weib in dieses Schloß geführt und vielleicht nie erfahren, daß sie falsch, kalt und kokett war. Lockend umgaukelte ihn ihr Bild, Eva Marie war vergessen.

Wie im Traum schritt er weiter. Da blieb er plötzlich vor einem Gemälde stehen. Simson und Delila. Und diese Delila trug unverkennbar Alexandras Züge. Aber sie waren entstellt durch grausame, kalte Freude, und das rotgoldene Haar umringelte ihr Haupt wie Schlangen.

Da raffte er sich auf aus seinem Brüten. Hinweg mit diesen Träumereien! Er wollte und mußte die Falsche vergessen, die ihn mit ihrem süßen Lächeln betrogen hatte. Der Gedanke an sie war ein Unrecht an Eva Marie, er mußte ihn zu verbannen suchen.

*

Armin suchte sich eifrig mit den neuen Verhältnissen vertraut zu machen. Da er sein Bein noch sehr schonen mußte, begleitete er Scheveking zu Wagen auf seinen Ritten. Es interessierte ihn natürlich sehr, den ganzen Umfang seines Besitztums kennen zu lernen. Auch auf dem Vorwerk, dessen Verwaltung ein junges Ehepaar hatte, stattete er einen Besuch ab und hinterließ dort ebenfalls einen äußerst günstigen Eindruck.

Das alles nahm seine Zeit vollauf in Anspruch. Trotzdem besuchte er seine Braut jeden Tag und besprach alles mit ihr, was sie als künftige Herrin von Burgwerben interessieren konnte. Eva Marie ging auf alles ein und nahm an allem regen Anteil. So wurde ihr Verhältnis von Tag zu Tag inniger, wenn auch Armins Gefühle sich an Wärme und Innigkeit nicht mit denen seiner Braut messen konnten.

Besuche in der Nachbarschaft machte der neue Gutsherr vorläufig nicht. Er wollte das erst tun, wenn Eva Marie auf Schloß Burgwerben eingezogen war. Ihre Hochzeit sollte in aller Stille in der kleinen Dorfkirche stattfinden. Nur Hans von Rippach und Scheveking sollten als Trauzeugen fungieren. Eine große, glänzende Feier verbot sich von selbst, da Eva Maries Trauerjahr um ihren Vater noch nicht vorüber war und ebenso Friedrich von Leyden noch nicht ein Jahr unter der Erde ruhte. So wurde der erste Oktober als Hochzeitstag festgesetzt.

Noch wußte niemand als Scheveking auf dem Schlosse von der Verlobung des Herrn. Mamsell Wunderlich erging sich in den abenteuerlichsten Vermutungen, wie die künftige Herrin von Burgwerben wohl beschaffen sein würde. Daß die hübsche, aber schlichte Professorstochter aus dem kleinen Häuschen da unten ausersehen war, ihre künftige Herrin zu werden, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. – –

Anfang August sollte die Verlobung veröffentlicht werden, so hatte es Armin seiner Braut vorgeschlagen.

In den letzten Tagen des Juli kam Hans von Rippach für kurze Zeit nach Burgwerben. Erstens, um sich das Erbe seines Freundes anzusehen, und zweitens, um sich mit Armins Braut bekannt zu machen.

Die beiden Freunde feierten ein frohes Wiedersehen. Hans war einfach geblendet von Burgwerben. Er durchstöberte gleich am ersten Tage das ganze Schloß und freute sich neidlos an den aufgestapelten Schätzen. In seiner lebhaften Art beglückwünschte er den Freund wieder und wieder. Mit Scheveking und Mamsell Wunderlich freundete er sich sofort an.

»Du, das sind ja ein paar Prachtexemplare von unverfälschten Originalen! Solche Art Menschen findet man wahrhaftig nur noch auf solchen alten feudalen Schlössern!« rief er entzückt aus, als er ihre Bekanntschaft gemacht hatte.

Bei Tische erzählte er von Berliner Bekannten, auch von Alexandra Wendhoven.

»Weißt du, mein Junge, die giftet sich nicht wenig, daß sie so dumm gewesen ist, dir den Laufpaß zu geben. Frau Alexandra von Leyden auf Burgwerben, das ist doch ganz etwas anderes, als so eine simple Börsianergattin! Na, ich gönne ihr den Reinfall von Herzen. Übrigens soll sie sich sehr schlecht mit ihrem Gatten stehen, man spricht so allerhand über diese Ehe. Aber lassen wir das. Weißt du, weshalb ich schon jetzt auf eine Stippvisite zu dir komme? Aus Neugier, aus reiner Neugier. Ich will mir deine Braut ansehen. Du führst mich doch noch heute zu ihr?«

»Gewiß, wir können gleich nach Tisch hinunterfahren, wenn du willst.«

»Gern will ich das, natürlich. Ich kann es kaum erwarten, sie kennen zu lernen. Da du mein bester Freund bist, ist es mir sehr wichtig, deine künftige Frau kennen zu lernen.«

Armin ließ also gleich nach Tisch anspannen, und die beiden Freunde fuhren hinunter vor das Professorenhäuschen.

Frau Professor Delius empfing sie in ihrer überfließenden, freundlichen Art, bedauerte jedoch wortreich, daß Eva Marie nicht zu Hause sei. Da sie um diese Zeit Armin nie erwartete, war sie nach dem Friedhof gegangen an ihres Vaters Grab.

Die Dame schien wieder eifrig ihren geistigen Näschereien zugesprochen zu haben, ihre Augen glänzten verschwommen, und ihre Worte klangen etwas unklar und schwülstig.

Armin sah, daß Rippach mit schlecht verhehltem Entsetzen auf diese Frau starrte, und indem er sagte, daß er Eva Marie entgegengehen wolle, führte er den Freund mit sich fort.

Schweigend schritten die beiden jungen Männer durch den Wald, den sie durchschneiden mußten, um auf den Friedhof zu gelangen. Sie kamen langsam vorwärts, da Armin sich vorsichtig noch immer auf seinen Stock stützen mußte. Er wußte ganz genau, was in Rippach vorging, hatte ihm doch die Stiefmutter seiner Braut einen ähnlichen Eindruck hinterlassen, als er sie kennen lernte. Mit Absicht sprach er nicht, um Rippach Zeit zu geben, diesen Eindruck zu verwinden.

So kamen sie bis zu einer Bank, auf der Armin Platz nahm und den Freund gleichfalls zum Sitzen nötigte.

»Wir wollen Eva Marie hier erwarten,« sagte er ruhig, »sie muß hier vorüberkommen.«

Während er das sagte, hatte er keine Ahnung, daß wenige Schritte von ihnen entfernt im dichten Gesträuch Eva Marie am Boden lag und in einem Buche las. Etwas verlegen über ihre ungezwungene Lage, sah sie die beiden erst, als Armin sprach, und wollte sich nun leise erheben und dann erst hervortreten.

Da sagte Rippach plötzlich ganz laut: »Mensch, Armin, wie kannst du dir solch eine Schwiegermutter auf den Hals laden, das ist ja ein Verbrechen!«

Eva Marie zuckte zusammen und duckte sich schnell nieder. Jetzt wäre es ihr peinlich, ja unmöglich gewesen, den Herren gegenüberzutreten. Sie beschloß also, in ihrem Versteck zu bleiben, bis sie weiter oder zurückgegangen waren. Es war ihr auch unangenehm, daß sie hier die Unterhaltung der beiden hören konnte, aber von zwei Übeln muß man das kleinere wählen.

So verhielt sie sich still und schloß unwillkürlich die Augen, als wäre sie so noch sicherer, nicht gesehen zu werden.

Armin antwortete ruhig:

»Ich habe dir doch bereits geschrieben, daß diese Frau, die zufällig die Stiefmutter meiner Braut ist, weder mit ihr noch mit mir etwas gemein haben wird. Sie verläßt Burgwerben für immer, sobald unsere Hochzeit stattgefunden hat.«

Eva Marie wurde dunkelrot in ihrem Versteck. Noch nie hatte sie sich ihrer Stiefmutter so geschämt als jetzt, da Armin darunter zu leiden hatte.

»Na, Gott sei Dank,« antwortete Rippach, »es könnte mir wahrlich im voraus den Geschmack an deiner Braut verderben, daß sie solche Stiefmutter hat. Du, Armin, jetzt begreife ich deine übereilte Verlobung erst recht nicht. Es gibt da nur eine Erklärung für mich, nämlich, daß du dich blind und toll in das Mädchen verliebt hast.«

»Nein, du weißt, daß ich Alexandra auch heute noch nicht vergessen habe. Ich liebe Eva Marie nicht, leider nicht, obwohl ich's wünschte. Aber ich hege warme Freundschaft für sie und habe den Willen, sie glücklich zu machen. Ihre Vorzüge habe ich mit ruhigem, leidenschaftslosem Blick erkannt. Ihr Charakter bürgt mir für ein friedliches Zusammenleben. Sie liebt mich und wird mir alles zuliebe tun. Ihre Armut ist kein Hindernis für mich. Eine reiche und anspruchsvolle Frau hätte ich nicht gebrauchen können. Und für diese Stiefmutter kann sie nicht. Sie verabscheut diese so sehr, daß sie lieber bei fremden Leuten in abhängiger Stellung leben wollte, als mit ihr zusammen. Ich habe mir das alles reiflich überlegt, ehe ich um sie anhielt. Zwänge mich das Testament nicht zu einer so baldigen Heirat, so wäre ich natürlich nicht auf den Gedanken gekommen, sie zu heiraten. Da es aber sein muß, erscheint mir Eva Marie als die bequemste Frau. Sie ist klug, heiter und verständig und liebt mich so sehr, daß ich nicht zu fürchten brauche, daß sie, wie die modernen Frauen, sich andere Anbeter hält. Daß ich sie nicht liebe, soll sie nicht erfahren, es würde sie bei ihren Charakteranlagen schrecklich demütigen, und das würde mir bitter leid tun. Ich achte sie sehr hoch, und es tut mir leid, daß ich sie nicht lieben kann, aber wie ich dir schon schrieb: was ich für Alexandra fühle, hindert mich daran. So, nun habe ich dir alles noch einmal klargelegt, gibst du dich nun zufrieden?«

»Ich muß wohl. Aber ich gestehe, daß ich nun doppelt neugierig bin, diese Eva Marie kennen zu lernen.«

»Ich begreife nicht, wo sie bleibt. Entweder hat sie einen andern Weg gewählt, oder sie kann sich wieder einmal nicht vom Grabe ihres Vaters trennen. Sie hat ihn sehr geliebt.«

»Hm, wollen wir da nicht lieber weitergehen?«

»Mit meinem dummen Bein geht das so schlecht. Aber laß uns ins Haus zurückkehren, vielleicht ist sie schon dort. Und wenn nicht, setzen wir uns in den Wagen und fahren zum Friedhof, um sie abzuholen.«

Sie erhoben sich und gingen davon.

Eva Marie aber, die alles mitangehört hatte, lag mit großen, starren Augen im Gebüsch und krampfte die Hände in unaussprechlicher Seelenqual in das lockere Erdreich.

Sie konnte nichts fühlen und nichts denken als das eine: »Er liebt mich nicht – er liebt eine andere.« Ein krampfartiger Schmerz zog ihre Brust zusammen und machte sie sterbenselend. Sie hätte aufschreien mögen im Übermaß der Qual, aber kein Ton kam über ihre blassen Lippen. Und in den weitgeöffneten Augen lag ein Ausdruck der Erstarrung, wie ihn Menschen haben, denen es im tiefsten Leid nicht vergönnt ist, sich durch Tränen Erleichterung zu schaffen. Nun war es vorbei mit ihrem schönen, stolzen Glück. O, daß sie sich für immer hätte verkriechen können mit ihrer Schmach! Ja, eine Schmach war es für sie, daß sie den Mann liebte, der ihrer nur als Mittel zum Zweck bedurfte; eine tausendfältige Schmach, daß sie ihm ihre Liebe, ihre Zärtlichkeit so offen dargeboten hatte, eine Zärtlichkeit, die ihn kalt ließ, die ihn vielleicht nur in doppelter Sehnsucht nach der andern verlangen ließ.

Als sie so weit in ihren Gedanken gekommen war, sprang sie auf und umklammerte in höchster Seelennot einen Baum. Sie drückte ihr bleiches, starres Gesicht an die rauhe Rinde, und das reißende, brennende Gefühl dünkte ihr eine Wohltat gegen das, was ihr Herz empfand.

So stand sie lange mit zitternden Knien und wünschte, sterben zu können, damit die Qual ein Ende habe.

Dann hörte sie einen Wagen rollen. Da fuhr sicher Armin mit seinem Freund auf der Landstraße bis zum Friedhof, um sie dort zu suchen.

Ein Grauen überkam sie, wenn sie daran dachte, daß sie jetzt diesen beiden Männern gegenübertreten sollte, diesen beiden, die um ihre Schmach wußten. Nein – nur das nicht. In fieberhafter Hast warf sie die Gedanken in ihrem Kopf herum. Was tun, um diese Begegnung zu vermeiden?

Und endlich kam sie mit sich ins klare, was sie tun wollte. So schnell ihre zitternden Füße sie tragen konnten, eilte sie nach Hause. Sie schlich von hinten durch den Garten, um unbemerkt von ihrer Stiefmutter ins Haus zu kommen.

Am Küchenfenster stand die junge Bauernmagd und putzte Lampen. Sie schrie leicht auf, als sie Eva Marie gewahrte.

»Fräulein, Fräulein, der Herr vom Schlosse war hier und fragte nach Ihnen!«

Eva Marie trat dicht ans Fenster heran.

»Mina, wenn die Herren wiederkommen sollten, sagen Sie, ich sei krank. Mir ist gar nicht gut, ich muß gleich zu Bett gehen.«

Ihre Stimme zitterte bedenklich, als sie das sagte, und das Mädchen schüttelte mitleidig den Kopf. Eva Marie war immer so nett zu ihr; es tat ihr leid, daß sie so elend aussah.

Eva Marie hatte gerade noch Zeit, ihr Zimmer hinter sich zu verschließen und mit leisem Stöhnen auf ihr Bett zu sinken, da hörte sie unten die Küchentür gehen.

Die Magd trat ins Wohnzimmer und meldete ihrer Herrin, daß das Fräulein eben ganz krank nach Hause gekommen und sofort zu Bett gegangen wäre. Frau Delius sah die Magd verwundert an, keuchte dann aber die Treppe hinauf und klopfte an die Zimmertür ihrer Stieftochter.

»Eva Marie – mein Gott, was ist mit dir? Mach doch auf!«

»Ich liege schon im Bett, Mama; bitte, laß mich ruhen, mir ist nicht gut.«

»Aber, Kind, Leyden war hier mit seinem Freund, Herrn von Rippach. Sie suchen dich auf dem Friedhof und kommen zurück. Du mußt wieder aufstehen.«

»Ich kann nicht, entschuldige mich bei den Herren.«

»Aber, mein Gott, so krank wirst du doch nicht sein, das geht doch nicht! Was soll ich sagen?«

»Was du willst – nur laß mich in Ruhe.«

Frau Delius hörte aus diesen letzten Worten die dumpfe Pein, die Eva Marie quälen mußte. Sie stutzte. Was sollte das heißen? Da mußte irgend etwas vorgefallen sein!

Sie ging langsam wieder hinunter, und Eva Marie atmete auf, als die Treppen unter ihren Tritten knackten. Frau Delius aber überlegte sich, was wohl zu tun sei. Und als nach kurzer Zeit die Herren zurückkehrten, entschuldigte sie sich wortreich.

»Verzeihen Sie nur, meine Herren, ich habe Sie vergeblich bemüht. Ich hörte erst, als Sie fort waren, von dem Mädchen, daß Eva Marie mit starker Migräne zu Bett liegt. Sie schläft, und ich möchte sie nicht wecken, sonst wird ihr Kopfweh ärger.«

Armin sah sie verwundert an. Eva Marie und Migräne – das kam ihm sonderbar vor, bisher hatte er nie gehört, daß sie daran leide. Er sah Rippach unschlüssig an.

»Dann hilft es nichts, Armin, dann müssen wir morgen wiederkommen.«

Dieser wandte sich nur zögernd zum Rückzug. Es fehlte ihm etwas, daß er Eva Marie nicht sehen und sprechen konnte. Er mußte aber schließlich doch das Haus verlassen und bestellte herzliche Grüße an seine Braut. »Wir werden morgen früh wiederkommen, hoffentlich ist Eva Marie dann wieder wohl.«

»O, ganz sicher, ganz sicher, meine Herren. Es tut mir ja sehr leid, wie gesagt, aber Ruhe muß Eva Marie haben, unbedingt Ruhe. Es wird ihr natürlich schrecklich leid tun, wenn sie erfährt, daß Sie da waren. Also auf morgen, meine Herren, auf morgen!«

Als Armin in den Wagen stieg, warf er noch einen Blick nach Eva Maries Fenster. Ihm schien, als wenn sich der Vorhang leise bewegt hätte – aber das war wohl nur ein Irrtum.

Ohne zu wissen, warum, bemächtigte sich seiner eine tiefe Verstimmung. Er hatte sich darauf gefreut, dem Freunde durch Eva Maries Anblick alle Zweifel nehmen zu können. Auch war es ihm so neu, so sonderbar, seine Braut krank zu wissen. Sie war ihm immer in ihrer Jugendfrische wie die verkörperte Gesundheit erschienen. Sie würde doch nicht ernstlich krank werden? Er konnte seine Besorgnis und Unruhe dem Freunde nicht verhehlen.

Der lachte ihn aus.

»Du, Armin, deine Sorge kommt mir doch etwas verdächtig vor. Ich bilde mir trotz deiner gegenteiligen Versicherung ein, daß doch dein Herz bei dieser Verbindung stärker beteiligt ist, als du dir selber zugeben willst. Na, das wäre ja kein Unglück. Aber nun mach nicht so ein unglückliches Gesicht. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Armin nahm sich zusammen und schalt sich selber aus. Am Abend sandte er noch einmal einen Boten hinunter und ließ fragen, wie es Eva Marie ging.

Frau Delius schickte Antwort. Es sei zwar besser, Herr von Leyden möge aber morgen lieber nicht kommen, Eva Marie wolle morgen noch liegen bleiben.

Das erhöhte seine Unruhe noch. Er war zerstreut und verstimmt, und Rippach mußte alle Register froher Laune aufziehen, um ihn abzulenken.

*

Frau Delius hatte gegen Abend nochmals an die Zimmertür ihrer Stieftochter gepocht.

»Eva Marie, hier ist ein Brief für dich gekommen, willst du mir nicht öffnen?«

Da hatte das junge Mädchen endlich die Tür aufgemacht. Frau Delius erschrak sehr bei ihrem Anblick.

»Mein Gott, Kind, wie siehst du aus! Nun verstehe ich, daß du dich nicht so vor den Herren sehen lassen wolltest. Nein, so elend und miserabel hast du noch nie ausgesehen. Was ist nur mit dir?«

Eva Marie preßte ihre Hände gegen die Schläfen.

»Ich habe starkes Kopfweh und fühle mich sehr schlecht. Du siehst ein, daß ich mich so weder vor Herrn von Rippach, noch vor – vor Leyden zeigen kann. Auch morgen noch nicht. Wenn die Herren morgen früh nach mir fragen, entschuldige mich noch einmal. Ich hoffe, recht lange zu schlafen. Das wird mir gut tun. Und nun laß mich, bitte, allein.«

»Ja, ja, ich gehe schon. Und da ist der Brief – er kam schon heute nachmittag mit der Post, ich vergaß, ihn dir zu geben.«

Eva Marie legte teilnahmslos den Brief auf den Tisch, ohne ihn zu betrachten, und schloß die Tür wieder hinter ihrer Stiefmutter zu.

»Willst du nichts essen?« rief diese noch durch die Tür.

»Nein, nein, nichts als Ruhe,« antwortete das junge Mädchen und warf sich dann wieder unausgekleidet auf das Bett. Sie sah starr zur Decke empor und überließ sich wehrlos verzweifelt dem wilden, brennenden Schmerz.

Frau Professor Delius teilte dann dem Boten aus dem Schlosse gleich mit, daß die Herren sich morgen noch nicht herbemühen sollten.

*

Die ganze Nacht hatte Eva Marie wie erstarrt auf ihrem Bett gelegen. Als der neue Tag bleich heraufdämmerte, erhob sie sich mit steifen, schmerzenden Gliedern und begann, im Zimmer rastlos auf und ab zu schreiten. Sie versuchte, sich über ihre Lage klarzuwerden, und zwang die umherirrenden Gedanken zur Stetigkeit.

Eins war ihr klar und stand wie ein grausames Gesetz vor ihr: Sie konnte Armins Frau nicht werden, daran reihten sich die Gedanken wie Perlen an einer Schnur. Auch wiedersehen konnte sie ihn nicht mehr. Um keinen Preis mochte sie ihm jetzt ins Antlitz sehen, sie würde sonst aufschreien in schmachvollem Schmerz. Fort mußte sie also, so bald als möglich, gleichviel, wohin. Nur fort aus seiner Nähe, damit sie nicht die Lüge in seinem geliebten Antlitz sah oder gar seinen Bitten gegenüber schwach wurde. Denn sie liebte ihn, liebte ihn noch heißer, grenzenloser, nun sie ihn aufgeben mußte, trotzdem er ihr diese Schmach angetan hatte. Aber wo sollte sie hinfliehen in ihrer Herzensnot? Eine Stellung annehmen! Nun ja, aber danach mußte sie erst suchen, und sie hatte kein Geld, lange darauf zu warten. Alles, was sie besaß, waren etwa fünfzig Mark. Damit kam sie nicht weit. Und eine Stelle fand sich nicht so leicht. Jene Frau von Soltenau hatte ihr nicht einmal geantwortet auf ihren Brief. Aber halt – war da nicht gestern ein Schreiben an sie gekommen? Richtig, da auf dem Tisch lag es noch uneröffnet. Mit zitternden Händen griff sie danach und öffnete es. Und als sie es gelesen, sank sie aufseufzend in einen Stuhl, und endlich lösten schwere Tränen die qualvolle Spannung ihrer Nerven. Das war Hilfe in höchster Not. Sie las das Schreiben noch einmal durch.

 

»Sehr geehrtes Fräulein! Erst heute komme ich zur Beantwortung Ihres Schreibens. Offen gesagt – ich hatte einige Bedenken, Sie zu engagieren, Ihrer Jugend wegen. Ich hätte lieber eine etwas ältere Dame gewählt. Deshalb – nur aus diesem Grunde – zog ich Ihnen eine andere Bewerberin vor. Nun ist aber diese Dame plötzlich schwer erkrankt und kann nicht kommen. Da wende ich mich nun vertrauensvoll an Sie und bitte Sie, falls Sie noch ohne Stellung und mir nicht böse sind, so schnell als möglich zu uns zu kommen. Am liebsten sofort. Sollten Sie aus irgendeinem Grunde absagen, bitte ich um telegraphische Nachricht. Erhalte ich kein Telegramm, so nehme ich an, daß Sie kommen und werde Sie erwarten. Reisegeld erhalten Sie vergütet. Es würde mich sehr freuen, Sie baldigst in meinem Hause begrüßen zu können.

Hochachtungsvoll
Magdalene von Soltenau.«

 

Eva Marie atmete tief und schwer und trocknete ihre Tränen. Dieser Brief zeigte ihr den Weg, den sie gehen mußte. Das war ein Schicksalswink und eine Erlösung aus Angst und Not. Etwas wie Ruhe kam über sie, freilich jene starre, freudlose Ruhe, in der das Herz wie ein Stein in der Brust liegt.

Nach den letzten Wochen sonniger Glückseligkeit fiel es ihr doppelt schwer, sich in ein entsagungsreiches Geschick zu fügen. Die fremden Leute waren vielleicht hart und ungerecht zu ihr. Lockend stieg es in ihr auf: »Bleib, vergiß, was du gehört, was nicht für deine Ohren bestimmt war! Noch hast du die Fäden in deiner Hand. Und wenn du nicht Liebe findest, so findest du doch Freundschaft und Glanz und Wohlleben. Begnüge dich damit und gib dich zufrieden!« –

Aber da sah sie Armins Bild vor sich. Welch eine Qual, so neben ihm hinzuleben, ihre Seele mehr und mehr mit Schmach zu bedecken und sich vor ihm und sich selbst zu erniedrigen! Nein – lieber sterben, lieber draußen in der Welt verhungern, als dies! –

Wieder ging sie ruhelos auf und ab. Sie kämpfte den schwersten Kampf ihres Lebens. Und allmählich stieg die strahlende goldne Sonne am Himmel empor und erhellte ihr Stübchen. Da schlich sie sich hinaus in das kleine Rumpelkämmerchen. Dort waren Koffer und Reisekörbe aufgestapelt. Sie suchte aus, was sie brauchte, und schaffte es hinüber in ihr Zimmer. Dann schloß sie sich ein und begann ihre Sachen zu packen.

Als gegen Mittag ihre Stiefmutter an ihr Zimmer klopfte, gab sie zur Antwort, daß ihr besser sei und daß sie zum Essen hinunterkommen würde. Ihre Stiefmutter durfte nichts von ihren Fluchtplänen merken, bis alles vorbereitet war. Sie hätte sich schon aus Eigennutz widersetzt und ihre Flucht vereitelt. Da sie heute Armin nicht erwartete und überdies nagenden Hunger empfand, ging sie zu Tisch hinab.

Sie aß auch, was ihr Frau Delius vorlegte, ohne recht zu wissen, was es war.

»Du siehst noch immer jämmerlich aus, Eva Marie. Es ist gut, daß dein Bräutigam heute nicht kommt. Was hast du nur gemacht, daß du so elend bist? Wahrscheinlich hast du dich auf dem Friedhof verdorben. Es ist ja Unsinn, daß du alle Tage im heißen Sonnenbrand dorthin läufst. Das bringt dir doch deinen Vater keinen Tag zurück.«

»Nein, daran liegt es nicht. Es ist nichts als Nervosität.«

»Ach was, so ein junges Mädchen dürfte noch gar nicht wissen, daß es Nervosität gibt! Was soll ich da sagen? Was hab ich schon alles durchgemacht! Denke nur an den Tag, als dein Vater mir sagte, daß wir ruiniert seien. O mein Gott, ich fürchtete einen Schlaganfall. Und dann seine lange Krankheit und die schmale Pension. Furchtbare Tage! Und das Schlimmste zuletzt nach seinem Tode, dem Nichts gegenüber. Du lieber Himmel, da sind Nerven von Stahl nötig, das glaube mir! Gottlob, daß das alles hinter mir liegt.«

Eva Marie hätte wohl einwenden können, daß all dies auch sie getroffen hatte, und härter vielleicht als die Stiefmutter. Aber wozu sich mit ihr deshalb herumstreiten? Das lag ja alles weit hinter ihr. Das Weh, welches sie jetzt empfand, löschte all das andere aus und erfüllte sie so voll und ganz, daß für nichts anderes mehr Raum blieb. Gleich nach dem Essen ging Eva Marie wieder auf ihr Zimmer, um ihre Reisevorbereitungen zu vollenden, vor allem, um an Armin einen Brief zu schreiben, der ihm ihre Flucht erklären sollte. Abends um elf Uhr ging der letzte Zug von der kleinen Station ab. Mit diesem erreichte sie den eine halbe Stunde später von der Stadt abfahrenden Nachtschnellzug nach Berlin und konnte morgens gegen sechs Uhr dort eintreffen.

Die Zeit, in der ihre Stiefmutter Mittagsruhe hielt, benutzte sie, um mit der Magd ihr Gepäck nach der Station zu schaffen. Sie löste auch gleich eine Fahrkarte und gab ihr Gepäck auf. Natürlich nur bis zur nächsten Stadt. Bei einer etwaigen Nachfrage am Fahrkartenschalter sollte man ihr Reiseziel nicht erfahren. Sie wollte ihre Spur hinter sich auslöschen, um allen Weiterungen zu entgehen.

Der Magd befahl sie strengstes Stillschweigen über die Hinschaffung ihrer Sachen nach dem Bahnhof. Sie wollte ihrer Stiefmutter erst im letzten Augenblick Mitteilung machen von ihrer Abreise, damit sie diese nicht vereiteln konnte. Daß es da noch eine furchtbare Szene gab, sah sie voraus. Aber alles das konnte sie nicht mehr zurückhalten auf dem Weg, den sie gehen mußte.

Als sie wieder nach Hause kam und sich in ihrem leeren Zimmer umsah, war ihr zumute, als sei sie eine Fremde in dem Raum. – Lange saß sie vor dem leeren Briefblatt, das sie für Armin beschreiben wollte. Sie hörte, daß unten ein Bote vom Schlosse nach ihrem Befinden fragte und einen Brief für sie abgab. Sie ließ durch die Magd ausrichten, es gehe ihr besser, und sie hoffe, morgen wieder ganz wohl zu sein. Dann öffnete sie mit zitternden Fingern das Billett.

 

»Liebe Eva Marie! Hoffentlich bist Du wieder wohler. Ich mache mir große Sorge um Dich. Mein Freund Rippach reist übermorgen schon wieder ab, hoffentlich kann er Dich vorher sehen. Da er hauptsächlich kam, um Dich kennen zu lernen, sollte es mir doppelt leid tun, wenn er Dich nicht begrüßen könnte. Ich hoffe also morgen auf ein Wiedersehen, auch in meinem Interesse. Du fehlst mir sehr, liebe Eva Marie.

Mit herzlichem Gruß und Kuß
Dein Armin.«

 

Das junge Mädchen sah mit trockenen, starren Augen auf diesen ersten und letzten Brief ihres Verlobten. Wie kühl und ruhig er gehalten war! Sie schauerte zusammen und zog mit einer müden Bewegung den Ring vom Finger, den er ihr angesteckt hatte, als er sie das erstemal vom Schloß aus besuchte. Er hatte die Verlobungsringe von einem Juwelier in Berlin kommen lassen. Und nun fand sie auch den Mut, an ihn zu schreiben.

 

»Lieber Armin! Ein Zufall machte mich gestern zum Zeugen Deiner Unterhaltung mit Herrn von Rippach. Ich lag nur wenige Schritte von Euch entfernt im Gebüsch, um zu lesen, als Ihr kamt und Euch in meine Nähe setztet. Es lag nicht in meiner Absicht, zu lauschen, und ich wollte Euch gerade entgegentreten, als Herr von Rippach von meiner Stiefmutter sprach. Da hielt mich die Scham zurück, und ich hörte alles. Ich weiß nun, daß Du nicht mich liebst, sondern eine andere, weiß, daß Du mich nur heiraten wolltest, um die Testamentsklausel zu erfüllen und weil Du glaubst, ich könnte Dir eine bequeme Frau werden. Wenn ich Euer Gespräch nicht gehört hätte, wäre ich blind geblieben, denn ich glaubte an Deine Liebe, obwohl Du mir nie davon gesprochen hattest. Nun ich aber alles weiß, ist es mir unmöglich, Deine Frau zu werden, denn ich liebe Dich, und ich kenne keine Schmach, die größer ist als die, welche Du mir antun wolltest, die ungeliebte Frau eines Mannes zu werden, dem ich meine Liebe so offen und unverhüllt dargeboten habe. Ich kann Dich nicht wiedersehen, denn die Scham würde mich umbringen, deshalb ließ ich mich vor Dir verleugnen, und deshalb reise ich noch heute ab. Ein glückliches Ungefähr hat mir gerade heute eine Anstellung gebracht, Du kannst also über mein Schicksal beruhigt sein. Deinen Ring lege ich bei. In bezug auf meine Stiefmutter sage ich Dir nichts; ich weiß, daß Du sie nicht aus dem Hause treiben wirst, solange sie kein Unterkommen gefunden, und weiß auch, daß sie Deine Großmut ausnützen wird. Ich kann nichts daran ändern, denn zwischen ihr und mir wird es keine Gemeinschaft mehr geben. Leb wohl, verzeihe mir, daß ich Dir Unbequemlichkeiten bereite, wie ich Dir alles verzeihe.

Eva Marie.«

 

Sie las den Brief nicht noch einmal durch, sondern legte ihn mit dem Ring in ein Kuvert und verschloß es. Was sie der ruhige Ton in diesem Briefe gekostet hatte, wußte nur sie allein.

Vollständig erschöpft sank sie auf ihr Bett und verfiel in einen unruhigen Schlummer. Als sie erwachte, war die Dunkelheit schon hereingebrochen. Sie erhob sich schnell und sah nach der Zeit. Es war schon neun Uhr vorbei. Sie ließ sich von der Magd ein Butterbrot und ein Glas Tee heraufbringen und nahm den Imbiß zu sich. Dann kleidete sie sich fertig an. Hut, Mantel und Handschuhe nahm sie mit sich hinunter und legte es im Flur bereit. Dann trat sie ins Wohnzimmer, wo ihre Stiefmutter auf dem Diwan über einem Buch eingenickt war.

Sie weckte die alte Dame.

»Bitte, Mama, setze dich zu mir, ich habe etwas von Wichtigkeit mit dir zu besprechen.«

Aus blöden Augen sah die Frau zu ihr auf. Sie begriff nicht gleich, aber etwas im Wesen der Stieftochter machte sie stutzig und ermunterte sie schnell.

»Was ist – du siehst so sonderbar aus, Eva Marie? Was ist geschehen?«

Sie setzte sich Eva Marie gegenüber, welche eine Weile starr vor sich hinsah. Dann hob sie den Kopf und blickte mit großen, ernsten Augen in die verschwommenen Züge ihrer Stiefmutter.

»Ich habe dir eine schwerwiegende Eröffnung zu machen. Seit gestern sind Umstände eingetreten, die mich zwingen, meine Verlobung mit Herrn von Leyden aufzulösen.«

Frau Delius fuhr entsetzt empor und sah das junge Mädchen mit weitaufgerissenen Augen an.

»Bist du von Sinnen!« schrie sie voll Schrecken.

»Nein, ich bin ganz klar und mir vollständig bewußt, was ich sage. Noch einmal, ich löse meine Verlobung auf und bitte dich, diesen Brief mit dem einliegenden Ring morgen Herrn von Leyden zu übergeben.«

»Fällt mir nicht ein, fällt mir nicht im Traume ein!« schrie die Frau aufgeregt, und ihr bläuliches Gesicht nahm eine beängstigende Färbung an. »Was fällt dir ein? Du bist verrückt, jawohl, vollkommen verrückt! Lege dich zu Bett und schlafe dich aus. Das ist doch –! Man kann einen Schlaganfall von dem Schrecken bekommen!«

Eva Marie biß die Zähne aufeinander. Dann erwiderte sie ruhig:

»Bitte, fasse dich und höre mich ruhig an. Du mußt dich mit dieser Tatsache abfinden. Ich werde unter allen Umständen diese Verlobung auflösen.«

Eine Sturmflut von Vorwürfen, Bitten und Beschwörungen brach nun über sie herein. Sie ließ alles ruhig über sich ergehen, bis ihre Stiefmutter, völlig erschöpft und nach Atem ringend, eine Pause machte.

»Was du mir da sagst, bleibt ohne Einfluß auf mich. Wenn du ruhig überlegen wolltest, müßtest du dir selbst sagen, daß ich einen zwingenden Grund zu meiner Handlungsweise haben muß.«

»So nenne mir doch diesen Grund, nenne ihn mir doch!« kreischte die alte Dame auf.

Eva Marie preßte die Hände fest zusammen, sonst verriet nichts ihre Erregung.

»Ich weiß seit gestern, daß mich Herr von Leyden nur aus äußeren Gründen, nicht aus Liebe zur Frau begehrt,« sagte sie tonlos.

Frau Delius lachte hart auf.

»Deshalb, deshalb nur? Ich sage es ja, du bist krank. Deshalb wirft man doch solche Partie nicht wie einen Pappenstiel von sich! Das wird dir ja nie mehr geboten! Liebe: Das ist ja alles Unsinn. Er erhebt dich aus Bettlerarmut zu Glanz und Wohlleben. Das ist Liebe genug. Wer bist du denn? Eine bettelarme Professorentochter, der nichts weiter übrigbleibt, als ums liebe Brot zu arbeiten, wenn der Mann seine Hand von ihr abzieht. Komm doch zur Vernunft, du bist krank, von Sinnen!«

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin mir ganz klar bewußt, was ich tue. Ich weiß, daß ich arm und verlassen in die Welt hinaus muß, um mir mein Brot zu verdienen. Ich weiß, daß ich Glanz und Reichtum aufgebe, und es wird mir nicht leicht, Armut und Dienstbarkeit dafür einzutauschen. Das eben sollte dir beweisen, daß ich meiner Charakteranlage nach nicht anders handeln kann, daß ich mich der inneren Notwendigkeit zu diesem Schritt nicht entziehen kann.«

»Gott im Himmel, sind das unvernünftige Ansichten! Du bist wie dein Vater, genau wie er. Überspannt, unpraktisch und voll Gefühlsduselei.«

»Schweig von meinem Vater,« rief Eva Marie mit blitzenden Augen, »du hast ihn nie verstanden in seiner schlichten Größe! Ja, ich bin wie er, und bin es mit Stolz, und ich weiß, daß er meinen Schritt billigen würde. Bitte, mache mir diese Auseinandersetzung nicht unnötig schwer. Du kannst dir denken, daß ich seit gestern einen schweren Kampf gekämpft habe. Ich bin zu Ende mit meiner Kraft.«

»Aber was soll denn nun werden, was soll werden?« jammerte die Frau verzweifelt.

»Ich habe bereits eine Stellung und reise noch heute abend ab.«

Frau Delius sprang kampfbereit auf.

»Nein, das leide ich nicht, ich lasse dich nicht fort! Du mußt zur Vernunft kommen, ich halte dich mit Gewalt zurück! Leyden soll dir erst den Kopf zurechtrücken.«

Eva Marie richtete sich langsam empor und warf den Kopf zurück. Ihre Augen sahen voll fester Entschlossenheit in das verzerrte Gesicht ihrer Stiefmutter.

»Du kannst und wirst mich nicht halten. Lieber sterbe ich, als daß ich Herrn von Leyden jetzt gegenübertrete,« sagte sie mit fester, klingender Stimme.

Nun legte sich Frau Delius aufs Bitten.

»Was soll aus mir werden, Eva Marie? Denk doch an mich! Jetzt endlich sollte ich ein sorgloses Leben genießen, und du willst mich um dasselbe bringen. Erbarme dich doch! Denkst du, Leyden zahlt mir die versprochene Rente, wenn er dich nicht heiratet?«

Eva Marie wurde dunkelrot. Sie schämte sich für diese Frau.

»Das könntest du doch auch unmöglich annehmen.«

»Na, siehst du wohl, was also soll aus mir werden?«

»Du hast den Kaufpreis für das Haus.«

»Den Bettel! Damit muß ich mich ewig einschränken bis aufs äußerste. O, daß du so undankbar bist! Ich habe dir all die Jahre die Mutter ersetzt, habe all das Elend mit deinem Vater getragen in den letzten Jahren. Und nun, da ich bessere Zeiten vor mir sehe, willst du mich ins Elend zurückstoßen! Das darfst du nicht, nein, du versündigst dich an mir!«

»Ich kann dir nicht helfen. Das Opfer meiner selbst vermag ich dir nicht zu bringen. Du mußt dich einrichten und mit dem auskommen, was du hast. Vor Not wirst du geschützt sein. Bitte, ertrage das Unabänderliche mit Fassung. Hier liegt der Brief an Herrn von Leyden. Er wird dir den Aufenthalt in dem Hause gestatten, bis du andere Unterkunft gefunden. Ich tue, was ich muß; lebe wohl und laß mich in Frieden von dir scheiden.«

Sie hielt ihrer Stiefmutter die Hand entgegen. Diese umklammerte sie mit beiden Händen, und wieder tobte ein Sturm von Vorwürfen, Bitten und Klagen über das junge Mädchen hin. Schließlich verfiel Frau Delius in Schrei- und Weinkrämpfe.

Ganz zermürbt und elend half ihr Eva Marie auf den Diwan. Sie kannte diese Anfälle und wußte, daß sie lange anhielten. Sie konnte nicht warten, bis ihre Stiefmutter wieder zu sich kam, sonst versäumte sie den Zug.

Leise ging sie aus dem Zimmer. Draußen im Flur stand die junge Magd und sah ihr mit erschrockenem Gesicht entgegen. Eva Marie legte ihr die zitternde Hand auf die Schulter.

»Mina, Sie sind ein gutes Kind. Gehen Sie hinein und legen Sie Mama kalte Umschläge auf den Kopf, bis sie ruhiger wird. Ich muß heute abend noch verreisen. Nicht wahr, ich kann mich auf Sie verlassen?«

Das Mädchen nickte.

»Jawohl, Fräulein, ich mache das schon. Aber Sie sollten doch lieber hierbleiben.«

»Ich muß fort. Adieu, Mina, gehen Sie schnell hinein!«

Eva Marie hatte eilig Hut und Mantel angelegt. Nun schlüpfte sie hinaus. Als hinter ihr die Tür zufiel, zuckte sie zusammen, und ein trocknes Schluchzen würgte ihr im Hals. Sie warf noch einen Blick über das Haus, dessen Umrisse sich scharf im Mondlicht abhoben. Von einem Rosenstrauch pflückte sie eine weiße Blüte und barg sie in ihrem Geldtäschchen. Dann floh sie wie gejagt über die Straße hinüber nach der Station. Der Zug kam eben heran. Seine scharfen Lichter glühten wie große, feurige Augen eines Ungetüms. Eva Marie sprang in ein Abteil zweiter Klasse, es war zum Glück leer. Mit tiefem Stöhnen sank sie in die Kissen zurück.

Als dann der Zug an dem kleinen Häuschen vorüberfuhr, blickte sie noch einmal hinüber. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, und ein Schatten fiel heraus. Mina war also im Wohnzimmer. Beruhigt lehnte Eva sich wieder zurück und schloß die Augen. Sie fühlte sich elend, wie zerbrochen, und konnte nichts mehr denken.

So fuhr sie hinaus in ein Leben der Entsagung.

*

Als sich Frau Professor Delius von ihren Weinkrämpfen erholt hatte, war Eva Marie schon weit entfernt von dem Ort, wo sie die letzten Jahre ihres Lebens zugebracht hatte. Nichts war von ihr zurückgeblieben, als der Brief mit dem Ring. Die alte Dame saß noch lange stumpf brütend da und bemühte sich, die erlebte Szene klar zu überdenken.

Eva Marie fort, die Verlobung mit dem reichen Manne aufgelöst, ihre Rente in nichts zerronnen und das alte Elend mit der fürchterlichen Einschränkung und Sparsamkeit wieder da! Kein Gedanke kam ihr, wie sehr ihre Stieftochter unter den veränderten Verhältnissen leiden mußte, welche inneren Qualen sie dieser Schritt gekostet haben mußte. Für diese Frau gab es nur eins zu denken: ihr eigenes Ich, ihr eigener Vorteil. Sie begann ihre Lage zu überdenken und suchte zu ergründen, wie sie trotz allem aus diesem Ereignis Vorteil ziehen konnte. Sie rechnete vor allem mit Leydens Noblesse. Er würde sie schwerlich aus diesem Hause weisen, trotzdem der Kaufpreis dafür längst in ihrer Hand war. Und freiwillig würde sie es nicht verlassen. So sparte sie wenigstens die Wohnungsmiete und konnte sich dafür etwas zugute tun.

Sie stand auf und holte sich ihre Näscherei hervor, während sie eine Praline nach der andern zum Munde führte, erwog sie weiter.

Vielleicht gab sich Leyden nicht zufrieden mit Eva Maries Flucht. Vielleicht reiste er ihr nach und holte sie zurück. – Aber da fiel ihr zu ihrem Schrecken ein, daß ihr das junge Mädchen das Ziel ihrer Reise gar nicht verraten hatte. Sie erhob sich unruhig und stieg hinauf in Eva Maries Zimmer. Mit zitternden Händen durchsuchte sie jedes Möbel. Nichts, – alles, was auf ihre Spur führen konnte, war entfernt oder vernichtet worden. Und all ihre Sachen hatte sie mitgenommen, wie war das nur möglich, daß sie alles hatte fortbringen können, ohne daß man etwas gemerkt hatte?

Sie tief die Magd und fragte sie aus. Und da erfuhr sie von dem Gepäcktransport während ihrer Mittagsruhe. Fast hätte sie ein neuer Wutanfall von Sinnen gebracht. Sie zitterte am ganzen Körper und ballte in ohnmächtigem Grimm die Hand. Die Magd schlich mit bedrückter Miene in ihre Küche zurück. Auch sie fühlte, daß Ungewöhnliches im Hause vorging, und vor den Wutausbrüchen ihrer Gebieterin fürchtete sie sich. Frau Delius stieg wieder hinab und trat ins Wohnzimmer. Da lag der Brief an Leyden mitten auf dem Tisch. Sie hob ihn auf und betrachtete ihn mit bösen Blicken.

»So eine Närrin, so eine ausgemachte Närrin!«

Ob in dem Brief vielleicht enthalten war, wohin sich Eva Marie gewandt hatte? Am liebsten hätte sie ihn geöffnet, aber er war mit einem Siegel geschlossen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den nächsten Morgen abzuwarten. Gleich in aller Frühe wollte sie sich aufmachen und zum Schloß hinaufgehen. Zwar graute ihr vor dem weiten Weg, aber sie hoffte, sich bei Leyden dadurch in Gunst zu setzen.

Ob er etwas ahnte von der Flucht seiner Braut? Wie mochte sie zu der Erkenntnis gekommen sein, daß sie nicht geliebt wurde? Es mußte doch irgend etwas zwischen den beiden vorgefallen sein. Wieder hob sie den Brief und hielt ihn gegen das Licht. Sie vermochte jedoch nicht ein Wort durch das dichte Kuvert zu lesen.

Unruhig über ihre Lage, wütend auf Eva Marie und neugierig, wie Leyden die ganze Angelegenheit auffassen würde, ging sie endlich zu Bett, um sich schlaflos von einer Seite zur andern zu werfen. – –

Um nächsten Morgen stieg sie zum Schloß empor. Scheveking, der eben aus dem Tor geritten kam, um sich auf die Felder zu begeben, sah sie herankeuchen. Er hatte nicht übel Lust, ihr den Weg zu versperren.

»Was will denn die Alte hier oben? Die bringt doch sicher nichts Gutes!« murmelte er und ritt mit finsterem Gesicht dicht an sie heran.

»Was gibt's, was wollen Sie schon so früh hier oben? Fräulein Eva Marie ist doch nicht etwa kränker geworden?« fragte er barsch.

»Ich muß sofort Herrn von Leyden sprechen,« keuchte sie noch ganz atemlos.

»Na, was ist denn geschehen, in Dreideibels Namen?«

Sie suchte eine hochfahrende Miene aufzusetzen.

»Das ist nicht Ihre Sache. Ich muß zu Herrn von Leyden.«

Scheveking sprang vom Pferd und führte es wieder in den Schloßhof hinein. Er warf einem Knecht die Zügel zu und schritt vor der Frau her ins Schloß. Sie folgte ihm auf dem Fuße. In einem Vorzimmer hieß er sie warten und verschwand in Armins Arbeitszimmer. Der neue Schloßherr befand sich mit Herrn von Rippach im Speisezimmer beim Frühstück. Scheveking ließ ihn durch Dillenberger in das Arbeitszimmer bitten. Armin kam sofort.

»Sie noch hier, Inspektor? Ich glaubte Sie schon über alle Berge.«

»War auch schon unterwegs, Herr, aber da ist mir die Alte über den Weg gelaufen, und da bin ich mit umgekehrt. Sie will zu Ihnen, und weiß der Deibel, sie gefällt mir noch weniger als sonst. Die bringt sicher nichts Gutes.«

Armin horchte erstaunt auf.

»Sie sprechen von Frau Professor Delius?«

»Just von der, Herr. Geben Sie acht, die will eine Attacke machen, um sich hier oben mit einzunisten.«

Der junge Herr machte ein unruhiges Gesicht.

»Nein, nein, sie wird mir Nachricht bringen von Eva Marie, vielleicht ist sie kränker geworden. Schnell, lassen Sie die Dame eintreten.«

»Hm, na ja! Aber Vorsicht, Herr, Vorsicht, die dreht Ihnen sonst noch einen Strick. Machen Sie ja drei Kreuze hinter ihr her, mehr sage ich nicht.«

Armin biß ungeduldig an seinem Bart herum und machte eine nervöse Handbewegung. Scheveking verschwand und ließ die Besucherin eintreten. Sein Gesicht war so finster und drohend, daß Frau Delius noch beklommener zumute wurde. Armin kam ihr entgegen.

»Was ist geschehen, Frau Professor? Sie bringen mir schlechte Nachricht?«

Er zog ihr einen Sessel herbei, und sie ließ sich erschöpft darauf niedersinken und bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch.

»Herr von Leyden, o mein Gott, Sie sehen mich noch ganz fassungslos! Eva Marie – sie ist fort!«

Armin stutzte und sah sie verständnislos an.

»Fort? Was soll das heißen? Bitte, sagen Sie mir, was geschehen ist,« drängte er voll Unruhe und Besorgnis.

Sie zog den Brief aus ihrem Arbeitsbeutel.

»Da – ach, lieber Herr von Leyden – bitte, lesen Sie – ich finde keine Worte – bin so elend, so elend.«

Er nahm ihr befremdet den Brief ab und hielt ihn im jähen Schreck zwischen den Fingern, als er den Ring darin fühlte. Dann wandte er sich ab, trat zum Fenster und öffnete das Schreiben. Wirklich – sein Ring fiel ihm entgegen. Er biß die Zähne aufeinander und holte tief Atem. Ein tiefer, brennender Schmerz durchzuckte ihn.

Was war das?

Dann las er, was Eva Marie ihm geschrieben. Sein Gesicht verfärbte sich, und als er geendet, bedeckte er seine Augen mit der Hand und blieb reglos stehen. Was er empfand, wurde ihm selbst nicht klar: brennendes, unsagbares Mitleid mit Eva Marie, eine heiße Sehnsucht, sie in seine Arme nehmen zu dürfen, um sie zu trösten, und Scham und bittere Reue, daß er nicht vorsichtiger gewesen war und daß er seine Braut nicht hoch genug eingeschätzt hatte. Armes, liebes Kind! Was mußte sie gelitten haben, wie tief mußte sie verletzt sein, daß sie in wilder Hast vor ihm floh!

Und er erkannte, wie sehr er sich an ihr vergangen, daß er es gewagt hatte, ohne Liebe um sie zu werben. Ohne Liebe? Ja, was war es denn, was ihn mit so bitterem Schmerz durchdrang, nun er sie verloren? War es wirklich nur Freundschaft gewesen, was er für sie empfand? In diesem Augenblick dünkte ihm der Name Freundschaft viel zu gering für das, was er für sie fühlte. Sollte Rippach klarer seinen Seelenzustand erkannt haben, als er selbst, da er ihm gestern sagte: »Dein Herz scheint mir bei dieser Verbindung stärker beteiligt zu sein, als du dir selbst gestehen willst!«?

Er richtete sich auf aus seiner versunkenen Stellung und las den Brief noch einmal durch. Die schlichten Worte erschütterten ihn. Was zwischen den Zeilen lag, verriet ihm eine Welt voll Weh und Leid.

»Nun ich aber alles weiß, ist es mir unmöglich, Deine Frau zu werden, denn ich liebe Dich, und ich kenne keine Schmach, die größer ist als die, welche Du mir antun wolltest.« So schrieb sie ihm, und er erkannte, welch eine Demütigung sie bei diesen Worten empfunden haben mußte. Ehrlich und stolz sagte sie ihm auch jetzt noch: »Denn ich liebe Dich.« Und trotzdem floh sie vor ihm, ging in ein entsagungsreiches Leben, weil sie zu stolz und zu rein war, ihre Liebe einem Manne darzubieten, der sie nicht wiederliebte. Und weiter schrieb sie: »Ich kann Dich nicht wiedersehen, denn die Scham würde mich umbringen.« Die Scham! Sie, die Reine, Wahrhafte, mußte sich schämen, weil er sie betrogen hatte. Und es war ihm gar nicht zum Bewußtsein gekommen, wie sehr er sich an ihr versündigt hatte. Er hatte einfach die Hand nach dieser Blume ausgestreckt, weil sie an seinem Wege blühte und mühelos zu erreichen war, und weil er gerade eine Blume brauchte, um seinen Kranz zu vervollständigen. Er kam sich gar noch wie ein großer Wohltäter vor, daß er sie aus dem kleinen Häuschen auf sein stolzes Schloß führen wollte. Als Mittel zum Zweck. »Nein, Eva Marie – nein – nicht bloß deshalb! Weil mir deine Reinheit und Lieblichkeit, die schlichte Anmut und dein echt weibliches Empfinden eine Wohltat war nach der bitteren Erfahrung mit jener anderen. Ich verstand mich selbst nicht, wußte nicht, was mich zu dir zog, weil es nicht jenem Rausche glich, der mich zu der andern zog. Was ich für dich empfand, war so lauter und klar wie ein Bergquell, und ich glaubte, Liebe müsse ein glühender, brodelnder Dunst sein. Und da redete ich mir ein, es sei Freundschaft, und merkte nicht, wie du fester und fester mit meinem Sein dich verbandest. Ich liebe dich dennoch, Eva Marie – jetzt weiß ich's, jetzt, da du von mir gegangen bist. Und nun muß ich dich wieder heimholen, muß dir beweisen, daß ich dich liebe, damit du deine lieben Augen wieder in gläubig vertrauender Zärtlichkeit in die meinen senken kannst. Ich lasse dich nicht, mein stolzes, reines Mädchen – ich liebe dich!« – –

Ein stöhnender Seufzer hinter ihm riß ihn aus seinen schmerzlich sehnsüchtigen Gedanken. Er nahm sich zusammen und wandte sich um.

»Wo ist Eva Marie hin, Frau Professor?«

»Ach, mein Gott – so wissen Sie es auch nicht? Ich hoffte, es würde in dem Briefe stehen. Ich weiß nichts, sie hat mir nichts gesagt und jede Spur vernichtet. Ich habe schon alles durchsucht.«

Armin zog die Stirn zusammen und preßte die Lippen aufeinander.

»Wann ist sie fort?« fragte er heiser.

»Gestern abend mit dem letzten Zug.«

»Hat sie Gepäck mitgenommen?«

»All ihre Sachen. Sie hat schon am Mittag, während ich schlief, die Koffer zur Station gebracht.«

»So muß man dort nachfragen, nach welchem Ort sie eine Fahrkarte gelöst.«

»Ich war schon heute morgen am Schalter. Sie löste nur eine Fahrkarte bis zur nächsten Station und ließ auch das Gepäck nur so weit gehen.«

Armin dachte angestrengt nach. Die nächste Station war das kleine Städtchen. Dort erfuhr man schwerlich, wohin sich Eva Marie gewendet hatte. Versucht mußte es immerhin werden. Wenn er mit dem nächsten Zug oder mit dem Wagen dahin fuhr, war es immerhin möglich, herauszubringen, wohin eine junge Dame in Trauerkleidung am gestrigen Abend eine Fahrkarte gelöst hatte.

Aber konnte Eva Marie nicht erst heute vormittag weitergereist sein? Vielleicht war sie die Nacht im Hotel geblieben?

»Hatte Eva Marie Handgepäck bei sich?«

»Nein, die Magd sagt, sie habe nur zwei große Koffer aufgegeben, und bei ihrem Fortgang hat sie nichts in der Hand getragen als ihren Schirm.«

»War sie mit Geld versorgt?«

»Sie kann höchstens vierzig bis fünfzig Mark besessen haben.«

Wieder überlegte Armin eine Weile. Plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»Vor einigen Wochen bekam Eva Marie ein Anerbieten, das sie beantwortete, und dieser Tage muß sie ebenfalls einen Brief mit einem Anstellungsvertrag erhalten haben.«

»Ja, gestern habe ich ihr einen Brief gebracht.«

»Haben Sie den Poststempel nicht gelesen?«

»Nein, leider nicht.«

»Auch von dem früheren Brief wissen Sie nicht, woher er kam?«

»Auch da nicht. Und Eva Marie hat mir auch nichts darüber mitgeteilt. Sie war mir gegenüber leider immer so verschlossen. Ach, mein lieber Herr von Leyden, was ist in das Mädchen gefahren? Was soll nur nun werden? Ich habe diese Nacht vor Sorge und Angst um das Kind kein Auge geschlossen.«

Armin fuhr nervös mit der Hand durchs Haar.

»Bitte, erzählen Sie mir alles, was sich seit meinem letzten Besuch in Ihrem Hause zugetragen hat. vielleicht bringt mich das auf eine Spur.«

Frau Delius begann nun unter Ächzen, Stöhnen und Wehklagen einen ausführlichen Bericht. Sie verweilte natürlich sehr lange bei ihren Empfindungen und der Beschreibung dessen, was sie hatte erdulden müssen. Aber schließlich bekam Armin doch eine genaue Beschreibung. Und das ließ ihn noch deutlicher Eva Maries Herzensnot erkennen. Immer klarer erkannte er, wie lieb sie ihm geworden war. Ihr Leid erfüllte ihn mit grenzenlosem Schmerz, und daß er ihr nicht beistehen, sie nicht trösten konnte, drückte ihn nieder.

Als Frau Delius zu Ende war, bat er sie, sich wieder nach Hause zu begeben, und ließ das Anspannen bestellen. Sie hatte Armin lauernde Seitenblicke zugeworfen und fragte nun demütig:

»Sie gestatten mir doch, daß ich vorläufig in unserem alten Häuschen wohnen bleibe? Ich habe jetzt ganz den Kopf verloren und muß nun erst neue Lebenspläne schmieden.«

»Bitte, bleiben Sie. Sie tun mir sogar einen Gefallen damit, wenn Sie wohnen bleiben. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß Eva Marie doch noch meine Frau wird. Ich muß sie nur erst wiederfinden. Vielleicht gibt sie Ihnen auch Nachricht über ihren Aufenthalt. Jedenfalls bitte ich Sie, wohnen zu bleiben. Sollte Eva Marie irgendeine Mitteilung an Sie gelangen lassen, bitte ich um sofortige Benachrichtigung. Und jetzt entschuldigen Sie mich wohl. Ich will Herrn von Rippach in die Angelegenheit einweihen. Vielleicht kommt ihm ein guter Gedanke.«

Er begleitete die Dame hinaus, half ihr in den Wagen und ging in den Speisesaal zurück.

Hans von Rippach saß gemütsruhig noch beim Frühstück, als Armin eintrat.

»Nun, was gab es denn so Wichtiges, Armin?« fragte er leichthin. Als er aber dabei einen Blick in des Freundes Gesicht warf, richtete er sich befremdet auf.

»Bekamst du unangenehme Nachrichten von Scheveking?«

»Von ihm nicht. Aber von Frau Professor Delius.«

»Alle Wetter, deine holde Schwiegermutter war hier? Nun – ist deine Braut immer noch krank?«

Armin setzte sich Rippach gegenüber und reichte ihm Eva Maries Brief. »Bitte lies.«

Rippach sah ihn befremdet an. Seinem scharfen Blick entging nicht, daß Armin sehr erregt und bekümmert war. Während er las, saß Armin mit aufgestütztem Kopf da und starrte vor sich hin.

Rippachs Gesicht war beim Lesen des Briefes sehr ernst geworden. Nun faltete er ihn langsam zusammen und blickte Armin forschend in das blasse, schmerzverzogene Gesicht. Dann legte er über den Tisch herüber seine Hand auf den Arm des Freundes.

»Armin – du liebst das Mädchen, gestehe es nur ein!«

Dieser strich über Stirn und Augen. »Ja, in dem Augenblick, als ich erfuhr, daß ich sie verloren hatte, wurde es mir klar. Vorher wußte ich es wirklich selber nicht. Meine Liebe zu Eva Marie ist so ganz anders, als das Gefühl, welches mir Alexandra einflößte. Aber ich glaubte, es sei stärker und besser. Hans – sie ist bis ins Innerste verletzt und gedemütigt, glaub es mir, sie leidet unsagbar, das beweist ihre Flucht.«

»Leider kann ich dir da nicht widersprechen. Es tut mir furchtbar leid, daß ich durch meine Anwesenheit diesen Ausgang verschuldete. Aber vielleicht ist es doch gut so. Du hast nun erkannt, was sie dir ist, und du wirst sie suchen und ihr beweisen, daß du sie liebst. Das hoffe ich bestimmt. Und ich wünsche es dir von Herzen. Denn sie ist ein edler, großdenkender Mensch, das beweist ihr Verhalten. Eine niedrig empfindende Natur würde sich mit den Tatsachen abgefunden haben und keinesfalls auf die glänzende Partie verzichten. Ich gestehe offen, daß ich etwas skeptisch in bezug auf sie dachte, und hatte dich im Verdacht der ungewollten Schönfärberei. Aber jetzt – ich kann dieses junge Mädchen nur hochachten – so leicht macht ihr das keine nach, wahrhaftig nicht.«

»Was soll ich nun tun, Hans, weißt du mir keinen Rat?«

»Aber das ist doch sehr einfach. Du reisest ihr nach und holst sie zurück. Sie von deiner Liebe zu überzeugen, wird ja nicht unmöglich sein.«

»Herrgott – wenn das so einfach wäre! Ich habe keine Ahnung, wohin sie sich gewandt hat.«

Er erzählte Rippach, was er selber wußte. Der hörte ihm ruhig und aufmerksam zu. Dann stand er auf und legte dem Freund die Hand auf die Schulter.

»Nun, sei doch nicht verzagt, mein Alter. So spurlos verschwindet in unserem deutschen Vaterland kein Mensch, daß er nicht aufzufinden wäre. Schlimmsten Falles nimmt man die Polizei zu Hilfe. Jetzt wollen wir aber erst einmal zur Stadt fahren und dort nachforschen, wohin sie sich gewendet hat. Ich bin schuld, daß sie vor dir floh, ich helfe dir auch, sie wiederzufinden. Komm, wir wollen sofort aufbrechen, ehe ihre Spur noch mehr verwischt wird.«

*

Eva Marie kam furchtbar abgespannt und elend in Berlin an. Sie ging zuerst ins Wartezimmer, um eine Tasse Kaffee zu sich zu nehmen. Der unfreundliche Raum, in dem ein schwerer, beklemmender Dunst lag, war nur von wenigen Reisenden besucht. Alle waren sehr eilig, zur Abreise bereit. Eva Marie hatte Zeit, sie konnte so früh doch noch nicht ihre künftige Gebieterin aufsuchen.

Nachdem sie sich gezwungen, ein Brötchen zu essen, suchte sie einen Waschraum auf, um sich etwas zu erfrischen. Als sie vor dem Spiegel ihr Haar in Ordnung brachte, erschrak sie vor sich selbst. Dieser Eindruck wurde noch durch das schwarze Kleid erhöht.

Und nun fiel es ihr auf die Seele, daß es vielleicht Frau von Soltenau unangenehm berühren würde, wenn sie in Trauerkleidern in ihr Haus kam. Sie beschloß, jetzt einige Zeit durch die Straßen zu wandern, bis die Läden geöffnet wurden. Dann konnte sie einen weißen Kragen kaufen und damit ihrer Toilette den allzu düsteren Anstrich nehmen.

Berlin war ihr nicht ganz unbekannt. Sie war in früheren, besseren Zeiten mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter immer einige Tage auf der Durchreise hier gewesen, wenn sie nach der Ostsee gingen. Damals hatte es ihr Freude gemacht, die Riesenstadt am Arme ihres Vaters zu durchwandern, oder im Wagen durch die drängende, schiebende Menschenmenge zu fahren.

Heute ging sie allein, verlassen, mit zerrissenem Gemüt, mit traurigem Herzen. Es war schon viel Leben auf den Straßen; um diese Zeit sah man das arbeitende Berlin auf den Beinen. Männer im Arbeitsanzug, junge Kaufleute, Verkäuferinnen, Putzmacherinnen und Schneiderinnen, halbwüchsige Burschen und Mädchen, Zeitungsträger usw., alle strebten eilig ihrem Ziel zu. Viele sahen noch müde und verschlafen aus, andere lachten und scherzten leichtblütig dem kommenden Arbeitstag entgegen. Aber alle waren durch einen unerbittlichen Zwang, durch ein hartes Muß in Bewegung gesetzt.

Und Eva Marie fühlte sich zu ihnen gehörig, ein Glied dieser großen Gemeinde, wie sie würden viele ein tiefes Leid mit sich Herumtragen, würden auf sich allein angewiesen sein und freudlos ihre Straße ziehen.

Aber es lag kein Trost für sie in dieser Erkenntnis, heute noch nicht. Zu neu war noch, was sie aus sonnigen Höhen auf die Schattenseite des Lebens gestoßen hatte. Sie fühlte sich todeinsam und verlassen, und schwere, unselige Gedanken wollten Macht über sie gewinnen.

Wozu sollte sie dies Leben weiter tragen, warum sich quälen mit Schmerz und Jammer? Gab es nicht ein Mittel, sich freizumachen von allem? Ihr Leben war sie niemand schuldig – niemand. Aber Armin? wenn er erfuhr, daß sie in der Verzweiflung Hand an sich gelegt – würde das nicht auch sein Leben zerstören? Nein – sie durfte ihm das nicht antun, seinetwillen mußte sie weiterleben, ihr Schicksal tragen.

Auch andere lockende Gedanken stiegen in ihr auf. »Kehr um, gehe dahin zurück, woher du kamst. Versuch es, dir seine Liebe zu erringen, kämpfe mit jener andern um dein Glück. Oder begnüge dich mit seiner Freundschaft, vielleicht findest du dich doch damit ab. Du kannst auf dem schönen alten Schloß wohnen, kannst dir alle Genüsse verschaffen, die dir der Reichtum bietet. Und er wird dich gern wieder aufnehmen, denn er braucht eine Frau, wenn er nicht auf das Erbe verzichten will. Und die andere ist unerreichbar, sonst hätte er nicht von ihr gelassen.«

Sie malte sich aus, wie das sein müsse, wenn sie jetzt heimkehrte und ihm sagte: »Ich habe übereilt gehandelt, nimm mich wieder auf, ich will zufrieden sein mit dem, was du mir bieten kannst.« Er würde ihr kaum Vorwürfe machen über ihre Flucht, würde ruhig und freundlich sein, und alles war dann wie zuvor. – Aber nein, nein, ganz anders würde es sein, furchtbar, unerträglich. Sie würde unter dieser kühlen, leidenschaftslosen Freundschaft unsagbar leiden, würde sich aufreiben im Kampf mit dieser fürchterlichen Freundschaft, und würde sich selbst verlieren in Schmach und Demütigung. Nein, tausendmal nein, sie konnte nicht zurück, um keinen Preis! – –

Bis nach zehn Uhr war sie umhergelaufen, immer von innerer Unruhe getrieben. Nun war sie so müde, daß sie nicht mehr weiter konnte. Sie wußte auch nicht mehr, wo sie sich befand, die Gegend war ihr fremd, hierher war sie nie gekommen. Es war wohl an der Zeit, Frau von Soltenau aufzusuchen. Sie rief einen Taxameter an und gab dem Kutscher die Adresse auf. Fast eine halbe Stunde mußte sie fahren, ehe der Wagen hielt. Nachdem sie den Kutscher entlohnt hatte, betrat sie das Haus und erfuhr beim Portier, daß Frau von Soltenau in der ersten Etage wohne. Langsam und müde stieg sie die Treppen empor und zog oben an der breiten Entreetür die Klingel. Ein Mädchen im blauen Waschkleid mit weißer Schürze und weißem Häubchen öffnete und sah fragend auf Eva Marie.

»Ist Frau von Soltenau zu sprechen?«

»Gnädige Frau empfangen jetzt noch nicht.«

Eva Marie reichte ihr ihre Karte. »Bitte, geben Sie das ab, ich glaube, ich werde erwartet.«

»Ah, sind Sie vielleicht das neue Fräulein?«

»Ja.«

»Das ist etwas anderes. Bitte, treten Sie ein, gnädige Frau haben Befehl gegeben, Sie sogleich vorzulassen.«

Eva Marie folgte ihr mit klopfendem Herzen. Das Mädchen öffnete eine Tür und ließ sie eintreten. Dann verschwand sie. Eva Marie befand sich in einem geräumigen Salon mit hellen, im Empirestil gehaltenen Möbeln. Ehe sie sich lange umsehen konnte, trat mit raschen Schritten eine stattliche, hübsche Dame ein und kam mit erfreutem Gesicht auf sie zu. Sie hatte frische Farben, sehr hellblondes, welliges Haar, etwas kurzsichtige blaue Augen, und in den Bewegungen ihrer noch jugendlichen Gestalt verriet sich Energie und Lebhaftigkeit. Während sie auf Eva Marie zutrat, setzte sie schnell einen Kneifer auf und warf einen alles umfassenden, forschenden Blick auf das junge Mädchen.

»Fräulein Delius,« rief sie lebhaft und anscheinend mit dem ersten Eindruck zufrieden, »so früh hätte ich Sie wirklich noch nicht erwartet! Ich freue mich aber sehr, daß Sie gekommen sind. Eine andere wäre vielleicht empfindlich gewesen, daß man ihr jemand vorgezogen. Aber ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie mich aus dieser Verlegenheit reißen. Wie ich schon schrieb, war es nur Ihre Jugend, die mich abhielt, Sie gleich anfangs vorzuziehen.«

»Hoffentlich erringe ich mir trotz meiner Jugend Ihre Zufriedenheit, gnädige Frau. Jedenfalls will ich mir redlich Mühe geben und bitte Sie, im Anfang etwas Nachsicht zu haben, da ich noch nie in Stellung war.«

»Schon gut, schon gut, liebes Fräulein. Wenn Sie den guten Willen haben, ist die Hauptsache schon vorhanden. Wir wollen gegenseitig Geduld miteinander haben, nicht wahr? Meine beiden jüngsten Töchter, die Sie unterrichten sollen, sind ein paar unruhige Geister. Da werden Sie auch Geduld haben müssen. Aber sie sind gottlob gutartig und weichherzig, trotz aller Wildheit. Ich hoffe, Sie freunden sich, gerade weil Sie jung sind, leicht mit ihnen an. Aber bitte, kommen Sie mit hinüber ins Wohnzimmer, da kann ich Sie gleich mit der ganzen Familie bekanntmachen.«

Gleich darauf stand das junge Mädchen in einem wunderhübschen, traulichen Wohnzimmer mit reizenden Schmollwinkelchen, bequemen und doch eleganten Möbeln und in warmen Farben gehaltenen Decken, Kissen und Portieren. Am Fenster saß ein sehr großer, fast zu schlanker Herr mit graumeliertem Haar, mit einer Zeitung beschäftigt. Er erhob sich sofort artig und begrüßte Eva Marie mit einer Verbeugung. Es war Herr von Soltenau, der Hausherr. Wie Eva Marie später erfuhr, war er ein hoher Staatsbeamter mit mäßigem Vermögen. Gezwungen, ein großes Haus zu machen, seiner Stellung entsprechend, galt es im Haushalt zu sparen, damit bei den offiziellen Festlichkeiten der nötige Glanz entfaltet werden konnte. Gleich seiner Frau etwas nervös und von geselligen Verpflichtungen stark in Anspruch genommen, konnte er sich seinen Kindern nur wenig widmen, obgleich er ein sehr liebevoller Vater war. Auf Eva Marie machte er sofort einen günstigen Eindruck, ebenso wie seine Gattin.

Und die älteste Tochter Dora, eine graziöse, schlanke Blondine, das verjüngte und verschönte Abbild der Mutter, welche mit einer Stickerei beschäftigt war, sah mit freundlichen Augen auf die neue Hausgenossin und sprach einige artige Worte der Begrüßung.

Die beiden Jüngsten aber hockten dicht zusammengedrängt in einem Sessel und stießen sich, etwas verlegen, kichernd an. Beide hatten die dunklen Augen des Vaters, und das fast schwarze Haar fiel in schweren Ringeln auf die Schultern. Es waren ein paar bildhübsche Mädchen mit runden, rosigen Gesichtern. Die diesem Alter sonst eigene Eckigkeit und Magerkeit war bei ihnen nicht zu spüren. Die hübschgewachsenen Beine, die in schwarzen Strümpfen und festen Stiefelchen unter den weißen Matrosenkleidern hervorsahen, waren rund und drall, ebenso die bis zum Ellenbogen unbekleideten Arme.

Frau von Soltenau rief sie herbei.

»Nun, Margarete, Elfriede, wollt ihr nicht auch Fräulein Delius guten Tag sagen?«

Zögernd und verlegen lachend erhoben sie sich und gingen auf Eva Marie zu. Diese wandte sich mit dem ihr eigenen, freundlichen Ausdruck in den Augen an die beiden Kinder und bot ihnen die Hand. Sie sprach kein Wort dabei, aber in ihrem Blick lag eine herzliche Bitte um Vertrauen. Und diese stumme Sprache wirkte mehr als viele Worte. Die Kinder schüttelten ihr fast herzlich die Hand.

»Fräulein Delius gefällt mir, Mama,« sagte Elfriede, die Jüngste, und lachte zu Eva Marie empor.

Und Margarete nickte bestätigend mit dem Kopf.

»Sie hat nicht so 'ne spitze Nase wie Fräulein Hellbrand, und ist auch viel jünger und hübscher,« erklärte sie mit einer Energie, die entschieden ein Erbteil von ihrer Mutter war.

Frau von Soltenau lachte ein bißchen geniert.

»Die Kinder sind noch so sehr naturwüchsig, Fräulein Delius, sie schwatzen alles heraus, was sie empfinden, gleichviel, ob es den Hörern angenehm ist oder nicht.« Sie seufzte und fuhr fort: »Ich kann mich nicht genug mit ihnen beschäftigen, und – zu sehr gedrillt sollen sie nicht werden, das will mein Mann nicht.«

Herr von Soltenau wandte sich an Eva Marie.

»Die Kinder sollen wahr bleiben, solange es irgend geht. Lügen müssen sie später noch genug. Ich hoffe, Sie verstehen mich, Fräulein Delius.«

»Vollkommen, Herr von Soltenau. Es wird mir eine Freude sein, Ihren Wünschen zu entsprechen.«

»Dann habe ich nichts mehr zu bemerken. Alles andere überlasse ich meiner Frau.«

Diese wandte sich freundlich an Eva Marie.

»Sie sind wahrscheinlich müde von der Reise und verlangen nach Ruhe?«

»Ich bin allerdings die Nacht über gefahren und würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie mich ein paar Stunden beurlauben wollten.«

»Natürlich, selbstverständlich. Margarete, Elfriede, führt Fräulein Delius auf ihr Zimmer, wenn Sie zu essen wünschen, Fräulein, dann klingeln Sie dem Stubenmädchen, sie wird Ihnen etwas bringen. Um drei Uhr wird gespeist, wenn Sie sich bis dahin erholt haben, erwarten wir Sie im Speisezimmer. Die Tür liegt Ihrem Zimmer direkt gegenüber. Bis später also, Fräulein Delius!«

Sie nickte freundlich, und Eva Marie folgte den Kindern. Diese nahmen sie draußen ganz zutraulich bei der Hand und gaben ihr das Geleit über den langen, teppichbelegten Korridor.

»Wir helfen Ihnen beim Auspacken, Fräulein, wenn Ihre Sachen kommen,« sagte Elfriede.

»Natürlich nur, wenn Sie es gern haben,« setzte Margarete hinzu.

»Wenn es euch Freude macht, mag ich es gewiß gern,« antwortete Eva Marie lächelnd.

»Sie tragen ein hübsches Kleid und sehen sehr vornehm aus. Fräulein Hellbrand trug immer so gräßliche bunte Krawatten und Schleifen. Das mochten wir nicht,« spann Margarete die Unterhaltung fort.

»Und Ihre Hände sind schön schlank und weich. Fräulein Hellbrand hatte so harte, knochige Hände und war nur freundlich zu uns, wenn Mama zugegen war.«

»Ich aber will immer freundlich zu euch sein, wenn ihr artig seid.«

»Hm – artig? Das ist so – so – ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Dürfen wir nicht lachen und tollen, wenn Sie Romane lesen?«

»Lachen und tollen dürft ihr gewiß, wenn ihr eure Arbeiten fertig habt. Und Romane lese ich ganz sicher nicht, solange ich mit euch zusammenbin.«

»O, famos. Wir können die alten, ekligen Romane nicht ausstehen. So, und dies ist Ihr Zimmer, Fräulein. Elfriede und ich, wir haben unser Schlafzimmer hier rechts und unser Spiel- und Arbeitszimmer links neben dem Ihren. Dürfen wir nachts die Verbindungstür aufstehen lassen?«

»Wenn ihr das wollt und Mama nichts dagegen hat.«

»Nein, gewiß nicht. Legen Sie auch Ihr Haar und Ihre Zähne nachts auf den Nachttisch? Nein, das glaube ich nicht, sonst würden Sie nicht wollen, daß die Tür offen bleibt. Fräulein Hellbrand litt es deshalb nicht, über wir haben es doch gesehen, wenn wir früh zu ihr hineinsahen. Nun komm aber, Margarete, Fräulein soll sich ausruhen.«

Mit festem Händedruck verabschiedeten sich die Kinder. Eva Marie hatte sie durch ihr harmonisches Äußeres, durch den freundlichen Gesichtsausdruck schon gewonnen. Das junge Mädchen seufzte auf, als sie allein war. Würde sie auch einmal, wie ihre Vorgängerin, eine spitze Nase, harte, knochige Hände und falsche Haare und Zähne haben, wenn sie lange Jahre der Dienstbarkeit hinter sich hatte? Die Kinder waren sehr natürlich und offenherzig, aber es lag doch eine leise Grausamkeit in dieser unbekümmerten Wahrheitsliebe.

Sie sah sich um in ihrem Zimmer. Dies war nun ihre neue Heimat, wenn ihr das Herz leicht und unbekümmert in der Brust geschlagen hätte, würde es ihr nicht schwer geworden sein, sich hier wohl zu fühlen. Das Zimmer war hell und freundlich, wenn auch klein und schlicht eingerichtet. Vom Fenster aus blickte man in einen großen, gartenähnlichen Hof, der sauber eingefaßte Rasenbeete aufwies. Eva Marie setzte sich an das Fenster und sah hinaus. Dabei fielen ihr die Augen vor Müdigkeit zu. Sie lehnte sich zurück und schlief ein. –

Im Wohnzimmer war es eine Weile, nachdem sich das neue Fräulein entfernt hatte, ganz still geblieben. Erst als die Kinder zurückkamen, ergriff Frau von Soltenau lächelnd das Wort:

»Nun, ihr beiden Wildfänge, wie gefällt euch euer neues Fräulein?«

»Sehr gut, Mama – sehr gut. Sie ist viel – viel netter als Fräulein Hellbrand.«

»Schön. Da müßt ihr nun aber auch recht artig zu ihr sein.«

»Hm. Aber stillzusitzen brauchen wir nicht, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind. Sie liest überhaupt keine Romane, wenn wir bei ihr sind.«

»Daraufhin habt ihr sie also schon geprüft, ihr Racker?« fragte Herr von Soltenau lachend. Dann wandte er sich an seine Frau.

»Sie machte einen guten, vertrauenerweckenden Eindruck. Ich glaube, du hast Glück gehabt, Magdalene.«

Frau von Soltenau lachte.

»Abwarten, lieber Herbert, ich habe zu viel Erfahrungen hinter mir. Jedenfalls ist sie aus guter Familie, ohne anmaßend und überempfindlich zu sein. Und daß sie so bald eintraf, ist mir lieb. Margarete und Elfriede stellen an meine Nerven doppelte Anforderungen, wenn kein Fräulein im Hause ist. Und Dora besitzt ihnen gegenüber so wenig Autorität.«

Herr von Soltenau erhob sich und strich seiner Ältesten freundlich über das Haar.

»Ist ja selbst noch ein Kind, unsere Dora.«

Das junge Mädchen sah mit schelmischem Lächeln zu ihm auf und liebkoste mit der Wange die Hand des Vaters.

»Beinahe neunzehn Jahre, Papa.«

»Richtig. Ich lasse mir von diesen neunzehn Jahren gewaltig imponieren. Aber die beiden da leider nicht.«

Margarete zuckte die Achseln mit überhebender Gebärde. »Dora ist so stolz, weil sie vorigen Winter in Gesellschaft eingeführt wurde. Hm! In fünf Jahren bin ich auch so weit. Elfriede ist ja natürlich noch klein, die könnte schon auf Dora hören. Aber sie ist so wild.«

»Du bist dafür ein so zahmes Lämmchen,« neckte Dora überzeugt, »daß das neue Fräulein von deiner Sanftmut erschüttert wird.«

Der Herr des Hauses verabschiedete sich nun, um in seinen Dienst zu gehen. Dabei zeigte sich deutlich, welch ein inniges Verhältnis diese Familie verband.

*

Die Nachforschungen, welche Armin und Rippach in dem Landstädtchen vorgenommen, ergaben leider nichts, weder auf dem Bahnhof, noch in den beiden Gasthöfen des Ortes. So mußte Eva Marie noch am Abend weitergereist sein. Der Lokalzug hatte aber Anschluß an verschiedene Hauptlinien. Mit drei verschiedenen Zügen konnte sie abgefahren sein. Es war also keine Spur auszufinden. Armin fuhr bei Frau Delius vor, als er aus der Stadt zurückkehrte, und fragte, ob diese inzwischen wirklich gar nichts entdeckt hätte. Aber auch hier erfuhr er nichts. Nun blieb ihm vorläufig nichts übrig, als zu warten, ob Eva Marie keine Kunde von sich gab. Rippachs Rat, die Polizei in Anspruch zu nehmen, mochte er nicht Folge leisten, wenigstens jetzt noch nicht. Es war ihm ein peinliches Gefühl, auf diese Art nach der Entschwundenen zu forschen.

Am nächsten Tag mußte Rippach nach Berlin zurück. Er versprach, während der Gerichtsferien wiederzukommen und Armin Gesellschaft zu leisten.

Dieser war in einem sehr gedrückten Zustand, und seine Gedanken beschäftigten sich fast ausschließlich mit Eva Marie. Eine ruhelose Sehnsucht nach ihr trieb ihn umher. Sie wurde seinem Herzen mit jeder Stunde teurer. Mit geschlossenen Augen zauberte er sich ihr Bild vor die Seele. Das liebe, freundliche Gesicht mit den schönen, wahren Augen, die schlanken, feinen Hände, die er von Anfang an bewundert hatte, und die edlen Bewegungen der schlanken, schwarzgekleideten Gestalt, wo weilte sie? wohin war sie geflohen mit ihrem tiefen Leid? O, daß sie doch wüßte, wie sehnsüchtig und liebevoll er ihrer gedachte! Sie würde gewiß zu ihm zurückkehren.

Um mit jemand über sie sprechen zu können, ließ er Scheveking zu sich kommen. Er erzählte dem schlichten alten Mann, daß Eva Marie fort sei und seine Frau nicht werden wolle. Der fuhr aufgeregt in seinem Haarbusch herum.

»Donnerwetter nochmal – nun haben wir die Pastete! Sobald man mit den Frauen zu tun hat, ist der Deibel los. Sie sind ja alle zusammen verdreht. Nun läuft die Eva Marie gar auf und davon! – Das hätte ich der nicht zugetraut, wahrhaftig nicht, hab sie doch immer für eine vernünftige Person gehalten. – Das ist ja ein verflixter Kram! Na ja – unser alter Herr hätte sich wohl denken können, daß da nichts Gutes bei rausspringt. Aber nachlaufen tun wir ihr nicht, Herr, wenn sie nicht will, dann nicht. Machen Sie einen Strich darunter, Herr – dann müssen Sie sich eben nach 'ner andern umsehen. Hm, hm. Verdeibelte Geschichte! Läuft einfach davon, als ob Burgwerben nicht wert wäre, daß man auf den Knien den Schloßberg heraufrutschte. So ein Mustergut! Und das schöne alte Schloß mit all dem kostbaren Krimskrams! Ja, was will sie denn eigentlich noch mehr?«

»Einen Mann dazu, der sie liebt,« sagte Armin bitter.

Da schlug Scheveking mit der Faust auf den Tisch.

»Hätte es doch abwarten können, zum Kuckuck nochmal! Als ob ein rechtschaffener Mann seine Frau nicht liebte! Das kommt doch nach der Hochzeit ganz allein. Aber so sind sie alle. Da soll man scharwenzeln und schöntun und schmeicheln, wie so'n Zuckerstengel. Sonst ist es einfach nichts. Und gerade die Eva Marie, nein, das hätte ich ihr nicht zugetraut. Dachte doch gestern gleich, daß die Alte nichts Gutes ins Schloß bringt, wenn die lieber fortgelaufen wäre! Aber so was klebt wie Pech.«

»Nun, zanken Sie nur nicht mehr, Inspektor. Ich bin ganz allein daran schuld, glauben Sie mir.«

»hm – na ja – nun möchte ich bloß wissen, warum unser Herrgott Sie damals aus dem Wagen vor ihre Tür geworfen hat. Das hat doch nun wahrlich keinen Zweck gehabt.«

»Vielleicht doch, vielleicht gelingt es mir, Eva Marie zurückzugewinnen.«

Scheveking sah ihn verdutzt an.

»Sie würden sie wieder aufnehmen, wenn sie zurückkehrte?«

»Mit tausend Freuden. Ich würde hundert Meilen zu Fuße laufen, wenn ich gewiß wäre, sie zu finden.«

Scheveking räusperte sich, fuhr sich auf dem Kopf herum und sah unter den buschigen Brauen zu Armin hinüber.

»Hm – na ja!«

Nach diesem seinem tiefsinnigen Lieblingsausspruch erhob er sich und griff nach seiner Mütze.

»Sie sollten mit nach dem Vorwerk hinüber fahren, Herr, damit Sie auf andere Gedanken kommen. In einer halben Stunde breche ich auf.«

»Es ist gut, ich komme mit.«

Scheveking schritt mit finsterem Gesicht über den Hof und schnauzte ein paar Mägde an, die lachend am Brunnen standen und Gefäße scheuerten. Er warf scharf musternde Blicke in die Ställe und fand zu verschiedenen Donnerwettern Veranlassung. Danach stelzte er breitbeinig auf seine Wohnung zu. Mamsell Wunderlich saß am offenen Küchenfenster über ihr Wirtschaftsbuch gebeugt und addierte und multiplizierte mit hochrotem Kopf an ihren Zahlenreihen herum. Als sie den Inspektor erblickte, rief sie ihn an.

»He, Inspektor, kommen Sie doch mal her und rechnen Sie mir mal die Reihe da herunter! Es will nicht stimmen, es bleibt immer drei zuviel.« Er riß ihr das Buch unwirsch aus der Hand.

»Natürlich, bei dem Weibsvolk stimmt es nie! Aber gewöhnlich fehlt immer etwas. Sie müssen freilich immer was Extras haben.«

»Zum Reden brauch ich Sie nicht, das kann ich selber ganz gut. Nun rechnen Sie man, ob Sie den Fehler rauskriegen.«

Scheveking rechnete brummend und nahm ihr dann heftig den Bleistift aus der Hand.

»Natürlich – da ist er ja schon. Ihre Krakelfüße sind ja das reine Augenpulver. Kein Wunder, wenn Sie Ihre eigenen Zahlen nicht lesen können. Das da ist eine Fünf und keine Acht. So, nun stimmt es gleich. Gewöhnen Sie sich man 'ne andere Handschrift an, Mamsell.« Mamsell Wunderlich nahm ihm seelenruhig das Buch aus der Hand.

»Ich schreibe, wie ich kann, und wem es nicht schön genug ist, der braucht es nicht zu lesen,« sagte sie mehr energisch als logisch.

Scheveking lachte höhnisch. »Ob ein Frauenzimmer wohl einmal Vernunft annehmen kann? Nein, is nicht. Und nun passen Sie mal 'n bißchen auf die Mägde da drüben auf. Muß bei der Arbeit immer geklatscht und getratscht werden?«

»Ja, haben Sie sich man nicht, Inspektor. Als ob das ein verbrechen wäre, wenn sie sich unterhalten!«

»Natürlich, Sie müssen denen auch noch die Stange halten. Weil Sie selbst gern klatschen wie alle Frauen!«

Mamsell stemmte die Arme in die Hüften. »Tun Sie doch bloß nicht immer, als ob Sie die Frauen kennten, Sie – Sie Wickelkind. Was Sie darunter verstehen, sind lauter leibhastige Popanze, aber keine vernünftigen Frauen. Ich bitte mir sehr aus, daß Sie mich damit nicht vermengelieren. Sie sind bloß so wild, weil Sie sich mit keiner Frau vertragen können.«

»So, vertrage ich mich etwa mit Ihnen nicht?« fragte er zornig.

Sie versuchte, sich stolz emporzurecken. »Ja – mit mir. So sanft und geduldig wie ich sind auch nicht alle.«

Scheveking prustete laut los.

»Sie und sanft – wo denn – wie denn – wann denn? Nun wird's Tag in der Nachtmütze!«

»Inspektor, beleidigen können Sie mich nicht. Gehen Sie man lieber und zanken Sie sich mit andern herum. Ich bin eine friedliebende Person. Außerdem habe ich keine Zeit mehr, mich mit Ihnen zu unterhalten.«

Sprach's, schlug das Fenster zu und verschwand im Hintergrund der Küche.

Scheveking ging weiter, als wäre das in schönster Ordnung. Sein Arger hatte sich Luft gemacht und war verraucht.

*

Fast drei Monate waren vergangen, seit Eva Marie Burgwerben verlassen hatte. Noch immer hatte Armin nicht in Erfahrung bringen können, wohin sie sich gewandt. Ihre Stiefmutter, die noch immer in dem kleinen Häuschen wohnte und auch durchaus keine Anstalten traf, es zu verlassen, hatte noch keinerlei Nachricht von ihr erhalten, und Armin hatte es aufgegeben, darauf noch zu hoffen.

Er hatte sich unter Schevekings Leitung mit Feuereifer dem neuen Beruf gewidmet und fand große Befriedigung in dessen Ausübung. Wenn Eva Marie ihm nicht so sehr gefehlt hätte, wäre er glücklich gewesen. Seine Liebe zu ihr war erstarkt in dieser Zeit. So, wie sich aus einem Pflänzchen ein Baum entwickeln kann bei geeigneter Pflege, so wuchs und entfaltete sich seine Liebe, denn er hegte und pflegte sie als seinen köstlichen Besitz. Sie allein konnte ihm ja Eva Marie zurückgewinnen, denn es genügte nicht nur, daß er sie wiederfand, er mußte sie auch von seiner Liebe überzeugen können. Und ohne Beweise würde sie ihm nicht mehr glauben.

Wenn nur jetzt die unbequeme Testamentsklausel nicht gewesen wäre! Schon reichlich die Hälfte des Jahres war verstrichen. Bis zum dreißigsten März mußte er verheiratet sein, sollte er Burgwerben nicht wieder verlieren. Und der Besitz war ihm teuer geworden, er hätte ihn gewiß nicht wieder aufgeben mögen.

Nun war der Herbst ins Land gezogen. Es gab jetzt nicht mehr viel zu tun. Armin sah ein, daß er nicht länger in seinem stillen Schloß sitzen und abwarten dürfe, ob Eva Marie sich selbst meldete. Er hatte in die gelesensten Zeitungen wochenlang eine Anzeige einrücken lassen: »Eva Marie wird dringend um Angabe ihrer Adresse gebeten zur Beseitigung von Mißverständnissen.« Entweder war ihr aber keine dieser Zeitungen zu Gesicht gekommen, oder sie wollte nicht darauf antworten.

Rippach, der während der ganzen Gerichtsferien in Burgwerben gewesen war, hatte ihm vor einigen Tagen von Berlin aus geschrieben und ihn gebeten, den Winter über nach Berlin zu kommen.

»Erstens fängst Du nur Grillen in Deiner Burg und wirst noch schwermütiger, als Du bei meinem dortigen Aufenthalt schon warst. Und das ist Unrecht an Dir selbst. Zweitens wird es Zeit, daß Du endlich was Ernstes unternimmst. Entweder Du setzest Dich mit einem tüchtigen Privatdetektiv in Verbindung und ermittelst den Aufenthalt Deiner Eva Marie, – wenn Du sie durchaus heiraten willst, – oder Du suchst Dir eine andere Frau. Sonst verträumst Du die Zeit, und Burgwerben geht Dir durch die Lappen. Jedenfalls mußt Du hierherkommen, das halte ich für durchaus notwendig. Ich habe mich bereits nach einem tüchtigen Detektiv erkundigt, mach diesem Hangen und Bangen ein Ende. Übrigens hat man hier davon gehört, daß Du heiraten mußt. Man erwartet Dich mit offenen Armen, zumal die heiratsfähigen Töchter und ihre Mütter. Sogar mein süßes kleines Mädchen, das ich gestern auf einer musikalischen Soiree bei Werderns nach der langen Sommerpause zum ersten Male wiedergesehen habe, erkundigte sich lebhaft nach Dir. Aber bilde Dir darauf nichts ein, sie fragte nur nach Dir, weil Du mein Freund bist. Sie war reizend, allerliebst und schmollte erst in entzückendem Trotz, weil ich mich den ganzen Sommer bei ihr unsichtbar gemacht habe. Aber gerade dieses Schmollen verriet mir, daß sie meiner gedacht. Und ihre Augen sind holde Verräter. Mein Schicksal scheint also beschlossen, und ich habe mich nun lange genug in Enthaltsamkeit geübt, wenn Du also zu meiner Verlobung noch zurechtkommen willst, so beeile Dich. Und vergiß Deinen Frack nicht, was ich noch sagen wollte: Hexe Lorelei – nein – Alexandra hat mich gestellt und mich sehr schlau nach Deinen Heiratsplänen ausgeforscht. Ich glaube, sie ließe sich kalten Blutes scheiden, wenn sie Aussicht hätte. Sie scheint zu glauben, daß Du sie noch liebst. Ob diese schöne Hexe nicht imstande wäre, Dich Eva Marie wieder vergessen zu machen? Dieser Probe müßtest Du Dich entschieden unterziehen. Also komm so schnell als möglich.«

Diesen Brief hatte Armin aufmerksam durchgelesen. Nachdenklich sah er darauf vom Fenster seines Arbeitszimmers hinaus in die herbstliche Landschaft. Das große Sterben in der Natur hatte begonnen. Das Laub lag auf dem Boden und wurde vom Herbststurm wild umhergejagt. Der Regen klatschte an die Fenster – alles grau, naß, unfreundlich. was sollte er jetzt hier allein? Rippach hatte recht, es war besser, er ging auf einige Wochen nach Berlin und betrieb ernstlich die Nachforschungen nach Eva Marie.

Er mußte sie wiederfinden – mußte! – Eine andere Frau? Der Gedanke schon jagte ihm Grauen ein. – –

Er klingelte Dillenberger und gab ihm Auftrag, seine Sachen zu packen und Scheveking herüberzubitten.

Mit diesem besprach er, was nötig war, und teilte ihm mit, daß er am nächsten Tage nach Berlin reisen würde.

*

Frau von Soltenau saß mit ihrer ältesten Tochter im Wohnzimmer über Modejournale gebeugt. Die beginnende Wintersaison verlangte ihr Recht. Da gab es zwischen den beiden Damen sehr wichtige Auseinandersetzungen. Dora mußte einige neue Kostüme haben, und auch Frau Magdalene würde manches brauchen. Die Mittel, die den Damen zur Verfügung standen, waren durchaus nicht reichlich. Da galt es, zu rechnen und zu überlegen.

»Was meinst du zu dieser Ballrobe, Dora? Das Unterkleid weiß, dazu können wir Pongeeseide nehmen. Du malst dir um den Saum eine Bordüre, Apfelblüten oder Heckenrosen. Das kannst du ja sehr hübsch. Darüber nehmen wir blau Chiffon, ganz zart, und zur Garnitur die gleichen Blumen wie zur Malerei. Das fände ich hübsch, apart und – die Hauptsache nicht zu teuer.«

Dora schlang ihren Arm um der Mutter Hals und drückte ihre Wange an die der Mutter.

»Reizend find ich das, Mama. Du hast immer so himmlische Einfälle.«

Frau von Soltenau lächelte.

»Eigentlich stammt diese Idee vom Fräulein. Ich bespreche solche Fragen gern mit ihr. Sie hat einen feinen, vornehmen Geschmack. Überhaupt, Kind – ich habe wirklich einen Glücksgriff mit ihr getan. Sie ist zwar eigentlich zu jung und auch zu hübsch für ihr Amt. Aber sie hat Takt und ist sehr tüchtig und zuverlässig. Ich fühle mich wirklich bedeutend entlastet durch sie, das wird mir erst jetzt zur Saison recht fühlbar werden. Und vor allem – sie tut alles in einer so freundlichen, selbstverständlichen Art, auch was nicht ihres Amtes ist. Bei ihren Vorgängerinnen bekam man nur unwillige Gesichter zu sehen, wenn man einmal etwas Außergewöhnliches verlangte.«

Dora lachte fröhlich.

»Du wirst ganz Begeisterung, wenn du auf Fräulein zu sprechen kommst. Und Papa wird sie nächstens andichten. Seit sie neulich für unsere kranke Köchin einsprang und das Frühstück rettete, welches er seinen Freunden gab, seitdem ist Fräulein ins Unendliche in seiner Hochachtung gestiegen.«

»Und mit Recht, liebes Kind. Ich habe ihr das auch hoch angerechnet.«

»Ich will ihr Verdienst gewiß nicht schmälern. Sehe ich doch täglich selbst, wie tüchtig sie ist. Was sie aus unseren beiden Jüngsten gemacht hat, streift ans Wunderbare. Die Puten sind zwar immer noch reichlich wild, aber sie gehorchen ihr aufs Wort. Und dabei ist sie gar nicht streng. Es geht alles so ruhig und freundlich bei ihr ab. Die Kinder gehen für sie durchs Feuer und haben sie wirklich lieb. Margarete war neulich ganz außer sich, weil sie Fräulein überrascht hatte, als sie in ihrem Zimmer weinte.«

»Sie hat geweint? Mein Gott, es wird ihr doch gefallen bei uns, sie wird doch nicht fortwollen?«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie sagte mir gestern erst, wie wohl sie sich bei uns fühle. Sie hat wohl Trauriges hinter sich.«

»Ja – ihren Vater scheint sie sehr liebgehabt zu haben. Auch wird es ihr nicht an der Wiege gesungen worden sein, daß sie unter fremden Leuten ihr Brot verdienen muß.«

Frau von Soltenau seufzte, wenn ein grausames Geschick ihr den Gatten nehmen würde – war sie dann mit ihren Kindern besser daran als ihr Fräulein? Sobald das hohe Gehalt ihres Mannes fortfiel, war bei ihnen auch die Armut vor der Tür. – Wenn sich nur Dora gut verheiraten würde, ehe Margarete erwachsen war! Es war so schwer, für drei Mädchen gute Partien zu finden. Nun ging Dora schon den zweiten Winter in Gesellschaften.

Frau von Soltenau hielt im Geiste Umschau unter den jungen Männern, die eventuell in Frage kamen. Würde einer davon ihre Dora zur Frau begehren? –

Kurze Zeit darauf kamen die Kinder mit Fräulein vom Spaziergang zurück. Ihre fröhlich plaudernden Stimmen tönten vom Korridor herein. Nach wenigen Minuten traten sie mit Eva Marie ins Zimmer und begrüßten die Mutter.

Eva Marie trug noch immer ein schwarzes Kleid mit einem weißen Halskragen. Sie sah etwas blasser aus, als in jenen sonnigen Tagen in Burgwerben, und in den schönen, freundlichen Augen ruhte das Leid. Aber sie war ruhiger geworden, und die Arbeit, sowie das wohlwollende Entgegenkommen ihrer Herrschaft halfen ihr tragen, was unabänderlich war.

Im Anfang waren ihr die neuen Verhältnisse nicht leicht geworden. Es gab vieles zu lernen, was ihr neu war, vor allem der bedingungslose Gehorsam gegen ihre Herrin. Und ihr Herz litt tausend Qualen unter der Trennung von Armin. Manche Nacht hatte sie heimlich in ihre Kissen geweint und das wilde Schluchzen erstickt, damit es die Kinder im Nebenzimmer nicht hörten. Und die Angst vor einem freude- und liebeleeren Leben durchschüttelte sie. Aber sie nahm doch den Kampf mit diesem Leben auf und empfand es als ein Glück, daß Arbeit, viel Arbeit für sie im Hause war. Es mußte in dem großen Haushalt mit Dienstpersonal gespart werden, und Frau von Soltenau freute sich, wenn Eva Marie schnell und sicher mit zugriff, wenn es irgendwo fehlte.

Die Kinder schlossen sich ihr bald sehr innig an. Das neue Fräulein verstand es so gut, Interesse für deren kleine Leiden und Freuden zu zeigen. Sie hatte immer Zeit und Lust, sich mit ihnen zu beschäftigen, und wurde nicht nervös, wenn sie in ihrer gesunden Lebhaftigkeit unruhig und wild waren. Und das bißchen Liebe, welches ihr die Kinder entgegenbrachten, wurde ihr zum Trost. Es rettete sie vor gänzlicher innerer Vereinsamung.

Von Burgwerben und seinem Herrn hatte sie nie wieder ein Wort gehört. Aber ihre Gedanken umkreisten unablässig das Schloß. Ob er wohl schon eine andere zu ihrer Nachfolgerin erwählt hatte – ob er gar schon verheiratet war? Jedenfalls dachte er ihrer kaum noch. Er hatte wohl nur ein mitleidiges Lächeln für die Närrin gehabt, die mit seiner Hand und seinem Namen auch zugleich sein Herz begehrt hatte.

Und was war aus ihrer Stiefmutter geworden? wo mochte sie ein neues Unterkommen gefunden haben? Sie würde ihr bitter grollen, daß sie ihre Träume von Wohlleben und Sorglosigkeit zerstört hatte.

Und das liebe kleine Haus, stand es jetzt leer, verlassen? Ob jemand die Rosen für den Winter einlegte, damit sie nicht erfroren? Und der alte Inspektor Scheveking! Der hatte wohl bös hinter ihr her gewettert. Sie wußte ja von Armin, daß Scheveking in ihr die Braut seines Herrn sah.

Oft packte sie eine ganz unsinnige Sehnsucht nach all dem, was sie zurückgelassen hatte. Dann biß sie die Zähne zusammen und rief ihren Stolz zu Hilfe. Das half wieder eine Weile. –

»Haben Sie noch Befehle für mich, gnädige Frau? Sonst möchte ich hinübergehen und Wäsche ausbessern helfen. Berta wird nicht gut allein fertig damit.«

Frau von Soltenau sah freundlich durch ihren Kneifer auf das junge Mädchen. »Sie suchen sich doch überall nützlich zu machen, Fräulein. Ich möchte aber nicht, daß sie die Mädchen verwöhnen. Ich dächte, Berta müßte längst mit Ausbessern fertig sein.«

»Doch nicht, gnädige Frau. Es gab diesmal sehr viel nachzusehen. Und ich tue es gern. Margarete und Elfriede können inzwischen mit hinübergehen, ich nehme mir die Arbeit mit ins Spielzimmer.«

»Ja, das ist fein!« rief Elfriede vergnügt. »Dann erzählen Sie uns dabei. Ach, Mama, Fräulein erzählt so wunderschöne Sagen von Rittern und Edelfräulein, die auf den Thüringer Burgen gehaust haben!«

»Das gefällt euch natürlich. Apropos, Fräulein, Ihr letzter Wohnort war doch das Dorf Burgwerben! Gibt es da nicht auch ein Schloß gleichen Namens?«

Eva Marie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Schnell bückte sie sich, um einige herabgefallene Modeblätter aufzuheben. Dann antwortete sie ruhig und schon wieder beherrscht: »Allerdings, gnädige Frau.«

»Kennen Sie das Schloß?«

»Ich war nie dort, hab es immer nur von weitem liegen sehen.«

»Es gehört einem Herrn von Leyden, nicht wahr?«

»Ja – ich – ich glaube wohl.«

»Wissen Sie vielleicht Näheres über das sonderbare Testament, welches der frühere Besitzer hinterlassen hat?«

»Ich habe allerlei davon gehört. So etwas spricht sich herum in kleinen Orten.«

»Natürlich. Mich interessiert die Sache nur, weil ein Herr von Leyden uns vorigen Winter einige Male in Gesellschaft begegnete. Ich hörte, er sei der Erbe von Burgwerben unter der Bedingung geworden, daß er innerhalb eines Jahres sich verheirate. Ist daran etwas Wahres?«

Eva Marie klopfte das Herz bis zum Hals hinauf.

»Ja, es wurde als bestimmt erzählt.«

»So, so, das ist ja sehr interessant. Nun, ich danke Ihnen, Fräulein, wenn Sie sich also um unsere Wäsche verdient machen wollen, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Jedenfalls freue ich mich sehr, daß Sie so unverdrossen an all solche Arbeiten herangehen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich sehr, sehr zufrieden mit Ihnen bin.«

Sie reichte Eva Marie freundlich die Hand.

»Ich bin sehr glücklich, mir Ihre Zufriedenheit errungen zu haben, gnädige Frau. Es soll mein Bestreben sein, mir diese zu erhalten.«

Als Eva Marie mit den Kindern hinausgegangen war, sagte Frau von Soltenau zu ihrer Tochter:

»Ich bin doch neugierig, ob Herr von Leyden diesen Winter nach Berlin kommt, um sich hier eine Frau zu suchen. Sag, Dora, hast du nicht viel mit ihm getanzt?«

Dora machte ein sehr gleichgültiges Gesicht.

»Mit ihm weniger, als mit Herrn von Rippach, Mama.«

»Und Rippach schien sich gern mit dir zu unterhalten. Leider hat er sich dann aber sehr von uns zurückgezogen.«

Dora war dunkelrot geworden.

»Das schien nur so, Mama – er war im Sommer viel bei seinem Freund Leyden zu Besuch.«

»So, so. hat dir Herr von Rippach neulich bei Werderns nicht erzählt, ob Herr von Leyden nach Berlin kommt?«

»Er wünscht es sehr, doch weiß er nicht, ob es dazu kommt. Herr von Leyden scheint Geschmack am Einsiedlerleben gefunden zu haben. Du weißt doch, daß er sehr für Alexandra Wendhoven geschwärmt hat, als sie noch frei war.«

»Natürlich, man sprach ja allgemein davon. Nun, jedenfalls ist er jetzt eine glänzende Partie. Ich mochte doch wissen, wer seine Frau wird.« Sie seufzte tief.

»Warum seufzest du so sehr, Mama?«

»Ach, Kind – ich wollte – du könntest einmal solche Partie machen.«

Dora küßte sie herzlich und sagte leise: »Muß es denn gerade ein Großgrundbesitzer sein, Mama? Würde dir zum Beispiel nicht auch Herr von Rippach als Schwiegersohn genügen?«

Frau von Soltenau wandte sich lebhaft ihrer errötenden Tochter zu.

»Kind – das ist eine sehr direkte Frage, da kann ich nur ebenso prompt antworten: Ja, er würde mir nicht nur genügen, sondern ich würde mich glücklich schätzen! Rippachs sind sehr reiche Leute, und Hans von Rippach wird außerdem sicher Karriere machen. Er ist ein liebenswürdiger und untadeliger Kavalier. Aber nun spiele einmal nicht Versteck mit deiner Mutter, die doch deine beste Freundin ist. Weshalb fragst du mich so? Ich weiß, daß dir Herr von Rippach vorigen Winter nicht ganz gleichgültig war, und daß er dich einigermaßen auszeichnete. Was also ist's mit ihm?«

Dora verbarg ihr Gesicht an der Schulter der Mutter.

»Mama, liebe, teure Mama – ich – ich glaube, er mag mich sehr gern! Bei Werderns sagte er mir neulich, er habe sich mit Absicht von mir ferngehalten, ich solle mich prüfen, ob er mir nur als Tänzer angenehm sei. Und er war so eigentümlich bewegt. Morgen abend treffen wir bei Schliebens mit ihm zusammen – und ich glaube – er will mir etwas sagen. Er sprach davon, daß er mir eine Frage vorzulegen hätte – ach, Mama!«

Frau von Soltenau zog ihr Kind zärtlich an sich.

»Meine kleine Dora! Bist du ihm denn gut?«

»Ja, ich habe ihn lieb, Mama. Er ist so natürlich, so treuherzig und gut. Die anderen Herren mag ich alle nicht so gern. Und es hat mir so weh getan, daß er sich nicht mehr bei uns sehen ließ.«

»Und davon erfuhr ich gar nichts?«

»Ich wollte dich nicht betrüben, gute, liebe Mama. Sei nicht böse!«

»Nein, mein Herzkind, das bin ich gewiß nicht. Aber nun klare Augen, Dora! Ich höre Papa kommen. Ihm wollen wir vorläufig keine Unruhe machen. Wenn Gott will und Rippach erklärt sich wirklich, dann ist es noch immer Zeit genug, es ihm mitzuteilen. Er hat dann die Freude ohne vorherige Sorge, nicht wahr?«

Mutter und Tochter küßten sich innig und gingen dann mit heiteren Gesichtern dem Vater entgegen.

*

An einem naßkalten, stürmischen Novemberabend traf Armin in Berlin ein. Rippach erwartete ihn am Bahnhof und begrüßte ihn mit großer Freude.

»So, mein Alter, jetzt hab ich dich wieder hier! Nun wollen wir mal gemeinsam dein etwas verfahrenes Lebensschiff wieder flottmachen. Heute abend schleppe ich dich zu Schliebens, da ist erster großer Winterempfang. Ich habe Frau von Schlieben versprechen müssen, dich mitzubringen. Sie tut sich schon darauf etwas zugute, den reichen Erbherrn von Burgwerben als Delikatesse zu servieren.«

Armin sah bei dieser Eröffnung gar nicht erfreut aus.

»Daran liegt mir durchaus nichts, Hans. Ich hätte heute abend lieber in einer stillen Ecke hinter einer Flasche Wein mit dir gegessen.«

»Alles zu seiner Zeit. Deiner Vorliebe für stille Ecken kannst du frönen, wenn du mit einer hübschen jungen Frau im Burgwerbener Schlosse sitzt. Jetzt mußt du mal erst wieder unter Menschen.«

»Der Zweck meines Hierseins ist aber ein anderer.«

»Weiß ich, Armin. Auf morgen vormittag habe ich dir den Detektiv bereits ins Hotel bestellt, dann kannst du mit ihm reden. Heute abend aber sollst du erst mal beweisen, daß deine alte Flamme dir ungefährlich geworden ist. Die schöne Alexandra wird zugegen sein.«

»Du kannst schon ohne diese Beweise daran glauben, Hans. Ich habe jetzt nur einen Gedanken – Eva Marie.«

»Gut, ich will es dir glauben. Übrigens brauche ich dich heute als Rückenhalt, mein Geschick soll sich entscheiden, und mir ist doch ein bißchen – na, sagen wir – feierlich zumute. Einen Korb befürchte ich keineswegs, ich habe vorher gründlich sondiert, aber es ist doch keine Kleinigkeit, wenn man sich sozusagen mit gebundenen Händen an so eine süße kleine Krabbe ausliefert.«

Armin lächelte.

»Dabei kann ich dir gar nicht helfen.«

»Wer weiß? Vielleicht gilt es, lästige Zeugen fernzuhalten, damit ich meine feurige Liebeserklärung ohne Störung vom Stapel lassen kann. Wenn ich unterbrochen werde, stehe ich für nichts. Du siehst also hoffentlich ein, daß ich dich notwendig brauche.«

»Ja – ich sehe es ein und füge mich ins Unvermeidliche. Seinen Freunden muß man Opfer bringen.«

»Bravo, also sind wir einig! Wir fahren jetzt in dein Hotel, du steckst dich in Frack und Lack, dann gehen wir zu mir, damit ich die gleiche Metamorphose vornehmen kann, und nachher kann das Schicksal seinen Lauf nehmen.«

Sie waren inzwischen in einen Taxameter gestiegen. Rippach sah sich suchend um.

»Du, bist du allein gekommen, oder hast du einen Diener mitgebracht?«

»Nein, ich bin allein.«

»Hm! Als Erbherr von Burgwerben hättest du dir solches Anhängsel leisten können.«

»Hätte ich. Aber mich geniert das mehr. Was soll ich damit? Ich bin mir immer mein liebster Diener gewesen, und alt und gebrechlich bin ich gottlob noch nicht.«

»Immerhin macht sich so etwas recht vornehm. So ein Lakai kann so unsagbar hoheitsvoll auf andere Sterbliche herabsehen.«

Die beiden jungen Leute lachten.

»Wie geht's meinem Freund, dem braven Inspektor?«

»Anscheinend gut.«

»War er denn mit dir als Schüler für Ackerbau und Viehzucht zufrieden?«

»Soso, lala, er hat mich zuweilen in Grund und Boden geschimpft, wenn ich etwas verkehrt gemacht habe.«

Rippach lachte.

»Kann ich mir denken. Mit Handschuhen packt der niemand an. Und seine bestgeliebte Feindin, Mamsell Wunderlich? Mir scheint, sie füttert dich zu gut, siehst trotz deines Seelenschmerzes sehr wohl aus.«

»Das macht das solide Leben auf dem Lande. Mamsell jammert sehr, daß ich ihren kulinarischen Leistungen nicht das rechte Verständnis entgegenbringe. Du hast dich in dieser, wie in jeder andern Beziehung bei ihr eingeschmeichelt.«

Rippach richtete sich stramm empor und strich unternehmend seinen Bart.

»Kunststück – bei meinem Glück bei Damen!«

Armin hob drohend den Finger.

»Fordre dein Schicksal nicht heraus. Noch hat dir die kleine Dora ihr Jawort nicht gegeben.«

»Ach was – ist ja bloß noch Formsache. Innerlich sind wir einig.«

»Auf jeden Fall wünsche ich dir Glück, Hans.«

»Danke dir. Ich hoffe, wir feiern eine vergnügte Doppelhochzeit am Ende der Frist, die dir gestellt ist.«

»So willst du auch bald Hochzeit machen?«

»Natürlich, immer kurz und schmerzlos. Für einen langen Brautstand, immer einen Anstandswauwau als Dritten im Bunde, bin ich gar nicht.«

»Also fehlte uns zu einer Doppelhochzeit bloß noch meine Eva Marie.«

»Oder eine andere.«

»Nein, eine andere mag ich nicht.«

»Aber gesetzt den Fall, sie ließe sich nicht finden?«

»Ich muß sie finden – sonst macht mir die ganze Erbschaft keine Freude.«

»Steht es so?«

»Ja, so steht es.«

»Dann muß also das Mädel herbeigeschafft werden, um jeden Preis. Mensch, wenn du nur schon lange auf mich gehört und einen Detektiv beauftragt hättest!«

»Es war mir ein peinliches Gefühl, ist es auch jetzt noch.«

»Der Mann ist doch streng diskret.«

»Ja doch, das glaube ich wohl. Ich habe von Tag zu Tag gehofft, daß sie ihrer Stiefmutter Nachricht geben oder auf meine Anzeigen antworten würde.«

»Nein, darauf hoffte ich nie. Sie hat es sehr ernst genommen, sich nicht auffinden zu lassen. Das geht aus allem hervor. Auf eine solche Anzeige meldet die sich nicht. Weiß Gott, das Mädel imponiert mir, ehe ich sie kenne. Aber höchste Zeit ist, daß du etwas unternimmst. Wenn sie etwa gar ins Ausland gegangen wäre?«

»Dahin kann sie ohne Paß nicht reisen. Da wäre ihre Spur durch die Polizei zu ermitteln.«

»Auf alle Fälle ist der Detektiv ein äußerst findiger Kopf. Ich hoffe, er kommt bald zum Ziel. Doch da sind wir. Nun schnell, viel Zeit bleibt uns nicht mehr, wenn ich nicht pünktlich bin, schmollt meine kleine Dora.«

»Mensch, du wirst ja vor der Verlobung schon zum Pantoffelhelden!«

»Tut nichts. Ich glaube, dieser Stand ist mit Unrecht verschrien. Es ist ganz entzückend, wenn man von solch einem süßen Plaudermund Schelte bekommt.«

Armin mußte herzlich lachen.

»Du bist unrettbar verloren.«

»Davon bin ich längst überzeugt.«

*

Zwei Stunden später waren die beiden Freunde bei Schliebens von Bekannten umringt. Armin mußte die Probe darauf machen, wie wirksam sich der Mensch von einem goldnen Hintergrund abhebt. Die meisten von den anwesenden Herrschaften, die früher den vermögenslosen Assessor kaum beachtet hatten, ließen ihn heute mit und ohne Grazie zum ›lieben Freund‹ emporrücken.

Die jungen Damen begegneten ihm mit reizender Vertraulichkeit, fragten ihn mit furchtsam großen Augen, ob es auf seinem Schloß einen Spukgeist gebe, und gaben alle vor, daß sie alte Schlösser ›himmlisch interessant‹ fänden. Rippach schnitt drollige Gesichter, wenn Armin ihn hilfeflehend ansah, und schürte seinerseits durch ideale Schilderungen Burgwerbens das Interesse noch. Scheveking wurde zum Poltergeist und Mamsell Wunderlich zur schemenhaften weißen Frau.

Soltenaus begrüßten Armin in ihrer vornehm freundlichen Weise, und Dora wurde sehr rot, als er ihr die Hand küßte. War er doch Hans Rippachs bester Freund. Während ihre Eltern Armin dann in ein Gespräch zogen, blieb Rippach an ihrer Seite.

»Gnädiges Fräulein, dieser Tag hatte hundert Stunden. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so langen Tag erlebt zu haben.«

In Doras reizendes Gesicht schoß dunkle Röte, und weil sie wußte, wie stark sie zu erröten pflegte, wurde sie noch verlegener. Sie sah scheu in seine treuherzig bittenden Augen.

»Woran lag das wohl, Herr von Rippach?«

»Wissen Sie das nicht?«

»N–e–i–n.«

»O, jetzt sind Sie nicht ehrlich. Ich habe Ihnen doch neulich bei Werderns verraten, daß ich heute eine Frage an das Schicksal tun will. Oder sollten Sie das vergessen haben?«

Seine Frage klang sehr ernst und eindringlich. Sie hob den Kopf und sah ihm offen ins Gesicht, trotzdem sie fühlte, daß ihr das Blut wieder emporstieg.

»Nein, ich habe es nicht vergessen,« sagte sie gleichfalls ernst und fest.

»O, das ist lieb von Ihnen, gnädiges Fräulein! Meinen Sie, daß ich eine günstige Antwort auf meine Frage bekommen werde?«

Vor Verlegenheit wurde sie böse, und ihre Augen bekamen einen zornigen, feuchten Schimmer.

»Ich weiß es nicht,« sagte sie leise und gepreßt, und mit zuckendem Mund wandte sie sich von ihm ab.

»Nicht böse sein, um Himmels willen nicht!« bat er erschrocken. Dann warf er einen suchenden Blick um sich.

Soltenaus waren beide mit Armin in lebhafter Unterhaltung begriffen, und die übrigen Anwesenden schienen sich nicht um ihn und Dora zu bekümmern. Er sah hinter sich eine offene Tür, die in den Musiksalon führte, der jetzt leer war. In seinen Augen blitzte es entschlossen auf.

»Gnädiges Fräulein – würden Sie mir die Gnade erweisen, einen Augenblick mit mir hier einzutreten? Ich will Ihnen – ein schönes Bild zeigen.«

Er bot ihr mit zwingendem Blick den Arm, und sie legte ihre leicht bebende Hand darauf. So traten sie miteinander in das Musikzimmer. Er führte sie bis vor den Flügel und gab ihren Arm mit einer Verbeugung frei. Nun standen sie sich still Aug in Aug gegenüber. Dora lehnte leicht am Flügel, und ihre Hand blätterte in den Noten, die zerstreut herumlagen. Für Unbeteiligte sah es aus, als ob die beiden jungen Leute hierhergegangen wären, um Noten durchzusehen. Hans von Rippach wurde sehr eng und warm ums Herz. Es war gar nicht so leicht, eine Liebeserklärung vom Stapel zu lassen. Sein Blick richtete sich beinahe hilfeflehend auf die junge Dame. Da, in dieser Lage, fühlte sie sich ihm plötzlich gewachsen. Sie fühlte, daß er unsicher nach Worten rang, und da kam sie ihm mit einem reizenden Schelmenlächeln zu Hilfe.

»Nun – wo ist das Bild?« sagte sie leise.

Er richtete sich stramm auf.

»Das war ein Vorwand, Fräulein Dora, liebes Fräulein Dora. Ich wollte Sie nur hier herauslocken. Das wissen Sie ja. Machen Sie mir das doch nicht zu schwer! Herrgott, Sie wissen doch, daß ich Sie liebe, Dora, daß ich schon seit vorigen Winter den Wunsch habe, Sie zu meiner Frau zu machen. Wollen Sie das, Dora?«

Sie zitterte ein wenig, sah ihn aber mit feucht und zärtlich schimmernden Augen an und nickte nur sehr energisch mit dem blonden Köpfchen.

Da zog er sie ganz fest an seine Brust.

»Mädchen, liebes, süßes Mädchen!« sagte er mit unsicherer, bewegter Stimme und küßte sie fest auf den Mund. Dann ließ er sie schnell los und trat einen Schritt zurück.

»Da wollte ich dir nun so eine recht schöne und schneidige Liebeserklärung machen, meine süße kleine Dora. Aber wenn einen so ein Mädchen so lieb dabei ansieht, da vergißt man all die schönen Reden, die man sich zurechtgelegt hat. Aber das hole ich nach – ganz sicher. Hast du mich lieb, kleine Dora?«

Sie seufzte glücklich lächelnd.

»Ja, lieber – lieber Hans – ich habe dich lieb, und ich war sehr traurig, daß du dich gar nicht mehr sehen ließest.«

»Ich wollte dir doch Zeit lassen, mit dir selbst ins reine zu kommen, ob du mich wirklich recht und ehrlich liebhaben kannst.«

»O, das wußte ich schon längst.«

Er sah sich um.

»Schade, daß ich jetzt nicht einen Augenblick ungestört sein kann mit dir. Ich hab doch noch gar keinen richtigen Verlobungskuß bekommen. Aber morgen, Süße, morgen komme ich zu deinen Eltern. Ob sie mich als Sohn willkommen heißen werden?«

Sie nickte glücklich lächelnd.

»Ja, Mama weiß schon, daß ich dich liebhabe, und sie hat nichts dagegen. Und Papa will nichts als mein Glück. Meine Eltern sind ja so himmlisch gut und in allen ernsten Fragen einer Meinung.«

In diesem Augenblick trat Armin suchend in das Zimmer. Er wollte erschrocken kehrtmachen, als er die beiden jungen Leute stehen sah. Aber Hans rief ihn an.

»Hallo, Armin – du kommst zur rechten Zeit! Bitte, bleib mal da an der Tür stehen, aber mit dem Gesicht nach außen. So! Nun bleib so, bis ich dich rufe, und laß keinen Menschen hier herein.«

Armin tat, wie ihm geheißen wurde, und nun kam Hans zu mehr als einem Verlobungskuß, trotzdem sein Bräutchen erst verschämt rebellierte. Da dies aber nicht ohne Geräusch abging, ergab sie sich schließlich auf Gnade und Ungnade.

Endlich sah Hans ein, daß es nun für heute genug sein müßte. Er gab Dora frei und trat von ihr zurück.

»Armin!«

»Was gibt's?«

»Jetzt kannst du dich umdrehen und uns gratulieren. Gleichzeitig sollst du auch einen unverfänglichen Rückzug decken. Ich möchte mich um keinen Preis hier als neugebackener Bräutigam antoasten lassen. Oder wäre dir das lieb, Dora?«

Sie schüttelte den Kopf und nahm errötend Armins Glückwunsch entgegen. Später traten die drei, anscheinend im harmlosesten Geplauder, wieder unter die übrigen Gäste. Dora suchte natürlich sofort ihre Mutter auf, die sich eben mit einem älteren Offizier unterhielt. Sie hängte sich in ihren Arm und drückte diesen heftig. Ihre Mutter sah in das strahlende Gesicht, und sie wußte, was geschehen war. Ein tiefer Seufzer entfloh ihren Lippen. Eine ihrer Töchter war wenigstens gut und glücklich versorgt. Welch ein froher Gedanke für sie! Sie suchte mit dem Auge ihren Mann. Seine hohe, schlanke Gestalt überragte fast alle. Und als empfände er den Blick seiner Frau, wandte er sich ihr zu; sie grüßten sich still mit den Augen.

Erst auf dem Heimweg erfuhr Herr von Soltenau die frohe Botschaft. Er war sehr überrascht, daß sich seine kleine Dora in eine Braut verwandelt hatte. Gegen Rippach ließ sich aber nichts einwenden. Im Gegenteil. – –

Als Dora sich von Armin und Rippach getrennt hatte, fragte dieser mit einem Blick nach der Uhr:

»Hexe Alexandra ist noch immer nicht erschienen?«

»Nein, ich sah sie noch nicht.«

»Sie ist und bleibt eine raffinierte Kokette. Die Sehnsucht nach ihr soll natürlich geschärft werden. Sie weiß ganz genau, daß du hier bist. Ah – wenn man den Wolf nennt, – – da ist sie!«

Er sah gespannt in Armins Gesicht. Dieser blickte ruhig nach der Tür zu, durch welche eben an der Seite eines glatzköpfigen Herrn Alexandra Wendhoven eingetreten war. Sie war von faszinierender Schönheit, schlank, üppig, goldhaarig und braunäugig. Sie schritt mit eigentümlich lässiger Grazie neben ihrem Gatten einher. Das schwarze, mit Goldflimmer reich bestickte Kostüm aus weicher Seide und Chiffonwogen umschloß knapp die schöne Gestalt. Arme, Schultern und Nacken waren nur mit einem schwarzen Seidentüll bekleidet, auf dem mit Goldflimmer kleine Sterne eingestickt waren. Über die Schultern fiel graziös und äußerst kleidsam eine dicke Federboa, gleichfalls in Schwarz. Der Kontrast der weißen Haut mit dem Schwarz der Toilette und dem leuchtenden, rotgoldenen Haar war sinnverwirrend. Dazu kam der eigenartige lockende Ausdruck der Augen, die zuweilen müde, verschleiert blickten und dann wieder aufblitzten in leidenschaftlichem Feuer.

Diese Frau zog die Männer an, wie das Licht die Insekten. Alle, die mit ihr in Berührung kamen, hatten sich ein wenig verbrannt und hüteten sich, ihr zu tief in die glutvollen, verschleierten Augen zu sehen. Sie galt als kokett, aber gefühlskalt, trotz des Feuers, das manchmal in ihren Augen aufblitzte. Es konnte sich niemand rühmen, je ihre Gunst besessen zu haben, trotzdem man wußte, daß ihre Ehe nicht glücklich war. Der einzige, der ihr kaltes Herz jemals schneller hatte schlagen lassen, war Armin von Leyden gewesen. Und er hatte dem Zauber, der von ihr ausging, nicht widerstehen können. Als sich aber der reiche Freier zeigte, hatte sie den anderen ruhig fallen lassen. Ihr Zauber hatte auch nachgewirkt, bis Eva Maries schlichte Herzensgüte und warmherzige Natürlichkeit den Sieg über diese Sirene davongetragen hatten.

Heute sah Armin mit gefeitem Auge in das schöne, weiße Gesicht. Ruhig wartete er, bis Alexandra auch zu ihm trat.

»Ah, Herr von Leyden, Sie hier in Berlin?« Ihre müden Augen blitzten auf und brannten in die seinen.

»Wußten Sie das nicht, gnädige Frau?« fragte er, sich verneigend, mit ruhiger Würde.

Sie hatte sich gleichgültig lächelnd umgesehen, ob jemand in ihrer Nähe war. Sie standen etwas isoliert.

»Ja – ich wußte es, Armin von Leyden – ich wußte es, und ich wäre einer ganzen Welt zum Trotz heute hierhergekommen,« sagte sie leise, mit eigentümlich tiefer Stimme.

Er sah ihr ruhig und voll in die Augen. Dies Weib hatte alle Macht über ihn verloren, das empfand er mit Zufriedenheit.

»Wer hätte Sie wohl hindern sollen, gnädige Frau?« sagte er mit leichtem Spott.

Sie blitzte ihn von der Seite an.

»Zum Beispiel mein Mann. Wissen Sie, daß er im Anfang eifersüchtig auf Sie war?« Sie seufzte und fuhr leise, mit schwermütigem Tone fort: »Sie glauben nicht, was für schwere Stunden deshalb hinter mir liegen.«

Armin sah kalt in ihr schönes, flehendes Gesicht.

»Das begreife ich nicht, gnädige Frau. Ihr Gatte kann ganz beruhigt sein. Weder Sie noch ich werden ihm jemals Veranlassung zur Eifersucht geben.«

Sie biß die Zähne in die Lippen, und ihre weiße Hand umkrampfte fest die weiche Federboa. Sie hatte erkannt, daß Leyden ihrem Netz entronnen war. Er würde sich nicht wieder fangen lassen. Sie warf den Kopf zurück und lächelte liebenswürdig konventionell.

»Nicht wahr? Das habe ich ihm auch gesagt. Aber herkommen mußte ich heute, um Sie zu beglückwünschen zu der märchenhaften Erbschaft. Und bald wird man von Ihrer Hochzeit hören. Haben Sie die Glückliche schon erwählt, die mit Ihnen auf dem feudalen Schloß hausen soll?«

Sie blickte lauernd in sein Gesicht, und Armin meinte plötzlich, all ihre Schönheit sei von einem häßlichen Zug verwischt.

»Ja, sie ist erwählt, meine Gnädigste. Ich darf aber wohl noch um Diskretion bitten,« sagte er fest und bestimmt.

Sie sah schon wieder schön aus und lächelte liebenswürdig.

»Dann gratuliere ich doppelt, zur Erbschaft und zur Braut. Darf ich auch noch den Namen der Glücklichen wissen?«

»Bedaure, der ist noch Geheimnis.«

Sie drohte ihm lächelnd mit dem Finger.

»Vor seinen besten Freunden sollte man keine Geheimnisse haben.«

»Gnädige Frau, ich wage nicht, Ihre wertvolle Freundschaft für mich in Anspruch zu nehmen,« erwiderte er kühl.

Sie verneigte sich verabschiedend vor ihm und trat plaudernd zu einigen Damen. Niemand bemerkte, wie tief sie eben gedemütigt worden war von dem Mann, den sie als Spielzeug benutzt hatte und glaubte, mit einigen leidenschaftlichen Worten wieder zu ihrem Sklaven machen zu können.

Armin suchte Rippach auf.

»Laß uns aufbrechen, Hans. Ich habe genug hier.«

»Nur noch zehn Minuten, Soltenaus gehen auch. So lange mußt du noch warten. Du sprachst mit Alexandra?«

»Ja.«

»Hm! Sehr lakonisch. Wie hat ihr Zauber auf dich gewirkt?«

»Wie eine kalte Dusche.«

»Na, dann ist ja alles in Ordnung. Morgen gehe ich zu meinem Schwiegervater, und du hältst inzwischen im Hotel Besprechung mit dem Detektiv.«

*

Rippach war von Herrn von Soltenau liebenswürdig empfangen worden. Zwischen diesen beiden geraden, ehrlichen Naturen gab es nur wenige Worte, die waren aber herzlich und vielsagend.

Noch am Abend hatte Rippach seinen Eltern, die in Dresden wohnten, seine Verlobung mitgeteilt. Ihrer Einwilligung war er gewiß, denn sie hatten seine Absicht im voraus gebilligt. So stand dem Glück der beiden jungen Leute nichts mehr im Wege.

Frau von Soltenau bat Rippach, zu Tisch zu bleiben. Das nahm er natürlich mit Freude an. Er konnte sich an seinem Bräutchen gar nicht satt sehen. Sie bot aber auch einen entzückenden Anblick mit dem glückstrahlenden Gesichtchen, in dem das rebellische Rot jede Seelenregung widerspiegelte. Die harmonische Häuslichkeit, der warme Ton zwischen den Eheleuten und zwischen Eltern und Kindern berührten Hans sehr wohltuend, denn er war ein sehr gemütvoller Mensch. Mit Margarete und Elfriede, die Frau von Soltenau aus ihrem Arbeitszimmer herüberrufen ließ, freundete er sich sofort an. Die beiden hübschen, frischen Kinder waren ihm in ihrer frohen Natürlichkeit sehr sympathisch. Selbstverständlich stellte er sich sofort auf du und du mit ihnen. Margarete erwiderte das mit schneidiger Vertraulichkeit, während Elfriede jedesmal verlegen lachend zögerte, das Du auszusprechen.

Alle Familienmitglieder waren im Wohnzimmer versammelt. Es gab so viel zu erzählen und zu berichten mit dem neuen Verwandten. Frau von Soltenau entfernte sich einige Minuten. Sie trat in das Arbeitszimmer der Kinder, wo Eva Marie über Schreibhefte gebeugt am Tisch saß. Als die Hausfrau eintrat, erhob sie sich sofort.

»Mein liebes Fräulein – ich habe wieder einmal eine Extrabitte an Sie. Meine Tochter Dora hat sich soeben verlobt, der Bräutigam bleibt zu Tisch. Ich möchte gern für die Tafel einen sinnigen Blumenschmuck haben. Nicht wahr, Sie gehen zur Gärtnerei und besorgen mir etwas Passendes?«

»Gewiß, gnädige Frau, das tue ich mit Freuden. Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen Glückwunsch ausspreche!«

»Danke, danke, liebes Kind,« sagte Frau von Soltenau und rückte ihren Kneifer zurecht. »Ich verlasse mich also auf Ihren guten Geschmack. Wenn Sie zurückkommen, arrangieren Sie, bitte, die Blumen gleich. Dem Diener kann man so etwas nicht überlassen, und ich habe keine Zeit.«

»Es soll alles besorgt werden, gnädige Frau. Ich gehe sofort.«

»Schön. Und noch eins. Sie nehmen natürlich mit den Kindern an unserer Mahlzeit teil wie gewöhnlich, da der Bräutigam meiner Tochter nun mit zur Familie gehört. Die Unterrichtsstunden wollen wir zur Feier des Tages ausfallen lassen.«

Eva Marie verbeugte sich zustimmend, und Frau von Soltenau verließ das Zimmer. Das junge Mädchen legte die Bücher in einen Schrank und trat dann in ihr Zimmerchen, um sich zum Ausgang fertigzumachen. Da stürmten die beiden Kinder herein und umfaßten sie jubelnd.

»Eva Marie, wir haben einen Schwager und Dora einen Bräutigam, fein, nicht?«

Das junge Mädchen nickte lächelnd. »Ich weiß es schon, Kinder. Mama hat es mir eben mitgeteilt.«

»Wo willst du denn hin, du setzt doch den Hut auf?« fragte Margarete erstaunt.

Die Kinder nannten Eva Marie seit einigen Tagen beim Vornamen und redeten sie mit du an. Weil sie gar so sehr darum gebettelt hatten, – sie fanden den Doppelnamen so ›einzig schön‹, – hatte es Frau Soltenau erlaubt, nachdem Eva Marie erklärt hatte, sie würde sich nur freuen, wenn die Kinder so zutraulich zu ihr wären.

»Ich gehe zum Gärtner, um Blumen zu holen.«

»Ach, da wollen wir mitgehen! Warte einen Augenblick, wir fragen Mama um Erlaubnis. Elfriede, hast du noch Taschengeld?«

»Beinahe noch eine Mark. Warum?«

»Ich habe auch noch so viel, weißt du was? Wir kaufen Dora einen schönen Rosenstrauß zur Verlobung. Meinst du nicht, daß das sehr nett ist, Eva Marie?«

»Sicher, Kind. Es ist immer schön, wenn man jemand eine Freude machen will.«

»Also gilt's, Elly?«

»Ja, natürlich. Ob wir für zwei Mark schöne Rosen bekommen mit langen Stielen? Was meinst du, Eva Marie?«

»Gewiß, dafür bekommt ihr sicher welche. Es brauchen ja nicht viele zu sein.«

»Hm. Aber sehr, sehr schöne. Also bitte, warte, ich frage Mama gleich, ob wir mitkommen dürfen.«

Margarete eilte hinaus und trat hastig in das Wohnzimmer. Dort saßen das Ehepaar und das Brautpaar im traulich intimen Gespräch beieinander.

»Mama, dürfen wir mit Eva Marie zum Gärtner gehen?«

»Ja, geht nur, ihr könnt ja ohne eure Eva Marie gar nicht mehr leben!« antwortete Frau von Soltenau lächelnd.

Margarete war schnell wieder hinaus. Hans von Rippach hatte aufgehorcht. Der Name Eva Marie war ihm in den letzten Monaten so geläufig geworden, er fiel ihm auf.

»Darf man wissen, wer Eva Marie ist?« fragte er interessiert, als das Kind gegangen war.

Frau von Soltenau lächelte.

»Das ist die Erzieherin der Kinder. Sie wird von meinen kleinen Mädchen geradezu angeschwärmt, und ich muß sagen, daß sie es verdient.«

Rippach richtete sich auf und sah gespannt in das Gesicht seiner Schwiegermutter.

»Seit wann ist sie hier im Hause?«

»Seit dem ersten August dieses Jahres,« erwiderte Frau von Soltenau etwas befremdet.

Rippach beugte sich gespannt vor.

»Wie ist ihr Familienname, liebe Mama?«

Frau von Soltenau rückte nervös an ihrem Kneifer. Auch ihr Mann und Dora sahen nun mit einigem Befremden auf Rippach, der seine Spannung gar nicht verhehlte.

»Sie zeigen ein eigentümliches Interesse für die junge Dame, lieber Sohn. Das Fräulein heißt Delius, Eva Marie Delius.«

Rippach sprang wie elektrisiert auf.

»Sie ist es, sie ist es! Herrgott, jetzt aber klug und vorsichtig sein, daß sie mir nicht entwischt!« rief er aufgeregt, ganz vergessend, wo er sich befand.

Die übrigen drei starrten ihn an, als zweifelten sie an seinem Verstand.

»Was ist dir, Hans – du bist so sonderbar?« fragte Dora ängstlich.

Er faßte, noch immer ganz benommen, nach der Hand seiner Braut und küßte sie.

»Verzeiht – aber diese Entdeckung – ich muß mir da einen Augenblick überlegen, was zu tun ist.«

»Aber so erkläre uns doch –«

Rippach sah in die bestürzten Gesichter, und nun kehrte ihm die ruhige Besinnung zurück. Er lachte herzlich und küßte auch seiner Schwiegermutter die Hand.

»Natürlich, ihr müßt mich für unklug halten. Aber denkt euch: diese Eva Marie Delius suchen wir, mein Freund Leyden und ich, schon seit Monaten und können sie nicht finden. Eben jetzt bespricht sich Leyden mit einem Privatdetektiv, um ihm den Auftrag zu erteilen, diese Eva Marie Delius zu suchen.«

Frau von Soltenau verfärbte sich, und auch ihr Mann und Dora sahen ganz entsetzt aus.

»Mein Gott, da fällt mir ein, das Fräulein stammt aus Burgwerben! Was um Himmels willen ist mit ihr? Hat sie etwas verbrochen? Ich bin außer mir!«

Jetzt sah Hans erst ein, was er mit seinem Bericht getan hatte.

»Aber nein, nein. Bitte, mißversteht mich nicht. Ich muß euch das ausführlich erzählen, so einfach ist das nicht. Nur soviel: Eva Marie Delius ist die inniggeliebte Braut meines Freundes Leyden. Ein Mißverständnis hat die beiden Menschen getrennt, und Leyden sucht sie mit Sehnsucht, um dieses Mißverständnis zu beseitigen. Ich erzähle euch das alles nachher. Jetzt bitte ich um einen Augenblick Geduld – ich muß fünf Minuten ungestört nachdenken, damit ich keine Dummheiten mache. Das Glück zweier Menschen steht auf dem Spiel.«

Er küßte Dora die Hand und sah sie bittend an. Sie nickte ihm lächelnd zu, und Hans lehnte sich an den Kamin und überlegte, was zu tun sei. Die andern alle sahen ihn lächelnd an.

»So geht's,« sagte er endlich befriedigt. »Liebe, verehrte Mama, ich bitte um die Erlaubnis, meinen Freund Leyden für heute zu euch zu Tisch bitten zu dürfen.«

Diese neigte lächelnd den Kopf.

»Gern, wenn dir damit gedient ist.«

»Dann will ich sofort telephonieren. Habt ihr Telephon im Hause?«

»Gewiß, in meinem Arbeitszimmer,« sagte Herr von Soltenau, lächelnd über Rippachs Eifer.

»Dann entschuldigt mich einen Augenblick. Nachher erzähle ich euch alles.«

Er ging mit dem alten Herrn hinüber in dessen Arbeitszimmer. Nachdem er die Telephonnummer des Hotels aufgesucht hatte, in dem Armin wohnte, klingelte er an und ließ sich Armin an das Telephon rufen. Eine Weile verging. Endlich meldete sich Armin.

»Hier Leyden, wer dort?«

»Hier Hans Rippach.«

»Du bist es, Hans? Was gibt es?«

»Du mußt sofort hierherkommen zu Soltenaus. Meine Schwiegereltern lassen dich zu Tisch bitten. Wir wollen meine Verlobung feiern.«

»Das ist ja sehr liebenswürdig, ich bedanke mich sehr, mein Alter. Aber du weißt doch, daß ich den Detektiv erwarte, er ist noch nicht hier.«

»Dann laß ihm Bescheid zurück, daß er ein andermal wiederkommen soll. Wir brauchen ihn nämlich nicht mehr.«

»Wieso? Was soll das heißen?«

»Das soll heißen: Ich weiß, wo Eva Marie sich aufhält. Mehr sage ich dir nicht. In einer halben Stunde erwarte ich dich.«

»Ich komme!« rief Armin, und Rippach merkte am Ton seiner Stimme die Aufregung, die Armin beherrschte.

»Kann ich mir denken!« rief er lachend und schloß das Gespräch. Dann wandte er sich mit freudigem Ausdruck in den Augen zu seinem Schwiegervater um.

»So, nun wollen wir zu den Damen zurückgehen.«

In gedrängter Kürze erzählte er nun Armins und Eva Maries Geschichte, und man hörte ihm aufmerksam zu.

»Der reine Roman,« rief Dora ganz ergriffen, als er zu Ende war. »Die arme Eva Marie, was muß sie gelitten haben!«

Frau von Soltenau machte ein ganz betrübtes Gesicht.

»Nun habe ich doch einmal eine tüchtige Erzieherin gehabt. Schade – ich gebe sie gar nicht gern her.«

»Tröste dich, Magdalene. Dafür hast du die Freude, in ihr einen Menschen kennen gelernt zu haben, der einen lauteren Charakter besitzt und voll Seelenadel ist. Ich hoffe, wenn meine Kinder die Erzieherin verlieren, daß sie dafür in ihr eine Freundin finden,« sagte Herr von Soltenau ernst.

»Vor allem müßt ihr mir nun helfen, die beiden Menschen zusammenzubringen. Meinen Plan dazu habe ich fertig. Aber ich brauche eure Mitwirkung,« bat Rippach.

»Natürlich, wir helfen dir, Hans,« rief Dora ganz begeistert. »Sag nur schnell, wie.«

»Wann kommt Fräulein Delius mit den Kindern zurück?«

»In einer Stunde etwa.«

»Schön, dann ist Armin vor ihr hier, und Fräulein Delius hat keine Ahnung von seinem Hiersein! Das ist gut, sonst würde sie uns am Ende wieder entfliehen. Ich kann Leyden inzwischen unterrichten, und sobald die junge Dame zurück ist, müßtest du, liebe, verehrte Mama, sie mit irgendeinem Auftrag in ein Zimmer schicken. Dort soll sie mein Freund überraschen, und wir müssen ihn mit ihr so lange allein lassen, daß er seine Sache bei ihr führen kann. Findet ihr den Plan gut?«

Frau von Soltenau hatte ihre gute Laune wiedergefunden.

»Ausgezeichnet ist er. Wir bilden alle eine wohlorganisierte Verschwörung. Und schließlich feiern wir statt einer Verlobung zwei.«

»Versprecht euch da nicht zu viel,« sagte Herr von Soltenau ernst. »Blindvertrauenden Menschen fällt es schwer, nach einer Täuschung von neuem Vertrauen zu schenken. Die junge Dame wird kaum ohne weiteres an Herrn von Leydens Liebe zu glauben vermögen.«

»Sie davon zu überzeugen, muß man Armin überlassen. Wir haben dann das Unsrige getan,« antwortete Rippach und wandte sich nun zärtlich zu seiner Braut.

»Nun habe ich inzwischen meine Gedanken von dir abwenden müssen, meine Dora.«

»Das laß dir nicht leid tun, mein lieber Hans. Kann es eine schönere Weihe geben für unseren Bund, als wenn wir das Glück zweier Menschen begründen können?«

»Da sprachst du ein gutes Wort, mein Kind,« sagte ihr Vater und strich ihr zärtlich über den Scheitel.

Armin hatte den Weg zu Soltenaus in leichtbegreiflicher Aufregung zurückgelegt. Der Wagen fuhr viel zu langsam für seine Ungeduld. Kaum hielt er vor dem Hause, in welchem Soltenaus wohnten, als er auch schon heraussprang, dem Kutscher ein Geldstück in die Hand drückte und im Hause verschwand.

Rippach hatte gebeten, den Freund allein empfangen zu dürfen, um ihm die Eröffnung nicht im Beisein anderer machen zu müssen.

Leyden wurde in den Salon geführt; mit ihm zu gleicher Zeit trat Rippach von der anderen Seite in das Zimmer. Sie schüttelten sich stumm die Hände. Armins Augen hafteten voll brennender Unruhe am Gesicht des Freundes.

»Hans – du kennst Eva Maries Aufenthalt? Bitte, quäle mich nicht lange, sage mir alles, was du weißt. Wo ist sie?«

Rippach hielt seine Hand noch fest.

»Hier im Hause, Armin.«

Dieser zuckte zusammen.

»Hier im Hause?« fragte er heiser.

»Ja, als Erzieherin von Doras Schwestern. Der Zufall spielt sonderbar, mein Alter. Er wirft uns mühelos in den Schoß, was wir suchen wollten.«

Armin fuhr mit der Hand über Stirn und Augen.

»Du hast sie gesehen? Hat sie dich als meinen Freund erkannt?«

»Durch ein glückliches Ungefähr beides nicht. Komm, setze dich zu mir. Ich will dir erzählen, wie alles kam. Natürlich habe ich Dora und meine Schwiegereltern eingeweiht, damit wir uns in jeder Beziehung ihrer Hilfe versichern können. Meine verehrte Schwiegermama ist zwar sehr betrübt, daß sie Eva Marie wieder hergeben muß, denn auch hier hält man die Dame für einen sehr wertvollen Menschen. Meine beiden kleinen Schwägerinnen werden sie nicht so ohne weiteres freigeben wollen, denn sie hängen an ihr mit schwärmerischer Liebe.«

Die beiden jungen Männer nahmen Platz, und Rippach erzählte alles, was sich zugetragen hatte. Er eröffnete Armin auch, welchen Plan er mit Hilfe seiner Schwiegermutter zur Ausführung bringen wollte.

Armin hörte mit klopfendem Herzen zu. Nun Eva Marie gefunden war, überkam ihn plötzlich die Angst, ob er sie von seiner Liebe zu überzeugen imstande sein würde, und ob ihre Liebe zu ihm überhaupt die grausame Enttäuschung überlebt hatte.

Jedenfalls billigte er den Plan des Freundes aus vollem Herzen. Die Möglichkeit, Eva Marie ungestört und ohne Zeugen gegenübertreten zu können, war ihm sehr wertvoll. Er schüttelte Rippach herzlich die Hand.

»Ich danke dir tausendmal, Hans. Du hast sehr umsichtig und verständnisvoll gehandelt,« sagte er bewegt.

»Hast mir gar nicht zu danken, mein Alter. Bin ich doch herzlich froh, daß ich auf diese Weise gutmachen kann, was damals meine Anwesenheit in Burgwerben verschuldete. Nun komm mit mir hinüber zu meinen Schwiegereltern und meiner Braut. Sie sehen dir voll herzlicher Teilnahme entgegen. Es sind so liebe, warmherzige Menschen, wie man in unsern Kreisen sie leider so selten findet.«

Armin erhob sich bereitwillig und folgte ihm.

Drüben begrüßte er die Damen mit warmen Dankesworten. Frau von Soltenau half ihm lächelnd über die etwas peinliche Lage hinweg, indem sie scherzend sagte:

»Eigentlich sollte ich Ihnen gar nicht so bereitwillig Hilfe leisten, denn Sie wollen mir einen schweren Verlust zufügen. Fräulein Delius hat, solange sie bei uns ist, wie ein guter Geist in unserem Hause gewaltet. Wir alle haben sie liebgewonnen und geben sie nicht gern her.«

Armin küßte ihr die Hand.

»Liebe, verehrte gnädige Frau, Sie wissen nicht, wie wohl Sie mir tun! Es hat mich all die Zeit so furchtbar gedrückt, daß Eva Marie vielleicht bei hartherzigen Menschen ein trostloses Leben führe. Es ist mir ein großer Trost, daß sie hier Liebe gefunden hat. Sie wird namentlich in der ersten Zeit sehr unglücklich gewesen sein.«

»Ja, traurig schien sie uns oft, obwohl sie sich sichtlich beherrschte. Wir glaubten, daran sei allein der Schmerz um ihren verstorbenen Vater schuld. – Doch still – ich höre die Kinder mit ihr zurückkommen. Ich will zu ihr hinausgehen und unsern Plan vorbereiten. Bleiben Sie, bitte, ruhig hier, bis ich Sie benachrichtige, daß alles vorbereitet ist.«

Sie ging hinaus, während die Zurückbleibenden fast stumm sich gegenüber sitzen blieben. Draußen auf dem großen Korridor traf Frau von Soltenau mit Eva Marie und den Kindern zusammen.

Margarete und Elfriede zeigten ihre Rosen der Mutter. Sie wurden gebührend bewundert. Eva Marie hatte inzwischen ihre Einkäufe auf dem Tisch ausgebreitet.

»Hoffentlich habe ich in Ihrem Sinne gewählt, gnädige Frau?«

Diese betrachtete die Blumen.

»Ganz ohne Zweifel, liebes Kind. Entzückend, dieses Arrangement! Das nehmen wir in die Mitte der Tafel.«

»Das dachte ich auch. Die übrigen Blüten würde ich zwanglos über die Tafel streuen, wenn es Ihnen so recht ist.«

»Sehr recht, sehr recht. Bitte, legen Sie gleich ab, wir tragen dann die Blumen gemeinsam ins Speisezimmer.«

Eva Marie betrat ihr Zimmer, um Hut und Mantel abzulegen. Die Luft hatte ihre Wangen leise gerötet, und die sonst ernsten Augen blickten lebhafter. Sie freute sich, die Verlobungstafel schmücken zu können. Dora war stets herzlich und liebenswürdig zu ihr gewesen. Sie gönnte ihr viel Glück. –

Frau von Soltenau wandte sich inzwischen an Margarete und Elfriede.

»Ihr könnt inzwischen Dora eure Blumen überreichen. Und bleibt dann bei den anderen im Wohnzimmer. Fräulein hat jetzt keine Zeit für euch. Ihr findet auch noch einen Gast drinnen. Ein Freund von Doras Bräutigam wird mit uns essen.«

Während die Kinder hineingingen, kam Eva Marie zurück. Frau von Soltenau sah mit freundlichen Blicken auf das schlanke, anmutige Mädchen. Sie sah trotz ihres schlichten schwarzen Kleides, welches am Hals mit einem breiten gestickten Stehkragen abschloß, sehr hübsch und vornehm aus, und vor allem so lieb, mädchenhaft und bescheiden.

Frau von Soltenau war in ihrem Glück über die Verlobung ihrer Tochter doppelt geneigt, Eva Marie zu gönnen, daß sie sich mit Armin aussöhnte. Da hatte sie nun, ohne es zu wissen, all die Zeit die Braut des reichen Erben von Burgwerben im Hause gehabt! Es war doch wirklich bewundernswert, welch charaktervolles Geschöpf diese Eva Marie war. Konnte es so gut haben und leistete hier freiwillig Dienste, die ihre Vorgängerinnen nur mit finsteren Gesichtern ausgeführt hatten!

»So, liebes Kind, nehmen Sie, wir wollen gleich hinübergehen,« sagte sie freundlich und belud sich mit einem Teil der Blumen. Eva Marie folgte mit den übrigen, ahnungslos, was ihr bevorstand.

Im Speisezimmer war die Tafel bereits gedeckt. Der Diener war gerade damit fertig geworden. Frau von Soltenau schickte ihn hinaus mit der Weisung, nicht eher wieder zurückzukommen, bis er gerufen würde. Dann wandte sie sich lächelnd an das junge Mädchen.

»So, liebes Kind. Jetzt können Sie ungestört Ihres Amtes walten. Ich lasse Sie allein und bin überzeugt, daß Sie alles recht hübsch herrichten.«

»Ich werde mir Mühe geben, gnädige Frau.«

Frau von Soltenau ging hinaus.

Eva Marie beugte sich über die Blumen und begann ihr Werk. Mit flinken, geschickten Händen ordnete sie die Blüten. Sie war gerade dabei, in ein hohes Kelchglas einige besonders schöne Rosen zu stecken, um sie vor dem Platz der Braut aufzustellen, als sich die Tür öffnete und jemand eintrat. Im Eifer ihrer Arbeit sah sie gar nicht auf, in der Meinung, Frau von Soltenau sei nochmals zurückgekehrt. Als jedoch hinter ihr alles still blieb, wandte sie sich um.

Da schrak sie furchtbar zusammen. Das Kelchglas mit den Rosen fiel ihr aus den zitternden Händen, und aus ihrem jäh erblaßten Gesicht sahen die großen Augen entsetzt auf Armin von Leyden.

Mit beiden Händen umklammerte sie eine Stuhllehne, weil sie schwankte. Er trat auf sie zu, als ob er sie stützen wolle. Da wich sie vor ihm zurück und schlug in brennender Scham die Hände vor das Gesicht.

»Eva Marie, vergib, ich habe dich erschreckt!« sagte er leise, mit bebender Stimme. Nun er sie wieder in all ihrer Lieblichkeit vor sich sah, wußte er erst, wie unsagbar lieb er sie hatte.

In ihrem Innern stürmten wilde Gedanken durcheinander. Was wollte er hier, wie kam er hierher? Dora hatte sich verlobt, der Bräutigam sollte zu Tisch hier bleiben. Es war kein Zweifel, Armin hatte um die Tochter des Hauses geworben. Ein grenzenloses Weh brach über sie herein bei dieser Erkenntnis. Aber diese gab ihr auch die Kraft, sich aufzuraffen. Sie wollte sich nicht noch mehr vor ihm demütigen, indem sie ihm zeigte, wie sehr sie sein Anblick erschütterte. Sie richtete sich gewaltsam auf und sah ihn mit schmerzbewegtem Gesicht an.

»Ich bitte, Herr von Leyden, entfernen Sie sich aus diesem Zimmer! Man darf hier im Hause nicht ahnen, daß wir uns kennen! Ich bin hier in abhängiger Stellung, bitte, verlassen Sie mich!«

»Nein, Eva Marie, ich lasse dich nicht. Jetzt, da ich dich endlich wiedergefunden habe. – Eva Marie, warum bist du von mir gegangen, warum hast du nicht gefragt, ob ich mich rechtfertigen kann?«

»Ich habe Sie nicht angeklagt, einer Rechtfertigung bedarf es also nicht. Aber bitte, gehen Sie nun – man darf uns hier nicht zusammen finden.«

Sie bückte sich nieder und hob die Rosen und das zerbrochene Glas auf. Er wollte ihr behilflich sein. Sie sah mit gequälten, angstvollen Augen zu ihm auf.

»Nicht – ich danke – bitte, gehen Sie,« stammelte sie, halb ohnmächtig vor Schmerz.

Er trat zurück.

»Nein, Eva Marie, ich gehe nicht, bis alles klar zwischen uns ist. Sei doch ruhig, ängstige dich doch nicht! Es wird uns niemand stören oder überraschen, verlaß dich darauf. Frau von Soltenau weiß, daß ich hier hereingegangen bin, um eine ernste Angelegenheit mit dir zu besprechen.«

Eva Marie sah ihn unruhig fragend an.

»Wir haben nichts mehr miteinander zu reden, Herr von Leyden.«

»Doch, Eva Marie, ich habe dir so viel zu sagen.«

Sie preßte in hilfloser Qual die Handflächen gegeneinander.

»Was soll Ihre Braut davon denken?« rief sie wie außer sich.

»Meine Braut?«

»Ja, Fräulein Dora, ich weiß, daß Sie sich heute mit ihr verlobt haben.«

Da flog ein Lächeln über sein Gesicht.

»Das ist ein Irrtum, Eva Marie. Nicht ich, sondern mein Freund Rippach ist der glückliche Bräutigam. Durch ihn erfuhr ich von deiner Anwesenheit hier im Hause, und während du mit den Kindern aus warst, kam ich hierher, um dich zu sprechen. Ich habe keine andere Braut als dich, Eva Marie, und ich betrachte mich noch heute als deinen Verlobten.«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf.

»Wozu das alles? Es hat doch keinen Zweck. Es quält und demütigt mich unerträglich. Ich habe Ihnen doch geschrieben, daß ich Ihre Frau nicht werden kann.«

»Ist denn dein Stolz größer als deine Liebe, Eva Marie? Oder liebst du mich nicht mehr?«

Sie wurde dunkelrot und sah ihm mit bitterem Vorwurf ins Gesicht.

»Es ist unedel von Ihnen, mich noch mehr zu demütigen. Lügen will ich aber trotzdem nicht. Ja, ich liebe Sie noch – werde vielleicht nie über diese Liebe hinwegkommen. Ich bin sehr unglücklich gewesen, daß ich diese Liebe, die mich demütigt, nicht aus dem Herzen reißen konnte. Wenn es Stolz ist, daß ich dennoch lieber sterben würde, als Ihnen angehören, als meine Hand einem Mann reichen, der mich nicht wiederliebt, so besitze ich diesen Stolz allerdings. Vielleicht können Sie als Mann nicht ermessen, was Sie mir antun wollten. Ich habe Ihnen auch längst verziehen. Aber nun beenden Sie, bitte, diese Unterredung. Sie können sich denken, daß mir das alles sehr peinlich ist in meiner Stellung.«

Armin hatte mit bedrückter Miene zugehört. Nun trat er dicht vor sie hin.

»Eva Marie – erst laß mich dir eins noch sagen! Was du damals gehört hast, berechtigte dich, an meiner Liebe zu zweifeln. Damals wußte ich selbst noch nicht, was du mir warst. Ich habe die Hand nach dir ausgestreckt, weil dein ganzes Wesen mein krankes Herz in heilsamen Frieden hüllte. Ein Weib, welches ich geliebt hatte, war an mir zur Verräterin geworden. Ich trug damals noch schwer an der Wunde, die sie mir geschlagen. Als ich dich kennen lernte, fühlte ich sofort warme Sympathie für dein stilles, echt weibliches Walten. Du wurdest mir von Tag zu Tag lieber. In deiner Gegenwart vergaß ich das Bild der Ungetreuen. Ich glaubte aber, nie wieder ein Weib lieben zu können. Die unselige Testamentsklausel zwang mich, mir eine Frau zu suchen. Du erschienst mir als die einzige, mit der zu leben mir nicht Qual gewesen wäre. Da warb ich um dich, Eva Marie. Und ich belog dich nicht, ich sagte dir nie: ›Ich liebe dich,‹ wenn ich's auch zuließ, daß du auch ohnedies an meine Liebe glaubtest. Dein reiner Sinn hätte ja keine andere Deutung meiner Werbung zugelassen. Und dann kam jener unselige Tag, an dem du grausam aus deiner stillen Glückseligkeit gerissen wurdest. Eva Marie – ich kann ja nie wieder ganz gutmachen, was ich dir angetan! Aber nun höre, wie es mir erging. Als ich erfuhr, daß du vor mir geflohen warst, als ich deinen Ring und deinen Brief in den Händen hielt – da wurde es plötzlich klar in mir. Ich erkannte, daß ich dich liebte, daß ich dich, ohne es zu erkennen, längst geliebt hatte. Und meine Sehnsucht nach dir wuchs von Tag zu Tag. Ich suchte nach dir und fand dich nicht. Du weißt nicht, was ich gelitten habe in Angst und Sorge um dein Geschick. Jetzt bin ich nach Berlin gekommen, um durch einen Privatdetektiv deinen Aufenthalt erkunden zu lassen. Heute wollte ich ihn beauftragen. Und da fand ich dich so unerwartet wieder. Nun stehe ich vor dir wie ein armer Sünder und bettle um dein Vertrauen. Ich liebe dich, Eva Marie. Willst du nun mein inniggeliebtes Weib werden?«

Eva Marie war während seiner Rede kraftlos in einen Stuhl gesunken. Die widerstreitendsten Empfindungen beherrschten sie. Mit erneuter Innigkeit umschloß ihre Seele den Geliebten. Sie hätte alles darum gegeben, wenn sie hätte sagen können: »Ich glaube dir und ich will dir angehören.« Aber dieser Glaube ließ sich nicht mit einem Male erzwingen. Daß er sie absichtlich täuschte, glaubte sie nicht. Aber er hielt wohl für Liebe, was Mitleid mit ihr war. Wenn sie jetzt einwilligte, seine Frau zu werden, dann verblaßte wohl nach und nach dieses Mitleid, und er erkannte, daß es nicht Liebe war. Und noch einmal diese furchtbaren Schmerzen, diese Schmach und Demütigung zu ertragen, dazu fühlte sie sich nicht stark genug.

Er stand in banger Erwartung vor ihr. Sie sah leidvoll zu ihm auf und preßte die Handflächen an die Schläfen.

»Nein – nein – ich kann nicht – ich vermag nicht daran zu glauben! Das alles ist so sonderbar, es erschüttert mich, daß Sie meinetwegen Leid ertrugen. Aber ich kann nicht an Ihre Liebe glauben – kann nicht vertrauen. Wenn Sie sich selbst täuschten, wenn die alte Liebe zu jener Frau wieder erwachte? Ich ertrüge es nicht, nein, ich ertrüge es nicht.«

»Das brauchst du nicht zu fürchten, Eva Marie. Ich bin gestern abend jener Frau wieder begegnet. Ihr Anblick hat mich kalt gelassen. Sie hat keine Macht mehr über mich. Nur dein Bild lebt in meinem Herzen, glaube es mir.«

Sie verbarg das zuckende Gesicht in den Händen.

»Wenn ich doch daran glauben könnte!« jammerte sie leise. »Ich kann nicht, zu plötzlich kommt das alles. Geben Sie mir Zeit – ich muß erst klar werden, muß erst die Qualen der letzten Monate vergessen lernen. Ob ich wieder vertrauen lerne, ich weiß es nicht. Heute kann ich nicht – heute nicht.«

Sein Gesicht zeigte schmerzliche Enttäuschung. Und doch konnte er ihr nicht zürnen. Es war bei ihrer Charakteranlage auch zu viel, von ihr zu verlangen, daß sie alles vergaß und an seine Liebe glaubte.

»Gut, Eva Marie. Ich will heute nicht weiter in dich dringen. Du sollst Zeit haben, dich selbst und den Glauben an mich wiederzufinden. Darum will ich vorläufig nach Burgwerben zurückkehren. Bliebe ich hier, müßte ich täglich kommen und dich bestürmen. Das will ich mir unmöglich machen. Du sollst Ruhe haben zu deinen Beschlüssen. Ich werde in Burgwerben auf dich warten, Eva Marie. Wenn du mich noch liebst, mußt du meine heiße Sehnsucht empfinden und mir folgen. Ich werde die Tage zählen, bis du kommst – denn du wirst kommen, das weiß ich so bestimmt, als ich an deine Liebe glaube, so bestimmt ich dich liebe. Laß mich nicht zu lange warten, Eva Marie. Deine Stiefmutter wohnt noch in eurem Häuschen. Ich werde ihr sagen, daß sie dein Zimmer bereithalten soll. Und noch eins, Eva Marie, vielleicht hilft dir das, deinen Glauben an meine Liebe zurückzugewinnen. Ich habe Burgwerben sehr liebgewonnen, finde dort eine segensreiche Tätigkeit, die mich befriedigt. Ich gebe es also nicht gern auf, bei Gott nicht. Wenn du aber nicht zu mir zurückkehrst, wenn du nicht meine Frau werden willst, so schwöre ich dir mit heiligem Eid, daß ich auf das Erbe verzichte. Ich mag keine andere Frau haben, denn ich liebe nur dich. Am dreißigsten März ist das bestimmte Jahr zu Ende. Willst du mein Weib werden, mußt du zeitig genug zurückkehren, daß vor diesem Zeitpunkt unsere Hochzeit stattfinden kann. – Und nun gehe ich und lasse dich allein, ich sehe, du kannst dich kaum noch aufrecht halten. Ziehe dich zurück in dein Zimmer. Ich werde Frau von Soltenau bitten, dich zu entschuldigen in der nächsten Zeit. Man wird dich von jetzt ab als Gast des Hauses betrachten. – Leb wohl, Eva Marie – meine Eva Marie! Sieh, ich gehe mit froher Zuversicht, ich weiß, daß du mir folgen wirst.«

Er nahm voll zarter Ritterlichkeit ihre Hand und küßte sie innig. Dann ging er hinaus, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Eva Marie erhob sich mit schweren Gliedern. Ihre Seele wurde zerrissen von den widerstreitendsten Gefühlen. Sie hätte jauchzen und weinen mögen zu gleicher Zeit, und fühlte sich froh und bedrückt zugleich. Alles, was Armin zu ihr gesprochen, hatte den Weg zu ihrem Herzen gefunden, hatte sie bewegt und erschüttert. Es drängte sie, ihm zu sagen: »Deine Worte machen mich glücklich, geben mir Mut und Zutrauen, an deine Liebe zu glauben.« Aber sie war so aus dem Geleise gerissen, daß sie sich selbst nicht mehr traute. Ruhe mußte sie haben, um über alles, was er gesagt hatte, nachdenken zu können. Seine Worte hatten sich eingegraben in ihr Herz, sie würde keines vergessen. Trotz ihres Seelenzustandes beendete sie pflichtgemäß erst ihr Werk, ehe sie mit zitternden Knien in ihr Zimmer ging.

Dort blieb sie den ganzen Tag ungestört. Frau von Soltenau sandte ihr durch das Stubenmädchen zu essen und ließ ihr sagen, sie möge ruhig auf ihrem Zimmer bleiben, bis sie sich wohler fühle.

*

Armin war zu den anderen ins Wohnzimmer zurückgegangen. Alle sahen ihm erwartungsvoll entgegen. Frau von Soltenau schickte die Kinder mit einem Auftrag hinaus, befahl ihnen aber streng, Eva Marie nicht zu stören, sie sei beschäftigt. Als die Kinder draußen waren, trat Rippach neben Leyden und legte die Hand auf seine Schulter.

»Du kommst allein zu uns zurück, Armin?«

Der wandte sein etwas bleiches Gesicht, in dem noch die verhaltene Erregung zuckte, dem Freund zu. Seine Augen sahen aber hoffnungsfroh aus.

»Für den Augenblick habe ich nichts erreicht. Der Schreck über meinen plötzlichen Anblick, die Erregung über das, was ich ihr sagen mußte, haben Eva Marie so fassungslos gemacht, daß sie sich zu nichts entscheiden konnte. Eine Gewißheit habe ich – sie liebt mich noch mit gleicher Innigkeit. Das ist mir Trost genug. Ich habe ihr meinen festen Entschluß kundgegeben, lieber auf Burgwerben zu verzichten, als eine andere Frau zu heiraten. Das wird ihr hoffentlich, wenn sie erst fähig ist, klar zu denken, die Größe meiner Liebe beweisen.«

»Damit haben Sie das beste Mittel angewandt, Herr von Leyden,« sagte Frau von Soltenau lächelnd. »Eine Frau, die liebt, fügt dem Mann ihrer Liebe keine Verluste zu, wenn sie es irgend verhindern kann. Ich glaube, Ihre Sache steht trotz des scheinbaren Mißerfolges gut.«

»Daran glaube ich auch, und zwar so fest, daß ich morgen ruhig nach Burgwerben zurückkehren werde. Eva Marie wird mir nachkommen, sobald sie Zeit gefunden hat, sich über alles klar zu werden.«

»Aber deshalb brauchst du doch nicht morgen schon nach Burgwerben zurückzukehren!« sagte Rippach unzufrieden, den Freund schon wieder von sich lassen zu müssen.

»Doch, halte mich, bitte, nicht. Ich passe jetzt mit meiner inneren Unruhe nicht in fröhliches Treiben. Auch bleibt mir manches zu tun, um Burgwerben zu Eva Maries Empfang vorzubereiten. Mir ist auch, als müßte ich dort auf mein Glück warten.«

»Dann muß ich dich wohl gewähren lassen.«

Armin sah lächelnd in Doras Gesicht.

»Es wird dir ja nicht schwer fallen, auf meine Gesellschaft zu verzichten. Das gnädige Fräulein wird mich bald vergessen machen.«

»Sagen Sie, nicht vergessen machen, Herr von Leyden. Aber ich werde oft mit Hans über Sie plaudern und ihn auf ein längeres Wiedersehen vertrösten.«

Er küßte ihr die Hand. Dann wandte er sich an Frau von Soltenau.

»Liebe, verehrte gnädige Frau, Ihre Güte und Liebenswürdigkeit ermutigt mich zu einer Bitte. Nehmen Sie sich meiner Braut ein wenig an. Vor allem geben Sie ihr Zeit, mit sich selbst fertig zu werden. Eva Marie ist ja ein großartiger Pflichtenmensch, sie wird ihren Pflichten nachkommen wie zuvor, sobald sie sich gefaßt hat. Aber heute entbinden Sie sie von allem, ich bitte herzlich darum.«

»Das ist ja alles selbstverständlich, Herr von Leyden. Im Grunde ist es mir sehr lieb, daß Fräulein Eva Marie nicht schon jetzt von uns geht, obwohl ich sie natürlich nicht gehalten hätte. Es hätte mir um die Kinder leid getan. Sie lieben ihr Fräulein sehr. Ich betrachte Ihr Fräulein Braut von heute an natürlich nur als lieben Gast unseres Hauses, und wir alle wollen das Unsere tun, um ihr zu helfen, ihren Seelenfrieden wiederzufinden.«

»Dafür danke ich Ihnen herzlich, gnädige Frau. Es beruhigt mich sehr, daß ich Eva Marie bei so lieben Menschen weiß.«

»Und ich werde mir Mühe geben, mir, solange Fräulein Eva Marie noch bei uns ist, ihre Freundschaft zu erringen,« sagte Dora mit Wärme. Ihr junges, glückliches Herz war bereit, sich für Eva Marie aufzutun. Das romantische Schicksal der jungen Erzieherin bewegte sie.

Nun erhob sich Herr von Soltenau, der bisher schweigend zugehört hatte, mit jovialem Lächeln.

»Über all diesen Gemütsbewegungen wollen wir aber das Nützliche nicht vergessen, meine Herrschaften. Wir wollen zu Tisch gehen. Wenn wir länger warten, verbrennt uns der Braten. Du gibst wohl Befehl, daß aufgetragen wird, Magdalene. Und dann laß unsere Trabanten herein. Die stürmen sonst doch am Ende noch das Zimmer ihres geliebten Fräuleins. Und ihre Teilnahme ist meist etwas geräuschvoll.«

Rippach umfaßte Armins Hand.

»Ich habe die feste Überzeugung, daß noch alles gut wird. Dann gibt es doch am Ende eine fröhliche Doppelhochzeit.«

*

Am Abend, als die Kinder zur gewöhnlichen Zeit zur Ruhe gingen, trieb Eva Marie das Pflichtgefühl hinüber in deren Zimmer. Sie war äußerlich schon wieder vollkommen ruhig und beherrscht.

Bei den Kindern fand sie Frau von Soltenau vor. Etwas beklommen trat ihr Eva Marie entgegen.

»Gnädige Frau, ich muß sehr um Entschuldigung bitten, daß ich heute meinen Pflichten nicht nachgekommen bin,« sagte sie leise und etwas verzagt.

Frau von Soltenau legte gütig lächelnd den Arm um das junge Mädchen.

»Darüber grämen Sie sich nicht, liebe Eva Marie. Nicht wahr, so darf ich Sie von heute an nennen? Ich weiß ja, daß so viel auf sie eingestürmt ist. Da ist es kein Wunder, wenn Sie außerstande waren, unsere beiden wilden Mädchen zu ertragen.«

»Was ist mit Eva Marie?« rief Elfriede, kam im langen weißen Nachthemd herbei und umfaßte das junge Mädchen. Margarete folgte sofort nach.

»Hast du noch immer Kopfweh, Eva Marie? Willst du nicht schnell ein Brausepulver nehmen? Sollst sehen, es hilft gleich.«

Eva Marie beugte sich zu den beiden Kindern nieder und umfaßte sie zärtlich mit beiden Armen.

»Es ist schon viel besser. Morgen ist alles wieder gut. Jetzt schnell zu Bett, damit ihr nicht kalte Füße bekommt.«

»Eva Marie, du hast geweint, hast ganz rote Augen. Tat es denn so weh?«

»Ihr müßt Eva Marie nicht so mit Fragen quälen, sie muß noch Ruhe haben!« rief Frau von Soltenau energisch, und die beiden Mädchen kletterten nun gehorsam in ihre Betten.

»Sie gehen nun am besten auch gleich zu Bett, liebe Eva Marie. Morgen wollen wir uns aussprechen, nicht wahr, Kind? Denken Sie, ich sei Ihre Mutter. Wenn ich Ihnen raten oder helfen kann, tue ich's mit Freuden.«

»Warum bist du so sehr gut zu Eva Marie, Mama?« fragte Margarete, während das junge Mädchen dankbar Frau von Soltenaus Hand küßte. Diese warf einen scherzenden Blick auf ihr Töchterchen.

»War ich nicht immer gut zu ihr?«

»Gut? O ja, wie du zu fast allen Menschen bist. Aber heute bist du so zu ihr, wie sonst nur zu Dora und uns.«

Frau von Soltenau küßte ihre Kinder.

»Nun, ich habe eben Freundschaft mit Eva Marie geschlossen, wie ihr auch. Nun gute Nacht, ihr kleinen Krakeeler!«

Sie ging hinaus, und Eva Marie wollte ihr Zimmer eben betreten, da rief Elfriede leise ihren Namen.

»Eva Marie!«

Sie wandte sich um.

»Was denn, Elly?«

»Setzt du dich heute kein kleines Weilchen an mein Bett? Ich habe dir gerade so viel zu erzählen.«

Eva Marie wäre lieber wieder mit ihren stürmenden, drängenden Gedanken allein gewesen, aber sie kehrte doch um und setzte sich an das Bett Elfriedes. Da fuhr auch Margaretes Lockenkopf wieder aus den Kissen empor. Die beiden Betten standen dicht nebeneinander. Margarete haschte über Elfriede hinweg nach der Hand ihres geliebten Fräuleins. Diese umfaßte nun beide Kinder.

»Nun, ihr kleinen Quälgeister, was habt ihr so Wichtiges zu erzählen?«

»Ach, Eva Marie, zu schade war's, daß du heute nicht mit bei Tisch zugegen warst. Es war fein. Gefrorenes gab es zum Nachtisch, und Margarete und ich, wir haben ein winziges Glas Sekt bekommen. Damit haben wir auf das Wohl von Dora und Schwager Hans angestoßen.«

»Ja, und noch ein Gast war dabei, ein Freund von Hans,« unterbrach Margarete eifrig. »Denke dir, der hat ein so schönes altes Schloß in Thüringen, wie die, von denen du uns immer erzählst. Ja. – Und im Sommer sollen wir ihn besuchen. Weißt, ich habe ihn gleich gefragt, ob wir dich dann mitbringen dürfen, weil du alte Schlösser so furchtbar gern magst.«

Eva Marie küßte die Kinder. Ihr Herz klopfte unruhig.

»Nun, da hat er euch sicher die Erlaubnis verweigert?« fragte sie leise.

»Nein, das hat er nicht. Aber so ganz närrisch hat er uns angesehen, weißt, wie Menschen, die weinen müssen, aber nicht wollen. Und geantwortet hat er so sonderbar: ›Die Eva Marie soll lieber schon eher auf mein Schloß kommen‹. Das tust du natürlich nicht, wir reisen lieber zusammen hin, nicht wahr?«

»Das hat ja noch lange Zeit,« sagte Eva Marie bewegt. »Ihr müßt aber nun schlafen, es ist schon spät.«

»Ja, das tun wir nun auch. Ach, Elly, warte mal, weißt du nicht, was wir Herrn von Leyden versprochen haben, du?«

»Hm – jetzt denk ich dran. O du, das hätten wir ja bald vergessen! Das ist aber gut, daß du dich dran erinnert hast. Weißt du, was wir ihm versprochen haben, Eva Marie?«

»Nun?«

»Wenn wir heute abend beten, sollen wir für ihn mit beten. Denk dir, er hat eine liebe, schöne Braut, die hat er so toll lieb und sehnt sich immer so nach ihr. Und sie will nicht zu ihm kommen, weil sie ihm böse ist. Nun sollen wir recht herzlich für ihn beten: ›Lieber Gott, schicke Onkel Leydens liebe Braut doch recht schnell zu ihm, damit er so glücklich wird wie Schwager Hans‹. Das wollen wir nun tun. Bete mit, Eva Marie, dann hilft es schneller.«

Da stürzten Eva Marie die Tränen aus den Augen, sie konnte nicht mehr an sich halten. Die Kinder umfaßten sie erschreckt.

»Eva Marie, warum weinst du denn?«

»Hast du doch wieder Kopfweh, arme Eva Marie?«

Diese trocknete sich lächelnd die Tränen ab.

»Nein, nein, Liebling. Mir tut nur der arme Herr von Leyden so sehr leid. Seine Braut ist gewiß ein recht garstiges Mädchen, daß sie nicht zu ihm kommt.«

»Nein, das ist sie nicht. Wir sagten das auch zuerst, aber da hat er den Kopf geschüttelt und gesagt: ›Nein, sie ist sehr lieb und gut, aber ich habe ihr einmal sehr weh getan, und nun glaubt sie mir nicht, daß ich sie liebhabe‹.

»Gelt, Eva Marie, wenn wir darum beten, wird ihm der liebe Gott schon helfen.«

»Ja, mein Herzkind. Und ich bete mit euch,« sagte Eva Marie ganz ernst und feierlich, und dann betete sie mit den Kindern. Ihr Gebet war aber ein Dankgebet, denn das unschuldige Geplauder der kleinen Mädchen hatte sie tief ergriffen. Sie wußte, daß Armin diese Worte, die er mit den Kindern gewechselt, für sie bestimmt hatte. War schon bei seinen tiefempfundenen Worten in der Stunde des Wiedersehens alles in ihr in Aufruhr gekommen, hatte schon da ihr liebevolles Herz für ihn gesprochen, jetzt, da sie durch die Kinder noch einmal hörte, daß er sie liebte, sich nach ihr sehnte, jetzt weitete eine frohe Zuversicht ihr bedrücktes Herz. Es klopfte und hämmerte darinnen, und der vertriebene Glaube an Armins Liebe bat um Einlaß. Sie konnte nicht anders, als ihn aufnehmen.

Als sie dann später still, mit weitgeöffneten Augen im Bett lag, die Hände über der Brust gefaltet, und noch einmal die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen ließ, da traten immer und immer wieder die Worte Armins vor ihre Seele: »Ich liebe dich, Eva Marie. Willst du nun mein inniggeliebtes Weib werden?«

Und ohne sich zu regen, sagte sie laut und feierlich vor sich hin: »Ja, ich will, denn ich glaube an deine Liebe.«

*

Armin hatte am nächsten Tage den Detektiv reichlich abgelohnt mit der Erklärung, daß er seiner nicht mehr bedürfe. Dann hatte er eine Depesche nach Burgwerben abgesandt, die seine Rückkehr meldete.

Rippach versuchte, den Freund nochmals zum Bleiben zu bewegen. Armin wußte ihn jedoch zu überzeugen, daß er jetzt mit seiner inneren Unrast nicht für Berlin tauge.

So fuhr er nach herzlichem Abschied wieder ab. Er fühlte wahre Sehnsucht nach dem stillen Schloß.

Inzwischen war in den letzten Tagen reichlich Schnee gefallen, und auch während der Eisenbahnfahrt fielen dichte Flocken hernieder. Je mehr er sich Burgwerben näherte, um so dichter wurde das weiße Winterkleid, welches sich über die Erde breitete. In dem kleinen Thüringer Städtchen empfing ihn Scheveking am Bahnhof.

»Herr, ich bin mit dem Schlitten herübergekommen, um Sie abzuholen. Es ist famose Bahn. Und Sie müssen unsere Gegend im Winterkleid kennen lernen. Da ist sie fast so schön wie im Sommer. Sie fahren doch mit mir?«

»Gewiß, Inspektor. Solch echte, rechte Schlittenpartie ist etwas, was ich seit meinen Kindertagen nicht mehr genossen habe. Mit meinem Vater fuhr ich als Bub sehr oft im Schlitten über Land.«

Sie waren inzwischen an das Gefährt herangetreten.

»Wollen Sie selbst kutschieren, Herr?«

»Nein, heute nicht. Ich will mich ganz ungestört an dem Anblick der Landschaft erfreuen.«

»Recht so. Nun steigen Sie ein. Pelzzeug habe ich genug mitgebracht.« – –

Gleich darauf glitt der Schlitten davon. Lustig klangen die Schellen an dem Zaumzeug der Pferde durch die klare Winterluft. Der Schneefall ließ nach und hörte ganz auf, als sie das Städtchen im Rücken hatten.

Armin ließ seine Augen voll Entzücken umherschweifen. Es war ein wundervoller Anblick. Wie mit dicken weißen Konturen scharf umzeichnet, hoben sich Bäume und Sträucher von dem graublauen Himmel ab, und die Höhenzüge waren anzusehen wie mächtige Schneeberge. Das einzige Dunkle in der Landschaft bildete der Fluß, der noch nicht zugefroren war.

Lange fuhren die beiden Männer schweigend dahin. Endlich löste sich Armin aus seiner Versunkenheit und wandte sich zu Scheveking um, der hinter ihm auf dem schmalen Kutschersitz mehr stand als saß.

»Wie schön das ist, Inspektor! Ich bin froh, daß ich wieder heimgekommen bin. Glauben Sie, daß ich Sehnsucht nach Burgwerben hatte?«

»Glaub ich, Herr, glaub ich gern. Mir ist auch nirgends wohler als in Burgwerben. Wenn ich denken sollte, ich müßte einmal fort von hier! Da wollte ich lieber gar nicht mehr leben. Und genau so geht es Mamsell. Darin zeigt sie wirklich Verstand.«

Armin lächelte vor sich hin. Das drollige Freundschaftsverhältnis der beiden alten Leute machte ihm viel Vergnügen.

»Was sagt denn Mamsell, daß ich so schnell zurückkomme?«

Scheveking lachte. Sein Lachen kam wie ein knurriges Dröhnen aus der Brust.

»Die läuft wie ein Wiesel hin und her vor Vergnügen, trotz ihrer Rundlichkeit. Sie kocht und bäckt, als wenn wir zehn Mann Einquartierung bekämen.«

»Na, und Sie, Inspektor? Wundern Sie sich gar nicht, daß ich so schnell zurückkomme?«

Scheveking knallte einige Male kräftig mit der Peitsche. Dann sagte er gelassen:

»Wird wohl seine Gründe haben, Herr. Ich bin nicht neugierig wie ein altes Weib. Wenn Sie es für nötig halten, werde ich die Gründe schon kennen lernen.«

Armin wandte ihm voll das Gesicht zu.

»Ich habe Eva Marie in Berlin wiedergefunden.«

Scheveking ließ den Atem vor Überraschung pfeifend durch die Zähne streichen.

»Alle Hagel! Hm! Na ja.«

Darauf eine lange Pause. Schließlich polterte Scheveking los:

»Donnerwetter, Herr, Sie sind doch nicht vor dem Mädchen ausgerissen?«

Armin mußte lachen.

»Doch, ein bißchen doch, Inspektor.«

»Was soll da aber nun werden? Sie müssen doch eine Frau haben.«

»Ja, die Eva Marie, oder keine.«

Scheveking knallte zornig und aufgeregt mit der Peitsche.

»Dann begreife ich Sie nicht, Herr. Warum haben Sie sie dann nicht mitgebracht?«

»Sie wird allein nachkommen.«

»Ist das so sicher? Hat sie das versprochen?«

»Nein, aber ich weiß trotzdem bestimmt, daß sie kommt.«

Scheveking knurrte vor sich hin.

»Darauf bauen Sie man nicht so bestimmt, Herr, auf die Frauen ist kein Verlaß.«

»Auf Eva Marie gewiß. Sehen Sie, Inspektor, ich glaube so fest daran, daß ich sogleich anfangen werde, alle Vorbereitungen zur Hochzeit zu treffen.«

»Hm! Na ja – dann soll mir das recht sein, Herr. Aber die Alte – die halten wir uns doch vom Halse, nicht wahr?«

»Ja, das tun wir. Wenn wir aber jetzt vorbeikommen, wollen wir halten, ich will ihr sagen, daß sie für Eva Marie ein Zimmer bereithält.«

Scheveking nickte nur. Schweigend fuhren sie nun weiter bis zum Hause des Professors.

Frau Professor Delius saß am Fenster, als der Schlitten hielt. Sie erschrak sehr. Jetzt kam Leyden sicher, um ihr zu eröffnen, daß sie das Haus räumen müsse. Ihr dickes, gedunsenes Gesicht wurde ganz schlaff. Sie erhob sich schwerfällig und ging dem Besucher mit einer wahren Jammermiene entgegen.

»Welch hohe Ehre, mein lieber Herr von Leyden; bitte, nehmen Sie doch Platz, bitte sehr!«

Armin spürte ihren Atem, so dicht war sie herangekommen. Ekel und Widerwillen schüttelten ihn. Das Weib hatte getrunken.

»Ich komme nur auf einen Augenblick im Vorbeifahren herein, Frau Professor, um Sie zu bitten, Eva Maries Zimmer instand setzen zu lassen. Sie kehrt in nächster Zeit zurück.«

Frau Delius taumelte einige Schritte zurück. Ihr Gesicht verzog sich zu einem freudigen Grinsen.

»O mein Gott, mein Gott! Haben Sie das liebe Kind gefunden? Wird nun alles wieder gut? Ach du lieber Himmel, die Freude macht mich ganz taumelig! Also gefunden, gefunden! Ach, doch endlich wieder eine frohe Nachricht, Herr von Leyden! Sie ahnen nicht, was ich gelitten habe, ich bin ganz elend.«

Armin war kaum imstande, seinen Abscheu zu verbergen.

»Sie können vielleicht zur Erholung eine Kur gebrauchen, Frau Professor. Sobald Eva Marie zurückkehrt, wird unsre Hochzeit stattfinden. Und dann hält Sie ja nichts mehr hier fest. Unsere alten Abmachungen bleiben natürlich bestehen. Jetzt muß ich aber gehen, die Pferde vertragen langes Warten nicht. Adieu, und bitte, sorgen Sie, daß Eva Marie alles bereit findet.«

»Gewiß, gewiß! Ach die Freude! Das gute Kind! Adieu, mein lieber, lieber Herr von Leyden, adieu!«

Armin eilte hinaus und schüttelte sich förmlich. Als er wieder im Schlitten saß und mit Scheveking dahinfuhr, fragte er mit finsterer Miene:

»Haben Sie jemals gemerkt, daß – daß diese Frau trinkt?«

Er zeigte mit der Hand über die Schulter zurück. Scheveking zog die buschigen Brauen düster zusammen.

»Ja, Herr, dies Weib besitzt wohl alle Laster. Mein alter Freund, der Professor, hat mir mal sein Herz ausgeschüttet. Mit dem Trinken hat sie angefangen, als sie das Vermögen in alle Winde zerstreut hatte. Na – da ist bald nichts mehr von der früheren Schönheit übergeblieben, und den Professor hat mehr der Gram und der Ekel umgebracht, als seine Krankheit.«

Armin seufzte.

»Arme Eva Marie! Was mag sie dabei empfunden haben! Kein Wunder, daß sie sich um jeden Preis von dieser Frau lösen wollte.«

»Sie hat es ja auch ihrem Vater in die Hand versprechen müssen, nach seinem Tode sich von der Alten zu trennen,« brummte Scheveking. Nach einer Weile aber knallte er mit der Peitsche.

»Weg mit dem Bilde, Herr! Lassen wir uns die schöne Gotteswelt nicht durch solch ein Greuelweib vergällen. Sehen Sie, da oben guckt unser Burgwerben wie ein alter grauer Riese aus dem weißen Schnee heraus. Dillenberger wird gut für warme Zimmer gesorgt haben und Mamsell für ein gutes Essen.« –

Eine Viertelstunde später fuhren sie im Schloßhof ein.

Als Scheveking seinen Pelz abgelegt und die schweren Stiefel gegen leichtere vertauscht hatte, ging er hinunter und klopfte an die Küchentür. Mamsell fuhr mit dem Kopf heraus.

»Was gibt's, Inspektor?«

»Na, man dalli, dalli, Mamsell! Der Herr hat Hunger, das können Sie sich wohl an den Fingern abklavieren.«

Mamsell nahm ihre herausfordernde Lieblingsstellung, die Arme in die Hüften gestemmt, ein.

»Auf Sie habe ich gerade noch gewartet, um das zu erfahren! Mischen Sie sich man bloß nicht in meine Küchenangelegenheiten, ich bekümmere mich um Ihre Ställe auch nicht! Das Essen ist längst aufgetragen. Nun machen Sie man schnell, dann kriegen Sie auch noch was ab!«

Und knall flog die Türe zu.

Scheveking trollte breitbeinig, aber seelenvergnügt davon, um seinem Herrn bei Tische, wie immer, Gesellschaft zu leisten. Als er am Küchenfenster vorbeiging, öffnete es Mamsell halb.

»Essen Sie nicht zuviel von dem Schmorkohl, Inspektor, sonst wird Ihnen wieder fladderig im Magen,« rief sie hinaus.

»Dann setze ich einen Pomeranzenlikör darauf, Mamsell. Sie sind ja froh, wenn einer von dem Zeug trinkt.«

»Sie sind 'n altes Kamel, Inspektor.«

»Und Sie 'n junges Karnickel, Mamsell.«

Das Fenster wurde geschlossen, und Scheveking durchquerte im schönsten seelischen Gleichgewicht den Hof. Mamsell sah ihm vergnügt nach, bis er verschwunden war. Dann trat sie an den Schrank, in dem sie den Likör aufbewahrte, nahm eine Flasche heraus, schüttelte sie und hielt sie gegen das Licht.

»Heute reicht es noch aus, morgen muß ich eine frische Flasche aufmachen,« dachte sie friedlich, im Geiste mit dem leiblichen Wohl ihres Freundes Scheveking beschäftigt.

*

Mehr als vierzehn Tage waren verstrichen seit jener Unterredung zwischen Armin und Eva Marie. Das junge Mädchen nahm jetzt eine ganz andere Stellung im Hause des Herrn von Soltenau ein. Dora war ihr mit offenem Werben um ihre Freundschaft begegnet, der Hausherr kam ihr mit jovialer Freundlichkeit entgegen, und die Kinder geizten mit jeder Stunde des Beisammenseins, seit sie voll Schrecken vernommen hatten, daß Eva Marie fortgehen wollte.

Ein sehr herzliches Verhältnis hatte sich zwischen Frau von Soltenau und Eva Marie herausgebildet. Die kluge und gütige Frau hatte es verstanden, sich das Vertrauen des jungen Mädchens zu erwerben. Und Eva Marie empfand es als etwas Köstliches, dieser mütterlichen Freundin das ganze Innere erschließen zu dürfen. Ihr ganzes Leben entrollte sie vor der vornehmen Weltdame, die sich die Klugheit und Herzlichkeit eines guten Menschen bewahrt hatte im Gesellschaftstrubel und in ihren kleinlichen Sorgen. Von ihrem geliebten Vater sprach sie mit inniger Verehrung. Von der Stiefmutter mit Grauen und Abneigung. Und dann beichtete sie die Geschichte ihrer Liebe und ihrer Flucht. Und fein und verständnisvoll wußte Frau von Soltenau den wiedergefundenen Glauben an Armins Liebe in ihr zu stärken.

Eva Marie war entschlossen, nach Burgwerben zurückzukehren, sobald für sie Ersatz gefunden war. Frau von Soltenau erbot sich vergebens, sie schon früher zu entlassen. Eva Marie wollte nicht fahnenflüchtig werden. Erst sollte eine neue Erzieherin für die Kinder ins Haus kommen, dann wollte sie heimkehren.

Als Dora ihr vorstellte, wie sehnsüchtig und unruhig Armin auf sie warten würde, lächelte sie errötend.

»Wenn er mich liebt, wie ich ihn, dann ist er nicht in Unruhe, dann weiß er, daß ich komme,« sagte sie fest.

Dieselbe Antwort erhielt auch Rippach von ihr auf sein Drängen. Er kam fast täglich, seine Braut zu besuchen. Daß er sich nicht versagen konnte, seinem Freunde die tröstliche Kunde zu senden, daß Eva Maries Heimkehr nur eine Frage der Zeit sei, ist selbstverständlich.

Die beiden Kinder hatten nun auch erfahren, wer ›Onkel Leydens liebe Braut‹ war. Das gab einen Jubel ohne Ende. Und Eva Marie mußte immer wieder von Burgwerben erzählen. Daß sie nun jeden Sommer ihre geliebte Eva Marie besuchen würden, wurde ganz fest ausgemacht, und Rippach machte auch schon jetzt für Dora und sich Quartier für die Ferienzeit.

Frau von Soltenau suchte eifrig nach einem Ersatz für Eva Marie, die unbeirrt trotz aller gebotenen Freundschaft und Vertraulichkeit ihren einmal übernommenen Pflichten nachkam.

Endlich war eine Dame gefunden, die leidlich den gestellten Anforderungen entsprach, und Eva Marie rüstete zur Heimreise.

Rippach und Dora, sowie die beiden Kinder gaben ihr das Geleite nach dem Bahnhof. Der Abschied von den beiden dunkellockigen Mädchen fiel ihr sehr schwer, hatte sie doch die Liebe der beiden Mädchen als einen Trost in kummervollen Stunden empfunden. Die weichherzige Elfriede weinte leise in sich hinein, und Margarete biß die Zähne auf ihr Taschentuch, als der Zug davonfuhr. Eva Marie sah mit feuchten Augen auf die Kinder zurück und winkte Dora und Rippach herzlich zu.

Auf Eva Maries ausgesprochene Bitte hatte es Rippach unterlassen, Armin den Tag ihrer Abreise mitzuteilen. – Um den Jammer seiner kleinen Schwägerinnen zu mildern, ließ er bei Josti halten und besuchte mit ihnen das Café. Da wurde der Kummer mit Schlagsahne betäubt.

*

Armin hatte mit Frau Professor Delius vereinbart, daß sie sofort die Magd nach dem Schlosse schicken solle, wenn Eva Marie eingetroffen sei. Trotzdem fuhr er fast täglich am Häuschen vorbei, um sich selbst zu überzeugen. Der erste Schnee war zur Hälfte wieder weggetaut. Darauf hatte sich Kälte eingestellt, und in der Nacht war frischer Schnee gefallen. Nun gab es von neuem herrliche Schlittenbahn. Armin fuhr allein im Schlitten den Schloßberg hinab. Er hielt die Zügel lässig in der Hand und ließ die Pferde gemächlich traben. Dann ging's in den verschneiten Wald hinein. Eine Weile fuhr er so dahin. Da plötzlich stutzte er. Dort auf dem Waldweg kam ihm eine schlanke, schwarzgekleidete Frauengestalt entgegen. Als sie den Schlitten herankommen sah, blieb sie stehen und lehnte sich an einen Baum, als versagten ihr die Kräfte. Da hatte er sie schon erkannt.

»Eva Marie!«

Wie ein klingender Jauchzer scholl es durch den winterstillen Wald. Mit einem Satz war er aus dem Schlitten und stand in wenigen Sekunden vor ihr. Mit starken Armen zog er das vor Aufregung zitternde Mädchen an sich.

»Eva Marie, meine süße Eva Marie, habe ich dich endlich wieder!« rief er mit solchem Jubel in der Stimme, daß das Mädchen die Gewalt seiner Liebe fühlte.

Und da lag sie nun an seinem Herzen und fühlte seinen lauten, starken Schlag. Stumm hielt er sie umschlossen, stumm schmiegte sie sich in seine Arme, und die Augen tauchten in seliger Wonne ineinander. Die Küsse, die jetzt auf ihre Lippen niederbrannten, waren andere als jene vor ihrer Flucht. Aber kein Bangen kam in ihr Herz bei seiner heißen Glut. Stark und gewaltig war seine Liebe, das fühlte sie, und mit dieser innigen Glut vernichtete er die Demütigung, die er vorher dem ungeliebten Weib zugefügt.

Lange hielten sie sich umschlungen. Da fühlte er, wie sie im Frost leicht zusammenschauerte. Er hob sie empor und trug sie zu dem Schlitten. Dort packte er sie warm in Pelzdecken ein und setzte sich zu ihr. Ganz andächtig schaute er in ihr Gesicht, denn ihre schönen Augen blickten ihn mit dem alten lieben Vertrauen an. Das war wieder das zärtliche Leuchten vergangener Tage.

Noch lange hielten die zwei im Schlitten nebeneinander, und die süßen, törichten Worte, die er ihr zuflüsterte, fanden alle den Weg zu ihrem Herzen.

»Bist du nun glücklich, mein geliebtes Mädchen? Glaubst du nun, daß ich dich liebe über alle Maßen?«

Sie schloß die Augen und lehnte sich an seine Schulter.

»Ja, ich bin glücklich, wie ich es nie vorher gewesen; ich habe nicht geglaubt, daß ein Menschenherz solch tiefes Glück zu fassen vermag. Und an deine Liebe glaube ich, sonst wäre ich nicht heimgekehrt.«

Er küßte ihre Augen und umschlang sie von neuem in innigem Entzücken. Und dann, als die Pferde ungeduldig wurden, nahm er die Zügel und ließ die Pferde im Schritt gehen.

»Ist dir sehr kalt, oder darf ich dich noch ein Weilchen bei mir behalten?«

Sie huschelte sich wohlig in die Pelze.

»Ganz heiß ist mir, ich friere nicht.«

Da nickte er glückstrahlend, und seine dunklen Augen umfaßten das liebliche Gesicht mit Entzücken. Er lenkte plötzlich den Schlitten nach dem Dorf.

»Laß uns doch lieber im Walde bleiben, Armin,« bat sie leise.

»Wir kehren gleich zurück, Liebling. Jetzt fahre ich dich erst zum Pfarrer, um das Aufgebot zu bestellen. Ich brauche so schnell wie möglich eine liebe, herzliebe Burgfrau. Allein haust sich's nicht halb so gut da oben.«

Da widersprach sie ihm nicht mehr.

*

Vier Wochen später, in den ersten Tagen des Januar, wurde Armin von Leyden mit Eva Marie Delius in aller Stille in dem kleinen Dorfkirchlein getraut. Scheveking und Rippach fungierten als Trauzeugen. Die Dorfbewohner und das Schloßgesinde füllten die Kirche. Es war eine schlichte, ernste Feier, aber das junge Paar sah mit strahlenden Augen in die Welt.

Armin hatte mit Absicht vermieden, Gäste einzuladen, er wollte Eva Marie die Demütigung ersparen, sich ihrer Stiefmutter schämen zu müssen.

Am nächsten Tage reiste diese für immer ab, um sich in Dresden niederzulassen. –

Rippach hatte herzliche Grüße und Glückwünsche von Soltenaus überbracht. Man hatte verstanden, daß das junge Paar die Hochzeit in aller Stille feiern wollte. Armin und Eva versprachen aber, zu Rippachs und Doras Hochzeit, die an Ostern stattfinden sollte, zu kommen. Als das junge Paar das erstemal miteinander die Schwelle des Burgwerbener Schlosses überschritt, umfaßte Armin fest die geliebte Frau.

»Möge dieses Haus nur Glück und Freude für dich bereithalten, mein geliebtes Weib! Gott segne deinen Eingang!« sagte er bewegt. Und Eva Marie drückte seine liebe Hand und sah ihn mit ihren schönen Augen an, als wollte sie sagen:

»Wo du bist, da ist mein Glück.«

Scheveking und Mamsell Wunderlich haben an diesem Tage kein ungutes Wort gewechselt, sie waren von einer schwachmütigen Weichheit befallen. Und als das junge Paar später an die stille Gruft Friedrich von Leydens ging, um dem Gründer ihres Glückes Blumen als Dankopfer zu bringen, da sah Scheveking zum ersten Male das Gesicht Mamsell Wunderlichs von Tränen überströmt. Da wurde ihm ganz ›fladderig‹ zumute, und er mußte einen Pomeranzenlikör trinken.

Am nächsten Tage aber fanden sie den alten Ton wieder. Sie zankten sich in Zukunft hauptsächlich darüber, wer von ihnen beiden sich mehr an dem sonnigen Glück ihrer Herrschaft freute. Und da kamen sie nie ins reine.

Im Sommer wurde es lebendig in Burgwerben. Margarete und Elfriede Soltenau tobten in Park und Garten herum. Hans Rippach mit seiner jungen Frau weilten ebenfalls als Gäste in Burgwerben, und da Armin mit Eva Marie in der Nachbarschaft Besuche gemacht hatte, fehlte es nicht an Gesellschaft. Auch Herr und Frau von Soltenau folgten der überaus herzlichen Einladung des jungen Paares.

Das Glück und heitere Gesellschaft hatten Einkehr gehalten in Schloß Burgwerben. Friedrich von Leyden hatte durch sein Testament den finsteren Geist gebannt, der mit seiner Schuld, mit seinem Leid eingezogen war.

Sein Andenken wurde in Ehren gehalten von Armin und Eva Marie, gleichwie von den beiden Alten, Scheveking und Mamsell Wunderlich, die ihren alten Herrn nicht über dem neuen vergaßen.


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