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Die Aßmanns

Aber Bettina – wirst du nie lernen, sparsam zu sein?«

Das junge Mädchen, welches vor dem Ofen kniete, im Begriff, Feuer anzuzünden, sah erschrocken empor in das zürnende Gesicht der scheltenden Frau.

»Was hab' ich denn getan, Tante Adolfine?« fragte sie ängstlich.

»Was du getan hast? Sie fragt auch noch, was sie getan hat, unglaublich! Schau doch ins Feuerloch hinein. Ist das eine Art, Feuer anzuzünden? Meinst du, das Holz kostet nichts? Du stopfst das ganze Ofenloch voll davon. Das teure Holz. Nicht einmal die Hälfte davon ist nötig. Schnell, nimm das übrige heraus. Es ist ein Kreuz mit dir, Bettina. Du solltest doch doppelt sparsam sein. Natürlich, wenn ihr zu Hause so gewirtschaftet habt, dann ist es kein Wunder, daß ihr zu nichts gekommen seid. Bei mir gibt es solche Lotterwirtschaft nicht, das solltest du nun endlich wissen und dich danach richten.«

Bettina war sehr bleich geworden. Sie holte mit flinken Fingern von den Holzspänen einen Teil wieder aus dem Ofenloch heraus und legte sie sorgsam in den Holzkorb zurück. Das Feuer brannte nun etwas langsamer an. Es war eine Kunst, die Kohlen so um das winzige Holzhäufchen aufzubauen, daß es nicht erdrückt wurde. Aber Bettina brachte es doch fertig.

Das Feuer brannte. Bettina erhob sich und entfernte sorgsam jedes Stäubchen vor dem Ofen. Sie sah zuweilen scheu nach der Tante hinüber, die inzwischen nahe an den Ofen herangerückt war mit ihrem Stuhle und fröstelnd zusammenschauerte.

Es war ein feuchtkalter Herbstabend. Den ganzen Tag hatte die mehr geizige als sparsame Hausfrau in dem kalten Wohnzimmer gefroren. Jetzt endlich hatte sie sich entschlossen, Feuer anzünden zu lassen, weil sie es vor Frost nicht mehr aushalten konnte. Auch kam nun bald der Hausherr, Peter Aßmann, aus der Fabrik nach Hause. Und der liebte ein warmes Zimmer sehr.

Bettina trug nun den Holzkorb hinaus und kehrte dann in das Zimmer zurück. Es war, wie das ganze alte Patrizierhaus, mit vornehmer, behaglicher, etwas altväterlicher Pracht ausgestattet. Aßmanns waren sehr reich und ein altes Patriziergeschlecht, das seinen soliden Reichtum schon seit Jahrhunderten vom Vater auf den Sohn vererbt hatte. Sie stellten Tuche her, die noch heute einen Weltruf hatten und allen ›Neuheiten‹ zum Trotz auf der Höhe blieben.

Peter Aßmann war der einzige Sohn seines Vaters und alleiniger Besitzer der großen Fabrik und des schönen alten Hauses am Fluß. Seine Gattin Adolfine war ein sehr schönes Mädchen gewesen. Noch heute, da sie schon mehr als fünfzig Jahre zählte, war sie eine schöne Frau. Ihr glattgescheiteltes dunkles Haar war noch voll und schwer und von keinem einzigen grauen Faden durchzogen. Das Gesicht zeigte keine Falten, außer dem strengen Zug um den Mund, der wie mit einem ehernen Griffel eingegraben schien. Die großen blauen Augen, von dunklen Brauen und Wimpern umsäumt, waren schön in Farbe und Schnitt, aber sie blickten kühl und streng und so durchdringend und nüchtern, daß warmblütige Menschen froren, wenn sie hineinsahen.

Das Leben dieser Frau mußte, ihrem Aussehen nach, leidenschaftslos und ruhig verlaufen sein. Und so war es auch. Aus einer armen Beamtenfamilie stammend, hatte sie seelenruhig ihre Hand in die Peter Aßmanns gelegt, der sein Herz an das schöne Mädchen verloren hatte und allem Brauch seiner Familie entgegen das arme Mädchen zur Herrin seines Hauses machte.

Adolfine liebte den reichen, stattlichen Freier nicht, aber sie liebte auch keinen anderen. Ihr Herz schlug allezeit in gleich ruhigem Tempo, wenn sie etwas hätte aus ihrem kühlen seelischen Gleichgewicht bringen können, dann wäre es der Gedanke gewesen, daß sie als Herrin in das reiche, alte Haus am Fluß einziehen konnte.

Peter Aßmanns Eltern waren schon beide gestorben, als Adolfine seine Gattin wurde. In seinem Hause lebte nur noch eine Schwester seines Vaters. Sie bewohnte auch heute noch drei schöne, große Zimmer, nach dem Fluß hinaus gelegen, und lebte dort ein stilles, beschauliches Altfrauendasein. ›Großtanting‹ Emma, wie sie von den beiden Aßmannschen Söhnen, Ernst und Georg, genannt wurde, hatte als junges Mädchen einen Bräutigam gehabt. Der war 1870 im deutsch-französischen Kriege gefallen, und sie hatte ihm über den Tod hinaus die Treue bewahrt und war trotz ihres Reichtums und ihrer Schönheit unverheiratet geblieben.

Großtanting Emma war der Frau ihres Neffen innerlich nie nahe getreten. Adolfine war zu klug und zu gierig nach Reichtum, um nicht mit der Tante ihres Mannes Frieden zu halten. Denn da diese unverheiratet blieb, würde ihr Vermögen natürlich einst ihrem Manne und ihren Kindern zufallen. Und Großtanting war eine stille, sanfte Natur und liebte den Frieden um seiner selbst willen. Wohl fand sie sich innerlich bald abgestoßen von Adolfines kühlem, nüchternem Wesen. Sie begriff ihren Neffen nicht, daß er sich im Besitz einer solchen Frau glücklich fühlte. Aber sie war viel zu taktvoll und fein empfindend, sich das merken zu lassen.

Gleich von Anfang an verstand es Adolfine, sich die führende Stellung im Hause zu sichern. Großtanting, die ihrem Neffen den Haushalt geführt hatte, wurde ruhig und bestimmt in ihre drei Zimmer zurückgedrängt und fügte sich darein mit ihrem stillen, feinen Lächeln – einem Lächeln, das alles Menschliche verstand, alles verzieh.

Die beiden Frauen lebten nun ruhig nebeneinander hin. Adolfine führte ein strengeres Regiment im Hause ein und tat sich viel darauf zugute, daß sie viel sparsamer wirtschaften konnte als die Tante ihres Mannes. Diese lächelte dazu. Es wäre ja so gar nicht nötig gewesen, dieses Sparsystem, aber da es Adolfine Befriedigung gewährte, ließ man ihr den Willen, weder Peter noch seine Tante protestierten und sahen sich nur zuweilen mit einem gütigen Lächeln ins Gesicht. Sie verstanden sich und verstanden Adolfine. Sie wollte wohl durch große Sparsamkeit den Schaden wett machen, der dem Hause Aßmann durch Peters Heirat mit einem armen Mädchen erwachsen war.

So kam in das großzügige vornehme Patrizierhaus die ängstliche Pfennigrechnung der Beamtentochter und machte sich breit – ganz allmählich.

Großtanting kam meist nur zu den Mahlzeiten mit Adolfine und den anderen Familienmitgliedern zusammen. Aber mit dem ältesten Sohne Peters und Adolfines verband sie mit der Zeit ein ganz eigenartig inniges Verhältnis. Ernst Aßmann war ein warmherziger, etwas wilder und unbändiger Zunge, der von seiner Mutter nur Tadel und Schelte bekam, den sie nicht verstand, und dessen feuriges Wesen ihr direkt unsympathisch war. Ungerechte Strafen weckten seinen Trotz gegen die Mutter, wofür er wieder von seinem Vater gestraft wurde. So war er auf dem besten Wege, sich zu verhärten und zu verbittern. Da griff Großtanting ein. Sie sah, welch ein Verbrechen die schablonenhafte Erziehung an diesem Knaben war, und ganz still und sanft, aber eindringlich machte sie ihren Einfluß auf ihn geltend. Und Ernst begann ein anderes Leben zu leben. Manche Stunde, die er früher zu ungebärdigen, tollen Streichen benutzte, saß er jetzt bei Großtanting im Zimmer und plauderte mit ihr. Das alte, einsame Fräulein begann diese Knabenseele zu studieren, sich ihr anzupassen, die Schätze zu heben, die darin verborgen waren. Und ihr Leben erhielt dadurch plötzlich einen ungeahnten Wert. Ernst aber erkannte bald trotz seiner Jugend, was er an Großtanting hatte, und diese zwei Menschen schlossen in der kalten Atmosphäre des Hauses ein warmes, festes Herzensbündnis.

Da Ernst verständiger und ruhiger wurde unter Großtantings Einfluß, ließ Adolfine die beiden ruhig gewähren, und Peter war herzlich froh, seinen Frieden wieder zu haben und nicht immer strafen zu müssen. Im Grunde liebte er seinen Ältesten mehr als Georg. Aber er ließ sich das niemals merken und glaubte, doppelt streng gegen ihn sein zu müssen.

Als Ernst älter wurde, entwickelte er sich zu einer lebensfrischen, kraftvollen Persönlichkeit. Es war ihm bekannt, daß er, gleich Georg, nach Beendigung der Schulzeit in die Fabrik eintreten sollte. Ihm fehlte aber alle Lust und Begabung zum Kaufmannsstande. Lange, ehe er das seinen Eltern eröffnete, wußte Großtanting, daß Ernst den Sitten des Hauses Aßmann untreu werden wollte. Manche Dämmerstunde saß er auf dem Erkerplatz zu ihren Füßen und gab seinen idealen, feurigen Zukunftsplänen Ausdruck. Welche drängende, lebensstarke Jünglingsseele enthüllte sich da den Blicken Großtantings. Sie saß und staunte und schwärmte dann mit ihm um die Wette. Sein ganzes Sinnen und Streben richtete sich auf die Baukunst. Architekt, Baumeister wollte er werden. Und vor Großtantings staunenden Augen entstanden unter seinen feurigen Worten herrliche Paläste, ernste, schöne Kirchen, wundervolle Villen und liebliche Landhäuser. Die halbe Welt durchstreiften die beiden Menschen im kühnen Flug. Großtanting wurde manchmal etwas schwindlig dabei – aber sie flog tapfer mit. Und ganze Bücherstöße ließ sie sich ins Haus schicken, um sie mit Ernst durchzustudieren. Da zeigte er ihr, wohin er reisen würde, wenn er erwachsen wäre, was er alles sehen und lernen würde, und lange ehe seine Eltern etwas davon ahnten, stand es bei den beiden fest, daß Ernst Baumeister werden sollte.

Daß es nicht ohne Kämpfe dazu kommen würde, wußten sie wohl, und so schoben sie die Eröffnung so lange wie möglich hinaus. Erst als Ernst das Abiturium hinter sich hatte und nun in die Fabrik eintreten sollte, kam es zur Katastrophe.

Seine bündige Erklärung, daß er nicht Kaufmann, sondern Architekt werden wolle, machte seinen Vater fassungslos. Er konnte das vorläufig gar nicht glauben. Aber die Mutter erklärte sofort mit herrischer Willkür, daß Ernst seine ›verrückten Einfälle‹ aufzugeben und sich zu fügen habe. Der wehrte sich gegen diesen Machtspruch. Es gab unruhevolle Auftritte in dem alten Patrizierhause. Mutter und Sohn stießen mit den harten Köpfen aneinander. Denn einen harten Kopf hatte auch Ernst, so weich und liebevoll auch sein Herz, dank Großtantings Einfluß, geblieben war.

Und Frau Adolfine konnte Widerspruch nicht vertragen. Je mehr sich Ernst dagegen wehrte, je fester bestand sie darauf, daß er Kaufmann würde. Ernsts Vater stand auf ihrer Seite. Alle Aßmanns waren Kaufleute gewesen, hatten Wohlstand und Reichtum durch den Kaufmannsstand errungen. Er hatte eine

sehr hohe Meinung von diesem Stand und wollte, daß seine Söhne ihm beide angehörten.

So kam es zum Bruch zwischen Ernst und seinen Eltern. Er weigerte sich, Kaufmann zu werden, und sie weigerten sich, ihm auch nur einen Pfennig zu geben, um seinen Plan auszuführen. Sie glaubten, ihn durch diese Drohung gefügig zu machen, aber gerade diese Drohung steigerte seinen Trotz. »So hungere ich mich durch – ihr sollt mich nicht knechten und zu einem Beruf zwingen, der mir zuwider ist,« hatte er auf ihre Drohung erwidert und war aus dem Zimmer gestürmt.

Grollend und verzweifelt war er zu Großtanting gekommen. Er hatte auch ihr versichert, daß er noch heute fortgehen wolle und sich zur Not durchhungern, nie aber darauf verzichten würde, Architekt zu werden. Großtanting hatte lächelnd in sein flammendes Gesicht gesehen. Ernst hatte nicht, gleich seinem Bruder Georg, die Schönheit der Züge von seiner Mutter geerbt. Er war äußerlich ein echter Aßmann. Groß und stattlich war er emporgewachsen, aber seine Züge waren zu groß angelegt für einen Jünglingskopf, zu kantig und zu markig. Zum Manne gereift, würde er bedeutend und charaktervoll seine Stirn dem Leben darbieten, eisern und unbewegt, das sah man schon heute dem Gesicht an, jetzt wirkte es eckig, fast unschön. »Min leive Jung,« Großtanting nannte ihn immer so, »du willst doch wohl nicht mit dem Kopf durch die Wand? Das denkst du dir wohl sehr romantisch und heroisch – das mit dem Durchhungern? Aber ein leerer Magen geht oft mit einem leeren Kopf einher, darauf wollen wir es lieber nicht ankommen lassen, wozu ist dein Großtanting da? Hier – nimm diese Brieftasche; sie lag schon für dich bereit, denn ich sah das alles kommen, wenn du denn einmal hinaus willst, so sollst du nicht mit leeren Taschen gehen. Du sollst deinen Monatswechsel haben wie andere Söhne aus gutem Hause auch, wozu hab' ich so viel Geld, wenn ich damit dir, min leive Jung, nicht deinen Herzenswunsch ermöglichen soll. Nun geh mit Gott und werde ein tüchtiger Baumeister! Vergiß auch nicht, daß da oben unter deinem dichten Haardach ein ungestümer Sinn regieren will. Beherrsche dich selbst – dann kannst du auch andere Menschen beherrschen. Und in dem Beruf, den du dir wählst, da kommt es viel auf diese Herrschaft an. Soll ein Bau recht gelingen, muß der Bauherr Menschen zwingen – zum Gehorsam bis ins kleinste.«

Ernst hatte die alte Dame fest in seine jungen starken Arme genommen. »Großtanting – ich nehme das Geld von dir. Und du sollst sehen – ich werde ein ganzer Kerl, schon dir zuliebe. Ich danke dir herzlich. Du kennst mich wie kein anderer Mensch, und du weißt auch, daß ich gehen muß, soll ich mich nicht selbst verlieren.«

»Ich weiß es, min leive Jung. Und zürne deinen Eltern nicht – sie stehen auf einem anderen Standpunkt und wollen dein Bestes. Zeigst du ihnen, daß es dir ernst ist mit deinem Wollen, dann versöhnst du sie dir schon eines Tages wieder. Und bis dahin schreibst du mir oft und ausführlich über dein Leben, du weißt, ich lebe jede Stunde mit dir. Ich sende dir auch fleißig Nachricht über unser Leben daheim. Aber weißt du – schicke mir deine Briefe lieber postlagernd, es ist besser. Ich möchte nicht in Unfrieden leben mit deinen Eltern. Und wenn du dein Ziel erreicht hast, ehe die Eltern sich dir versöhnen, so reich' ihnen dann zuerst die Hand, fester Wille ziert den Mann, Trotz schändet ihn.«

Das waren Großtantings Geleitsworte für ihren ›leive Jung‹. Noch am selben Tage verließ Ernst das Vaterhaus. Der Abschied von Eltern und Bruder war kurz und kühl. Man glaubte, er würde bald reuig zurückkehren, wenn ihm der Ernst seiner Lage bewußt würde. – –

Aber er war bis heute noch nicht zurückgekehrt. Seit zehn Jahren hatte er das Vaterhaus nicht wieder betreten. Adolfine wunderte sich zuerst, daß ihr Sohn nicht darbend zu Kreuze kroch. Schließlich nahm sie mißtrauisch ihren Mann ins Verhör, ob er etwa heimlich den ungehorsamen Sohn unterstütze. Er konnte aber mit gutem Gewissen beschwören, daß Ernst keinen Pfennig von ihm erhalten hatte. Peter Aßmann wäre wohl über das Schicksal seines Sohnes nicht so ruhig gewesen, wenn Großtanting ihn nicht beauftragt hätte, ihr jeden Monat eine bestimmte Summe von ihren Zinsen flüssig zu machen. Peter verwaltete das Vermögen seiner Tante, und als er sie eines Tages wie beiläufig fragte, wozu sie diese sich stetig wiederholende Summe nötig habe, da hatte sie lächelnd die Hand auf seine Schulter gelegt und gesagt:

»Ich unterstütze damit einen tüchtigen jungen Mann, der einmal einen großen Namen haben wird. Sein Vater hat seine Hand von ihm abgezogen, weil er einen eigenen Willen hatte. Aber ich weiß, es tut dem Vater ganz heimlich im Herzen leid, denn er ist kein Barbar. Nur will er seinem störrischen Jungen gegenüber nicht klein beigeben, so lange dieser nicht bewiesen hat, daß er einer inneren Notwendigkeit und keiner eigensinnigen Laune folgte. Ich weiß aber, daß es eine innere Notwendigkeit war, denn ich kenne den jungen Mann besser, wie ihn sein eigener Vater kennt. Und deshalb halte ich zu ihm und sorge, daß er nicht untergeht. Denn das würde den Vater trotz seines Grolles innig betrüben. Das weiß ich, denn ich kenne den Vater auch sehr genau. So, mein Peter – nun sorgst du mir pünktlich für das Geld, und frägst mich nicht mehr, wozu ich es brauche.«

Peter Aßmann hatte mit großen Augen in das alte, feine Frauengesicht geblickt. Ein Seufzer war tief aus seiner Brust emporgestiegen, es klang wie heimliche Befriedigung.

»Nein, ich frage nicht mehr, Tante Emma, und ich glaube auch, daß du den Vater recht gut kennst,« hatte er erwidert, und mit einem guten Lächeln, welches die beiden Gesichter sehr ähnlich machte, waren sie auseinander gegangen.

Adolfine hegte aber noch heute tiefen Groll gegen ihren Sohn Ernst, viel zu klug, um nicht zu merken, daß Ernst mit Geldmitteln unterstützt wurde, fiel ihr Verdacht bald auf Großtanting. Aber sie gab diesem Verdacht keinen Ausdruck, um es mit der alten Dame nicht zu verderben. Mochte sie Ernst immerhin Geld schicken, er wäre sonst doch schließlich verkommen in seinem Trotz. Und so war sie wenigstens nicht gezwungen, klein beizugeben. Ernst sandte seinen Eltern jeden Monat einen geschäftsmäßig gehaltenen Bericht über sein äußeres Leben. Diese knappen und klaren Berichte kamen aus aller Herren Ländern, denn Ernst betrieb sein Studium, dank Großtantings Hilfe, im großen und sah sich die Bauten der halben Welt an. Überallhin, wo es zu lernen gab für ihn, wandte er seine Schritte.

Großtanting bekam viel öfter und viel ausführlicher Nachricht von ihm. Es gab nichts in seinem Leben, woran er sie nicht hätte teilnehmen lassen. Sie holte sich diese Briefe in regelmäßigen Zwischenräumen von der Post, und es war jedesmal ein Festtag für sie, wenn sie einen seiner liebevollen Briefe erhielt.

Sie schrieb natürlich ebensooft an ihn und füllte immer mehrere Bogen mit ihrer feinen, klaren Handschrift. Daß er immer von allem unterrichtet war, was im Hause vorging, dafür sorgte sie gewissenhaft. So erfuhr er auch, daß einige Jahre nach seinem Fortgehen ein anderes junges Menschenkind Einzug in sein Vaterhaus hielt. Seine Mutter hatte eine junge Verwandte zu sich ins Haus genommen. Bettina Sörrensen war die Tochter einer Base von Frau Adolfine. Ihr Vater, Major Sörrensen, war vor Jahren gestorben und hatte seine Witwe mit zwei Kindern in sehr gedrückten Verhältnissen zurückgelassen. Bettinas Bruder Hans, der fast zehn Jahre älter war als sie und von ihr innig geliebt wurde, war Offizier geworden. Durch des Vaters Tod mußte seine ohnedies knappe Zulage noch mehr beschnitten werden. Er hatte sich dann, im Drange, seinen Verhältnissen aufzuhelfen, zum Spiel verleiten lassen und hatte eines Tages eine größere Summe auf Ehrenwort verspielt. Es war ihm nicht gelungen, diese Summe aufzutreiben, verzweifelt bat er in einem Schreiben Adolfine Aßmann um Hilfe. Sie hatte ihm diese Hilfe versagt. Da hatte er sein junges Leben enden müssen durch eigene Hand. Seine Mutter hatte darüber den Verstand verloren und war wenige Wochen nach ihm gestorben, ohne noch einmal zur Besinnung zu kommen. Und da hatte Adolfine, als sie zur Beerdigung ihrer Verwandten gereist war, Bettina mitgebracht, wohl in einer Anwandlung, aus Reue und Großmut gemischt, und in der Voraussetzung, daß Bettina mit der Zeit einen Dienstboten im Hause ersetzen würde. In Großtantings Brief an Ernst hieß es: »Daß Gott erbarm', das arme, blasse Ding. Wie sie einen anschaut mit ihren großen blauen Augen, so verängstigt, so verschüchtert und im Leid erstarrt. Min leive Jung, das Herz hat sich mir rein im Leibe umgedreht, als ich sie zuerst sah in ihrem schwarzen Kleidchen. Es gibt doch viel Elend auf der Welt. Die arme Kleine sitzt nun oben in ihrem Stübchen und starrt so trübselig und versteinert in die Welt, mir geht es bei ihrem Anblick immer eisigkalt durchs Herz. Gestern wollt' ich sie trösten und strich ihr über das Haar. Es ist so fein und goldig, lockt sich um Stirn und Schläfen und fällt in zwei schweren Flechten über ihr schwarzes Kleidchen herab. Sie sah mich mit einem unbeschreiblichen Blick an und schauerte zusammen. welches Leid, welche Schrecknisse mögen ihre jungen Augen schon gesehen haben!«

Daß Ernsts Mutter durch ein wenig Güte und Milde diese Schrecknisse hätte verhindern können, wenn sie Bettinas Bruder die für sie geringe Summe geliehen oder geschenkt hätte, schrieb Großtanting nicht mit. Es war nicht nötig, daß Ernst davon erfuhr. In seinem nächsten Briefe schrieb dieser in Bezug auf Bettina:

»Über das fernere Schicksal der armen kleinen Bettina bin ich beruhigt. Ich müßte mein Großtanting schlecht kennen, wenn die sich die Gelegenheit entgehen ließe, ein armes junges Menschenkind aufzurichten, mit Liebe zu umgeben, mit seinem Schicksal auszusöhnen.«

Und Ernst hatte richtig vermutet.

Sobald Bettina sich etwas erholt und gekräftigt hatte, entließ Adolfine ein Stubenmädchen und beauftragte Bettina mit deren Arbeit. Adolfine war nicht die Frau, die einen Menschen umsonst auffütterte. Bettina mochte sich nur nützlich machen und tüchtig mit zufassen im Haushalt.

Sie tat es auch ohne Murren und bestrebte sich ehrlich, die Zufriedenheit der gestrengen Tante zu erwerben. Leider gelang ihr das nie. Adolfine stellte an all ihre Dienstboten große Anforderungen und machte Bettina gegenüber durchaus keine Ausnahme. Seit sieben Jahren war die junge Waise nun im Hause. Still und bescheiden schaffte sie und war froh, die Dankesschuld in etwas durch ihren Fleiß vermindern zu können. Je mehr die Tante schalt, desto eifriger wurde sie. Diese hatte immer zu mäkeln und auszusetzen. Die Dienstboten liefen ihr einfach davon, wenn sie es zu bunt trieb. Aber Bettina mußte aushalten, sie konnte nicht einfach kündigen und sagen: »Hier paßt es mir nicht.«

Manchmal wäre sie wohl verzagt, wenn es nicht auch für sie ein Plätzchen gegeben hätte, wo sie aufatmen konnte. Großtanting war auch für sie, wie einst für Ernst, zum rettenden Engel geworden. Eine ganze Weile hatte die gütige alte Dame ruhig mit angesehen, wie Adolfine das arme Ding drangsalierte. Dann legte sie sich aber zu Bettinas Gunsten ins Mittel, und zwar auf so feine Weise, daß Adolfine gar nichts davon merkte.

Eines Mittags bei Tisch sagte die alte Dame zu Adolfine:

»Mit meinen Augen wird es immer schlechter. Das Lesen greift mich sehr an. Und auf meine liebgewordene Gewohnheit mag ich nicht verzichten. Ich will deshalb einmal im Tagblatt eine Vorleserin suchen, wenn sich Bewerberinnen melden, schickst du sie mir wohl in mein Zimmer, liebe Adolfine.«

Diese hatte aufgehorcht, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine unliebsame Überraschung. Eine Vorleserin im Haus, vielleicht eine anspruchsvolle Dame, die viel Geld kostete und allerlei Rücksichten forderte. Das paßte Frau Adolfine gar nicht. Und plötzlich fiel ihr Bettina ein. Wozu war denn das Mädchen im Hause? Sie konnte sehr gut dies Amt übernehmen. Man sparte Unannehmlichkeiten und Geld. Denn wenn auch Tante Emma die Vorleserin selbst bezahlen würde, Adolfine rechnete mit deren Geld schon wie mit eigenem. Sie richtete sich entschlossen auf.

»Wozu eine fremde Person ins Haus nehmen, Tante Emma? Bettina ist ja da, sie kann dir vorlesen, so viel du willst.«

Ein leises Aufzucken in Großtantings Mundwinkeln verriet, daß sie diesen Vorschlag erwartet hatte. Sie sah aber scheinbar überrascht auf. »Bettina? Das möchte wohl gehen – ja – das ließe sich einrichten, sie hat ein angenehmes, weiches Organ. Aber nein – du brauchst sie ja im Haushalt so nötig, ihre Zeit ist vollständig ausgefüllt. Das geht also nicht.«

Adolfine hatte keine Ahnung, daß die alte Dame ein wenig Komödie spielte. Sie ereiferte sich.

»Aber ich bitte dich, Tante Emma, das ist ja ganz einfach. Ich nehme noch eine Putzfrau, die Bettina entlastet. Dann bleibt ihr Zeit genug für dich. Und eine Putzfrau ist natürlich billiger und anspruchsloser als eine Vorleserin.«

Tante Emma sah mit gütigem Blick zu Bettina hinüber, in deren Gesicht bei dieser Verhandlung eine feine Röte gestiegen war, und deren Augen mit einem bangen Ausdruck an Adolfines Gesicht hingen.

»Mochtest du das Amt einer Vorleserin bei mir übernehmen, Bettina?« fragte sie sanft.

Bettinas Gesicht rötete sich noch mehr. »Sehr gern – o – sehr gern,« stieß sie hastig hervor.

»Dann soll es mir recht sein, wie du bestimmst, liebe Adolfine. Bettina kann dann gleich morgen beginnen. Ich denke vormittags zwei Stunden und nachmittags von fünf Uhr an, wenn ich von meinem Spaziergang zurückkomme. Und damit auch die Geldfrage erörtert wird – wenn es dir recht ist, übernehme ich dafür die Kosten für Bettinas Kleidung, denn da ich ihre Dienste beanspruche, ist es auch recht und billig, daß ich dich dafür entschädige.«

Adolfine war sehr damit einverstanden, und so hatte Großtanting einmal Bettina auf Stunden von anstrengender Hausarbeit erlöst und zum andern sich das Recht erkauft, Bettinas stark vernachlässigter Garderobe aus eigenen Mitteln aufzuhelfen. Denn Adolfine knauserte auch in dieser Beziehung. Bettina trug noch immer das verwachsene schwarze Kleidchen, in dem sie ins Haus gekommen war.

So wurde Bettina Vorleserin bei Großtanting, und damit erhielt ihr Leben eine erfreuliche Veränderung. Ach – was waren ihr diese köstlich stillen Stunden bei der gütigen, feinfühligen alten Dame. Es wurde durchaus nicht die ganze Zeit gelesen. Großtantings Augen und ihre gute Brille taten ihre Dienste noch recht gut in der Zeit, da Bettina im Haushalt beschäftigt war. Die zum Vorlesen bestimmten Stunden wurden in der Hauptsache von der alten Dame benützt, um der armen jungen Waise erst wieder einmal etwas Lebensfreudigkeit einzuflößen, sie zu trösten und sie liebevoll und gütig von ihrem Schmerz um die verstorbene Mutter und den geliebten Bruder zu heilen. Bettina lebte auf, und ihr Herz wandte sich mit inbrünstiger Dankbarkeit und seinem ganzen großen Liebesreichtum der alten Dame zu.

So entstand zwischen Tante Emma und Bettina ein inniges Verhältnis, wie zwischen Mutter und Tochter. Die beiden vereinsamten Frauenherzen hingen fest aneinander.

Seltsamerweise machten sich bei dem sonst noch so rüstigen alten Fräulein in schneller Reihenfolge allerlei kleine Schwächen bemerkbar. Sie fühlte sich plötzlich zu schwach und unsicher, ihre Spaziergänge allein auszuführen. Man mußte ihr Bettina zur Stütze mitgeben. So kam das junge Mädchen täglich zwei Stunden mit ihr ins Freie. Bei dieser Gelegenheit besorgte Großtanting auch immer die Einkäufe für Bettinas Garderobe, und es machte ihr viel Freude, das junge Mädchen nett und geschmackvoll zu kleiden, Adolfine machte zwar scheele Augen dazu und suchte Tante Emma klar zu machen, daß es für Bettina nicht gut sei, wenn sie verwöhnt würde, da sie doch ein armes Mädchen sei. Großtanting machte ihr undurchdringliches Gesicht.

»Sei unbesorgt, Adolfine. Bettina wird nicht zu sehr verwöhnt. Da sie mich auf meinen täglichen Spaziergängen begleiten muß, will ich, daß dies in einem anständigen Anzug geschieht. Man möchte sonst übel davon reden, wenn eine Verwandte des Hauses Aßmann wie ein Dienstmädchen gekleidet neben mir geht. Auch mußt du bedenken, daß Bettina mir jetzt vollständig eine teure Gesellschafterin ersetzt. Und wir wollen uns doch von einer armen Waise nichts schenken lassen.«

So war Adolfine wieder abgeführt, und sie mußte sich fügen.

Bettina hatte als Schlafzimmer von Adolfine eine getünchte Dachkammer angewiesen bekommen, wie sie von den Dienstboten benutzt wurde, trotzdem in dem großen Hause eine ganze Anzahl sehr hübscher Fremdenzimmer leer standen.

Da stellte sich bei Tante Emma eine scheinbar nervöse Schlaflosigkeit ein. Sie klagte über Unruhe und Beklemmung und wünschte des Nachts jemand in ihrer Nähe zu haben. Adolfine ließ von Großtantings Bett eine elektrische Klingel nach ihrem eigenen Schlafzimmer legen, damit die alte Dame sie herbeirufen konnte, wenn diese Beklemmungen eintraten. Prompt klingelte Großtanting nun Adolfine jede Nacht zwei, drei Mal aus ihrem warmen Bett. Das machte dieser nun freilich wenig Vergnügen. Da fand Großtanting plötzlich einen Ausweg.

»Weißt du, liebe Adolfine, das geht auf die Dauer nicht. Du bist auch die Jüngste nicht mehr, und ich kann nicht verlangen, daß du deine Gesundheit schädigst mit diesen unruhigen Nächten. Bettina ist noch jung, ihr macht das wenig aus. Du brauchst sie nur in das Fremdenzimmer hier neben meinem Schlafzimmer einzuquartieren, dann ist sie mir des Nachts wieder erreichbar. Das Zimmer ist ja ohnedies fast unbenützt, und du hast deine Ruhe wieder.«

Das leuchtete Adolfine ein. Das Aufstehen des Nachts war ihr sehr unangenehm gewesen. Mochte sich Bettina damit abquälen. So junge Menschen schlafen ja immer schnell wieder ein, wenn man sie weckt.

Und Bettina erhielt das hübsche Fremdenzimmer neben Großtantings Wohnung als Schlafraum – und von der Zeit an erfreute sich Großtanting seltsamerweise wieder eines ungestörten Schlummers. Bettina konnte ruhig in ihrem Bett bleiben. Also hatte wohl die Nähe des jungen Mädchens beruhigend auf Großtantings Nerven eingewirkt.

So hatte sich Bettinas Stellung im Hause durch Großtantings Hilfe sehr gebessert. Natürlich sorgte Adolfine trotzdem noch ausreichend für Beschäftigung des jungen Mädchens, aber das trug sich leicht. Mochte Tante Adolfine noch so viel schelten, ihr noch so viel Arbeit aufpacken, die herrlichen Stunden bei Großtanting konnte sie ihr nicht rauben.

Heute gab es große Wäsche. Da mußte Bettina einen Teil der Mädchenarbeit mit übernehmen, und die Nachmittagsstunden bei Großtanting fielen aus.

Nachdem Bettina Feuer angezündet hatte, mußte sie den Tisch für das Abendessen decken, den Tee bereiten und die Speisen aus der Vorratskammer herausgeben.

Zu diesem Zweck ließ sie sich von Tante Adolfine den Speisekammerschlüssel geben, den diese zum Ärger ihrer Dienstboten stets bei sich trug. Sie reichte ihn Bettina.

»Schneide von der Wurst und dem Rollschinken auf, Bettina. Aber die Scheiben nicht wieder so dick, das ist Verschwendung. Und nicht zu viel. Zwei Scheiben Wurst, eine Scheibe Schinken für die Person. Das genügt vollständig. Reste liebe ich nicht, die verderben nur.«

Bettina tat, wie ihr geheißen war. Sie schnitt so feine, dünne Scheiben als möglich und legte sie auf die schwere, silberne Platte. Diese trug sie in das schöne, dunkelgetäfelte Speisezimmer hinüber. Auf den mächtigen Tisch hatte sie ein blütenreines Tischtuch von feinem Damast gebreitet. Kostbares Meißner Porzellan und schwersilberne Eßbestecke zierten die Tafel. Teegläser mit silbernen Haltern standen auf einem schönen silbernen Tablett vor der Teemaschine, unter der Bettina bereits den Spiritus entzündet hatte. Auf diesem mit gediegener Pracht gedeckten Tisch, der deutlich den Reichtum der Familie Aßmann zeigte, nahm sich die schwere Silberplatte mit den dünnen Wurstscheiben seltsam genug aus.

Seit Frau Adolfine das Zepter im Hause führte, hatte sie diese schmale Abendkost als der Gesundheit zuträglich eingeführt, warum sie auch die Mittagsmahlzeiten tunlichst beschränkt hatte, sagte sie nicht. Tatsache war, daß in diesem reichen alten Patrizierhause nur gut und reichlich getafelt wurde, wenn Gäste zugegen waren.

Diese Sparweise Frau Adolfines hatte seltsame Verhältnisse gezeitigt. Peter Aßmann, der an eine gute und reichliche Kost gewöhnt war, hatte seit seiner Verheiratung die Gewohnheit angenommen, ein zweites Frühstück auf dem Wege nach der Fabrik im Restaurant einzunehmen. Dieses zweite Frühstück wurde schließlich seine Hauptmahlzeit, an der sich auch in stillschweigendem Übereinkommen Georg zu beteiligen pflegte, seit er in der Fabrik tätig war. So hielten sich die beiden Herren schadlos, ohne daß Adolfine eine Ahnung davon hatte. Und Großtanting – die lächelte fein, wenn Peter mittags gar so wenig aß und so schnell gesättigt war, wie Georg auch. Sie ahnte den Grund und tat es stillschweigend den beiden nach.

Auf ihren täglichen Nachmittagsspaziergängen suchte sie jedesmal eine kleine, feine Konditorei auf. Dort nahm sie Schokolade und kleine Kuchen zu sich. Sie sorgte auch dafür, daß sie stets Keks und einige Tafeln gute Schokolade im Hause hatte. Die bewahrte sie in einem Schrankeckchen auf, neben Hauben und Handschuhen.

Diesen Schokoladenschlupfwinkel hatte früher Ernst ganz genau gekannt. Dort fanden sich immer allerhand gute Sachen für ihn, wenn er in der Dämmerstunde in Großtantings Zimmer kam. Schöne große Äpfel und Birnen, Weintrauben, kleine Kuchen und Schokolade – immer war etwas für ihn da, und fleißig sorgte er mit seinem gesunden Jungenappetit, daß immer Platz für neue Einkäufe wurde. Und Großtanting strahlte, wenn unglaubliche Mengen zwischen seinen gesunden weißen Zähnen verschwanden.

Jetzt nahm eine andere Ernsts Stelle ein. Bettina war die unerschöpfliche Schrankecke zugänglich gemacht worden, seit sie damals Vorleserin bei Großtanting wurde. Und seit Bettina die alte Dame auf ihren Spaziergängen begleitete, ging sie auch mit in die Konditorei. Wenn sie dann mit gesundem Appetit schmauste und dankbar Großtantings feine, faltige Hände drückte – dann strahlten die gütigen Altfrauenaugen genau so glücklich wie früher, wenn Ernst ihre Schätze zwischen den weißen Zähnen verschwinden ließ.

O Adolfine – wenn du geahnt hättest, wie schändlich dein selbstgepriesenes Sparsystem in die Brüche ging!

Und wenn du wüßtest, wie rüstig und kräftig Großtanting noch ohne jede Stütze ausschreiten konnte, wie herrlich sie des Nachts mit Bettina um die Wette schlief, wie scharf sie mit ihrer guten Brille noch sehen konnte – o Adolfine – was hättest du wohl zu alledem gesagt? –

Peter Aßmann hatte vor langen Jahren seine Tante Emma einmal gefragt, ob ihr auch die veränderte Lebensweise, die Adolfine eingeführt habe, gut bekomme. Da hatte sie ihn mit humorvollem Lächeln angesehen.

»Sei ganz ruhig, Peter. Frühstücken gehe ich ja nicht, wie du – aber ich gehe nachmittags zum Konditor.«

Peter war rot geworden.

»Tante, das geht doch nicht. Du sollst nicht darunter leiden, da will ich doch lieber mit Adolfine sprechen. Weißt du, sie ist von zu Hause so kleine Verhältnisse gewöhnt.«

Die alte Dame hatte ihn lächelnd auf die Schulter geklopft.

»Laß gut sein, Peter, es geht auch so. Du sollst Adolfine meinetwegen kein Wort sagen. Kleine Schwächen hat jeder Mensch. Was meinst du wohl, wie glücklich deine Frau ist, daß sie durch ihre Tüchtigkeit im Haushalt sparen kann. Das hebt sie über sich selbst hinaus, sie ist stolz darauf, als hätte sie dir damit ein großes Vermögen eingebracht. Wozu sie kränken und ihr diese Genugtuung schmälern. Laß ihr den Spaß, wir halten uns schon schadlos.«

Damit war diese Angelegenheit zwischen den beiden erledigt. So fügte sich scheinbar jeder im Hause in Frau Adolfines Sparsystem. Nur die Dienstboten murrten zu ihrer Entrüstung sehr oft. Die wollten ihr Recht haben und begehrten auf, wenn sie nicht reichlich genug zu essen bekamen. Das gab manchmal Streit und manche widerwärtige Stunde.

Bettina hatte im Speisezimmer die Rolläden herabgelassen, den Tisch besorgt und aller fertig gemacht. Sie sah nach der Uhr. Es blieb ihr noch ein Viertelstündchen Zeit. Da konnte sie flink noch ein Weilchen zu Großtanting hinüberhuschen.

Diese saß in einem tiefen Lehnstuhl im Erkervorbau ihres Wohnzimmers, mit im Schoß gefalteten Händen und sinnendem Blick. Sie trug ein dunkelviolettes Tuchkleid, welches bei Licht fast schwarz erschien und einen ganz eigenartigen Schnitt hatte. Es fiel von der Taille in reichen schweren Falten an der noch fast mädchenhaft zierlichen Gestalt herab und schloß am Hals mit einer schönen alten Spitze, die mit einer goldenen Brosche befestigt war. Weißes Haar umrahmte das noch frischfarbige, wenn auch mit zahllosen feinen Fältchen durchzogene Gesicht. Auf dem weißen Haar saß eine weiße Spitzenhaube, deren Bänder über den Rücken herabfielen. Ganz kokett nahmen sich diese Spitzenbänder auf dem dunklen Kleide aus.

Großtanting hielt trotz ihres Alters auf ein zierliches Aussehen. Die weißen Scheitelhaare wurden jeden Abend vor dem Zubettgehen fest eingeflochten, damit sie am Tage, zu kleinen Wellchen aufgebauscht, noch recht reich und voll erschienen. Um den Hals schlang sich eine lange goldene Kette, daran trug sie ihr Stiellorgnon, und von dieser langen Kette zweigte sich ein dünnes Nebenkettchen ab, dessen Ende zwischen dem Schluß ihres Kleides verschwand. Daran war eine Kapsel befestigt, in der sie ein Bildchen ihres im Kriege gefallenen Bräutigams trug. Sie ließ es nie von sich, und nur, wen sie sehr liebte, wie Ernst und Bettina, der durfte zuweilen einen Blick auf dieses Bildchen werfen. Sie hatte ihn so sehr geliebt, den stattlichen jungen Offizier, und als er ihr gestorben war, wollte sie niemand an seine Stelle setzen. –

Großtantings dunkle klugen blickten lächelnd auf, als Bettina eintrat und schnell auf dem Erkertritt zu ihren Füßen Platz nahm.

»Noch ein Viertelstündchen, Großtanting. Wie lang ist mir heut der Nachmittag geworden, weil ich nicht bei dir sein konnte,« rief Bettina zärtlich und streichelte die blassen, gefalteten Altfrauenhände.

»Hast du viel Arbeit gehabt, mein Blondchen?« fragte die alte Dame zärtlich.

»O nein – nicht mehr als sonst bei der Wäsche. Die Mädchen sind alle noch in der Waschküche.«

»Und nun bist du fertig?«

»Alle Arbeit ist getan. Sonst wäre ich doch jetzt nicht bei dir. Tante ist sonst so leicht bös.«

»Hat es heute keine Schelte gegeben?«

Bettina seufzte leise.

»Doch – ich habe beim Feueranzünden zu viel Holz verbraucht.«

Großtanting strich sacht über das goldene Gelock und die jetzt aufgesteckten blonden Flechten.

»Kleine Verschwenderin – du sollst doch sparsam sein.«

Es lag mehr gütiger, lächelnder Trost in ihren Worten als ein Vorwurf. Bettina küßte ihr mit leidenschaftlicher Innigkeit die Hände.

»Großtanting – wenn ich dich nicht hätte!« Diese Worte schienen förmlich durchtränkt von heißer Zärtlichkeit. Die alte Dame bog den blonden Mädchenkopf zurück und sah ernst in die schönen, tiefblauen Mädchenaugen hinein. »Gott gebe, daß du, wenn ich einmal nicht mehr bin, einen Menschen findest, der für den großen Liebesreichtum in deiner Seele Verständnis hat. Ganz angst wird mir manchmal um dich, Bettina. Bist wirklich eine kleine Verschwenderin, hüllst mich alte Frau förmlich ein in Liebe und Zärtlichkeit.«

Bettinas Augen wurden feucht. »Ist es dir zu viel? – Darf ich dich nicht lieben, du Gute, Teure? Ich hab' ja keinen Menschen mehr auf der Welt als dich, den ich lieben kann. Laß es dir doch gefallen – es macht mich doch so glücklich.«

Die alte Dame lachte gerührt.

»Gern – ich halt ja still, Dummerchen. Bist ein rechter Krauskopf. Sonst so scheu und still, machst du mir die feurigsten Liebeserklärungen. Und da soll mir nicht bange werden? Kein Mensch außer mir weiß, welch tiefes und starkes Empfinden in deinem Herzen lebt.«

Bettina atmete tief und gepreßt. »Früher hatte ich so viele Menschen, die ich lieb haben konnte. Vater, Mutter und meinen Bruder Hans. Nun sind sie alle fortgegangen. Weißt du – wie ein Stein lag mir das Herz in der Brust, als ich damals hier ins Haus kam. Ich glaubte, ich könnte nie wieder jemand liebhaben. Als mir der Vater starb, da merkte ich noch nicht, was mir genommen wurde. Ich war noch so jung. Und ich hing dafür mein Herz mit doppelter Innigkeit an meinen Bruder. Ach, Großtanting, was war er für ein lieber, fröhlicher Mensch – er lachte so gern, alles an ihm war Sonnenschein, Lebensfreude. Und dann war es mit einem Male so ganz anders. Ganz deutlich erinnere ich mich noch des letzten Abends, da er bei uns war. Tante Adolfine hatte ihm eben geschrieben, daß sie ihm das Geld nicht leihen wolle. Er war so still und ernst und sagte uns dann scheinbar gleichmütig Lebewohl. ›Sorg dich nicht, Mutter, ich versuche morgen das Geld bei einem Kameraden aufzutreiben,‹ sagte er noch, um Mutter zu beruhigen. Als ich ihm dann aber die Treppe hinab leuchtete, sah er noch einmal nach mir zurück. So blaß sah er aus im Kerzenscheine. Und seine Augen – ach, nie vergesse ich diesen letzten Blick von ihm – wenn ich damals gewußt hätte, was alles in diesem Blick lag, ich hätte mich an ihn geklammert und ihn nicht fortgelassen. Aber ich wußte nicht, daß er mit diesem Blick Abschied nahm vom schönen Leben, das er so liebte, von allem, was ihm teuer war. Noch jetzt schrecke ich nachts manchmal empor, dann sehe ich ihn so vor mir, wie er mit zurückgewandtem Blick die Treppe hinabstieg, und ich höre dann seine Stimme: ›Schlaf gut, kleine Bettina.‹«

Die alte Dame streichelte wortlos den blonden Kopf. Worte halfen hier nichts, das wußte sie. Solcher Schmerz muß austoben und braucht lange Jahre zur Heilung. Bettina war es eine Wohltat, immer wieder davon sprechen zu dürfen, was ihre junge Seele bis ins Innerste erschüttert hatte. Leise fuhr sie fort:

»Am andern Morgen kam sein Bursche mit bleichem, verstörtem Gesicht und sagte mir leise, seinem Herrn Leutnant sei ein Unglück passiert. Ich lief wie gejagt in seine Wohnung, vergaß ganz auf Mutter zu achten. Und da fand ich meinen geliebten Bruder starr und bleich auf seinem Bett – mit durchschossenem Herzen. Nie vergesse ich das – nie auch das schreckliche Lachen, das mich aus meiner Betäubung weckte. Mutter war mir gefolgt und stand nun neben mir, schreiend und furchtbar lachend – sie war von Sinnen vor Schmerz, – ach Großtanting!«

Bettina legte erschauernd den blonden Kopf in den Schoß der alten Dame, die sie immer wortlos streichelte. Endlich faßte sich Bettina wieder und sah empor.

»Nun schilt mich nur aus, – ich habe wieder von diesen traurigen Dingen gesprochen,« sagte sie, sich zu einem Lächeln zwingend.

Großtanting schüttelte den Kopf.

»Schelten hilft da nichts. Könnt' ich mit Schelte diese traurigen Gedanken bannen, ei, da solltest du mal hören, wie energisch ich zanken kann. Aber ich will versuchen, dich abzulenken. Sieh mal, was ich hier habe.«

Sie holte einen Brief aus ihrer Tasche. Bettinas Augen leuchteten auf.

»Ach, das hatte ich ja ganz vergessen, daß du einen Brief von Ernst hast, was schreibt er? Hast du gute Nachrichten von ihm?«

»Sehr gute, gottlob. Du sollst nach dem Abendessen lesen, was min leive Jung schreibt. So viel Schönes und Großes sieht er draußen in der Welt. Er ist jetzt auf der Rückreise nach Deutschland. Du wirst staunen, was er alles von den indischen Tempeln und Fürstenpalästen schreibt, wie ein farbenglühendes Märchen klingt es. Und schau – hier am Schlusse, was er da schreibt, mußt du gleich jetzt noch lesen, hier – von dieser Stelle an.«

Bettina nahm den umfangreichen Brief und las die bezeichnete Stelle: »Und in all der glühenden, blühenden Pracht und Herrlichkeit packt mich plötzlich die Sehnsucht nach meinem Erkerplätzchen zu deinen Füßen, Großtanting. Denn so weit und groß und schön die Welt auch ist – nirgends schlägt mir ein Herz so voll Liebe, wie das deine. Mein Bäschen Bettina sitzt da wohl jetzt zu deinen Füßen, und ihr haltet Dämmerplausch. Sprecht auch wohl von mir? Das ist mir ein so traulicher Gedanke. Ein liebes Ding muß das blonde Bäschen sein, deiner Beschreibung nach. Grüße sie herzlich von mir. Ach Großtanting, lange halt' ich's nun nicht mehr aus, dann komme ich heim, selbst auf die Gefahr, daß meine Eltern noch immer unversöhnlich sind. Ich habe einen Plan. In eurer Stadt will man ein neues Theater bauen. Es soll ein großer Prachtbau werden, Geld dazu ist in meiner reichen Vaterstadt in Fülle vorhanden. Man hat ein Preisausschreiben für den Entwurf erlassen. Ich gedenke mich daran zu beteiligen. Nun halte mir den Daumen, Liebe, Gute. Es wäre eine so schöne Gelegenheit, heimzukehren, wenn ich das Glück hätte, mit meiner Arbeit den Preis zu erringen. Ich will zeigen, was ich gelernt habe. Also wünsch mir Glück, ja? Base Bettina soll zur Sicherheit mitwünschen, das hilft dann doppelt. Sie tut es gewiß gern. Glückt es, dann komme ich bald heim. So warm und kuschelig wie in deinem Stübchen ist es nirgends auf der Welt, und ich werde glücklich sein, wenn ich erst wieder zu deinen Füßen sitzen kann.«

Bettina sah zu der alten Dame auf.

»Da sitze ich nun – auf seinem Platz. – Ob er wohl böse ist auf mich, daß ich ihn einnehme?« fragte sie versonnen.

»Nein, gewiß nicht. Er freut sich, daß meine alten Augen auf ein liebes Gesicht herabschauen können, wenn ich hier auf meinem Großmutterthron sitze.«

»Wie schön wäre es, wenn er wirklich den Preis bekäme, Großtanting. Ich mußte gleich an Ernst denken, als ich neulich in der Zeitung von dem Preisausschreiben las.«

Die alte Dame nickte.

»Ich auch, Bettina. Und an unseren guten Wünschen soll es nicht liegen, wenn er den Preis nicht bekommt, wie glücklich wollt' ich sein, sähe ich ihn wieder daheim im Vaterhause, hab' ich das erreicht – dann will ich auch gern sterben.«

»Sprich doch nicht vom Sterben – du tust mir weh damit.«

»Kind – es ist doch menschlich, bei meinem Alter – es fehlt mir nur wenig an siebzig Jahren – da muß man täglich darauf gefaßt sein. Aber wir wollen nicht davon sprechen. Ist Georg schon zu Hause?«

»Nein, er kommt ja immer erst mit Onkel Peter, warum kommt Georg nur nie zu dir herein, wie es Ernst getan hat?«

Die Augen der alten Dame blickten ein wenig trüb. Sie seufzte.

»Er ist seiner Mutter Sohn, Überschwänglichkeiten liebt er nicht, und sich um eine alte Großtante zu kümmern, erscheint ihm wohl als solche. In seinem Herzen ist kaum für etwas anderes Platz als für Rechenexempel. Zum Glück weiß er selbst nicht, wie arm sein Leben dadurch ist. Er tut mir leid, wie seine Mutter auch. Wenn sie wüßte, welch ein Schatz von Liebe in Ernsts Herzen wohnt, sie würde es nicht leiden, daß ich ihre Stelle in seinem Herzen einnehme. Sie betrügt sich selbst um das höchste Glück, das Gott einer Frau schenkt.«

Bettina seufzte.

»Ja, Tante Adolfine ist sehr hart und kalt. Es ist sehr unrecht von ihr, daß sie Ernst gegenüber nicht liebevoller war.«

Die alte Dame erhob sich und zog das junge Mädchen mit sich empor.

»Hüte dich vor einem vorschnellen Urteil, Bettina, was man versteht, verzeiht man auch. Ernsts Mutter ist anders geartet als wir.«

»Ja, Großtanting. Ach, wäre sie so lieb und gut wie du, dann lebten mir Bruder und Mutter vielleicht noch. Sie hätte nur Onkel Peter um die Summe zu bitten brauchen, die mein Bruder nötig hatte. Aber sie hat es nicht getan und stieß ihn damit ins Verderben.«

»Du vergißt, daß sie nicht wußte, daß dein Bruder in der Verzweiflung Hand an sich legen würde. Er war in ihren Augen ein leichtsinniger Mensch, und ein Leichtsinniger verdiente Strafe. Wenn sie gewußt hätte, daß sie ihn mit ihrer Weigerung in den Tod trieb, so hätte sie wohl geholfen. Streng und sparsam ist sie gewiß, aber doch nicht so herzlos. Jeder Mensch hat seine Fehler. Und ob Onkel Peter geholfen hätte, fragt sich noch sehr. Kaufleute haben ihre Grundsätze. Sie pflegen über den Geldpunkt sehr pedantisch und genau zu denken. Laß also nicht Ungerechtigkeit in dir groß werden, Bettina. Tante Adolfine hat gute, vortreffliche Eigenschaften, man muß sie nur erkennen und nicht gedankenlos urteilen.«

Bettina schmiegte sich an das alte Fräulein.

»Ich schäme mich, Großtanting. Es ist undankbar von mir, nicht immer daran zu denken, daß ich Tante Adolfine so viel zu danken habe. Es ist nur noch der alte Schmerz um meinen Bruder, meine Mutter, der mich ungerecht macht. Alle Menschen können ja auch nicht so himmlisch gut sein wie du. Ich weiß, du hättest meinem Bruder Hans sicher geholfen, wenn du alles gewußt hättest, nicht wahr, das hättest du?«

»Ja doch, gewiß, Kind, wenn ich gewußt hätte, wie das alles lag. Aber Tante Adolfine hat eben auch nicht gewußt, wie schlimm es um deinen Bruder stand.«

Bettina schwieg. Sie wußte freilich, daß Hans an Tante Adolfine geschrieben hatte: »Wenn du mir nicht hilfst, bleibt mir nur der letzte Weg noch offen,« aber es war ja möglich, daß sie nicht daran geglaubt hatte. – –

Die Uhr zeigte die achte Stunde an. Großtanting rückte vor dem Spiegel die Haube zurecht.

»Es ist Zeit zum Abendessen, laß uns hinübergehen. Nach Tisch liest du dann Ernsts Brief.«

*

Fast zu gleicher Zeit traten die Familienmitglieder von verschiedenen Seiten in das Speisezimmer. Oben an der Schmalseite des Tisches nahm Peter Aßmann Platz. Er war ein mittelgroßer, etwas beleibter Herr mit nicht sehr ausdrucksvollen Zügen. Ergrautes Haupthaar und ein ebensolcher Vollbart umgaben sein frisch gerötetes Gesicht, aus dem die guten, klugen Augen Großtantings herausschauten. Sehr stark ausgeprägte Krähenfüße an den Augenwinkeln verrieten, daß Peter Aßmann einen stillen Humor besaß, der ihn befähigte, allen Dingen eine rosige Seite abzugewinnen. Er liebte Ruhe und Frieden über alles, und um sich beides zu erhalten, ließ er seiner noch immer herzlich geliebten Frau in allen Dingen, die nicht sein Geschäft betrafen, freie Hand.

Rechts von ihm saß Tante Adolfine, links Großtanting und neben dieser Bettina. Neben seiner Mutter war Georgs Platz.

Dieser war ein sehr elegant gekleideter, stattlicher Mensch, etwa dreißig Jahre alt, und das, was man einen schönen Mann zu nennen pflegt im landläufigen Sinne. Sein sorgfältig frisiertes dunkles Haupthaar und der nach der neuesten Mode gestutzte Lippenbart verrieten die aufmerksamste Pflege. Seine sehr weißen Hände waren lang und schmal, aber nicht schön. Die Fingerkuppen waren zu breit und plump im Verhältnis zur Hand. Georg suchte diesen Fehler durch besonders lange und spitz zulaufende Fingernägel zu verbessern, doch bekamen seine Hände dadurch etwas Krallenartiges. Seine blauen Augen, gleich denen der Mutter von dunklen Brauen und Wimpern umsäumt, blickten kühl und nüchtern. In der ganzen Art seines Benehmens sprach sich sehr viel Selbstgefälligkeit aus. Er konnte, wenn er wollte, sehr liebenswürdig sein. Zu Hause kam es ihm jedoch nie darauf an. Er pflegte allerdings seiner Mutter und der Großtante beim Kommen und Gehen artig die Hand zu küssen. Aber diese Artigkeit hatte etwas Steifes, Formelles und nichts Wohltuendes. Bettina gegenüber war er kaum höflicher, als wenn sie ein Dienstbote gewesen wäre. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, richtete er das Wort an sie. Sie galt ihm nicht mehr wie eine Dienerin. Er blickte auch heute kühl und gleichmütig an ihr vorbei. Und doch war sie wohl des Betrachtens wert. Selbst Onkel Peter sah wohlgefällig in ihr sanft gerötetes, liebreizendes Gesicht und schenkte ihr einige Aufmerksamkeit.

Bei Tische wurden nur wenige gleichgültige Redensarten gewechselt, höchstens flog zwischen Großtanting und Peter Aßmann zuweilen ein humorvolles Scherzwort herüber und hinüber, welches Georg mit gleichgültigem, mattem Lächeln begleitete und Frau Adolfine nicht zu beachten pflegte. Sie hatte ebensowenig Sinn für den warmen, goldigen Humor, welcher den Grundzug dieser beiden Charaktere bildete, wie ihr Sohn Georg. Nur in Bettinas Augen leuchtete dann warmes Verständnis auf. Aber sie beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, wenn sie nicht gefragt wurde. Tante Adolfine hätte das streng gerügt. Nach Tisch verabschiedete sich Georg, wie fast jeden Abend, um noch in den Klub zu gehen. Er küßte Mutter und Tante Emma die Hand, ›kühl bis ans Herz hinan‹, verabfolgte seinem Vater einen matten Händedruck und nickte Bettina nachlässig zu.

Peter Aßmann pflegte noch ein Stündchen bei den Damen sitzen zu bleiben, ehe er zu Skat oder Schach ebenfalls den Klub aufsuchte. Er plauderte freundlich einige Worte mit Bettina, neckte sich mit Großtanting und spielte mit den Fäden der Handarbeit, die seine Gattin gleich nach Tisch wieder aufnahm. Oft mußte ihm Bettina einige Volkslieder singen, die er sehr liebte. Sie besaß eine weiche, volle Altstimme und verstand einfache Lieder mit Wärme und Verständnis zu singen und zu begleiten. Selbst Frau Adolfine pflegte gern zuzuhören, wenn sie sang, und gestattete ihr jeden Tag ein Übungsstündchen. Für Großtanting waren Bettinas Lieder ein Genuß, den sie mit keinem andern vertauscht hätte. Sobald das junge Mädchen in das Empfangszimmer hinüberging, wo ein schöner Blüthnerflügel stand, setzte sich das alte Fräulein mit behaglichem Gesicht in die Sofaecke und schloß lauschend die Augen.

So ging es einen Abend wie den andern. Wenn Peter Aßmann sich dann auch verabschiedet hatte, ging Großtanting mit Bettina hinüber in ihr Zimmer, um sich noch ein Stündchen vorlesen zu lassen. Adolfine blieb bei ihrer Handarbeit sitzen. Um zehn Uhr gingen die Damen zu Bett. Anders verliefen die Abende natürlich, wenn Gesellschaft im Hause war, oder wenn Aßmanns geladen waren. Jeden Winter wurden einige größere Festlichkeiten im Hause gegeben, wozu immer die erste Gesellschaft der reichen Handelsstadt geladen war. Da solche Einladungen natürlich erwidert wurden, war es, im Winter hauptsächlich, nicht eben selten, daß Großtanting und Bettina allein zu Hause blieben. Das alte Fräulein ging schon seit Jahren nicht mehr in Gesellschaften, nur wenn sie im Hause waren, beteiligte sie sich ein paar Stunden. Bei ihrem hohen Alter bedeuteten solche Geselligkeiten immerhin eine Anstrengung. Das war Frau Adolfine im Grunde sehr lieb, hatte man doch dadurch den besten Vorwand, auch Bettina zu Hause zu lassen. Sie mußte eben Großtante Gesellschaft leisten.

Bettina war sehr damit zufrieden, bei Großtanting bleiben zu dürfen, was sollte sie in Gesellschaft all der Menschen, die sie fast alle ein wenig von oben herab betrachteten und sich nicht viel um sie kümmerten? Die jungen Herren sahen wohl gern in ihr liebliches, süßes Gesicht und fanden sie reizend, entzückend. Aber da sie arm war, und bei Aßmanns nur aus Gnade und Barmherzigkeit Aufnahme gefunden hatte, hielten sie sich fern von ihr. Zu einer Liebelei war sie nicht zu haben und sonst – was sollte man sonst mit solch einem armen süßen Ding? Die konnte einen höchstens zu Torheiten verleiten. Also lieber nicht zu nahe heran.

Bettina war sehr feinfühlig und empfand das alles sehr deutlich. Deshalb blieb sie viel lieber zu Hause. Es kränkte sie nicht, weil sie es selbstverständlich fand in ihrer Bescheidenheit, daß man sie wenig beachtete. Aber es war ihr immer peinlich, wenn im Hause Gesellschaft war, an der sie sich natürlich beteiligen mußte, die herablassende oder mitleidige Freundlichkeit über sich ergehen zu lassen. Sie kam sich ganz verloren und verlassen vor zwischen all den gleichgültigen Menschen und atmete auf, wenn solch ein Abend hinter ihr lag.

Wie viel schöner war es, wenn sie mit Großtanting allein zu Hause war. Dann sang sie ihr erst all ihre Lieblingslieder. Und nachher saß sie in dem warmen Stübchen zu Füßen des alten Fräuleins. So wonnig kuschelich und gemütlich war es dann, wenn draußen der Wind heulte oder Schnee und Regen an die Fenster schlug, wenn dann Großtanting zärtlich über ihr Haar strich und mitleidig sagte: »Nun mußt du armes Blondchen zu Hause sitzen bei einer alten Frau, und möchtest doch sicher auch gern tanzen und vergnügt sein,« dann lachte sie fröhlich – selten genug hörte Großtanting dies warme, klare Lachen – und antwortete: »Bei dir ist es tausendmal schöner, ich bin so froh und glücklich, daß ich bei dir bleiben darf.«

Dann plauderten sie meist von Ernst, lasen seine Briefe wieder durch und legten dazu einige Photographien von ihm auf den Tisch, die sie abwechselnd betrachteten. Da war er einmal als kleiner Bub mit den ersten Unaussprechlichen. Seine ganze Haltung verriet, daß man ihn nur mit Mühe zum Stillhalten gebracht hatte, und daß er es nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens rechnete, photographiert zu werden. Dann als etwa zwölfjähriger Knabe, mit einem weißen Kragen um den Hals, der aber etwas schief saß und diese photographierte Bravheit sehr beeinträchtigte. Auch als Jüngling im ehrwürdigen Abiturienten-Bratenrock war er abkonterfeit – kurz bevor er das Elternhaus verlassen hatte. Zuletzt eine Kabinettphotographie, die er Großtanting vor einem Jahr aus Rom geschickt hatte. Auf ihren immer wiederkehrenden Wunsch hatte er sich endlich photographieren lassen, und Großtanting waren die hellen Tränen aus den Augen gestürzt beim Anblick des Bildes, was war aber auch aus dem eckigen, unschönen Jünglingskopf geworden! Die großen, geistvollen Augen beherrschten jetzt ein Gesicht mit charakteristischen, festen Linien. Niemand fragte wohl beim Anblick dieses Männerkopfes: ›Ist er schön oder häßlich?‹ Ein Künstlerkopf von ausgeprägter Bedeutung, mit Augen, die das Schöne suchten und es voll Begeisterung und Tatkraft festhielten. Bettina hatte das Bild mit Herzklopfen betrachtet. Wie viel zwingender und bedeutender mußte das Original im Vergleich zu der Photographie sein, die doch das Leben nur sehr mangelhaft wiederzugeben vermochte. Wie mochten diese gedankentiefen Augen in Wirklichkeit unter der mächtigen Stirn hervorstrahlen? Bettina konnte sich, gleich Großtanting, nicht satt sehen an dem Bildchen.

*

Aßmanns gaben die erste Gesellschaft in diesem Winter. Tagelang vorher ging es im Hause drunter und drüber. Die sonst leerstehenden Gesellschaftsräume im Parterre mußten gesäubert, gelüftet und geheizt werden. Die leinenen Schutzdecken wurden von den kostbaren Brokatmöbeln und Gobelinen entfernt, die Kronleuchter von ihren Mullhüllen befreit und der Parkettfußboden frisch geglättet. Es gab eine Menge Arbeit, und obwohl Hilfskräfte angestellt wurden, kam Bettina in diesen Tagen kaum zu Atem. Die Dienstboten konnten nicht selbständig arbeiten, und Frau Adolfine mußte mit der Köchin den Speisezettel gründlich durchstudieren. Wohl wußte die sparsame Hausfrau, daß bei solchen festlichen Anlässen nicht geknausert werden durfte, sollte der Glanz des alten Patriziergeschlechtes nicht darunter leiden, aber wie man am billigsten und praktischsten diesen Glanz erhalten konnte, das bedurfte angestrengten Nachdenkens.

So ruhte auf Bettinas Schultern alles übrige. Sie hastete treppauf, treppab, um alles in das rechte Geleise zu bringen und Tante Adolfine zufriedenzustellen. Und dabei war draußen so köstliches klares Winterwetter, nicht gar zu kalt und windstill, und Großtanting bestand darauf, daß Bettina wenigstens eine Stunde täglich mit ihr ins Freie ging.

Frau Adolfine seufzte steinerweichend, wenn die beiden fortgingen, und fand, daß diese Spaziergänge bis nach dem Feste hätten unterbleiben können. Es kostete ihr Mühe, Großtanting gegenüber diesen Unwillen zu verbergen, aber sie wagte auch nicht, ihm Ausdruck zu geben. Das alte Fräulein konnte so unglaublich lächeln bei derartigen Gelegenheiten, und dieses Lächeln genierte Adolfine mehr als sonst etwas auf der Welt. So verschieden diese beiden Frauen waren, so waren sie doch beide klug genug, um nicht einzusehen, daß zwischen ihnen nur ein Waffenstillstand und kein echter Herzensfriede bestand. Sie hüteten sich beide, diesen Waffenstillstand zu brechen. Das hätte nur Krieg im Gefolge haben können, und bei einem Krieg hatten sie beide nur zu verlieren.

So kam also Bettina trotz aller Arbeit täglich zu ihrem Spaziergang und zu ihrer Tasse Schokolade mit Schlagsahne.

Endlich waren alle Vorbereitungen fertig. Die Lohndiener hatten bereits die Tafel gedeckt und liefen nun wie Feldherren vor der Schlacht herum, um mit einem letzten Blick alles zu prüfen. Die Musikanten – ein Klavierspieler, ein Geiger und ein Flötist – waren im großen Saal, in dem getanzt werden sollte, hinter einer Blattpflanzengruppe untergebracht worden und stimmten schon ihre Instrumente. –

Bettina war in einem reizenden weißen Kleidchen von duftiger Seide und Tüllspitzen schnell noch einmal zu Großtanting hinüber gehuscht, um zu sehen, ob sie der alten Dame beim Anziehen helfen konnte. Diese was aber schon fertig und sah in dem schwerseidenen, silbergrauen Seidenkleid, das mit echten Spitzen ausgeputzt war, sehr hübsch und vornehm aus. Auch heute trug sie ein Häubchen auf dem weißen Scheitel, aber es war kleiner als sonst und von prachtvollen alten Spitzen hergestellt.

Bettina betrachtete sie strahlend.

»Bist du schön, Großtanting!« sagte sie stolz und rückte sorglich das Häubchen noch ein wenig nach vorn. Die alte Dame lachte.

»Wenn mir das jemand vor fünfzig Jahren gesagt hätte, dann hätte ich es vielleicht geglaubt, du Närrchen.«

»Glaub es oder nicht, Großtanting, aber du bist die schönste alte Dame, die ich je in meinem Leben gesehen habe.«

Diese zwinkerte lustig mit den Augen.

»Du – mir scheint, du rechnest auf eine Erwiderung deiner Schmeichelei.«

Bettina stellte sich lächelnd, mit gespreizten Händen vor sie hin und drehte sich um ihre eigene Achse.

»Bin ich vielleicht nicht schön und fein? Schau nur, wie weich und anmutig die Falten meines Kleides fallen. Ich kann mich nicht satt sehen daran. Man sieht, dies Kleid hat mir mein liebes Großtanting geschenkt.«

»Hättest es daran schreiben sollen, dann merkt man es gleich,« spottete die alte Dame gutmütig, sah aber mit innigem Wohlgefallen auf die anmutige Mädchengestalt, die in ihrer knospenden Frische und Schönheit entzückend aussah. Das Kleid war mit feinem Verständnis ausgewählt und schmiegte sich weich und duftig um die feinen, edelgerundeten Formen. Das goldschimmernde Köpfchen mit den wunderschönen, beseelten Blauaugen hob sich lieblich von den zarten runden Schultern. Großtanting seufzte ein wenig. Was nützte ihrem Schützling alle Schönheit und Lieblichkeit. Ein armes Mädchen – wer beachtete sie!

Und Bettina seufzte mit.

»Ich wollte doch, der Abend wäre erst vorbei,« sagte sie leise

»Nun hör' einer dies törichte Mädchen,« schalt Großtanting liebevoll. »Du sollst dich doch freuen auf heute abend, sollst endlich mal wieder lustig und fröhlich sein, tanzen und dich unterhalten. Oder denkst du, du bekommst keine Tänzer und mußt Mauerblümchen spielen?«

Bettina lächelte.

»Nein, das fürchte ich nicht. Tänzer bekomme ich sicher, die Herren sind ja alle so höflich, einen Anstandstanz mit mir zu tanzen. Nur merkt man den meisten dabei an, daß sie mich ›der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe‹ auffordern, weil ich nun mal zum Hause Aßmann gehöre, wenn auch als recht überflüssiges Anhängsel.«

»Aber Bettina – du sollst nicht so bitter werden.«

Das junge Mädchen küßte der alten Dame die Wange und lachte.

»Keine Spur von Bitterkeit, Liebe, Gute. Ich spreche nur Tatsachen aus und sehe die Verhältnisse mit klaren Augen an.

»Aber du fühlst dich wirklich nicht als ›überflüssiges Anhängsel‹?«

Bettina sah mit leuchtendem Blick in die guten alten Augen und atmete tief auf.

»Nein, das tue ich nicht, dank deiner Liebe und Güte.«

Die alte Dame trat zu einem Schränkchen und nahm etwas heraus.

»Komm einmal her, Bettina. Da ich dir das Kleid geschenkt habe, will ich auch für den passenden Schmuck dazu sorgen. Schau, hier hab ich ein Goldkettchen mit einer türkisenbesetzten Kapsel. Als ich jung war, trugen wir Mädchen sehr viel Türkisen. Dies Schmuckstück bekam ich von meiner seligen Mutter, als ich den ersten Ball besuchte. Ich erinnere mich ganz deutlich der Stunde, da sie es mir um den Hals legte. Ich stand auch, so wie du jetzt, fertig vor ihr. Mit einem Segenswunsch erhielt ich es, mit einem Segenswunsch schenke ich es dir. Möge es dir ein Talisman sein.«

Sie legte das Kettchen um den schlanken Mädchenhals. Ein paar große Tränen fielen aus Bettinas Augen auf die Hände der alten Dame. Bettinas Busen hob sich in zitternden Atemzügen.

»Großtanting, Großtanting!«

Mehr brachte sie vor Rührung nicht heraus.

Großtanting betrachtete lächelnd ihr Werk.

»So, Bettina – nun bist du fertig, nun laß die Tränen beiseite, mein liebes Kind.«

»Ach, du bist so gut, so himmlisch gut zu mir. Wie soll ich dir nur danken?«

»Dadurch, daß du recht vergnügt und fröhlich bist heute abend. Ich bin es auch – und du sollst wissen, warum. Ich hab' dir noch nicht gesagt, was der Brief enthielt, den ich heute von Ernst bekam. Er hat den ersten Preis bekommen in dem Preisausschreiben für das hiesige neue Theater. Sein Entwurf wird ausgeführt, und er ist mit der Oberleitung des Baues beauftragt worden. In wenig Wochen kommt er heim.«

Bettina hatte mit strahlender Miene zugehört. Das Herz schlug ihr bis zum Halse hinauf. Sie preßte die Hände gegeneinander:

»O – Großtanting – welch eine herrliche Botschaft! Gott – wie freue ich mich, wie freue ich mich.«

Die alte Dame lächelte mit feuchten Augen.

»Gelt, das freut dich auch. Und schau, ich mußte meiner Freude Ausdruck geben. Deshalb schenke ich dir das Kettchen, das mir sehr lieb und teuer war als Andenken an meine gute Mutter. Gar lieb schaut es an deinem weißen Hälschen aus, und die Farbe der Türkisen strahlt um einige Schattierungen dunkler aus deinen Augen wieder. Türkisen bedeuten Treue. Früher schmückte man deshalb die Verlobungsringe damit. Da – sieh den hier an meinem Finger – ich erhielt ihn zur Verlobung von meinem Bräutigam. Und ich konnte nicht anders, als ihm die Treue halten. Nun trag mein Kettchen als Sinnbild der Treue – sei treu in allen Lebenslagen – zuerst dir selbst, mein Kind. Und wenn du später, wenn ich mal nicht mehr bin, dies Kettchen in die Hand nimmst, dann denk immer daran, daß du mir mit deiner Liebe und Anhänglichkeit meinen Lebensabend verschönt hast, und daß ich es dir umlegte, als eine heilige Freude mein Herz erfüllte, die Freude über den Erfolg und die baldige Heimkehr von min leive Jung. – Aber nun geh – Tante Adolfine könnte dich noch brauchen, – ich will noch ein halbes Stündchen in meinem Lehnstuhl sitzen, ehe ich mich in den Gesellschaftstrubel wage, damit ich nicht zu schnell müde werde. Und halt – noch eins – sieh doch zu, ob du Onkel Peter nicht unbemerkt zu mir heraufschicken kannst. Ich möchte ihm mitteilen, was ich von Ernst erfahren habe, damit er es nicht heute abend von fremden Menschen zuerst erfährt.«

»Und Tante Adolfine?«

Großtanting lächelte.

»O – die soll es gern zuerst von andern hören, welch ein tüchtiger Mensch ihr Sohn geworden ist. Dann macht es ihr mehr Eindruck. Und sie wird nicht, gleich meinem Peter, die Fassung verlieren und dadurch verraten, daß zwischen Ernst und seinen Eltern all die Jahre ein Zerwürfnis bestand. Sie versteht sich sehr gut zu beherrschen.«

»Dann will ich gehen und dir Onkel Peter schicken. Nicht wahr, der wird sich auch sehr freuen?«

»Sicher, er leidet im geheimen sehr unter der Trennung von seinem Sohn.«

»Warum sprach er nur nicht ein Machtwort, und rief ihn trotz Tante Adolfines Gegenwehr heim?«

Großtanting klopfte ihr die Wange.

»Das ist das große Rätsel, welches noch niemand gelöst hat. Der Einfluß einer Frau auf den Mann, der sie liebt, ist ein gar mächtiger. Und Onkel Peter liebt seine Gattin noch heute zärtlich und innig, obwohl ich das bei ihrer Charakterverschiedenheit nie habe verstehen können. Darüber wollen wir uns also den Kopf nicht zerbrechen. Nun geh.«

»Ja, sofort. Nur laß dir erst noch einmal herzlich und innig danken für den schönen Schmuck.«

Sie küßte der alten Dame Wangen und Hände und eilte hinaus. Onkel Peter lief ihr draußen gerade über den Weg, und sie konnte ihren Auftrag ausrichten. Dann ging sie hinunter in die Gesellschaftsräume, um noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Tante Adolfine kam ihr schon entgegen. Sie trug ein sehr kostbares schwarzes Spitzenkleid, und sah sehr schön und stattlich aus, hatte aber einen verärgerten Zug im Gesicht.

»Wo bleibst du nur so lange, Bettina? Du brauchst zum Ankleiden wahrhaftig länger als ich. Es gibt noch allerlei für dich zu tun.«

»Verzeih, Tante Adolfine, ich war noch bei Großtanting, um zu sehen, ob sie mich nötig hätte. Ich hole schnell alles nach. Was soll ich tun?«

Frau Adolfine hatte Bettina mit scharfen Blicken gemustert und sofort das eigenartige Schmuckstück an ihrem Halse bemerkt.

»Was trägst du da für einen Schmuck um den Hals?« fragte sie scharf.

»Großtanting hat ihn mir eben geschenkt.«

Die Tante faßte schnell danach und betrachtete prüfend die Kapsel.

»Geschenkt? – So ein wertvolles Stück? Das ist wohl ein Irrtum. Diese kunstvolle Goldschmiedearbeit ist sehr kostbar. Großtante hat dir das wohl nur geliehen und nicht geschenkt.«

Bettina war glühend rot geworden.

»Ich glaube nicht, daß Großtanting von mir verlangen würde, daß ich geliehenen Schmuck trage,« sagte sie leise.

»Hm – bist du stolz. Ich sag' es ja immer, Großtante verwöhnt dich. Daß sie aber so verschwenderisch ist, dir aus dem Stegreif ein so kostbares Geschenk zu machen, das glaube ich nicht.«

Das junge Mädchen behielt nur mühsam ihre Fassung.

»So frage Großtanting selbst, Tante Adolfine. Und sage mir nun, bitte, was für mich zu tun ist.«

Frau Adolfine ließ nur widerwillig das hübsche Schmuckstück aus den Fingern gleiten und nahm sich vor, Tante Emma gegenüber ihr Befremden über das Geschenk zum Ausdruck zu bringen. Ihre kalten Augen blickten sehr hart und streng, als sie Bettina auftrug, noch einen Karton mit Kotillonorden auszupacken und dafür zu sorgen, daß die Musiker zu essen bekämen, ehe die Gäste erschienen. Froh, aus dem Bereich der kalten Augen zu kommen, eilte Bettina davon. Bald darauf traten die ersten Gäste ein. Peter Aßmann kam gerade im letzten Augenblick noch die Treppe herab, um sie an der Seite seiner Gattin zu empfangen. Er sah etwas erregt aus, und seine Augen glänzten froher als sonst. Adolfine beachtete es jedoch nicht.

Auch Georg war zur Stelle. Tadellos von dem wohlfrisierten Scheitel bis zu den Spitzen seiner Lackstiefeln herab, war er das Urbild des Salonhelden, der, seines vorteilhaften Eindrucks sicher, mit sieghaftem, selbstgefälligem Lächeln um sich schaute.

Auf der Treppe war er Bettina begegnet, die hinauf ging, um Großtanting zu holen. Er stutzte etwas beim Anblick ihrer lichtvollen, holdseligen Erscheinung und warf einen prüfenden Blick aus zusammengekniffenen Augen hinter ihr her.

»Hm – die entwickelt sich beinahe zu einer Schönheit,« dachte er überrascht.

Inzwischen trafen schnell hintereinander die Gäste ein. In dem großen Empfangsraum, dessen Wände kostbare alte Gobeline schmückten, hatten verschiedene ältere Herrschaften Platz genommen. Da war zuerst Bürgermeister Langhammer mit seiner großen, starken Gattin. Sie wurde von losen Zungen das Riesenbaby genannt, weil auf ihrem kolossalen Körper ein unglaublich kindlich dreinschauendes Gesicht mit ewig erstaunten Augen saß. Der stattliche Bürgermeister mit dem kühn aufgezwirbelten Lippenbart sah fast klein neben ihr aus und suchte sich durch schneidig militärische Haltung neben ihr zu behaupten. In einer gemütlichen Ecke auf Polstermöbeln saßen die Damen, deren Männer zu einer Gruppe vereinigt daneben am Kamin standen. Der alte Herr mit dem weißen Knebelbart und dem blauroten Gesicht war Geheimrat Wolter. Er erzählte mit Vorliebe Witze, denen die Pointe fehlte, und belachte sie zuerst, was den Vorteil hatte, daß die andern wußten, wann sie mitlachen mußten. Die kleine rundliche Matrone mit dem krampfhaft festgehaltenen Lächeln und dem etwas verblichenen fliederfarbigen Seidenkleid war seine Gattin. Ihre Augen, über denen die Lider nervös zuckten, schienen fortwährend um Entschuldigung zu bitten, daß sie auf der Welt war.

Neben ihr saß Frau Konsul Hagemann, eine stolze, üppige Erscheinung mit weißblondem Haar und ebensolchen Augenwimpern über den schläfrig blickenden, halb geschlossenen Augen. Sie hatte eine sehr große, schmale Nase, die sich seltsam genug in dem runden fleischigen Gesicht ausnahm, und war mit sehr viel Brillanten behängt. Ungemein hochmütig sah sie aus, und dazu hatte sie allen Grund. Denn sie war die Tochter eines australischen Millionärs, der sein Vermögen in einer Großschlächterei zusammengescharrt hatte, wovon aber niemand unterrichtet war. Außerdem war sie die Gattin eines ebenso reichen Mannes und die Mutter einer einzigen Tochter – und das will immerhin etwas heißen. Es war also nur natürlich, daß sie vornehm lispelte und ein wenig mit der Zunge anstieß, daß sie jeden Gast, der eintrat, durch ihr goldenes, mit echten Steinen besetztes Stiellorgnon betrachtete und fast über jeden eine abfällige Meinung hatte. Ebenso natürlich war es, daß die arme kleine Geheimrätin mit ihrem vertragenen Seidenkleid all ihre Worte wie ein Evangelium aufnahm.

Der Gatte dieser höchstbedeutenden Dame lehnte mit untergeschlagenen Armen neben ihr am Kamin und beschränkte sich aufs Zuhören. Er spielte mit Vorliebe den stummen Denker, pflegte sich für jede gesellige Vereinigung mit einigen geistigen Schlagern auszurüsten, die in anderen Köpfen als dem seinen geboren waren, und wartete den ganzen Abend auf den Zeitpunkt, daß er diese Geistesblitze passend anbringen konnte. Darin hatte er es zu solcher Fertigkeit gebracht, daß man ihn wirklich für einen geistreichen Mann hielt. Vor ihm bewegte sich lebhaft ein kleiner, zierlicher Herr mit dünnem blonden Haar und Bart und mit vor Vergnügen tanzenden Augen. Es war Sanitätsrat Filtner. Alles, was er in seiner lebhaften Art hervorsprudelte, zündete. Er war der geborene Komiker und hatte immer die Lacher auf seiner Seite. Sein Mundwerk ging wie eine Wassermühle. Er pflegte von sich selbst zu sagen: »Wenn ich mal sterbe, legt mir nur ein Schloß extra vor den Mund, sonst rede ich weiter.« Jedenfalls war er aber trotzdem ein anerkannt tüchtiger, hervorragender Mensch, und was er sagte, hatte trotz aller Lustigkeit Hand und Fuß. Seine Gattin, die schlanke, brünette Frau in dem hellen Seidenkleid, welche Frau Konsul Hagemann gegenüber in einem Sessel lag und anmutig den großen Straußenfederfächer bewegte, war um so ruhiger. Sie unterhielt sich, lächelnd ihre schönen Zähne zeigend, mit Oberst von Sanden, der ihr ein wenig in allen Ehren den Hof machte, was er sich als Junggeselle leisten konnte. Während er mit ihr plauderte, sah er zu einer Gruppe junger Offiziere hinüber, die mit Georg Aßmann und einigen andern jungen Herren in Zivil Sturm liefen auf die Tanzkarten der jungen Damen.

Georg Aßmann plauderte liebenswürdig mit allen und erwiderte mit selbstgefälligem Lächeln alle die heißen oder schmachtenden Blicke, die ihn trafen Die jungen Damen zeichneten ihn sehr aus, denn er war nicht nur ein schöner Mann, sondern vor allem eine begehrenswerte Partie.

Drüben am Fenster stand Hauptmann Retzschkau mit seiner jungen Frau, einer schlanken, ätherischen blonden Erscheinung. Die beiden plauderten mit Leutnant von Bühren, vor dem vorsichtige Mütter ihre Töchter warnten. Denn so hübsch und liebenswürdig er war, so tüchtig im Dienst und beliebt bei seinen Vorgesetzten – er hatte einen großen Fehler – er war arm – sehr arm und bekam seine sehr knappe Zulage von einer Schwester seiner Mutter, die diese Zulage nur mit großen Opfern ermöglichte. Seine Eltern waren beide schon tot. Bühren war mit Georg befreundet, das heißt, er hatte ihn schon einige Male mit einer kleinen Anleihe bedacht. Der junge Offizier wußte trotz aller Sparsamkeit nicht, wie er mit seiner lächerlich kleinen Zulage auskommen sollte, und hatte in seiner Bedrängnis Georg verschiedene Male um eine kleine Summe gebeten. In Kleinigkeiten war Georg Aßmann groß. Bis zu hundert Mark ließ er es kommen – darüber hinaus nicht. Er hatte seine Grundsätze. Und Bühren wußte das und blieb bescheiden. Er hatte sich auch nun beinahe an die ›Armeleutnantsmisere‹ gewöhnt, die sein Schicksal war.

Bei den jungen Damen war Bühren trotz der Mahnungen der Mütter sehr beliebt. Sein gutherziges, bescheidenes Wesen, sein trotz aller Sorgen heiterer Sinn nahm sie für ihn ein. Und er war ein sehr schneidiger, flotter Tänzer.

Bettina stand bei den jungen Damen, mit denen sie herzlich wenig anzufangen wußte. Ihre Welt lag so weit ab von diesem lebenslustigen, gedankenlosen Treiben der andern. Sie wußte nicht mitzusprechen von Flirt, Tennis, Eissport, Bällen und Theater. Und die gehaltvolle, ernste Lektüre, die sie mit Großtanting trieb, war den jungen Damen unbekannt. Also konnte sie auch darüber nicht mit ihnen sprechen.

Außerdem wußten all die jungen Mädchen, daß Bettina hier im Hause sozusagen das Gnadenbrot aß, und sahen mit einer gewissen mitleidig herablassenden Duldung auf sie herab. Sie betrachteten sie nicht als gleichberechtigt. Georg hätte das sehr leicht ändern können. Bei seiner Beliebtheit in Damenkreisen hätte er seiner Base, wenn er gewollt hätte, sehr leicht eine andere Stellung in der Gesellschaft schaffen können. Sie war ihm jedoch nur eine sehr untergeordnete Persönlichkeit, und er ließ das so deutlich durchblicken, daß man sich nicht die Mühe nahm, sich viel mit ihr zu beschäftigen.

Bettinas Augen suchten immerfort Großtanting. Diese hatte einige alte Freunde begrüßt und ging eben quer durch den Saal. Dabei entfiel ihr der seidene Schal, den sie um die Schultern trug. Bettina lief hinüber, ihn aufzuheben, froh, einen Grund zu haben, sich ihr zu nähern. Zugleich mit ihr langte Leutnant Bühren bei der alten Dame an. Gleichzeitig bückten sie sich nach dem Schal und lachten sich an, als sie ihn zusammen aufhoben. Großtanting lachte mit und dankte den beiden jungen Leuten. Bühren bat sich bei dieser Gelegenheit Bettinas Tanzkarte aus und unterhielt sich sehr nett und artig mit ihr. Dann wurde er von einem älteren Herrn angesprochen und mit fortgeführt. Bettina hing sich an Großtantings Arm.

»Gottlob, daß ich wieder bei dir bin, Großtanting. Ganz beklommen ist mir unter all den fremden Menschen. Laß mich bei dir bleiben, ja?«

»Aber Kind, du sollst dich doch unter das Jungvolk mischen, sollst tanzen und lustig sein. Hast dich doch eben mit Herrn von Bühren ganz nett unterhalten.«

Bettina seufzte.

»Ach, Großtanting, so nett wie Herr von Bühren ist auch sonst hier keiner zu mir. Ich passe nicht in diese Gesellschaft, und man läßt es mich deutlich genug fühlen, daß ich eigentlich nicht zu ihnen gehöre.«

»Ach, das bildest du dir wohl nur ein, mußt nicht so empfindlich sein,« erwiderte Großtanting tröstend, obwohl sie wußte, daß Bettina recht hatte.

»Nein, es ist gewiß nicht Einbildung und Empfindlichkeit. Es ist ja auch so verständlich, ich nehme es ihnen gar nicht übel. Aber laß mich an deiner Seite bleiben, dann ist mir viel froher zumute.«

»So bleib bei mir, Dummerchen. Hast du meine alte Freundin, Frau Sanitätsrat Dönges schon gesehen?«

»Ja, Großtanting, die sitzt mit Herrn Professor Kretner drüben im kleinen Salon. Bergrat Seltmann und seine Gattin sind auch dabei.«

»Ah, also alle meine Getreuen. So führe mich zu ihnen, Bettina. Auf ein Plauderstündchen mit diesen freien Geistern freue ich mich. Und davon kannst auch du lernen, wenn es mir auch für dich lieber wäre, wenn du statt einiger Lebensweisheit ein bißchen fröhliche Lebenstorheit in dich aufnähmst.«

Sie schritten beide durch den Saal nach einem kleineren Nebensalon hinüber. Ehe sie die Tür erreicht hatten, trat ihnen Frau Adolfine in den Weg.

»Ich hörte vorhin von Bettina, du hättest ihr dies wertvolle Schmuckstück geschenkt, Tante Emma. Das ist doch wohl ein Irrtum. Oder solltest du nicht wissen, daß dieses schöne alte Schmuckstück schon durch die wertvolle Goldschmiedearbeit einen Wert von einigen hundert Mark hat?«

Großtanting sah ruhig in das verärgerte Gesicht Adolfines und wandte sich dann an Bettina.

»Geh doch schnell mal hinauf in mein Zimmer, Kind, ich habe mein Riechsalz vergessen,« sagte sie bittend.

Bettina eilte mit rotem Kopf davon. Tante Adolfines Worte waren ihr peinlich, weil sie einen Tadel für Großtanting enthielten.

Diese legte, nachdem sich Bettina entfernt hatte, ihre Hand auf Frau Adolfines Arm.

»Ich schickte Bettina fort, weil ich es nicht liebe, von dem Geldwert gemachter Geschenke in Gegenwart der beschenkten Person zu reden. Übrigens hast du recht, das Kettchen mit der Kapsel würde zwei- bis dreihundert Mark wert sein. Es hat aber noch einen viel größeren idealen Wert für mich gehabt. Meine Mutter schenkte es mir, als ich das erste Mal zum Balle ging, als eine Art Talisman gegen die Gefahren des Ballsaals. Bettina ist ein so armes, bedauernswertes Geschöpf, sie hat schon so viel im Leben verloren. Und kein sorgendes Mutterauge wacht über sie. Deshalb schenkte ich ihr das Kettchen als Talisman. Du hast doch nichts dagegen einzuwenden, liebe Adolfine?«

Diese hätte sehr viel dagegen einzuwenden gewußt, aber dem klugen, gutmütig überlegenen Lächeln der alten Dame gegenüber wagte sie nichts weiter zu sagen, als:

»Es ist mir nur darum zu tun, daß Bettina nicht verwöhnt wird.«

»Laß gut sein, Adolfine. Auf Rosen ist das arme Ding nicht gebettet. Und ein klein bißchen Liebe und Güte braucht solch junges Menschenkind, soll es nicht verbittern.«

Adolfine lachte gezwungen.

»Du bist eine große Idealistin, Tante Emma, trotz deiner Jahre.«

Die alte Dame nickte.

»Ja, und hoffentlich bleibt mir mein bißchen Idealismus treu, so lange ich noch lebe.«

Da Bettina jetzt zurückkam, ging Frau Adolfine davon. Das junge Mädchen legte zitternd ihre Hand auf den Arm der alten Dame.

»War Tante Adolfine sehr bös, daß du mir ein so kostbares Geschenk gemacht hast?« fragte sie leise.

Großtanting lachte und sah sie an.

»Hu – was machst du für ängstliche Augen. Gar nicht, sie wollte nur hören, ob es ein Irrtum von dir war. Und wenn sie auch bitterböse gewesen wäre, mich kann heute nichts aus meiner freudigen Stimmung bringen. Sei also ruhig, Blondchen, und freue dich mit mir über den Erfolg von min leive Jung.«

»Was hat Onkel Peter dazu gesagt, Großtanting?«

Die alte Dame atmete tief auf.

»Gar nichts, Bettina, aber ich hab' ihn seit seinen Kindertagen das erste Mal wieder weinen sehen.«

»Onkel Peter ist gut.«

»Ja, gottlob, das ist er. Er müßte ja auch kein Aßmann sein.«

»Georg ist auch ein Aßmann – und er ist gewiß nicht gut.«

»Nein, Georg ist kein Aßmann – er ist seiner Mutter Sohn. Aber nun komm, Blondchen, hier sind meine alten Freunde. Setz dich zu uns, du darfst zuhören, was kluge Menschen reden.«

Großtanting wurde herzlich begrüßt von ihren Bekannten, und von diesen vier geistig bedeutenden Menschen wurde auch Bettina mit lächelnder Güte aufgenommen.

»Kommen Sie, Fräulein Goldblondchen, wir alten Leute können einen Sonnenstrahl brauchen, uns daran zu wärmen,« sagte Professor Kretner lächelnd zu ihr.

Bettina setzte sich neben Großtanting nieder und war froh und glücklich, als hätte sie einen sicheren Hafen erreicht.

*

Als Frau Adolfine Großtanting verlassen hatte, sah sie noch einen verspäteten Gast kommen. Es war der Geheime Baurat Bürger. Sie ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Er küßte ihr die Hand und sah aus seinem klugen, scharfmarkierten Gesicht mit lachenden Augen in die ihren.

»Ich habe mich verspätet, meine gnädige Frau. Meine Gattin wurde in letzter Stunde noch unwohl. Nein – nichts Schlimmes, – Kopfweh – Migräne, ihr altes Leiden. Sie bedauert sehr. Aber ich wollte heute nicht fehlen – hoffentlich komme ich noch zurecht, um Ihnen als Erster zu gratulieren zu dem Erfolg Ihres Sohnes. Großartige Leistung – auf Ehre. Das ganze Preisrichterkollegium ist rein aus dem Häuschen vor Entzücken. Wir werden ein Theater haben, wie keine zweite Stadt in Deutschland. Einstimmig wurde der Entwurf Ihres Herrn Sohnes angenommen und zur Ausführung bestimmt. Es war ein Jubel, als sich herausstellte, daß ein Sohn unserer Stadt den Preis davongetragen hat. Also meinen innigsten Glückwunsch, verehrte gnädige Frau. Der Name Ernst Aßmann wird bald in aller Munde sein. Sie können stolz sein auf ihren Sohn.«

Adolfine hatte diese lebhaft hervorgesprudelte Rede mit unbeschreiblichen Gefühlen angehört. Ein Sausen und Surren fuhr ihr durch den Kopf, und die Lichter im Saal drehten sich einige Sekunden in schneller Jagd vor ihren Augen. Aber Großtanting hatte recht gehabt, wenn sie auf Frau Adolfines Selbstbeherrschung baute. Kein Zug in ihrem Gesicht verriet die Gefühle, die in diesem Augenblick auf sie einstürmten. Lächelnd und einige Worte des Dankes sagend, ließ sie sich die Hand küssen. Sie durfte mit keinem Atemzug verraten, daß ihr diese Nachricht neu und überraschend kam, wenn sie nicht offenbaren wollte, daß zwischen Ernst Aßmann und seinen Eltern ein Zerwürfnis bestand.

Und neben dem Stolz auf den Erfolg ihres Sohnes erwachte noch einmal all der Groll über sein eigenmächtiges Verhalten. Diese beiden Gefühle rangen in ihrer Seele um die Herrschaft. Sie war zu kleinlich, um in diesem Augenblick zu vergessen, wie sehr sie sich über den Ungehorsam ihres Sohnes geärgert hatte. Fast wäre es ihr lieber gewesen, er hätte draußen im Leben Schiffbruch gelitten und kehrte gedemütigt heim, als daß sein Eigenwille durch Erfolg gekrönt wurde. Aber natürlich durfte kein Mensch merken, was in ihr vorging. Sie mußte sich des Erfolges ihres Sohnes vor aller Augen freuen.

Und plötzlich dachte sie mit Schrecken an ihren Mann und Georg. Wenn diese beiden die Nachricht von Ernsts Erfolg so plötzlich vorgesetzt bekamen, würden sie sich nicht in der Überraschung verraten?

Sie geleitete mit liebenswürdigen Worten ihren Gast zu einer Gruppe von Herren und Damen, denen er seine Neuigkeit mitteilen konnte und entschuldigte sich, um ihren Mann aufzusuchen. Er stand lächelnd hinter Großtantings Sessel und unterhielt sich mit ihr und ihren Freunden. Adolfine trat zu ihm heran.

»Einen Augenblick, Peter,« sagte sie und führte ihn abseits.

Peter Aßmann kannte seine Frau sehr genau. Er allein merkte an dem unruhigen Blick ihrer Augen, daß sie aus ihrem seelischen Gleichgewicht gerissen war.

»Was wünschest du, liebe Adolfine?«

Sie sah an ihm vorbei auf all die plaudernden, lachenden Menschen.

»Soeben erfuhr ich vom Geheimen Baurat Bürger, daß Ernst sich unter den Bewerbern befand, die sich am Preisausschreiben für unser neues Stadttheater beteiligten. Sein Entwurf erhielt den Ersten Preis und ist zur Ausführung bestimmt worden. Das wollte ich dir sagen, damit du dich in der Überraschung nicht verrätst. Es ist nicht nötig, daß man jetzt noch erfährt, daß Ernst gegen unsern Willen Architekt wurde?«

Peter sah lächelnd in ihre unruhigen Augen.

»Du brauchtest deshalb nicht in Sorge zu sein. Ich suche schon eine ganze Weile nach einer Gelegenheit, unbemerkt mit dir sprechen zu können, um dir dieselbe Mitteilung zu machen. Ich wußte bereits davon durch Großtante.«

Adolfine sah starr in sein Gesicht.

»Woher wußte sie davon?«

»Durch Ernst selbst.«

Ihr Gesicht rötete sich. Der scharfe Zug um den Mund vertiefte sich.

»Also ihr hat er es mitgeteilt, und wir müssen es von fremden Menschen erfahren,« rief sie heftig.

Er sah mit stillem, ernstem Vorwurf in ihre Augen.

»Tante Emma hat ein größeres Anrecht darauf, als wir. Ihr hat es Ernst zu danken, daß er sein Studium vollenden konnte, denn sie hat ihm die Mittel dazu gewährt. Wir haben uns ja auf den Standpunkt des Fremdseins mit ihm gestellt. Mit keinem Wort haben wir seine monatlichen Berichte erwidert. Es darf uns nicht wundernehmen, wenn er uns erst in zweiter Linie berücksichtigt. In einigen Tagen ist sein laufender Monatsbericht fällig, dann wird er uns schon Mitteilung machen. Nach allem konnte er nicht erwarten, daß uns sein Erfolg mehr interessieren würde, als alles, was er bisher draußen getrieben und erreicht hat. Sei also nicht ungerecht, Adolfine, und freue dich mit mir, daß unser Sohn ein tüchtiger Mensch geworden ist. Es hätte auch anders kommen können. Ich weiß – im Grunde grollst du ihm, gleich mir, längst nicht mehr, willst es nur nicht eingestehen.«

Frau Adolfine biß die Zähne in die Unterlippe. Sie hatte wieder den Groll gegen den starrköpfigen Sohn in sich aufsteigen fühlen, der es so gar nicht nötig gefunden hatte, die Eltern für sein eigenmächtiges Handeln um Verzeihung zu bitten oder gar die Hand zur Versöhnung zu bieten. Ihres Gatten eindringliche Worte, sein ernster Blick zeigten ihr, wie sehr er unter dem Zerwürfnis mit dem Sohne gelitten hatte. Und das blieb nicht ohne Eindruck auf sie. Hatte sie nicht auch darunter gelitten? Wenn sie es sich auch nicht eingestanden hatte, fühlte sie doch, daß es so war.

Und zugleich regte sich zum ersten Male etwas wie Reue in ihrem Herzen, daß sie Ernst all die Jahre so schroff gegenüber gestanden hatte, Ihr Mann hatte recht, sie durfte sich nicht wundern, wenn er zuerst Großtanting Mitteilung gemacht hatte.

Jedenfalls war sie nun doch etwas aus ihrem seelischen Gleichgewicht gerissen. Peter sah in ihren Augen etwas wie Tränen funkeln. Das machte ihn ganz fassungslos.

»Adolfine!« rief er weich und herzlich.

Sie ruckte sich zusammen und zerdrückte hastig die Träne in ihren Augen.

»Bitte, verständige auch Georg davon. Ich muß jetzt das Zeichen zum Beginn der Tafel geben,« sagte sie etwas unsicher, winkte ihm flüchtig zu und ging davon.

Peter sah ihr eine ganze Weile mit sonderbarem Ausdruck nach. Er bemerkte selten genug eine Gefühlsregung bei seiner Frau. Sie verlor nie ganz die Selbstbeherrschung. Daß ihr aber heute der Gedanke an ihren ältesten Sohn sehr nahe ging, merkte er recht wohl.

Er suchte dann Georg auf.

Dieser nahm die Mitteilung mit unbewegtem, kühlem Erstaunen auf. Ihm war der Bruder immer eine Art Abenteurer gewesen, von dem nicht viel Gutes zu erwarten war. Und nun entpuppte er sich als so eine Art Berühmtheit. Jedenfalls brachte ihn diese Eröffnung in keiner Weise aus seiner Seelenruhe.

»Es ist gut, Vater, du brauchtest nicht in Sorge zu sein, daß ich mich verraten hätte. Es braucht ja niemand zu wissen, daß wir im Grunde nur noch sehr lose mit ihm zusammenhängen,« sagte er gelassen.

Peter nickte.

»Das wird nun wieder besser werden, wenn Ernst heimkehrt.«

»So? Er kehrt zurück?«

»Sicher. Er wird sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, Frieden mit uns zu schließen.«

»Wohl möglich. Aber du gestattest, Vater, ich muß Fräulein Hagemann zu Tisch führen, ich sehe, sie wartet bereits.«

Damit ging er eilig auf eine schlanke, blonde Dame zu, die genau so hochmütig und herablassend aus den blauen, schläfrigen Augen blickte, wie ihre Mutter.

Bei Tische ließ es sich der Geheime Baurat Bürger natürlich nicht nehmen, einen Toast auf den Sohn des Hauses auszubringen. »Der angehende Stern am Himmel der Baukunst, der unserer lieben Vaterstadt einen Tempel der Kunst aufbauen wird, wie er schöner und herrlicher nicht gedacht werden kann, lebe hoch!« – Nun war Ernst Aßmann plötzlich in aller Mund. Jeder wollte Näheres von ihm wissen. Man bestürmte alle Familienmitglieder, und je nach der Quelle, aus der man schöpfte, erhielt man ein entsprechendes Bild des preisgekrönten Architekten. Großtanting malte in den sattesten, leuchtendsten Farben und zitterte vor Stolz über ihren leive Jung. Peter und Adolfine zeigten eine stolze, abwehrende Bescheidenheit, und Georg lieferte ein sehr wässeriges Bild seines Bruders. Er ärgerte sich, daß all die jungen Damen, die sich bisher eifrig um seine Gunst bemüht hatten, sich so angelegentlich nach Ernst erkundigten. Den ganzen Abend gab es keinen anderen Gesprächsstoff mehr. Auch nachher, während des Tanzes, mußte er immer wieder Auskunft geben. Er wünschte verdrießlich seinen Bruder ins Pfefferland. –

Nach der Tafel hatte sich Großtanting bald zurückgezogen. Bettina wäre am liebsten mit ihr gegangen, aber das ging leider nicht, da Tante Adolfine wünschte, Bettina bis zum Schluß zur Hand zu haben. Auch war ihre Tanzkarte gefüllt, und sie mußte aushalten.

Sie atmete jedesmal wie erlöst auf, wenn einer dieser Pflichttänze zu Ende war. Die Herren kamen auch alle nicht in Stimmung mit ihr. Bettina merkte ihnen das Gezwungene an und gab sich sehr zurückhaltend und still. Die Gabe, gedankenlose Redensarten auf den Markt zu bringen, fehlte ihr vollständig. Man fand sie langweilig.

Nur Leutnant von Bühren traf den rechten Ton für sie. War er doch selbst so ein Stiefkind des Glücks. Und er war mit Bettinas Bruder zusammen im Kadettenkorps gewesen, wußte auch, daß dieser dem Armeleutnantselend mit einem Schuß ins Herz ein Ende gemacht hatte. Natürlich sprach er nicht mit ihr über den Bruder, aber Bettina wußte, daß er ihn gekannt hatte. Bei einer früheren Begegnung hatte er es ihr erzählt.

Bühren gegenüber ging Bettina etwas aus ihrer stillen Zurückhaltung heraus. Sie plauderte ganz zutraulich mit ihm, und er blieb in ihrer Gesellschaft, bis der nächste Tänzer sie ihm entführte. Auch später verplauderte er noch eine Pause mit ihr. Er fühlte sich von ihrer lieblich-ernsten Anmut gefesselt. Als er sich von ihr verabschiedete, entstieg ein Seufzer seiner Brust.

»Das wäre nun mal so ein süßes, liebes Mädel, das einem gefallen könnte. Aber du lieber Himmel, das wäre ja der Anfang vom Ende. Die ist ja noch ärmer als ich – so etwas kann sich unsereiner natürlich nicht leisten,« dachte er und suchte den Gedanken an Bettina zu verbannen. –

Diese dachte, ehe sie nach Schluß des Festes zu Bett ging, mit einem Seufzer der Befriedigung, daß sie nun in den nächsten Wochen vor Ballfreuden Ruhe haben würde.

»Aber Herr von Bühren ist doch viel netter und liebenswürdiger als die andern alle. Mit ihm kann man doch reden, wie einem ums Herz ist, und er ließ es mich nicht so merken, daß er nur aus Pflichtgefühl mit mir tanzte. Fast glaube ich, es hat ihm wirklich Vergnügen gemacht,« dachte sie und legte sorglich das Kettchen mit den Türkisen in ein Kästchen. Sie betrachtete es liebevoll und legte ihre Wange schmeichelnd daran, als wäre es Großtantings liebe Hand.

Ehe sie einschlief, sagte sie plötzlich halblaut vor sich hin: »Nun wird Ernst Aßmann bald heimkommen.« Und mit dem Gedanken an ihn schlief sie ein.

*

Der ›verlorene Sohn‹ sollte heute ins Vaterhaus zurückkehren. Zwar hatte man ihm kein Kalb geschlachtet, aber eine Art Festmahl hatte Frau Adolfine doch herrichten lassen.

Nichts an ihr verriet ihre innere Erregung. Nur ihre Wangen brannten etwas heißer als sonst, und ihre Augen hatten einen unruhigen, unsicheren Blick. Auch ihrem Tun fehlte die sonstige Stetigkeit. Bettina hatte es heute doppelt schwer. Einmal sollte sie dieses tun und jenes lassen, und dann war es wieder umgekehrt. Dabei war das junge Mädchen selbst in fieberhafter Erregung.

Durch den steten Umgang mit Großtanting war ihr Ernst Aßmann eine vertraute Persönlichkeit. Sie hatte fast alle seine Briefe an die alte Dame mitgelesen, hatte seinen Werdegang verfolgt, und ihr Herz schlug ihm erwartungsvoll entgegen. Sein Ringen und Kämpfen draußen in der Welt, sein heißes Streben nach Vollendung hatte ihre Bewunderung erregt, und seine warmherzigen, liebevollen Worte für Großtanting hatten verwandte Saiten in ihrer Brust berührt. Nun sah sie seinem Kommen mit ebenso großer Erregung entgegen, wie Großtanting. Diese saß schon seit Stunden in besonders festtägigem Anzug in ihrem Lehnstuhl auf dem Erkerplatz und sah versonnen zum Fenster hinaus auf den Fluß, der an den Rändern zugefroren war. Ihre Hände waren wie im Gebet gefaltet, und in ihren Augen lag erwartungsvoller Glanz.

»Min leive Jung – min leive Jung,« sagte sie manchmal vor sich hin mit innigem Ausdruck. Hier in ihrem Lehnstuhl wollte sie auf ihn warten, hier sollte er sie finden, wie er sie vor mehr als zehn Jahren verlassen hatte. Erst mochte er drüben Frieden machen mit seinen Eltern, ihnen sollte er zuerst allein gehören. Dann aber wollte sie ihn auch ein Stündchen für sich allein besitzen. –

Als Bettina mit ihrer Arbeit draußen fertig war, kam sie zu Großtanting ins Zimmer.

»Nur eine halbe Stunde noch, Großtanting – dann ist er hier.«

Die alte Dame nickte verklärt.

»Ja – dann ist er hier.«

Bettina atmete tief und schwer.

»Mir ist so feierlich zumute, Großtanting. Wie schön, daß Ernst so stolz und gerechtfertigt heimkehren kann ins Vaterhaus. Wenn er Schiffbruch da draußen gelitten hätte, wie bitter wäre dann seine Rückkehr geworden.«

»Dann wäre er wohl nie heimgekehrt, Bettina. So weich sein Herz ist, so hart ist sein Kopf.«

Bettina saß auf ihrem alten Platz und verschränkte die Hände um die Knie.

»Tante Adolfine ist auch sehr erregt, ich merke es wohl, so sehr sie es verbergen will. Sie hat mir zweimal Butter für die Leute herausgegeben.«

Großtanting lächelte über diese erschöpfende Beweisführung.

»Er ist ja doch ihr Sohn – und sie ist von Fleisch und Blut, nicht von Stein. Und Onkel Peter – ist er zu Hause geblieben, Bettina?«

Die lachte leise.

»Ja, Großtanting. Er sitzt im Wohnzimmer und liest die Zeitung. Aber er hielt sie verkehrt und merkte nicht, daß die Buchstaben auf dem Kopfe standen. Und wenn Tante Adolfine durch das Zimmer ging, dann sah er ihr nach und lächelte. So lächelst du zuweilen, Großtanting. Ich glaube, er freut sich, daß sie heute nicht ganz so ruhig ist wie sonst.«

Die alte Dame klopfte Bettina die Wange.

»Was bist du für eine scharfe Beobachterin, Kind. Man muß sich vor dir in acht nehmen. Also mein Peter hält die Zeitung verkehrt und lächelt. – Und Georg?«

»Der ist, wie jeden Tag, in die Fabrik gegangen. Tante Adolfine wollte ihn zurückhalten. Da machte er ein ärgerliches Gesicht.«

›Hat es Ernst ausgehalten, zehn Jahre lang auf dieses Wiedersehen zu warten, so werde ich meine Sehnsucht nach ihm auch bezwingen können, bis ich heute mittag heimkomme,‹ sagte er, als er ging.«

Die alte Dame nickte.

»Sie werden nie einen guten Faden miteinander spinnen, diese beiden Brüder. Es ist ein Glück, daß ihr Beruf sie trennt. Wären sie, dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend, beide in die Fabrik eingetreten, würde es immer Unfrieden geben.« – –

Frau Adolfine saß nun ihrem Gatten gegenüber am Fenster des Wohnzimmers, als wäre dies ein Tag wie andere auch. Ihre Hände hielten eine Stickerei, aber sie führte die Nadel wie im Traum. Als endlich draußen der Wagen vorfuhr, der den heimkehrenden Sohn brachte, zuckte sie einen Augenblick empor, als wollte sie aufstehen und ihm entgegeneilen. Aber sie sank wieder in sich zusammen und stichelte weiter an ihrer Arbeit. Nicht einmal den Kopf wandte sie, um ihn durch den Vorgarten kommen zu sehen.

Peter hatte seine Zeitung weggelegt und war aufgesprungen. In erwartungsvoller Haltung stand er da, die zitternde Hand auf den Tisch gestützt. Nun hörten sie draußen auf dem Korridor einen raschen Schritt, eine männliche, volltönende Stimme.

Ein leises Beben flog über die Gestalt des alten Herrn, als er diese Stimme hörte. Als Ernst das Vaterhaus verließ, war seine Stimme heller gewesen, war noch leicht umgeschlagen von der Höhe zur Tiefe. Jetzt klang sie voll und fest. Aus dem Jüngling war inzwischen ein Mann geworden.

Und nun öffnete sich die Tür. Noch im Mantel, den weichen Filzhut in der Hand, stand eine kraftvolle, schlanke Männergestalt auf der Schwelle. Aus dem scharf markierten, großzügigen Gesicht sahen die großen, machtvollen Augen forschend in das Zimmer hinein. Ernst zog die Tür hinter sich ins Schloß. Und dann flog plötzlich der Hut in weitem Bogen in eine Ecke und Vater und Sohn hielten sich umschlungen, wortlos vor Bewegung. Sie fühlten in diesem Augenblick beide, daß nur der starke Wille der jäh erblaßten Frau da drüben am Fenster sie all die Jahre getrennt hatte. Im Herzen waren sie trotz allem vereint gewesen. In Frau Adolfine stieg etwas würgend im Halse empor, als sie auf die beiden umschlungenen Männer blickte. Ihrem Manne gehörte der erste Gruß des Sohnes, der vorläufig ihre Gegenwart gar nicht beachtete. Sie hatte ihm verzeihend, großmütig die Hand zum Gruß bieten wollen, und er sah es nicht einmal, hielt nur den Vater, als wollte er ihn nicht mehr lassen. Sie fühlte in diesem Augenblick die ganze Bitterkeit der Erkenntnis, daß sie ihrem Sohne fremd geworden war, aber sie wollte sich die Schuld daran nicht eingestehen. In ihres Mannes Gebaren lag eine stumme Abbitte dem Sohne gegenüber, und Ernst hatte das sofort herausgefühlt. Sie selbst wollte nicht so schwach sein. Ernst hatte Abbitte zu leisten für seinen trotzigen Eigenwillen. Daß der Erfolg für ihn sprach, änderte nichts an der Tatsache, daß er seinen Eltern den Gehorsam verweigert hatte.

Unter diesen Gedanken erhielt sie ihre Fassung zurück, die sie beim Anblick des Sohnes einen Augenblick verloren hatte. Langsam legte sie ihre Arbeit aus den Händen und erhob sich. Peter dachte zuerst an sie und schob Ernst an den Schultern der Mutter zu, ohne ein Wort zu sagen. Einen Augenblick stutzte er vor ihrer kalten, beherrschten Miene, aber dann nahm er seine Mutter ohne weiteres in seine jungen, starken Arme und küßte sie herzlich auf Mund und Wangen, da wurde Frau Adolfine gar seltsam zumute. So eigen wohlig und warm stieg es in ihrem Herzen auf, und sie war sich plötzlich bewußt, daß sie freiwillig auf etwas Köstliches verzichtet hatte in ihrer herben, strengen Art. Als Ernst sie dann freigab, zwang sie freilich dies neue Gefühl in sich nieder. Es war ihr doch störend, unbequem. Aber auf eine Abbitte des Sohnes wartete sie auch nicht mehr.

Ernst zog nun seinen Mantel aus, indem er sich gerührt im Zimmer umblickte.

»Daheim bei Vater und Mutter,« sagte er halblaut vor sich hin. Dann schüttelte er die Weichheit ab und warf lachend seinen Mantel zur Tür hinaus, einer Dienerin in die Arme. Dann blieb er vor den Eltern wieder stehen und faßte beider Hände.

»An euch ist die Zeit fast spurlos vorbeigegangen, hauptsächlich an dir, Mutter. Noch immer kein graues Haar, keine Falte im Gesicht, wie eine junge Frau. Und frisch und gesund seht ihr gottlob beide aus.«

»Desto mehr hast du dich verändert, Ernst,« sagte Peter Aßmann, noch immer mit seiner Bewegung kämpfend.

»Ja, Vater, in meinen Jahren entwickelt sich der Mensch und verändert sich am meisten. Und zehn Jahre sind eine lange Zeit.«

»Warum bliebst du uns so lange fern?«

Ernst sah seinem Vater offen ins Gesicht

»Ihr habt mich nie zur Heimkehr aufgefordert, und freiwillig wollte ich nur kommen, wenn ich euch beweisen konnte, daß ich es in meinem Beruf zu etwas Tüchtigem gebracht habe. Jetzt denke ich, ich bin soweit. Deshalb schrieb ich euch, daß ich nun heimkommen wollte. Aber jetzt – seid mir nicht bös – ich weiß, drüben sitzt Großtanting und wartet auf mich. Jetzt muß ich erst zu ihr – es hält mich nicht länger.«

Er drückte Vater und Mutter die Hand und stürmte hinaus. Mit langen Schritten durchmaß er den Korridor und klopfte an Großtantings Tür. Ehe sie noch ›Herein‹ rief, war er schon drinnen.

Das alte Fräulein saß auf ihrem Erkerplatz. Ernst eilte auf sie zu und kniete, sie innig umfassend, vor ihr auf dem Erkertritt nieder.

»Grüß Gott, Großtanting – da bin ich – endlich wieder zu deinen Füßen, daheim,« rief er lachend, und doch mit feuchtschimmernden Augen. Sie strich ihm mit zitternder Hand das Haar aus der Stirn und sah ihm glücklich in das freie, offene Gesicht.

»Min leive Jung, hab' ich dich wieder,« sagte sie leise und küßte ihn auf Stirn und Augen. Dann sah sie ihn lange forschend an.

»Ein Mann bist du geworden, fest und ernst ist dein Gesicht. Aber die Augen – die sind geblieben wie sie waren – klar und wahr, ehrlich und treu. Gottlob!«

»So sollen sie bleiben, Großtanting, das verspreche ich dir.«

Sie nickte und strich ihm wieder über das kurzgeschnittene Haar, das nur über der Stirne in schweren Ringeln sich emporbäumte.

»Wie haben dich deine Eltern aufgenommen?« fragte sie leise.

Er lachte gerührt.

»Vater hat mich in die Arme genommen, als hätte er sich lange danach gesehnt. Das hat alle Bitterkeit in mir ausgelöscht. Und Mutter – ach, du kennst sie ja – sie wollte sich nicht schwach zeigen und machte ein Gesicht, als sollte eine geharnischte Standpauke auf mein schuldiges Haupt herabprasseln. Ich hab' sie gar nicht dazu kommen lassen, sondern sie in die Arme genommen und abgeküßt. Da ergab sie sich in ihr Schicksal. Also Sieg auf der ganzen Linie.«

Sie sah mit stolzem Lächeln in sein Gesicht.

»Der alte Unband bist du auch noch immer.«

Er sprang übermütig auf und lief durch das Zimmer, jedes Möbel als alten Bekannten begrüßend. Zuletzt trat er an das Schränkchen, in dem Großtanting die Leckereien aufzubewahren pflegte. Er öffnete es und sah hinein. Dann lachte er frisch und herzlich auf.

»Wahrhaftig – da liegt Schokolade. Davon muß ich ein Stück nehmen, Großtanting. Der erste Bissen im Vaterhaus soll mir aus deinen lieben Händen kommen. Zwar duftete es aus der Küche nach einem Festbraten, als ich vorüberging – aber ich werde trotz der Schokolade noch einen Appetit entwickeln, daß Mutter mich für ganz ausgehungert halten wird.«

Und wieder zu der alten Dame tretend und ihre Hände streichelnd, fuhr er fort:

»Wie wäre ich wohl heimgekehrt, hättest du deine Hände nicht immer offen gehabt für mich. Mein Studium war nicht billig, weit wäre ich ohne Geld nicht gekommen, vor allen Dingen hätte ich die Reisen nicht machen können, die mich doch am meisten gefördert haben. Nur dir hab' ich's zu danken, daß ich so viel gelernt habe.«

Um den Mund der alten Dame huschte das alte liebe Lächeln.

»Hätte ich dir das Geld nicht geschickt, so hätte es dein Vater getan. Ich schrieb dir doch, daß er darum weiß. Sonst hätte er doch keine Ruhe gehabt.«

Ernst setzte sich auf den Erkertritt. Seine langen Beine streckten sich weit ins Zimmer hinein.

»Das schmälert alles dein Verdienst nicht, Großtanting. Ich weiß sehr wohl, was alles ich dir zu danken habe. Was bist du mir gewesen! Mutter, Freundin, Schützerin – ach – ich brauch' dir das nicht aufzuzählen, du weißt es ja selbst.«

Sie saßen eine Weile still beisammen. Dann sah Ernst plötzlich auf in Großtantings Gesicht.

»Richtig, jetzt hab' ich doch ganz mein Bäschen Bettina vergessen. Wo hältst du denn dein gerühmtes Goldblondchen versteckt? Eigentlich hatte ich, deinen Erzählungen nach, erwartet, sie hier auf meinem Platz zu finden. In der Wiedersehensfreude vergaß ich sie. Wo ist sie denn? Ich bin doch neugierig, ob du sie mir nicht in zu rosigen Farben gemalt hast.«

»Bettina wird in ihrem Zimmer sein. Sie wollte wohl das Wiedersehen nicht stören. Bei Tisch wirst du sie ja sehen. Oder eilt es dir zu sehr? – Drücke mal dort auf die Klingel – gleich wird sie dann hier sein.«

Er sprang auf.

»Aber sehr eilig ist es mir, ihre Bekanntschaft zu machen. Meine Nebenbuhlerin in deinem Herzen, meine Nachfolgerin auf diesem molligen Erkerplatz. Gleich will ich sie sehen, damit ich weiß, was ich von ihr zu fürchten habe. So – das Zeichen habe ich gegeben, nun: Sesam, tue dich auf.«

Er lehnte sich auf die Erkerbrüstung und sah erwartungsvoll nach der Tür. Großtanting lachte leise in sich hinein. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und Bettina trat ein. Sie blieb zögernd an der Tür stehen und sah errötend auf den hochgewachsenen Mann neben Großtanting. Ihr Blick traf in seine großen, weitgeöffneten Augen hinein und blieb wie gebannt darin ruhen.

Ernst hatte sich bei ihrem Anblick hastig aufgerichtet und betrachtete mit forschenden Augen die lieblich anmutige Mädchengestalt. Sie trug ein hübsches dunkelblaues Kleidchen mit weißen Streifen, welches gerade durch die schlichte Machart ihre weichen runden Formen erkennen ließ. Sein schönheitsdurstiges Auge weidete sich an den edlen, reinen Linien. Und das flimmernde Goldgespinst des Haares, die tiefen, seelenvollen Mädchenaugen! So rein und klar wie ein Bergsee blickten sie aus dem zartgeröteten Gesicht. Ihm war zumute, als sähe er in ein Heiligtum hinein. Schnell trat er auf sie zu und reichte ihr die Hand.

»Grüß Gott, Bäschen,« sagte er herzlich und hielt ihre kleine Hand fest in der seinen. Ein Zittern lief über sie hin vor heimlicher Erregung. Etwas Starkes, Zwingendes strömte von seiner Hand in die ihre und aus seinen Augen in ihre Seele.

»Dieser Mann ist dein Schicksal.«

Das wurde ihr klar in dieser ersten Minute, oder vielmehr empfand sie es als etwas Unabänderliches. Und sie wußte nicht, ob sie darüber im Herzen aufjubeln sollte oder schmerzlich weinen. Rührend hilflos und beklommen sah sie aus. Er hielt es für Schüchternheit und erbarmte sich ihrer.

»Nun – keinen Willkommengruß für mich, kleine Bettina? Wir sind doch schon ganz alte Freunde.«

Da löste sich der Bann. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, welches Ernst sehr reizend erschien.

»Wenn ich ein Recht habe, dich willkommen zu heißen, Vetter Ernst, dann sei es von Herzen geschehen.«

Sie erwiderte seinen Händedruck so fest sie konnte.

»Wirklich? Freust du dich ein wenig, daß ich heimgekommen bin?«

Sie atmete auf.

»Sehr freue ich mich.«

Und dann lief sie zu Großtanting hinüber, die lächelnd die Begrüßung beobachtet hatte und umfaßte sie zärtlich.

»Gelt, jetzt bist du glücklich, daß du ihn wieder hast?« fragte sie leise, doch so, daß es Ernst hörte.

Er betrachtete die beiden Frauen mit sinnendem Blick.

Großtantings strahlende Augen lachten in die Bettinas hinein.

»Sehr glücklich, mein Blondchen. Nun hab' ich nichts Schöneres mehr auf Erden zu erwarten.«

Ernst trat zu ihnen heran.

»Wir müssen uns nun in Großtantings Zärtlichkeiten teilen, Bäschen. Ich bin nämlich nicht edel genug, zu deinen Gunsten auf mein Teil zu verzichten. Trittst du es mir freiwillig ab, oder muß ich darum kämpfen?«

Sie sah mit einem so lieben Blick zu ihm auf, daß ihm das Herz warm wurde.

»Du hast ältere und geheiligtere Rechte als ich. Aber Großtantings Herz ist so reich an Liebe und Güte, da bleibt auch für mich noch genug übrig.«

»So – und ich werde bei diesem Handel gar nicht gefragt?« sagte die alte Dame launig. »Ihr bestimmt so über meinen Kopf hinweg über meine Gefühle, als hätte ich da gar nicht mitzureden.«

»Hast du auch nicht, Großtanting. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Wessen Herz am reichsten ist an Liebe, der ist immer der Sklave derer, die er liebt. Warte nur, wir wollen dich tyrannisieren, daß dir angst wird,« sagte Ernst übermütig.

Sie zauste sein Haar.

»Du hast ja merkwürdige Weisheiten mit heimgebracht, du Unband. Und das Rebellieren steckt dir noch immer im Blute.«

Er haschte nach ihrer zausenden Hand und küßte sie.

»Meinst du, ich sei zahmer geworden draußen in der Welt? – Eher das Gegenteil. Aber ich kann mich beherrschen – du sollst es bald merken.«

Bettina mußte ihn immer wieder ansehen. Wie wenig hatte seine Photographie den Zauber dieses geist- und lebensprühenden Gesichtes wiedergegeben. Sie fühlte, der heutige Tag hatte über ihr Leben entschieden. Es war so schön, so wunderschön, daß er nun da war, daß sie ihn täglich würde sehen können, wie ein heimlicher Glanz würde es auf ihren Tagen liegen, so lange er hier weilte. Und ging er eines Tages wieder fort, dann war sie dennoch reicher geworden um ein Köstliches, dem sie nicht Namen geben konnte. Aber jetzt nur nicht an sein Fortgehen denken, jetzt seine Gegenwart empfinden mit all ihrem Sein und Denken. –

Sie wußte nicht, daß ihre Seele das Bild dieses Mannes schon längst umschlossen hielt, daß er durch Großtantings Einfluß zur Idealgestalt für sie geworden war. Der Boden war für ihn bereit in ihrem Herzen, und sieghaft hatte er, ohne es zu ahnen, seinen Platz darin eingenommen. So stark ihr Empfinden aber auch war, sie verschloß es scheu in ihrer Brust. Und keine begehrlichen Wünsche erfüllten sie. Mit der Erkenntnis, daß Ernst Aßmann ihr Schicksal sein würde, kam ihr auch zugleich die Gewißheit, daß dieses Schicksal ›Entsagen‹ heißen würde. Sie, die arme, verwaiste Majorstochter, die man aus Gnade und Barmherzigkeit ins Haus genommen, und Ernst Aßmann, der Sohn eines reichen, vornehmen Patriziergeschlechts, der bereits die ersten Stufen auf der Leiter des Ruhmes emporgestiegen war! Die stolzesten Schönheiten würden sich geehrt fühlen, wenn dieses Mannes Wahl auf sie fallen würde.

Aber war es nicht schon herrlich und schön, daß er sie sein Bäschen nannte und so lieb – so gut zu ihr war. – Sie sprach nicht viel, hörte nur mit glänzenden Augen zu, was er mit Großtanting sprach, und hatte dabei ein Gefühl, als ob sie etwas Wundersames erlebte.

Ernst neckte sich mit ihr, und sie lachte einige Male herzlich. Und weil ihm dies warme, klare Lachen gar so gut gefiel, reizte er sie immer wieder dazu. Großtanting klopfte ihr die glühenden Wangen.

»Siehst du, Blondchen, wenn so ein junges, frisches Blut in mein Stübchen kommt, dann kannst du fröhlicher sein, als wenn du mit deinem alten Großtanting allein bist.« Und zu Ernst gewandt, fuhr sie fort: »Bettina ist leider viel zu ernst für ihre Jugend. Das macht wohl, weil sie hauptsächlich auf meine Gesellschaft angewiesen ist. Du tust ein gutes Werk, min leive Jung, wenn du sie ein bißchen aufrüttelst.«

Er fuhr sich durch den Haarbusch über der Stirn.

»Wird besorgt, Großtanting. In meinen Mußestunden werde ich hier bei euch sitzen, und dann soll es am Aufrütteln nicht fehlen. Mach dich auf einen kräftigen Sturmwind gefaßt, Bettina. Nur werde ich leider oder gottlob nicht viel Mußestunden haben Arbeit wird es in Hülle und Fülle für mich geben. Und darauf freue ich mich. Die Schaffenskraft und Schaffenslust prickelt mir durch die Adern wie Feuer.«

Bettina hing mit den Blicken an seinen lebensvollen Zügen und konnte sich nicht satt daran sehen. Aber dann erinnerte sie sich doch, daß draußen noch Arbeit für sie war. Sie erhob sich.

»Ich muß nun gehen. Tante Adolfine wird mich brauchen, Großtanting.«

»So gehe, Bettina. Bei Tisch sehen wir uns wieder.«

Das junge Mädchen ging hinaus. Ernst rief ihr noch ein Scherzwort nach, worüber sie herzlich lachen mußte. Als sie auf den Flur hinauskam, sah sie sich Tante Adolfine gegenüber.

»Wo steckst du nur, ich suche dich schon eine ganze Weile; wenn man dich sucht, bist du nie zu finden.« Es lag eine scharfe Gereiztheit in Adolfines Worten. Sie ärgerte sich, daß Ernst da drinnen bei Großtanting saß, und daß Bettina so fröhlich aus deren Zimmer kam. Sie gönnte niemand seine Gesellschaft. Ganz plötzlich war eine mütterliche Eifersucht in ihrem Herzen aufgewacht. Die Umarmung ihres Sohnes, seine herzlichen Küsse hatten in ihrer Seele etwas aufgeweckt, was sie früher nie empfunden hatte – ein Verlangen nach Zärtlichkeit. Sie hätte das nie eingestanden und wehrte sich gegen dieses Gefühl. Es war ihr ebenso neu als unbequem.

Mit kurzen Worten gab sie Bettina allerhand Aufträge und ging dann in das Wohnzimmer zurück. Sie wartete mit heimlicher Unruhe, daß Ernst wieder herüberkommen sollte.

Der aber saß ›schnurrbehaglich‹ bei Großtanting. Als Bettina hinausgegangen war, sah er ihr eine Weile nach. Dann blickte er zu der alten Dame empor.

»Draußen in der Welt vergißt man, daß es solche Mädchen gibt, Großtanting. Der größte Zauber einer Frau ist doch ein reiner Sinn und echt weibliche Anmut.«

Die Greisin nickte

»Wohl dir, min leive Jung, daß dir die Welt den Geschmack am reinen Weibe nicht verdorben hat. Das war immer meine größte Sorge um dich, daß du mit deinem feurigen, ungestümen Wesen in dieser Hinsicht Schiffbruch leiden könntest. Die Welt birgt so viel Gefahren für einen Feuerkopf, wie du bist.«

Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin. Dann seufzte er tief auf. »Ganz glatt und ruhig ist es natürlich nicht bei mir abgegangen, das kannst dir denken. Die Frau tritt einem eben überall in die Wege, wenn man nicht wie ein Einsiedler leben will. Und es sind die besten nicht, die man auf seinem Wege findet. Aber – es ging mir sonderbar, Großtanting – hatte ich einmal Feuer gefangen – mich in eine Leidenschaft verstrickt, daß ich glaubte, sie schlüge mir über dem Kopf zusammen – dann kam plötzlich die Ernüchterung. Und weißt du, wodurch? Durch deine Briefe. Du erzähltest mir darin so viel von Bettina – und sonderbar, jedesmal verglich ich meine jeweilige Liebe mit diesem blonden Bäschen. Dann gefiel mir dies und das nicht mehr an der Angebeteten, und ich kühlte mich schnell ab. Wie das kam? Nun, du entwarfst mir in deinen Schilderungen von Bettina immer das Bild eines jungen Weibes, wie ich es wohl halb unbewußt als Ideal im Herzen trug. Und jetzt weiß ich auch – binde ich mich einmal auf Lebenszeit an eine Frau, so muß sie diesem Ideale gleichen. Sonst lieber nicht.«

Großtanting hatte still zugehört. Nun sagte sie lächelnd:

»Wie gefällt dir Bettina eigentlich – ich meine, ihr Äußeres? – Das war ja wohl so ziemlich das einzige, was du nicht von ihr kanntest, weil ich dir das durch meine Briefe nicht so beschreiben konnte wie ihren Charakter.«

»Ich hatte sie mir anders vorgestellt, kleiner, zarter – unfertiger will ich sagen. Sie ist reizend – ohne Zweifel – wenn auch nicht direkt schön. Und dann hat sie etwas in ihrem Wesen, etwas Rührendes, Hilfloses. Man möchte die Hände über sie halten, daß ihr nichts Böses widerfahren könnte. Das fesselt uns Männer mehr wie die stolze Haltung einer vollendeten Schönheit. Ich glaube ganz sicher, daß ich sie verwöhnen möchte, wie ein großer Bruder seine junge, geliebte Schwester. Hat sie viel Verehrer?«

»Ich glaube nicht, wie soll sie auch dazu kommen? Sie lebt still zu Hause bei mir. Nur wenn hier im Hause Gesellschaft ist, kommt sie unter junge Leute. Und da gibt sie sich unfrei, bedrückt. Sie empfindet sehr tief. Nähert sich ihr ein junger Mann, glaubt sie, er tue es aus Rücksicht darauf, daß sie eine Verwandte des Hauses ist. Und meist hat sie recht damit. Man weiß eben, daß sie ein armes Mädchen ist. Der einzige junge Mann, der ihr gefällt, und mit dem sie sich gern unterhält, ist Leutnant von Bühren. Dieser ist mit ihrem Bruder zusammen Kadett gewesen. Das hat sie ihm näher gebracht. Sie liebte ihren Bruder Hans leidenschaftlich. Überhaupt birgt sich unter ihrem stillen Wesen eine Empfindungstiefe, die mich für sie fürchten läßt.«

»Was für ein Mensch ist dieser Leutnant von Bühren?«

»Ein lieber Kerl. Offen, lustig, gescheit, hübsch und stattlich. Aber arm, sehr arm. Und deshalb bin ich froh, daß Bettina selten mit ihm zusammenkommt.«

»Du meinst nicht, daß sie ihn schon jetzt liebt?«

»Das glaube ich bestimmt nicht. Dazu plaudert sie zu unbefangen von ihm und gesteht zu offen ein, daß sie ihn nett und sympathisch findet. Aber daß er ihren Bruder gekannt hat, macht ihn ihr sehr wert. Und die Liebe sucht sich oft sonderbare Wege, um in ein Menschenherz zu gelangen. Es würde mir sehr leid tun, wenn Bettina sich nun auch noch in eine aussichtslose Neigung verstrickte. Ihr Leben ist ohnedies an Schmerzen reich genug gewesen.«

»Ja, ein armes Hascherl ist sie schon, und wenn sie dich nicht hätte! – Lieber Gott, – von meiner Mutter wird sie nicht viel Liebe erfahren haben, so lange sie im Hause ist. Dazu kenne ich Mutter zu gut. Wie hat sich denn Georg zu ihr gestellt, – ah, – Georg, – den hatte ich wahrhaftig ganz vergessen Ist er nett zu ihr?«

Großtanting zuckte die Achseln.

»Der Georg? Na – du weißt ja, er ist kühl bis an das Herz hinan. Und stolz. – Für den ist so ein armes Mädelchen kaum vorhanden. Mehr wie Luft ist sie ihm nicht.«

»Wo ist er denn?«

»In der Fabrik. Er ist sehr gewissenhaft.«

Ernst lachte.

»Und große Sehnsucht wird er nicht nach mir verspüren, kann ich mir denken.«

»Das ist ja auch begreiflich. Sehr gut habt ihr euch nicht vertragen.«

»Nein – leider nicht. Ich glaube, ich habe ihn oft verprügelt.«

»Ja – ein Unband bist du immer gewesen. Ich hoffe doch, du wirst dich auf friedlichen Fuß mit deinem Bruder stellen.«

»Prügeln werden wir uns gewiß nicht mehr,« sagte er lachend.

»Nein, ernstlich.«

»Nun gut, auch ernstlich. Sei unbesorgt, Großtanting, zu einem dramatischen Bruderzwist kommt es nicht zwischen uns. Dazu ist Georg zu leidenschaftslos, und ich habe es gelernt, mich selbst im Zaum zu halten.«

»Wohl dir, min leive Jung. Aber nun gehe zu deinen Eltern hinüber. Ich will dich heute nicht egoistisch für mich allein in Anspruch nehmen. Du wirst mit Vater und Mutter noch manches zu besprechen haben, was ich aus deinen Briefen schon weiß.«

Ernst erhob sich rasch.

»Du hast recht. Ich vergaß, daß ich dir nur guten Tag sagen wollte. Es ist zu mollig und behaglich bei dir.«

*

Frau Adolfine hatte eine verstimmte Miene aufgesetzt, als Ernst wieder ins Wohnzimmer trat. Aber er bemerkte das gar nicht, plauderte mit seinem Vater über seine Pläne und Zukunftsaussichten, und zwar in so warmer, herzlicher Weise, daß seine Mutter sich schließlich sehr lebhaft mit am Gespräch beteiligte. Ernst führte aus, daß er sich entweder in Berlin oder in seiner Vaterstadt als Baumeister niederlassen wolle. Die Entscheidung behielt er sich noch vor, obwohl ihn die Eltern drängten, hier zu bleiben.

»Hier wird es dir nicht an ehrenvollen Aufträgen fehlen. Wir gehören zu den ersten Familien der Stadt, und das wird dir die Wege ebnen.«

Ernst lachte.

»Weißt du, Mutter, das würde mir eher gegen als für die Sache sprechen. Meine Arbeiten sollen für mich reden, nicht meine Familie.«

»Aber im Anfang ist es doch gut, wenn du schon bekannt bist,« meinte Peter.

Ernst zog ein Notizbuch aus seiner Tasche und hielt es lächelnd dem Vater hin, indem er es aufschlug.

»Schau, Vater – das sind alles feste Aufträge. Habe ich die alle erledigt, dann, denke ich, bin ich bekannt genug. Du mußt nicht denken, daß das Theater mein Erstlingswerk ist. Ich kann auch meine Zeit nicht vollständig in den Dienst dieses Theaterbaues stellen. Mit dem Geheimen Baurat Bürger teile ich mich in die Oberleitung. Jede Woche muß ich auf einen oder zwei Tage nach Berlin fahren, wo eben jetzt nach meinem Entwurf ein großes Warenhaus gebaut wird. Jedenfalls richte ich mir aber hier vorläufig ein Bureau ein – ich denke, ein passendes Lokal dazu werde ich in der Nähe des Theaterneubaues finden.«

»Aber du wohnst doch bei uns,« rief Adolfine unruhig.

Er lächelte und streichelte sanft über ihre Hand.

»Möchtest du es denn?«

»Aber Ernst – solch eine Frage.«

»Ja, Mutter – ich weiß doch nicht, ob ich dir zu viel Unruhe ins Haus bringe. Ich bin ein geräuschvoller Mensch – das hat sich noch nicht geändert. Und früher warst du mir oft darüber böse. Bei euch geht alles so still und ruhig zu. Aber wenn du es darauf ankommen lassen willst, bleibe ich natürlich gern.«

Frau Adolfines Hand lag noch immer unter der ihres Sohnes. Und sie zog sie nicht fort, sondern fühlte wohlig die Wärme dieser schlanken, großen Männerhand.

»Es ist ja so viel Platz im Hause. Du kannst zwei Parterrezimmer bekommen, wenn du nicht mit Georg im zweiten Stock wohnen willst.«

»Schön – dann bin ich für die Parterrezimmer – da störe ich euch am wenigsten und kann kommen und gehen, wie ich will.« – –

Gleich darauf kam Georg nach Hause.

Bei seinem Anblick wallte es doch warm in Ernsts Herzen auf. Aber Georg legte nur mit kaltem, mattem Lächeln seine krallenartigen Fingerspitzen in des Bruders Hand.

»Guten Tag – da bist du ja,« sagte er ruhig, als hätte er Ernst gestern das letzte Mal gesehen.

Da ebbten auch Ernsts Gefühle wieder zurück.

»Ja, da bin ich – in Lebensgröße,« erwiderte er mit leiser Ironie und ließ Georgs Hand ohne Druck aus der seinen gleiten.

Zwischen diesen beiden Brüdern gab es keine Gemeinschaft.

Ernst ließ sich jedoch die Stimmung nicht verderben. Bei Tisch plauderte er in so sprühender, lebensfrischer Weise, daß selbst seine Mutter einige Male laut lachte. Das war eine Seltenheit, und Peter Aßmann sah ganz verliebt in das angeregte Gesicht seiner Frau.

Großtanting strahlte – einen anderen Ausdruck gab es nicht, der ihre Stimmung so erschöpfend bezeichnet hätte. Und Bettina saß mit klopfendem Herzen und leuchtenden Augen da und konnte gar nicht fassen, daß seit gestern die Welt so schön geworden war. Dabei sah sie so hold und lieblich aus, daß Ernst immer wieder nach ihr hinüberschaute.

Widerstandslos ließ Bettina den Zauber seiner Persönlichkeit, dem sich selbst seine Mutter nicht entziehen konnte, auf sich einwirken. Das Leben erschien ihr köstlicher, lebenswerter. Ihr unberührtes Herz öffnete sich weit, und er hielt wie ein leuchtender Held seinen Einzug darin.

Er ahnte nicht, was in Bettina vorging, und doch lag auch für ihn etwas in ihrer holden Erscheinung, das ihn gefangen nahm. Es war nicht die stürmische Leidenschaftlichkeit, die ihn schon zu manchem weiblichen Wesen hingezogen hatte, was er für sie empfand. Sein Empfinden für sie war zarter, reiner, wunschloser, wie etwa die zärtliche Liebe eines Bruders für seine Schwester.

*

Seit Wochen war Ernst nun schon daheim. Den größten Teil des Tages verbrachte er im Baubureau. Die Vorarbeiten zu dem Theaterbau waren bereits im Gange. Auch außerdem war seine Zeit stark in Anspruch genommen. Man überschüttete ihn mit Einladungen. Die jungen Damen schwärmten für ihn und fanden ihn ›riesig interessant‹. Georgs Stern verblaßte bedenklich neben dem seinen.

So blieb Ernst für Großtanting und Bettina nur wenig Zeit. Mit dem Dämmerplausch wurde es nicht viel, nur des Sonntags, da hielt er daran fest, da war er immer einige Stunden in Großtantings Zimmer. Sie nannte diesen Tag lächelnd ihren ›Jour fix‹ und freute sich die ganze Woche darauf. Bettina nicht minder, denn sie durfte an diesem Zusammensein teilnehmen.

Anfangs Januar gaben Aßmanns dem heimgekehrten Sohn zu Ehren einen großen Ball. Frau Adolfine wollte Triumphe feiern als Mutter zweier so ausgezeichneter junger Männer.

Bettina freute sich zum ersten Male auf eine derartige Festlichkeit. Ernst hatte sie bereits um den Souper-Walzer gebeten. Sie hatte ihn ganz erschrocken angesehen.

»Das geht doch nicht, Ernst. Es sind doch so viele junge Damen aus erster Familie geladen. Tante Adolfine wird das auch nicht gern sehen.«

Er hatte sie schelmisch angeblinzelt.

»Soll das heißen, daß du mir einen Korb geben willst, Bäschen?«

»Nein, o nein. Ich weiß auch, daß du es sehr gut meinst. Nur – ich weiß nicht, ich meine, es könnte dir verübelt werden, wenn du mich in dieser Weise auszeichnest. Und Tante Adolfine ist das ganz gewiß nicht recht.«

»Also Angst vor Schelte, Bettina?«

»Ja, vielleicht.«

»Wenn ich aber nun darauf bestehe und dir bitterböse bin, wenn du mir einen Korb gibst?«

Sie lächelte ungläubig.

»Ach – du tust es ja doch nur aus Mitleid.«

Er zog die Stirne hoch und sah sie mit drolligem Erstaunen an.

»So? Aus Mitleid? Meinst, ich opfere mich auf und seufze im stillen unter der Last, die mir dieses Mitleid aufbürdet?«

Sie lachte leise.

Er zog sie neckend am Ohr.

»Du – das kostet Strafe. Jetzt mußt du auch noch den Kotillon mit mir tanzen.«

Sie schlug erschrocken die Hände zusammen.

»Um Gottes willen.«

Er setzte sich rittlings auf einen Stuhl und betrachtete sie lustig.

»Nun – dein Entsetzen ist nicht sehr schmeichelhaft für mich.«

Bettina sah hilflos nach Großtanting hinüber, die lächelnd zugehört hatte.

»Großtanting, sag du doch, bitte, Ernst, daß das nicht geht,« bat sie ängstlich.

Die alte Dame lachte.

Also nein, es geht nicht, Ernst. Gegen den ersten Walzer will ich ja nichts einwenden. Aber den Kotillon auch noch – das ist zu viel. Als Haussohn mußt du ja möglichst alle jungen Damen durchtanzen Und da hast du gerade genug zu tun, wenn jede einen Tanz bekommt.«

Bettina nickte eifrig.

»Siehst du wohl, Ernst.«

Er stützte das Kinn auf beide Arme, die auf der Stuhllehne ruhten, und in seinen Augen funkelte etwas wie übermütiger Trotz.

»All die anderen Damen können mir im Mondschein begegnen. Ich kenne sie ja nun alle und muß mich genug mit ihnen langweilen, wenn ich eingeladen bin. Du bist als Tänzerin nur zu haben, wenn hier im Hause etwas los ist. Und da sehe ich nicht ein, weshalb ich von meinem Vorrecht als Vetter nicht Gebrauch machen soll. Willst du also, oder willst du nicht?«

Bettina hätte ja gern zugesagt – ach – wie gern. Aber sie fürchtete Frau Adolfines Unwillen – mehr für Ernst, als für sich selbst. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Wir wollen es bei dem ersten Walzer lassen. Bitte, bitte, lieber Ernst – sei nicht bös – es würde mich sehr betrüben, wenn du mich falsch verstehen wolltest. Du bist so gut zu mir – so gut – ich danke dir für deinen guten Willen. Und ich bin so stolz, daß du mich so auszeichnen möchtest. Aber sieh – Georg hat nie mit mir getanzt, und Tante hat das so selbstverständlich gefunden. Laß du es bei diesem einen Tanz bewenden. Du hörst ja, Großtanting hält es auch so für richtiger.«

Er sah abwechselnd auf ihre Hand herab und in ihre lieben, bittenden Augen und stellte sich störrisch, um sie noch länger bitten zu lassen. Sie war zu reizend mit diesem Ausdruck im Gesicht. Schließlich seufzte er steinerweichend. »Schön – ich füge mich, wenn ihr beide gegen mich seid, bin ich machtlos. Ein rechtes Kunststück, zwei starke Frauen gegen einen schwachen Mann,« sagte er ergebungsvoll, und seine Lippen streiften leise die schlanke Mädchenhand auf seinem Arm, die sich darauf schnell zurückzog.

»Ja, min leive Jung – du siehst auch schon so schwach aus. Wir werden dich gleich ein bißchen bedauern,« neckte Großtanting.

Er sprang auf und faßte sie bei den Schultern.

»Du – ich zerdrück' dich, wenn du mich verspotten willst.«

»Mit deinen ›schwachen‹ Armen?«

Nun lachten sie alle drei. Überhaupt, wenn Ernst in Großtantings Zimmer war, gab es immer zu lachen. Er konnte sehr witzig und ausgelassen sein und freute sich, wenn Bettina über seine Tollheiten lachte. Irgend etwas trieb ihn immer dazu, ihr eine Freude zu machen, ihr etwas zuliebe zu tun, sie zu verwöhnen. Sie konnte sich so innig freuen über die kleinste Aufmerksamkeit, ihr Gesicht rötete sich dann vor Entzücken, und die Augen strahlten so warm und dankbar in die seinen. Und so überzeugungsvoll klang es, wenn sie sagte: »Du bist so gut, Ernst.«

Am Ballabend selbst brachte er ihr einige prachtvolle Rosen, ehe sie hinabging.

»Passen sie gut zu deinem Kleide?« fragte er und hielt sie prüfend gegen ihre Schulter. Dann nickte er befriedigt und sah lächelnd zu, wie sie die Blumen befestigte.

Frau Adolfine war sehr unmutig, als sie erfuhr, daß Ernst Bettina zum ersten Walzer gewählt hatte.

»Das geht doch nicht, Ernst. Dafür hatte ich dir Fräulein Wendheim bestimmt,« sagte sie ärgerlich. »Ich werde mit Bettina reden, sie muß natürlich zurücktreten.«

Ernst hielt seine Mutter am Arm zurück.

»Auf keinen Fall, Mutter, weshalb Bettina kränken? Fräulein Wendheim wird es als ›mehrfacher Millionärstochter‹ nicht an Herren fehlen, sie wird auch ohne mich den ersten Walzer tanzen. Bettina bleibt meine Tischdame.«

Sie biß sich auf die Lippen.

»Du vergreifst dich Bettina gegenüber im Ton, Ernst, bist viel zu vertraulich mit ihr. Daran ist Tante Emma schuld.«

»Bettina gehört doch zur Familie, sie ist mir so lieb wie eine Schwester, und ich will nicht, daß sie sich zurückgesetzt fühlt.«

»Ach – ihr macht zu viel Aufhebens von ihr, du und Tante Emma. Nimm dir ein Beispiel an Georg, er trifft immer den rechten Ton für sie.«

Ernsts Augen flammten dunkel auf.

»Das heißt, er benimmt sich Bettina gegenüber wie ein Flegel,« sagte er zornig.

»Aber Ernst!«

»Jawohl, Mutter. Bettina lebt im Schutz unseres Hauses. Sie ist arm und verwaist. Das ist ein Grund, besonders ritterlich gegen sie zu sein, aber nicht, sie wie einen Dienstboten zu behandeln. Jedenfalls werde ich mir Georg in dieser Beziehung nicht zum Beispiel nehmen – und du solltest lieber deinen Einfluß geltend machen und ihm zum Bewußtsein bringen, daß es eine traurige Heldentat ist, ein armes Mädchen zu verletzen, das keinen Beschützer und Hüter auf der Welt hat.«

Frau Adolfine zog die Stirn zusammen.

»Man merkt, daß Tante Emma viel Einfluß auf deine Entwicklung gehabt hat. Du bist ein Idealist,« sagte sie, sich zu einem Lächeln zwingend.

Er legte den Arm um ihre Schulter.

»Laß mich nach meiner Form selig werden, Mutter. Und versprich mir, daß du Bettina kein böses Wort sagst wegen dieses Tanzes. Sie wollte durchaus nicht – ich hab ihn mir ertrotzen müssen.«

»Also siehst du doch, daß sie selbst das Gefühl hat, nicht am richtigen Platz zu sein.«

»Ach, sie ist verschüchtert und ängstlich. Also nicht wahr, du zankst sie nicht aus?«

Er sah die Mutter so bezwingend an, daß sie lächelnd seufzte.

»Man ist dir gegenüber einfach machtlos.«

Er küßte sie auf die Wange und führte sie in den Saal, wo die Gäste schon zu plaudernden Gruppen vereint waren.

Sehr stolz schritt Frau Adolfine am Arm ihres Sohnes dahin, hie und da stehenbleibend und einige Worte plaudernd. Ernst versprach ihr, Fräulein Wendheim um den Kotillon zu bitten und steuerte auf diese junge Dame los. Sie war eine hübsche, temperamentvolle Brünette, und ihre Augen blitzten ihn feurig an. Sie saß zwischen mehreren jungen Damen, deren Tanzkarten sich Ernst nun auch ausbat.

Während er mit ihnen scherzte, sahen seine Augen suchend umher. Wo war Bettina?

Da sah er sie mit Herrn von Bühren drüben am Fenster stehen. Sie unterhielt sich lebhaft mit ihm, und ihr blondes Köpfchen leuchtete wie gesponnenes Gold zu ihm herüber. Langsam ging er quer durch den Saal auf sie zu. Halbwegs kehrte er aber wieder um. Was wollte er? Wenn sie Bühren liebte, war es doch zu spät, und wenn nicht – dann mochte sie ruhig mit ihm plaudern.

Aber er sah immer wieder zu ihr hinüber, bis sie sich von Bühren verabschiedete und Großtanting aufsuchte, die wieder mit ihren Getreuen zusammensaß.

Da wurde ihm ordentlich leicht ums Herz, als wüßte er sie nun geborgen vor Gefahren.

Einige Minuten später stand er neben Bühren und verstrickte ihn in eine längere Unterhaltung. Er wußte noch nicht, wes Geistes Kind dieser war, und der junge Mann interessierte ihn, Bettinas wegen. Er machte ihm auch einen ganz sympathischen Eindruck. Aber im Grunde war er doch froh, daß aus Bühren und Bettina kein Paar werden konnte. Warum, wußte er selbst nicht, es war ihm nur sicher, daß es ihm ein unangenehmes Gefühl gewesen wäre, wenn Bettina Bührens Braut geworden wäre.

Bei der Quadrille stand später Bühren mit Bettina Ernst und Fräulein Hagemann gegenüber. Ernst war sichtlich zerstreut und machte verschiedene Fehler. Die Damen riefen ihn lachend zur Ordnung. Da nahm er sich zusammen. Aber er sah immer zu Bettina hinüber. Ihr Gesicht schien wie von einem heimlichen Glück verklärt. Wem mochte dieser Ausdruck gelten? Wer hatte ihn hervorgezaubert? Er ahnte nicht, daß er selbst es war, dem das Leuchten ihrer Augen galt. Ob sie doch Bühren liebte?

Bei Tische, als er neben ihr saß, brachte er das Gespräch auf den jungen Offizier. Bettina ging lebhaft auf das Thema ein und sprach sich sehr warm und lobend über Bühren aus.

»Du hast ihn sehr gern, Bettina, nicht wahr?« fragte er dann.

Sie nickte unbefangen.

»Sehr, er ist ein so lieber Mensch und immer sehr nett zu mir. Er gefällt mir viel besser als alle anderen.«

»Auch besser als ich?« fragte er scheinbar neckend, aber nicht absichtslos.

Ihr Herz klopfte schneller bei seiner Frage, aber sie zwang sich, ihn ruhig lächelnd anzusehen.

»Du bist doch mit den anderen gar nicht zu vergleichen.«

Er lachte.

»Da habe ich also die Wahl, mich liebenswürdiger oder unausstehlicher als die anderen zu finden. Du bist eine kleine Diplomatin, Bettina. Ich bin aber gar nicht zufrieden mit deiner Antwort.«

»Nein? Das tut mir leid.«

»Dann antworte mir klipp und klar, wer gefällt dir besser, Bühren oder ich?«

Die Röte schlug ihr ins Gesicht.

»Erlaß mir die Antwort,« bat sie leise.

Er verneigte sich nur stumm und griff dann ein anderes Thema auf. Aber sie merkte, er war ein klein wenig verstimmt. Warum nur? Was konnte ihm daran liegen, zu wissen, ob er ihr besser gefiel als Bühren. Eitel war er doch nicht, das wußte sie genau. Warum war sie aber auch so töricht gewesen, ihm nicht ruhig zu antworten: »Du gefällst mir besser.«

Sie sah ihn von der Seite an. Er fing ihren Blick auf und lachte. Sie sah aus wie ein kleines gescholtenes Schulmädel, das den Herrn Lehrer erzürnt hat und ihn versöhnen möchte. Es war unrecht von ihm, sie zu quälen. Sicher gefiel ihr Bühren besser, und sie hatte es nicht sagen wollen, um ihn nicht zu kränken.

»Warum siehst du mich so ängstlich an, kleine Bettina?« fragte er weich.

»Ich fürchte, du bist mir böse.«

Er drückte ihre Hand.

»Nein, Bäschen – dir kann ich gar nicht böse sein.«

Da war sie wieder von Herzen froh.

Georg saß ihnen schräg gegenüber mit Fräulein Hagemann. Er blickte aber immer an ihnen vorbei. Es war ihm unverständlich, daß Ernst Bettina zu Tisch geführt hatte. Überhaupt ein merkwürdiger Mensch, sein Bruder. Was die Damen nur alle an ihm hatten, daß sie ihn so verhimmelten. Es war unausstehlich, daß man ihm sein Lob in allen Tonarten sang. Er konnte es schon gar nicht mehr mit anhören.

*

Großtanting war in den letzten Monaten sehr schwach und hinfällig geworden. Es war, als ob mit Ernsts Heimkehr ins Vaterhaus ihr Lebensziel erfüllt sei, als habe sie all ihre Kraft in Erwartung dieser Heimkehr aufgezehrt. Jetzt brauchte sie Bettinas Hilfe ernstlich. Das junge Mädchen wich kaum noch von ihrer Seite. Spaziergänge konnte die alte Dame überhaupt nicht mehr unternehmen, weil sie häufig von Ohnmachten und Schwächezuständen befallen wurde.

Bettina trug immer ein Fläschchen mit Riechsalz bei sich. Sobald Großtanting ohnmächtig wurde, mußte sie den scharfen Geruch einatmen, damit ihre Lebensgeister wieder geweckt wurden. Das Alter verlangte seinen Tribut. Die sonst so frischen Farben der Greisin wichen und machten einer wachsfarbigen Blässe Platz.

Ernst und Bettina sahen betrübt die traurige Veränderung und wetteiferten in Liebesbeweisen für die alte Dame.

Eines Sonntagnachmittags trat Ernst gerade in Großtantings Zimmer, als eine tiefe Ohnmacht sie befallen hatte. Sie lag in einem Sessel, und Bettina mühte sich mit angstvollem Gesicht um sie. Er trat schnell heran. »Schon wieder?« fragte er schmerzlich besorgt.

Sie nickte traurig.

»Die Ohnmachten werden immer länger, und der Arzt sagt, man kann nichts dagegen tun,« flüsterte sie leise und verzweifelt.

Er strich wie ein zärtlicher Bruder über ihr Haar.

»Nicht so ängstlich, Bettina,« sagte er beruhigend, obwohl ihm selbst nicht hoffnungsvoll zumute war.

Sie erzitterte.

»Was soll aus mir werden, wenn sie mir genommen wird? Dann bin ich erst ganz verwaist.«

Es lag ein tiefer Schmerz in ihren Worten. Am liebsten hätte er sie tröstend in seine Arme genommen, aber er war ihr gegenüber nicht so ganz unbefangen. Die herzliche, innige Neigung, die er für sie fühlte, war doch nicht mehr ganz brüderlich. Wilde Wünsche weckte dieses reine, holde Geschöpf nicht in ihm, keine auflodernde Leidenschaft verwirrte ihm die Sinne, aber er war doch ihr gegenüber nicht mehr ruhig genug, um unbefangen zu sein. Es war eben ein ganz eigenartiges Gefühl, das sie in ihm weckte. Er wußte nicht, daß eine tiefe, starke Liebe zu ihr in ihm keimte, denn was er bisher für Liebe gehalten hatte, trug ein ganz anderes Gesicht. Was er für sie empfand, hatte er noch für kein Weib empfunden, deshalb hielt er es noch immer für brüderliche Zärtlichkeit. Daß er sie zu seiner Frau machen könnte, der Gedanke kam ihm gar nicht.

Ehe er antworten konnte, hob ein tiefer Atemzug Großtantings Brust, und sie schlug die Augen auf. Mit mattem Lächeln sah sie in die beiden jungen, besorgten Gesichter.

»Wieder einmal eine Mahnung, daß es zu Ende geht mit mir. Nun macht nicht solche trüben Gesichter, ihr beiden. Bei meinem Alter muß man täglich gefaßt sein, abgerufen zu werden.«

Bettina barg das Gesicht in ihren Schoß.

»Großtanting – Großtanting – verlaß mich doch nicht!« murmelte sie verzweifelt.

Die alte Dame strich ihr liebevoll über das Haar.

»Armes Blondchen – ja, du wirst mich am schwersten entbehren, ich weiß es, du mit deinem liebebedürftigen Herzen – für dich wäre ich gern noch ein paar Jahre hier geblieben.«

»Und für mich, Großtanting?« sagte Ernst schmerzlich.

Sie sah mit klar gewordenen Augen zu ihm auf und lächelte.

»Du, min leive Jung, du bist ein Mann geworden und brauchst mich nicht mehr. Aber nun seid doch nicht so betrübt. Das hilft alles nichts, es kommt an jeden die Reihe, und ich habe meine siebzig Jahre auf dem Rücken.«

Sie hob Bettinas Gesicht empor und lächelte sie ermutigend an.

»Nur Mut, Bettina – ganz verlassen wirst du nicht sein. Nicht wahr, min leive Jung, du versprichst mir, daß du dich ihrer annimmst? Du wirst ihr Schutz und Schirm sein, denn sie ist nicht stark und selbständig wie du.«

»Sei ruhig, Großtanting. Bettina soll mir lieb und teuer sein wie eine Schwester. Hoffentlich bleibst du uns noch lange erhalten. Wenn du aber eines Tages von uns gehst, werde ich Bettina als dein teuerstes Vermächtnis betrachten,« erwiderte Ernst bewegt und legte seine Hand wie zum Schwur auf das blonde Köpfchen.

Bettina sah selbstvergessen zu ihm auf, als müßte ihr alles Heil der Welt von ihm kommen. Ein Gefühl süßen Geborgenseins erfüllte ihre Brust. Großtanting streichelte ihre Wange.

»Hörst du es, Bettina? An Ernst wirst du eine Stütze haben. Er ist stark und gut.«

Bettina atmete tief auf.

»Ja, Großtanting, stark und gut,« sagte sie voll gläubigen Vertrauens, und ein süßes Lächeln huschte über ihr trauriges Gesicht.

Ernst sah auf sie herab. Ihr süßer Liebreiz machte ihm das Herz warm. Eine tiefe Zärtlichkeit für das schlanke, blonde Mädchen erfüllte seine Seele. Daß sie seines Schutzes bedürftig war, machte sie ihm doppelt teuer. – –

So gingen die Tage hin, und jeder nahm etwas von Großtantings Lebenskraft mit sich fort. Sie wurde immer schwächer, ohne sich indessen krank zu fühlen. Mit heiterer Ruhe sah sie ihrem Ende entgegen. Was von ihr auf der Welt zu tun war, hatte sie getan. Ihr Testament hatte sie schon vor Jahren gemacht im Beisein ihres Neffen Peter Aßmann. Sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, ihn von ihrem letzten Willen in Kenntnis zu setzen, und Peter hatte alles, was sie beschlossen, gut geheißen

So hatte sie Bettina in ihrem Testament mit fünfundzwanzigtausend Mark bedacht. Sie glaubte, unbeschadet ihres Familiensinnes, diese Summe dem armen, verwaisten Mädchen zukommen lassen zu dürfen, und Peter hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Im übrigen hatte sie ihr gesamtes Vermögen mit Übergehung Peters dessen beiden Söhnen zu gleichen Teilen vermacht. Das war so geschehen für den Fall, daß Ernst nicht wieder ins Vaterhaus zurückgekehrt wäre. Sie wollte ihn durch diese Form des Erbes unabhängig wissen von allen etwaigen Zwischenfällen, denn sie traute Adolfine keine unbedingte Unparteilichkeit zu inbezug auf ihre beiden Söhne. Peter war auch damit einverstanden gewesen.

Bettina hatte keine Ahnung, wie großherzig die alte Dame für sie gesorgt hatte. Jedenfalls war aber Großtanting sehr zufrieden mit ihrem Testament, wußte sie doch, daß für Bettina ein Notgroschen bereit war für alle Fälle. Wenn es nach ihrem Herzen gegangen wäre, hätte sie in ihrem Testament Ernst zum Nachteil Georgs bevorzugt. Aber dazu war ihr Gerechtigkeitssinn zu stark ausgeprägt. Was konnte Georg dafür, daß seine Art ihr unsympathisch war? Und außerdem hatte sie Ernst doch ohnedies bevorzugt, indem sie ihm reiche Mittel für sein Studium zugewendet hatte. Freilich war dieser dafür von seinen Eltern all die Jahre benachteiligt worden. So glich sich auch dies wieder aus, und Großtanting konnte sich mit gutem Gewissen sagen, daß sie gerecht gehandelt hatte.

Und das gab ihr eine heitere, gleichmäßige Ruhe im friedlichen Erwarten ihres Endes.

Bettina konnte sich in dieser Zeit gar nicht genug tun. Allen Liebesreichtum ihres Herzens ließ sie über die alte Dame ausströmen. Und diese ließ es sich lächelnd gefallen.

»So schön und reich ist mein Leben gewesen, trotzdem ich einmal glaubte, durch den Tod meines Verlobten sei alles Schöne und Liebe daraus gestrichen,« sagte sie eines Tages zu dem jungen Mädchen. »Und nun zuletzt ist es, als wollten alle Sonnenstrahlen noch einmal in meine Seele fallen. Du und min leive Jung, ihr gebt mir so viel Liebe, so viel Licht und Wärme. Ich danke dem Schicksal dafür, daß ich euch jahrelang die Mutter ersetzen durfte. So war mein Leben nicht ganz zwecklos.«

*

Der Winter wurde lang und streng. Anfang März lag die Erde noch unter einem dichten, festen Schneetuch. Mittags, wenn die Sonne schien, sickerten zwar die Tropfen von den Dächern, und es krachte und knirschte leise zwischen Eis und Schnee, als wenn die Erde sich dehnte und reckte, um den engenden Panzer zu sprengen. Aber sobald die Sonne unterging, fror alles wieder fest zu.

Die Wintersaison ging aber doch zu Ende. Am 3. März schlossen die Geselligkeiten mit dem Kasinoball. Den gaben gewöhnlich die Offiziere als Saisonschluß, um sich für die im Winter genossene Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen.

Natürlich waren Aßmanns alle geladen – auch Bettina. Leutnant von Bühren kam sogar selbst mit heran, um Frau Adolfine zu bitten, Bettina mit teilnehmen zu lassen. Adolfine ließ das junge Mädchen rufen, damit sie selbst entscheiden sollte, ob sie den Ball besuchen wollte oder nicht, denn es war ihr peinlich, daß man denken könnte, sie hindere Bettina am Besuch eines Festes. Außerdem wußte sie ganz genau, daß Bettina Großtanting jetzt um keinen Preis zu Hause allein lassen würde.

Bettina dankte Bühren herzlich für seine Bemühungen, lehnte aber entschieden ab.

»Ich kann unmöglich mitkommen, Herr von Bühren. Großtanting ist leider so schwach und matt, daß sie mich immer braucht. Ich hätte keine ruhige Minute. Nicht wahr, Sie verstehen das und sind mir wegen der Absage nicht böse?«

Nein, böse war er nicht, er fand nur wieder, daß sie ein liebes, süßes Mädchen war, und daß es sehr, sehr schade war, daß sie immer zu Hause bleiben mußte bei einer alten, schwächlichen Frau, statt jung sein zu dürfen mit der Jugend. –

Auch Ernst bat Bettina, diesen letzten Ball mitzumachen, aber auch ihm gab sie eine abschlägige Antwort.

»Du weißt doch, Ernst, Großtanting braucht mich. Ich fürchte, lange werde ich das Glück nicht mehr haben, um sie sein zu dürfen, und nichts könnte mich veranlassen, aus dem Hause zu gehen, wenn sie allein ist. Ihr geht alle zum Ball, also muß ich wenigstens bleiben. Ich habe Herrn von Bühren auch schon eine Absage gegeben, trotzdem er liebenswürdigerweise herkam, um mich besonders um mein Kommen zu bitten.«

Ernst fuhr sich durch seinen dichten Haarbusch.

»So – Bühren hast du auch schon abgesagt? Dann freilich – dann hätte ich mir meine Bitte sparen können,« sagte er mit sonderbarem Gesichtsausdruck.

Bettina blieb unbefangen, da sie ihn nicht ansah und diesen Ausdruck nicht bemerkte.

»Ernstlich hast du wohl auch gar nicht geglaubt, daß ich Großtanting allein lasse, nicht wahr?«

»Ich hätte es mir wenigstens sagen müssen. Am liebsten bliebe ich auch daheim – aber Mutter wäre außer sich, fehlte einer ihrer Paradesöhne. Ich glaube wahrhaftig, sie verzichtete lieber auf Georgs Erscheinen, als auf das meine. So ändern sich die Zeiten.«

Bettina lächelte.

»Tante Adolfine hat dich so lange entbehren müssen, nun möchte sie das Versäumte nachholen und dich gar nicht mehr von sich lassen. Sie ist sehr stolz auf dich.«

»Ja – das habe ich auch schon gemerkt. Und immer denke ich dann, wie sie sich mir gegenüber verhalten hätte, wenn ich ihr zu diesem Stolz keine Veranlassung gegeben hätte.«

Eine leise Gereiztheit klang aus seinen Worten. Des Benehmen seiner Mutter verursachte ihm Unbehagen. Sie spielte sich in Gesellschaft auf, als sei es ihr Verdienst, daß sie einen so bedeutenden Sohn hatte. Und immer wieder versuchte sie diplomatisch, ihn unter ihre Herrschaft zu bekommen. Georg wurde jetzt entschieden von ihr vernachlässigt. Ihr Streben ging dahin, ihre beiden Söhne glänzend zu verheiraten. Sie hatte auch schon Umschau gehalten unter den Töchtern des Landes, welche sich zu Schwiegertöchtern für sie eigneten. Und ihre Wahl war bereits getroffen. Georg hatte sich auch widerstandslos schieben lassen von ihr. Er ließ sich willig die Anbetung Fräulein Elina Hagemanns gefallen, denn sie war leidlich hübsch, sehr reich, und – was für sie bei ihm am meisten sprach – sie war nicht mit fliegenden Fahnen wie die anderen jungen Damen ins feindliche Lager übergegangen, das heißt, sie hatte sich nicht bewundernd und verhimmelnd an Ernst herangedrängt. Mit diesem Paare hatte also Frau Adolfine wenig Not. Sie vereinigte ihr Interesse daher auf Ernst und Magda Wendheim, die sie sich als zweite Schwiegertochter auserkoren hatte. Leider schien Ernst dieser jungen Dame gegenüber von betrübender Kaltblütigkeit. Sie ließ es an deutlichem Entgegenkommen keineswegs fehlen, aber all ihre Liebenswürdigkeit prallte erfolglos an Ernsts stoischem Gleichmut ab. Trotzdem ließ Frau Adolfine nichts unversucht. Sie sang ihrem Sohn Magda Wendheims Lob in den höchsten Tönen, brachte Ernst geschickt wieder und wieder in ihre Nähe und gab sich die erdenklichste Mühe, eine Verlobung zustande zu bringen.

Ernst war gegen alle jungen Damen von der gleichen kühlen Liebenswürdigkeit – am kühlsten aber gegen die, welche ihm die Mutter als künftige Lebensgefährtin ausgesucht hatte. Er merkte sehr wohl all die kleinen Manöver und hatte nur ein Achselzucken dafür. Seine Mutter kannte ihn wahrlich schlecht, wenn sie glaubte, ihn auf diese Weise in Fesseln schlagen zu können. Fräulein Wendheim mochte einen biederen Durchschnittsmenschen mit ihrer Huld beglücken. Er würde niemals Geschmack an einer Frau finden, deren Gedankenkreis sich um Putz und Modetorheiten drehte, und die, mehr aufdringlich als mädchenhaft, einem Mann schöne Augen machte, der ihr durch sein Verhalten deutlich zu verstehen gab, daß sie ihm gleichgültig sei. –

Vom Kasinoball erhoffte Frau Adolfine viel. Dieser hatte, als letzter der Saison, fast jedes Jahr einige Verlobungen gezeitigt. Vielleicht erfüllten sich ihre heimlichen Wünsche an diesem Abend. Jedenfalls würde sie alles aufbieten, den jungen Leuten eine ungestörte Aussprache zu ermöglichen, denn nach dem Ball wurden die geselligen Zusammenkünfte sehr selten.

So brachen Aßmanns am Abend des 3. März mit sehr gemischten Gefühlen zum Kasinoball auf.

Ernst war noch einen Augenblick zu Großtanting hereingekommen, um ihr Lebewohl zu sagen. Sie lag auf dem Diwan, weil sie sich matt und müde fühlte, sagte ihm aber lächelnd, daß ihr sehr wohl und behaglich zumute sei, und wünschte ihm viel Vergnügen.

Ernst sagte auch Bettina Lebewohl und ging. Bettina sah mit leuchtenden Augen hinter ihm her. Wie stolz und stattlich sah er aus in dem gut sitzenden Frack, der die Schultern noch breiter als sonst erscheinen ließ. Ehe Ernst die Tür schloß, sah er noch einmal ins Zimmer zurück. Sein Auge umfing einen Augenblick die schlanke, anmutige Mädchengestalt, die durch den roten Lampenschleier von rosigem Licht überstrahlt war. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, weil es beschattet war. Trotzdem verließ ihn dies friedliche Bild den ganzen Abend nicht, und in all dem lauten, glänzenden Treiben sehnte er sich nach Großtantings stillem Stübchen. –

*

Bettina war nun ganz allein mit Großtanting, wie so viele Abende. Die Mädchen waren schon in ihre Kammern hinaufgegangen. Es war still im ganzen Hause. Draußen über dem Fluß stand der Mond in einer großen, leuchtenden Scheibe und goß sein mildes Licht über die weißbeschneite Erde. Der Sterne Glanz verblaßte gegen ihn. Die alte Dame hatte lange reglos durch das Fenster auf die Mondscheibe geblickt.

»Wie schön ist das, Bettina! Welch stillen Frieden löst solch eine Mondnacht im Menschenherzen aus.«

Bettina trat ans Fenster und sah hinaus.

»Wunderschön, Großtanting. Nur wollte ich, der Schnee wäre für diesmal zu Ende. Ich hoffe so viel für dich vom Frühling, wenn du erst hier in der Sonne sitzen kannst, am offenen Fenster, dann wirst du wieder kräftiger werden.«

Großtanting lächelte und sah wehmütig zu dem schlanken Mädchen hinüber. Eine Weile blieb es still. Endlich legte sich Großtanting auf die Seite.

»Bettina – ich hab dich so lange nicht singen hören – sing mir ein Lied. Wenn du hier meine Zimmertür offen stehen läßt und drüben die vom Salon, dann höre ich dich sehr gut. Willst du?«

»Gern, Großtanting, wenn es dich nicht anstrengt.«

»Gewiß nicht. Nur ein Lied möchte ich hören – du weißt – mein Lieblingslied.«

Bettina küßte liebevoll den weißen Scheitel und ging hinaus. Die alte Dame sah ihr nach und lauschte in stiller Andacht, als die präludierenden Töne an ihr Ohr klangen. Und dann fiel Bettinas Stimme ein mit warmen Herzenstönen:

»Es ist so still geworden,
Verrauscht des Abends Wehn,
Nun hört man aller Orten
Der Engel Füße gehn.
Rings in die Tale senket
Sich Finsternis und Nacht: –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!

Es ruht die Welt im Schweigen,
Ihr Tosen ist vorbei,
Stumm ihrer Freude Reigen
Und stumm ihr Schmerzensschrei.
Hat Rosen sie geschenket,
Hat Dornen sie gebracht:
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!

Nun stehn im Himmelskreise
Die Stern' in Majestät,
In gleichem, festem Gleise
Der goldne Wagen geht.
Und gleich den Sternen lenket
Er deinen Weg durch Nacht:
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht! – –«

Das Lied war verklungen. Bettina kam still wieder herüber und setzte sich neben Großtanting in einen Stuhl. Die alte Dame sah wie verklärt hinaus in das Mondlicht.

»Wirf ab, Herz, was dich kränket und was dir bange macht!« sagte sie leise vor sich hin.

Bettina faßte ihre Hand und streichelte sie.

»Willst du noch nicht zu Bett gehen, Großtanting?«

Diese wandte Bettina ihre Augen zu.

»Laß mich noch ein Stündchen hier liegen, von meinem Bett aus kann ich den Mond nicht sehen. Und er ist so schön heute abend.«

»Soll ich dir vorlesen, Großtanting?«

»Nein, Kind. Bleib nur so still bei mir sitzen. Laß mir deine Hand. Sie ist so warm.«

»Ist dir kalt, Liebe, Gute?«

»Nein, nein.«

So saßen sie still beieinander und sahen in das Mondlicht hinaus. Großtanting schloß aber nach einer Weile müde die Augen.

Bettina wurde das Herz schwer. Wie lange würde sie diese liebe Hand noch in der ihren halten dürfen? Vor ihrem geistigen Auge zog alles vorüber, was ihr die alte Dame Liebes und Gutes erwiesen hatte. Ach – es war so viel, so viel, nie konnte sie es ihr genug danken, nie. Wie zart und liebevoll hatte sie ihr bedrücktes Gemüt aufgerichtet, damals, als sie hier ins Haus kam. Wie fein und taktvoll hatte sie ihre Stellung im Hause gebessert und sie gegen Tante Adolfines Härte in Schutz genommen. Welche unermeßlichen Schätze für Geist und Gemüt hatte sie in ihr Herz gelegt und damit ihrem Leben einen höheren Wert gegeben. Was wäre sie heute, hätte Großtanting sie nicht liebevoll an ihr Herz genommen?

In ihre Gedanken hinein tönte ein schwerer Seufzer aus Großtantings Brust. Bettina fuhr zusammen und sah sie an. Die alte Dame hatte die Augen aufgeschlagen und versuchte sich aufzurichten.

»Ich habe Durst, Bettina, – gib – gib mir zu trinken.«

Das junge Mädchen sprang auf und holte Wasser herbei. Großtanting trank begierig.

»Ah, meine Lippen sind so trocken. Eis möchte ich haben.«

»Eis? Das würde dir schaden, Liebste.«

»Ja, ja – aber mir ist – mir ist –«

Sie fiel matt zurück. Der Atem ging mühsam, das Gesicht wurde fahl und schlaff. Unruhig drehte sie den Kopf von einer Seite nach der andern.

Eine ungeheure, namenlose Angst kroch an Bettina heran. Ihr Herz drohte still zu stehen. Sie fühlte plötzlich ganz deutlich: Jetzt geht es zu Ende mit Großtanting.

Diese sah unruhig im Zimmer umher.

»Min leive Jung – min leive Jung!«

»Du weißt, Großtanting, er ist mit Georg und seinen Eltern auf dem Kasinoball.«

»Ach ja – richtig – ich hatte es vergessen,« lächelte die Greisin.

Ihre Augen hatten aber einen überirdischen Glanz. Bettina dachte an Ernst. Wenn es so war, wie sie verzweifelt fürchtete, wenn Großtantings letzte Stunde gekommen war, dann mußte sie ihn sofort rufen lassen. Er würde es ihr nie verzeihen, wenn sie es unterlassen würde.

Sie schlüpfte zur Tür hinaus und klingelte draußen nach dem Mädchen. Dann ging sie ins Zimmer zurück und setzte sich neben die alte Dame. Voll Angst und Unruhe sah sie in das liebe alte Gesicht. Es erschien ihr so anders, so fremd – weltentrückt.

Es währte eine Ewigkeit für ihre Angst, bis das Mädchen herunterkam. Bettina ging leise hinaus.

»Schnell, laufen Sie in das Kasino, Sie wissen, in der Arndtstraße. Dort fragen Sie nach Herrn Leutnant von Bühren, man wird ihn am ersten kennen. Er soll Herrn Ernst sofort nach Hause schicken, aber ganz schnell – ich fürchte, es geht nicht gut mit Großtanting. Aber eilen Sie, eilen Sie. Auf dem Rückwege laufen Sie zum Arzt.«

Das Mädchen sah Bettinas Angst und lief davon. Inzwischen war die Köchin auch herabgekommen, die Mädchen waren zum Glück noch nicht zu Bett gegangen.

»Bleiben Sie unten, in meiner Rufnähe, es könnte sein, daß ich Sie brauche,« rief ihr Bettina zu und eilte zu Großtanting zurück. Diese lag mit geschlossenen Augen und bewegte die trockenen Lippen wie im flüsternden Gespräch.

Bettina kniete an ihrer Seite nieder und legte schmeichelnd ihre Wange an die ihre.

»Großtanting, Liebe, Beste, hörst du mich!« rief sie leise.

Ihr angstvolles Flehen rief die verlöschenden Lebensgeister noch einmal zurück. Die alte Dame sah zärtlich in das blasse, angstvolle Mädchengesicht.

»Wirf ab, Herz, was dich kränket und was dir bange macht. Hörst du, Bettina. Gott segne dich, mein Blondchen.«

»Wie fühlst du dich, Großtanting?«

»Durst.«

Bettina hielt ihr das Glas an den Mund, aber sie netzte kaum die Lippen.

»Wo ist nur min leive Jung?« fragte sie unruhig, versonnen.

»Er wird gleich hier sein, Liebste.«

»Das ist gut, sehr gut.«

Sie dämmerte wieder vor sich hin, und die Atemzüge wurden immer schwächer, zitternder.

Bettina wurden die Minuten zur Ewigkeit. Im Geist folgte sie dem Mädchen und rechnete sich aus, wie weit sie sein könnte. Die Arndtstraße lag etwa zehn Minuten entfernt. Jetzt konnte sie dort sein. Jetzt schickte man ihr Bühren heraus. Er würde Ernst sofort aufsuchen. Aber vielleicht fand er ihn nicht gleich. Aber jetzt – ja, jetzt wußte es Ernst. Und nun eilte er in die Garderobe – nahm Hut und Mantel. Und nun mußte er auf dem Heimwege sein. Ach Gott – Großtantings Hände wurden so kalt. Sie umfaßte sie mit den ihren und hauchte ihren jungen, warmen Atem darüber hin und preßte die heißen Lippen darauf. »Wenn du schon gehen willst, Liebe, Gute – warte nur noch bis Ernst kommt – nur so lange noch,« dachte sie ängstlich. Und lauschte in die schweigende Nacht hinaus, ob sie seinen Schritt nicht hörte. Und endlich hörte sie ihn auf der Treppe. Sie kannte ihn unter Tausenden heraus. Immer drei Stufen auf einmal hastete er empor.

»Großtanting – Großtanting – er kommt – Ernst kommt!« rief sie wie erlöst, als hätte alle Not nun ein Ende.

Gleich darauf trat Ernst in das Zimmer. Hut und Mantel flogen in seiner raschen, ungestümen Art zu Boden. Er kniete neben Bettina nieder.

»Großtanting, Großtanting!«

Sie sah auf. Ein blasses Lächeln huschte um ihren Mund.

»Min leive Jung – min leive –«

Ein schluchzender Atem – ein leise gurgelnder Laut – ein letzter tiefer Atemzug. – Ernst hielt eine Tote im Arm.

Er schloß ihr mit liebender Hand die gebrochenen Augen. Tieferschüttert sah er in das stille Gesicht. Friedlich wie im Schlafe lag sie da. Bettina sah zu Ernst auf.

»Wenn doch der Arzt bald käme – ich hab' solche Angst um sie,« sagte sie leise. Sie begriff noch nicht, was geschehen war.

Er legte die Arme um ihre Schultern und hob sie empor.

»Komm, Bettina. Großtanting ist hinübergeschlummert.«

Sie schrak zusammen und starrte in das stille Gesicht.

»Tot – tot?« rief sie leise.

»Ja, Bettina.«

Ein Schwanken und Zittern flog über ihre schlanken Glieder. Sie sah ihn an, daß ihm das Herz weh tat. Ein krampfhaftes Schluchzen stieg aus ihrer Brust empor, und dicke Tränen rollten über ihr Gesicht.

Er zog sie in seine Arme und streichelte ihr Haar.

»Fasse dich, Bettina, störe ihre Ruhe nicht,« bat er zärtlich besorgt. Dann ließ er sie in einen Sessel gleiten und küßte ihr die Hand.

»Hab Dank, daß du mich rufen ließest, ich wäre sehr betrübt gewesen, hätte ich ihren letzten Blick nicht aufgefangen.«

Sie suchte sich zu fassen.

»Ich wußte das, deshalb schickte ich nach dir.«

Er strich ihr das Haar aus der Stirn wie eine zärtliche Mutter. Sein eigener Schmerz verblaßte neben dem ihren. Er wußte, wie viel Bettina in dieser Stunde verloren hatte, und wie schwer es ihr wurde, diesen Verlust zu tragen. –

Durch Bühren hatte er auch seine Eltern benachrichtigen lassen, daß Bettina Botschaft geschickt hatte, und daß er nach Hause gehe und sie bald erwarte. Frau Adolfine war sehr ärgerlich. Mußte ihnen gerade dieses Fest gestört werden, von dem sie so viel erwartet hatte. Diese Bettina war ein zu törichtes Geschöpf, sie alle zu alarmieren. Wenn Tante Emma wirklich wieder eine ihrer Ohnmachten hatte – das ging doch vorüber. Und wenn nicht – dann hätte man es bei der Heimkehr noch früh genug erfahren. Am liebsten wäre sie geblieben, aber Peter Aßmann sah ihr so ernst und dringend in die Augen, daß sie keinen Widerspruch wagte, als er den Wagen zur Heimfahrt bestellte.

Aber Georg streikte entschieden. Er unterhielt sich gerade ausgezeichnet und hatte keine Lust, sein Vergnügen ›ohne triftigen Grund‹ zu unterbrechen, »Wenn es unbedingt sein muß, daß ich heimkomme, dann kannst du ja nach mir schicken. Ich komme dann immer noch früh genug, helfen kann ich ja doch nicht,« sagte er gemütsruhig zu seiner Mutter.

Was lag ihm an dem Leben der alten Dame – sie galt ihm nichts – er hatte nie etwas für sie empfunden.

Seine Eltern trafen mit dem Arzt zu gleicher Zeit ein. Dieser konnte nur den eingetretenen Tod feststellen und entfernte sich bald wieder. Peter Aßmann stand schmerzlich erschüttert an Großtantings Leiche. Es tat ihm herzlich leid, daß er zu spät gekommen war, einen letzten Gruß mit Tante Emma zu tauschen. Bettina mußte ihm über die letzte Stunde berichten. Sie tat es mit bebender Stimme und verweinten Augen. Alle waren fassungslos, obwohl man das Ende hatte kommen sehen. Nur Frau Adolfine bewahrte ihre kühle Rühe und erledigte klar und bestimmt, was in solchen Fällen nötig ist. Sie sandte nun auch nach Georg. Es ging doch nicht, daß er länger auf dem Balle blieb. Aber ärgerlich, sehr ärgerlich war es ihr, daß Tante Emma gerade heute sterben mußte, gerade jetzt, da ihr so viel daran gelegen war, auf dem Balle zu bleiben. Für sie war Großtantings Tod nichts als eine vorübergehende Verdrießlichkeit wegen der damit verbundenen Rücksichten. Zugleich empfand sie aber auch ein Gefühl heimlicher Befreiung, denn sie wußte, Großtanting war mit ihren klugen Augen bis in ihr innerstes Wesen eingedrungen und hatte sie besser gekannt als sonst ein Mensch. Und wenn sie auch nie ein Urteil ausgesprochen hatte, Adolfine hatte stets ganz genau gewußt, wenn Großtanting ihr Tun und Lassen mißbilligt hatte. Das war ihr immer unbehaglich gewesen.

*

Die Maiensonne fiel zum Fenster herein und hüllte Bettinas schwarzgekleidete Gestalt in helles Licht. Doppelt ernst und düster wirkte das Trauergewand gegen das goldschimmernde Haar und das zartgerötete Gesicht des jungen Mädchens.

Bettina besserte Wäsche aus. Vor ihr lag ein kleiner Berg solcher Arbeit. Ihre schlanken Finger schafften emsig und unermüdlich. Sie sah aber sehr traurig und ernst aus. Noch hatte sie den schmerzlichen Verlust, der sie betroffen, nicht verwunden. Zuweilen blickte sie seufzend in den lachenden Frühlingstag hinaus. Sie wäre so gern einmal wieder in den Stadtwald gegangen, dessen Bäume zartgrün über den Fluß herüberschimmerten. Aber Tante Adolfine versorgte sie immer sehr reichlich mit Arbeit, und Bettina kam nur aus dem Hause, wenn sie Besorgungen in der Stadt zu machen hatte.

Es war alles so ganz anders geworden seit Großtantings Tod. –

Sie versenkte ihre Gedanken, wie so oft, in die schöne Zeit, da sie zu den Füßen ihrer liebevollen, gütigen Schützerin sitzen und alles vom Herzen herunterreden konnte, was sie drückte. Jetzt konnte sie zu niemand von dem reden, was ihr Herz bewegte. Tante Adolfine war ihr gegenüber fast noch strenger und härter geworden. Sie war außer sich gewesen, daß Großtanting Bettina fünfundzwanzigtausend Mark vermacht hatte, und verlangte allen Ernstes, daß ihr Mann das Testament anfechten sollte; Bettina habe sich das Erbe durch allerlei Schmeicheleien erschlichen. Als sie dann hörte, daß Peter ganz genau gewußt hatte, was das Testament enthielt, und daß er nur voll und ganz billigen könnte, daß Tante Emma der armen Waise für ihre aufopfernde Pflege einen kleinen Teil ihres Vermögens vermacht hatte, war sie einfach fassungslos.

»Du bedenkst wohl nicht, daß dieses Geld unseren Söhnen entzogen wurde, Peter?«

»Doch, das bedenk' ich wohl, Adolfine. Es macht für jeden nur zwölfeinhalbtausend Mark, ich denke, das können sie beide leichten Herzens verschmerzen. Es bleibt ihnen auch so noch genug. Ich hoffe, ihr denkt wie ich,« wandte er sich an seine Söhne, die dieser Unterredung beiwohnten.

Georg zog einen schiefen Mund.

»Na – ich hätte mir ja ein Automobil dafür leisten können,« sagte er mit einem Versuch, zu scherzen. Es klang aber auch etwas Ärger mit durch. Ernst sah ihn groß und flammend an.

»Ich bin ganz und gar Vaters Ansicht. Mir wäre es ebenso recht gewesen, wenn Großtanting die Summe für Bettina verdoppelt hätte.«

Adolfine lachte hart auf.

»Ihr seid ideale Schwärmer. Mit euch ist nicht vernünftig zu reden,« sagte sie ärgerlich und ging hinaus.

Bettina gegenüber ließ sie aber deutlich genug ihr Mißfallen über die ihr zugefallene Erbschaft durchblicken.

Das junge Mädchen war ganz fassungslos gewesen, als sie davon erfuhr, und als ihr Onkel Peter, wie es die verstorbene gewünscht hatte, in einem eisernen Kassettchen die fünfundzwanzigtausend Mark überreichte und ihr den Gebrauch der Zinsscheine erklärte, die den Wertpapieren beigefügt waren. Sie wußte nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, und Frau Adolfines Verhalten überzeugte sie fast, daß ihr das viele Geld nur mit Unrecht gehörte. Erst Ernsts Ermahnungen, Großtantings Fürsorge für sie mit frohem Herzen anzuerkennen und sich durch nichts in dem Glauben irre machen zu lassen, daß ihr Großtanting dies Geld mit dem Recht ihrer Liebe hinterlassen hatte, machte sie ruhiger.

Großtanting hatte ausdrücklich bestimmt, daß Bettina das Geld in sicheren Papieren sofort ausbezahlt bekommen sollte, und daß es zu ihrer freien Verfügung stand. Niemand sollte ihr dreinzureden haben. – Das hatte die alte Dame so angeordnet, weil sie Bettina einigermaßen unabhängig von Adolfine machen wollte. Und dieser Bestimmung mußte selbstverständlich auch entsprochen werden; daran ließ sich nun einmal nichts ändern.

Das junge Mädchen hatte die eiserne Kassette mit heiliger Scheu in ihren Schrank geschlossen, und wenn sie abends allein in ihrem Zimmer war, dann strich sie wohl leise darüber hin mit den Händen – als wäre sie ein Teil der geliebten Verstorbenen.

Mit Ernst kam Bettina sehr wenig zusammen, nun sie sich in Großtantings Stübchen nicht mehr zu einem Dämmerplausch einfanden. Nur bei Tisch sahen sie sich und zuweilen im Vorübergehen. Manchmal kam Ernst zu Tisch gar nicht nach Hause, denn er hatte sehr viel zu tun. Immer neue Aufträge erhielt er. Seine Entwürfe waren so ganz eigenartig und künstlerisch vollendet, dabei praktisch leicht durchführbar, daß jeder, der zu bauen hatte, zuerst zu ihm kam. Er mußte Hilfskräfte einstellen, obwohl er eine ganze Menge Arbeiten zurückweisen mußte. Dazu nahm ihn der Theaterbau stark in Anspruch, und nach Berlin mußte er jede Woche einmal fahren.

Auch heute mittag hatte er nach Hause telephoniert, daß er nicht zum Essen kommen könnte. Und das machte Bettina immer sehr traurig – denn sie lebte nur noch in den kurzen Minuten, da sie ihn sehen konnte.

Wieder seufzte sie auf und nahm ein frisches Wäschestück vor. Da öffnete sich plötzlich die Tür und Ernst trat ein. Alle Trauer wich aus ihrem Gesicht, ihre Augen leuchteten auf.

»Tag, Bettina.«

»Guten Tag, Ernst.«

»Nun, schon wieder so fleißig? Du solltest bei dem herrlichen Wetter doch lieber spazieren gehen.«

Sie lächelte.

»Und meine Wäsche? Wer soll die in Ordnung bringen?«

»Du selbst, wenn du wieder heim kommst. Der Tag ist lang. Und mit deiner Arbeit eilt es doch nicht.«

Er setzte sich ihr gegenüber und wühlte in dem Wäschestoß herum.

»Doch, Ernst. Tante würde mich schelten, wollte ich meine Arbeit liegen lassen und nach Gefallen fortlaufen.«

»Dann will ich schnell um Urlaub für dich bitten. Wo ist meine Mutter?«

»Tante ist ausgegangen.«

»So!«

Ernst erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Dabei sah er immer wieder zu Bettina hinüber, deren Liebreiz ihm noch nie so zum Bewußtsein gekommen war wie eben jetzt. Endlich blieb er vor ihr stehen.

»Meinst du, daß deine Flickerei wichtiger ist als meine Baupläne?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein – das meine ich gewiß nicht.«

»Na also, – dann packe deinen Kram zusammen. Ich bin auch mitten aus meiner Arbeit fortgelaufen, um mit dir eine Stunde in den Wald gehen zu können.«

Sie sah errötend mit freudigem Schrecken zu ihm auf.

»Du – mit mir in den Wald!« rief sie voll zitternder Freude.

»Ja, gewiß. Deshalb komme ich nach Hause. Willst du nicht mitkommen?«

Sie atmete tief auf.

»Ob ich will – ach – furchtbar gern, – aber Tante.«

Er nahm ihr lächelnd die Arbeit aus der Hand.

»Furchthase,« schalt er gutmütig. »Du mußt dich nicht so unterkriegen lassen, Bettina – ernstlich. Zeig doch Mutter einmal, daß du auch einen Willen hast.«

»Ach Gott!« seufzte sie erschrocken.

Nun lachte er laut auf.

»Vorwärts, fertig gemacht. In fünf Minuten bist du wieder hier. Du sollst dir heute rote Wangen laufen. Es ist mir schon lange aufgefallen, daß du so blaß aussiehst. Das muß anders werden. Und wenn du dich unbedingt tyrannisieren lassen willst, kann ich das ja auch sehr gern tun. Also los.«

Sie zögerte noch, obwohl ihr dieser Spaziergang unsagbar verlockend erschien.

»Tante wird schelten –«

»Rrrruhe – Order parieren. Ich werde es selbst vor meiner Mutter verantworten.«

Nun eilte sie hinaus. Mit fliegenden Händen machte sie sich zum Ausgehen fertig und stand noch vor Ablauf der fünf Minuten wieder vor Ernst.

Dieser hatte inzwischen mit aufgestütztem Kopf in einem Sessel gelehnt und vor sich hin gesonnen. Mitten in seiner Arbeit hatte ihn eine treibende Unrast erfaßt – ein blonder Mädchenkopf war vor ihm aufgestiegen. Tiefblaue, leuchtende Augen sahen ihn lockend an und ließen ihn nicht mehr los, bis er heftig seine Zeichnungen beiseite schob und nach Hause stürmte. So ging es ihm oft jetzt. Immer stahl sich der Gedanke an Bettina in seine Arbeit, und er fand viele Gründe, um sich das zu erklären. Es war ja so natürlich. Großtanting hatte ihn zu Bettinas Schützer bestellt. Er betrachtete das junge Mädchen als ein teures Vermächtnis. Da mußte er sich selbstverständlich um sie kümmern, sich in Gedanken mit ihr beschäftigen. Das war doch so klar. Warum ihn aber oft eine fiebernde Unruhe packte, die nicht eher nachließ, bis er Bettina gegenüberstand – das erklärte er sich nicht. Sie tat ihm natürlich leid, das arme, liebe Ding. Sie war so einsam, so verlassen mit ihrem weichen Herzen, seit Großtantings Tode. Und seine Mutter war schroffer und härter als je zu ihr, das entging ihm nicht.

Sie konnte ihr die Erbschaft nicht vergeben – ach – wie klein sind die Menschen – und wie bitter, wenn man die eigene Mutter kleinlich finden muß. Bettina hatte keinen Menschen, der lieb und gut zu ihr war. Da mußte er sich doch ihrer annehmen.

Und er tat es mit innigem Behagen. Er erwies ihr kleine Aufmerksamkeiten, brachte ihr ein Buch – ein paar Blumen und – legte in Großtantings Schrankeckchen Schokolade und kleine Näschereien für sie.

»Großtanting hat dir was gebracht,« pflegte er dann lächelnd zu ihr zu sagen und freute sich an dem Aufleuchten ihrer Augen. –

Heute hatte er es nun nicht mehr bei der Arbeit aushalten können. Der Maienzauber hatte es ihm angetan. –

Und nun schritten sie nebeneinander die Straße entlang, über die Brücke und am gegenüberliegenden Ufer nach dem schönen großen Stadtwald. Bettina ging wie in einem seligen Traum. Die Welt war so schön, die Sonne so golden und warm. Die Vögel sangen in den Zweigen, an denen sich das Laub in zartem, feinem Gekräusel angesetzt hatte, jauchzende Lebenslust, sehnsüchtiger Lebensdrang ringsum. Und neben ihr der Mann, dem ihr junges, reines Herz in scheuer, tiefer Liebe entgegenschlug. Mit allen Sinnen empfand sie das Herrliche, Köstliche dieser Stunde.

Und Ernst schritt versonnen neben ihr und sah auf ihr blondes Köpfchen herab.

Nun waren sie mitten im Wald.

»Wie schön, wie schön!« jubelte Bettina auf. »Schau doch nur dies zarte junge Grün. Die Birken wie im Festtagskleid – ach, wie herrlich!«

Sie atmete in tiefen Zügen die klare Luft. Ihre Wangen röteten sich, und die Augen strahlten, als sei ihnen eine Offenbarung geworden. Er sah sie nur immer an.

»Ja – wunderschön – wunderschön,« sagte er mit verhaltener Stimme, und sein Herz klopfte stark und unruhig.

Ein Eichkätzchen huschte über den Weg. Sie faßte schnell Ernsts Arm und zeigte darauf hin.

»Da – hast du es gesehen?«

»Was denn?«

»Ein Eichkätzchen – da sieh.« –

Sie drängte sich an ihn heran, um ihn beiseite zu schieben, damit er das Tierchen sehen konnte.

»Siehst du es jetzt?« fragte sie eifrig. »Da, es läuft an dem Baumstamm hinauf. Siehst du?«

»Ja, ja,« sagte er. Aber er sah nichts als sie und fühlte nur ihren weichen Arm auf dem seinen, die Nähe ihrer jugendschönen Gestalt. Ganz dicht vor seinem Gesicht flimmerte ihr goldiges Haar. Entzückt betrachtete er das kleine, rosige Ohr, die weiche Linie der Wangen und des Kinns. Er verhielt den Atem. Der Zauber dieser Stunde nahm ihn gefangen – heiß stieg es in ihm empor. Zum ersten Male regten sich die Wünsche in seiner Brust, die er noch gar nicht fassen konnte, so plötzlich waren sie da.

»Ach – nun ist es fort,« rief Bettina, ahnungslos, was in Ernst vorging. Sie ließ seinen Arm los. Fast unbewußt machte er eine Bewegung, um sie festzuhalten. Da zuckte sie zurück und errötete jäh.

Er nahm sich zusammen und zwang sich zur Ruhe. Nein, erschrecken durfte er sie nicht wegen – nun ja, wegen einer plötzlichen zärtlichen Aufwallung. Sie durfte das Vertrauen zu ihm nicht verlieren. Was wollte er denn auch von ihr? Liebte er sie – wollte er sie gar zu seiner Frau machen? Nun, warum denn nicht? – Wenn er sie liebte – und das, was er für sie fühlte, war doch wohl viel mehr als kühle, brüderliche Zärtlichkeit – wenn er sie also liebte – warum sollte sie dann nicht seine Frau werden? Ja – warum denn nicht – so ein süßes, holdes Geschöpf, so rein, so gut – ganz doch sein Ideal einer Frau. Aber ob sie ihn lieben würde? Ja – das war freilich sehr fraglich – sehr. Bühren war ihr doch augenscheinlich lieber gewesen – und wenn sie ihn auch nicht heiraten konnte – weil sie beide zu arm waren – nein – eine Frau heiraten, der er nicht der Erste – der Einzige war – nein. Und sie würde ihn ja auch gar nicht nehmen mit der Liebe zu einem anderen im Herzen, das wußte er, dazu kannte er sie zu gut.

»An was denkst du, Ernst? Du machst ein so düsteres Gesicht,« sagte sie in seine Gedanken hinein.

Er fuhr auf und lachte gezwungen.

»O – ich dachte etwas sehr Geheimnisvolles,« sagte er.

Sie antwortete nicht und ging weiter.

Er sah sie prüfend an.

»Nun – bist du gar nicht neugierig, Bettina? Wenn Frauen ein Geheimnis ahnen, suchen sie es doch zu ergründen.«

Sie lachte schelmisch.

»O ja – neugierig bin ich – wie alle Frauen. Aber ich weiß, wenn du ein Geheimnis hast, wirst du es vor allen vorwitzigen Nasen zu verbergen wissen.«

»Gehört deine Nase auch dazu?«

»O nein, die steckt sich nicht in andrer Leute Geheimnisse,« neckte sie.

»Du bist ein Schelm, kleines Mädchen.«

Sie reckte sich.

»O – ich bin nicht klein.«

Er stellte sich dicht neben sie.

»Da schau – bis an die Schulter reichst du mir.«

»Ja – du bist aber auch ein Riese, neben dir bin ich freilich klein.«

Er umfaßte sie plötzlich und hielt sie einen Augenblick fest. Ein unruhiger Glanz zuckte in seinen Augen. Vor diesem Ausdruck erschrak sie, ohne zu wissen, warum. Sie machte sich mit einem Ruck frei, und ging schnell einige Schritte voraus. Ganz blaß war sie geworden, und ihre Stirn zog sich zusammen wie im Schmerz. Ernst war über sich selbst erschrocken, faßte sich aber sofort. Bettina durfte jetzt nicht ahnen, was in ihm vorgegangen war, wollte er ihr Vertrauen nicht verlieren. Er mußte sich ganz unbefangen stellen.

»Was läufst du denn auf einmal so schnell, Bäschen,« rief er, scheinbar ahnungslos, daß er sie erschreckt hatte; Bettinas Fuß stockte. Sie hatte sich inzwischen auch gefaßt und sich selbst ausgescholten, daß sie sich so töricht benommen. Ernst hatte ganz unbefangen brüderlich den Arm um sie gelegt, und sie lief davon wie eine Törin. Wenn sie sich nicht besser beherrschen konnte, wo sollte das hinführen?

Sie sah mit blassem Lächeln zu ihm zurück.

»Ich kann ja auch langsamer gehen,« sagte sie möglichst ruhig. Und sie zeigte sich beherrscht und unbefangen. So gingen sie nebeneinander durch den lachenden Maienzauber, und während die Lippen plauderten und lachten, zitterten die Herzen in unruhiger Beklemmung.

Ernst sah immer wieder mit heimlichem Forschen in ihre Augen. Nein, böse war sie ihm nicht. Lieb und gut blickte sie ihn an wie immer. Und er faßte wieder Mut. Es war ja noch gar nicht ausgemacht, daß sie Bühren liebte. Vielleicht – nein – gewiß war ihr Herz noch frei, und er durfte um sie werben. Natürlich mußte er Geduld haben und nicht so ungestüm vorgehen, sie nicht mehr erschrecken. So ein Mädchenherz ist ein eigen Ding. Sie, die Scheue, Zaghafte, mit dem reinen Sinn, würde ihm selbstverständlich nicht gleich ohne weiteres um den Hals fallen. Nein, das hätte ihm gar nicht einmal an ihr gefallen. Am Ende hatte sie gar geglaubt, er wolle leichtsinnig mit ihr herumtändeln, wie er es wohl früher mit anderen Frauen getan, und war deshalb erschrocken gewesen. Da mußte er doch ernstlich sorgen, daß sie so etwas nicht von ihm glaubte. Doppelt zart und rücksichtsvoll wollte er nun zu ihr sein, wenn es ihm auch plötzlich recht schwer erschien, sich ihr so zurückhaltend brüderlich zu zeigen. Jedenfalls mußte er erst klar sehen, wie sie mit Bühren stand, ehe er merken ließ, daß er anders als brüderlich für sie empfand. Nach einer Weile fragte er sie lächelnd:

»Bist du noch nicht müde? Komm, stütze dich auf meinen Arm.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, müde bin ich gar nicht. Stundenlang könnte ich noch so weiterlaufen, immer in die grüne Pracht hinein. Es ist ja so schön draußen, und ich war so lange nicht hier. Früher kam ich mit Großtanting jeden Tag hierher.«

Sie hatte trotz ihrer Versicherung, nicht müde zu sein, ihre Hand leicht auf seinen Arm gelegt, und er freute sich ihrer Zutraulichkeit mit stillem Lächeln.

»Und das fehlt dir jetzt sehr, gelt?« fragte er herzlich.

Sie nickte.

»Ja. Es ist ja alles so anders geworden, seit Großtanting von uns gegangen ist.«

»Du bist zu viel allein. Und mit meiner Mutter verstehst du dich nicht.«

Sie machte ein bedrücktes Gesicht.

»Ach – Tante Adolfine ist mir böse, ich weiß es, weil Großtanting mir das viele, viele Geld vermacht hat.«

Er lachte.

»Du hältst fünfundzwanzigtausend Mark wohl für einen sehr großen Reichtum?«

Sie nickte ernsthaft.

»Ja, es ist furchtbar viel Geld. Ach, Ernst – du weißt gar nicht zu beurteilen, wie viel das für einen Menschen ist, der immer arm gewesen. Nie hab ich so viel Geld auf einmal gesehen, viel weniger besessen. Fast macht es mich bange. Ach – vor Jahren hätte weniger als der zehnte Teil davon meinem Bruder und meiner Mutter das Leben gerettet. Nun weiß ich gar nicht, was ich mit dem Gelde anfangen soll. Ich brauche es nicht, und es macht mir wenig Freude. Eigentlich gehört es doch euch, und Tante Adolfine hat recht, wenn sie zürnt.«

Seine Stirn hatte sich gerötet. Er machte ein finsteres Gesicht.

»Nein, sie hat nicht recht. Großtanting konnte über ihr Vermögen verfügen, wie sie wollte. Wäre es nach mir gegangen, hätte sie dir mehr vererben müssen. Was ist denn diese Summe? Ein Notpfennig für dich. Und für Georg und mich ist das leicht zu verschmerzen. Sei doch nicht töricht, Bettina, verrenne dich nicht in den Gedanken, daß du kein Recht auf das Geld hast. Mit dem Recht der Liebe hat es Großtanting dir hinterlassen, du darfst es mit demselben Recht für dich in Anspruch nehmen. Es schmerzt mich sehr, daß meine Mutter so kleinlich denkt.«

»Sie tut es ja nur für euch, Ernst. Du mußt deine Mutter nicht schelten, weil sie alles Gute für euch vom Schicksal will. Sei ihr nicht böse – nicht meinetwegen – das tut mir weh.«

Er sah lächelnd in ihr bittendes Gesicht.

»Also nein – ich bin es nicht mehr, weil du so lieb bitten kannst.«

Nun war sie zufrieden.

Ernst sah sinnend vor sich hin.

Wenn er Bettina zu seiner Frau machen wollte – das würde noch einen heißen Kampf geben mit seiner Mutter. Sie hatte so ganz andere Pläne mit ihm, das wußte er. Aber diese Pläne würden sich nie verwirklichen. Das Mädchen, das ihm die Mutter ausgewählt hatte, war ihm im günstigsten Falle gleichgültig, und daß es eine reiche Erbin war, blieb ohne Einfluß auf ihn. Was fragte er danach. Er war selbst reich, und sein Beruf, sein Können und Schaffen würden ihm auch ohnedies gestattet haben, eine arme Frau zu heiraten. War seine Mutter nicht auch vermögenslos gewesen? Aber daran dachte sie nicht mehr. Sie wollte reiche Schwiegertöchter haben um jeden Preis. Vielleicht gerade, weil sie selbst arm gewesen war. Das Haus Aßmann sollte wohl für den Ausfall ihrer Mitgift entschädigt werden. – Nun, Georg würde ja nach ihrem Herzen wählen, er würde auch darin der korrekte, wohlerzogene Sohn seiner Mutter sein. – Den Vater hatte er sicher auf seiner Seite, das wußte er. Bettina war dem alten Herrn sehr lieb, das hatte er bei der Erbschaftsangelegenheit bewiesen. So peinlich und genau er sonst in Geldangelegenheiten war – als Kaufmann mußte er das sein – den Betrag für Bettina hatte er freudig aus der Erbschaftsmasse an sie abgeliefert. Wie ängstlich Bettina war. Fast ein Unrecht erschien es ihr, das Geld zu behalten. Überhaupt, was war sie für ein scheues, ängstliches Geschöpf. Man würde immer an ihr zu beschützen, zu behüten haben. Aber gerade das erschien ihm so reizvoll. So ein weiches Herz hatte sie. Und wie liebevoll sie war. – Wenn sie einen Mann liebte, dann geschah es sicher mit vollem, ganzem Herzen. Sie würde aufgehen in ihm. Und so zärtlich konnte sie sein, wo sie liebte, das hatte er in ihrem Verkehr mit Großtanting gesehen. Auch opferfreudig – für einen Menschen, den sie liebte, würde sie alles zu tun imstande sein. –

Immer mehr wurde es klar in ihm, daß Bettina seine Frau werden mußte – wenn sie ihn lieb haben konnte, wie er es wollte.

»Wir möchten nun umkehren, Ernst, es wird sonst zu spät,« sagte Bettina mitten in seine Gedanken hinein. Er fuhr auf und sah nach der Uhr.

»Wir sind ja kaum eine halbe Stunde unterwegs.«

»Aber wir brauchen ebensolange für den Rückweg.«

»Richtig, dagegen läßt sich nichts sagen, Also Kehrt gemacht, Bäschen. Weißt du was – wir werden jetzt jeden Tag eine Stunde miteinander spazierengehen, mit Ausnahme der Tage, an denen ich in Berlin bin.«

Sie sah erschrocken zu ihm auf.

»O – deine kostbare Zeit – das kann wohl nicht sein.«

»Nicht? Auch nicht, wenn ich dir sage, daß ich diese Spaziergänge ebenso nötig brauche wie du selbst? Oder meinst du, es tut mir nicht gut, wenn ich mich ein bißchen auslaufe?«

Sie sah ihn unsicher an.

»Das wohl – gewiß. Aber in meiner Gesellschaft?«

»Warum gerade nicht mit dir?«

»Ach – ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll – ich meine, es muß sehr langweilig für dich sein. Ich bin ein so unbedeutendes Geschöpf.«

Er sah sie neckend an.

»So? Unbedeutend? Ei – das habe ich noch gar nicht gemerkt. Und mich hältst du wohl demnach für bedeutend?«

Sie nickte energisch.

»Sehr – ich komme mir nie so klein vor, wie in deiner Gesellschaft.«

Er lachte übermütig.

»Und dabei widersprachst du vorhin, als ich dich ein kleines Mädchen nannte.

»Ach, so hast du das gemeint? Dann will ich es nicht mehr tun,« erwiderte sie nun auch neckend.

»Zwar hab' ich es nicht so gemeint, sondern ganz anders – aber lieb ist es von dir, daß du vernünftig sein willst. Es würde dir auch gar nichts nützen, von morgen an gehst du jeden Tag nach Tisch eine Stunde mit mir in den Wald.«

Sie seufzte.

»Ach, schön wäre das – wunderschön. Aber du vergißt deine Mutter. Sie wird es nicht leiden und – am Ende schickt es sich auch nicht,« schloß sie zögernd.

»Daß ich mit meiner Base spazieren gehe, soll sich nicht schicken? Na, erlaube mal – wer soll uns das verbieten? Mutters Einwilligung erhalte ich schon, hab' keine Angst. Und ich verordne dir einfach täglich einen Spaziergang in meiner Gesellschaft. Hab' ich Großtanting nicht versprochen, dein Hüter zu sein? Deine Gesundheit erfordert Bewegung im Freien – punktum.«

Sie lachte hell und glücklich auf, und er sah sie entzückt an.

»Siehst du, – schon der Gedanke daran übt eine gute Wirkung auf dich aus. Ich glaubte schon, du könntest gar nicht mehr lachen.«

Sie sah ihn bewegt an und reichte ihm die Hand.

»Fast hatte ich es verlernt. Ach Ernst, du bist so gut zu mir, so sehr gut. Ich danke dir von Herzen.«

Er zog ihre Hand an seine Lippen. Sie errötete und machte sich schnell wieder frei. Sie war es so gar nicht gewöhnt, sich die Hand küssen zu lassen.

*

Als sie eine halbe Stunde später wieder zu Hause anlangten, hatten sie beide das Gefühl, etwas sehr Schönes erlebt zu haben. Aber daheim fiel sofort die rauhe Prosa über sie her. Frau Adolfine war inzwischen heimgekehrt und hatte vergeblich nach Bettina gesucht. Sie empfing das junge Mädchen scheltend und verärgert.

»Was ist das für eine Art, Bettina? Du läufst von der Arbeit fort, ohne mich um Erlaubnis zu fragen.«

»Verzeihe Tante – du warst nicht zu Hause, sonst hätte ich es sicher getan.«

»Dann hättest du eben warten sollen, bis ich zurückkam. Ich bitte mir sehr aus, daß solche Unordnung unterbleibt. Was hast du überhaupt draußen herumzulaufen ohne Zweck. Das ist nutzlose Zeitvergeudung, und die dulde ich nicht in meinem Hause, das solltest du wissen.«

Bettina war sehr blaß geworden und machte ein ängstliches Gesicht. Ehe sie aber Zeit fand, noch einmal um Verzeihung zu bitten, legte Ernst seine Hand auf ihren Arm. »Gehe jetzt auf dein Zimmer, Bettina, – ich habe mit meiner Mutter zu sprechen,« sagte er ruhig und beherrscht. Aber auch sein Gesicht war bleich, und die Augen brannten. Bettina sah angstvoll zu ihm auf, aber er lächelte ihr zu und öffnete ihr artig die Tür.

Als sie verschwunden war, wandte er sich seiner Mutter zu, die ihm ärgerlich entgegenblickte.

»Was soll das heißen, Ernst?«

»Zuerst will ich dir sagen, daß ich es war, der Bettina zu diesem Spaziergang verleitete.«

»Wie kommst du dazu?«

»Nun – eigentlich müßte es keiner besonderen Veranlassung bedürfen, aber ich kann dir ja sagen, daß ich Bettina sehr blaß aussehend finde. So ein junges Mädchen braucht doch frische Luft zum Gedeihen. Seit Großtantings Tod ist sie nur aus dem Hause gekommen, wenn sie Besorgungen für dich zu machen hatte. Zank doch nicht immer mit ihr, Mutter. Wenn du zu ihr sprichst, geschieht es nur in diesem harten, scheltenden Tone.«

»Der ist ihr sehr gesund. Sie ist ohnedies von Tante Emma viel zu sehr verwöhnt worden, und es ist kein Wunder, wenn sie sich wie eine Prinzessin aufspielt.«

»Davon habe ich nie etwas gemerkt, Mutter. Bettina ist so still und bescheiden und nimmt es stets ruhig hin, wenn du sie ausschiltst. Sei doch ein bißchen gut zu ihr, Mutter – sie würde dir so dankbar sein.«

Frau Adolfine lachte brüsk.

»Dankbar – dankbar! Dies Wort gibt es wohl kaum in ihrem Sprachschatz, sonst würde sie schon Gebrauch davon gemacht haben.«

»Da irrst du, Mutter. Wenn sie auch das Wort nicht im Munde führt – das Gefühl der Dankbarkeit ist sehr stark in ihrem Herzen ausgeprägt. Du sollst nur hören, wie sie von Großtanting spricht.«

»Natürlich – die hat sie ja auch verwöhnt und verhätschelt, mit Schmuck behängt, ihr ein Vermögen vermacht, was von rechtswegen euch zukam. Da ist es freilich kein Kunststück, dankbar zu sein.«

Ernst biß sich auf die Lippen, um die scharfen Worte zurückzudrängen, die der Mutter Verhalten tadeln wollten. Er dachte an Bettinas Bitte und bezwang sich.

»Sie ist auch um Kleineres dankbar, Mutter. Hättest sie nur sehen sollen, wie dankbar sie mir war, daß ich sie ins Freie geführt hatte. Nicht wahr, du bist im Grunde gar nicht so bös? Stellst dich nur so. Sei gut, Mutter, und erlaube, daß ich Bettina jeden Tag ein Stündchen mit hinausnehme in den Wald.«

Er hatte sehr warm und herzlich gesprochen. Seine Mutter sah ihn plötzlich sehr scharf und mißtrauisch an.

»Wie kommst du dazu, dich zu ihrem Ritter aufzuwerfen? Was geht dich Bettina an?«

Er merkte sofort ihre mißtrauische Unruhe und nahm einen leichten Ton an.

»Ich hab' Großtanting versprochen, mich ihrer anzunehmen, und du wirst mir doch helfen, mein Wort zu halten.«

Frau Adolfine zuckte ärgerlich die Schultern.

»Tante Emma hat einen idealen Schwärmer aus dir gemacht, wie sie selbst bis zu ihrem Tode eine übertrieben gefühlvolle Person war. Aber was ihrem altjüngferlichen Wesen hingehen mochte, ist bei einem Manne nicht am Platze. Mach du nun nicht auch noch solch ein Aufhebens mit Bettina. Ihr ist viel gesünder, wenn sie ein bißchen rauh angefaßt wird. Sie kann ja nicht immer bei uns im Hause bleiben. Eine glänzende Partie wird sie einmal nicht machen, das ist so gut wie sicher. Und wenn wir alten Leute sterben, oder ihr verheiratet euch – da kann sich vieles ändern – dann ist ihr besser, wenn sie nicht so verzärtelt ist.«

»Das mag sehr klug gedacht sein, Mutter. Aber ich meine, ein bißchen Sonnenschein schadet keinem Menschen etwas. Und überdies – wenn ihr eure schützende Hand nicht mehr über Bettina halten könnt, dann bin ich ja auch noch da.«

Wieder flog ihr Blick scharf und mißtrauisch zu ihm hinüber.

»Du? Willst du sie vielleicht als Inventar mit in deine zukünftige Ehe nehmen?«

Er mußte lachen, der Schalk blitzte ihm aus den Augen. Wenn die Mutter geahnt hätte, wie er sich heute seine ›zukünftige Ehe‹ ausgemalt hatte. Sie durfte vorläufig um keinen Preis davon wissen, schon Bettinas wegen. Er mußte sich unbefangen stellen.

»Warum denn nicht, Mutter?«

»Du bist unklug geworden, Ernst. Meinst du, eine junge Frau nimmt so ohne weiteres eine dritte Person mit in die Ehe?«

»Vielleicht doch. Wenn ich nun eine Frau fände, die sich gut mit Bettina versteht?«

Frau Adolfine dachte an Magda Wendheim und zuckte die Achseln.

»Ich bitte dich, schlag dir so etwas aus dem Sinn, dafür würde sich jede Frau bedanken.«

»Aber warum? Großtanting war doch auch hier im Hause, als du Vaters Frau wurdest.«

Seine Mutter lächelte höhnisch.

»Glaubst du, dies wäre mir so sehr erwünscht gewesen? Und Tante Emma war immerhin kein junges Mädchen.«

»Wenn Bettina nun meine Schwester wäre? Fast ist es doch so. Meinst du nicht, daß sich meine junge Frau ganz gut mit ihr vertragen würde, wenn sie wüßte, es geschähe mir ein Gefallen damit?«

»Ach, laß die Phantastereien, dahin wird es ja gottlob nicht kommen. Wir haben Bettina bisher eine Heimat gegeben und werden es auch ferner tun, wenn sie sich so beträgt, wie ich es von ihr erwarten kann. Und was die Spaziergänge anbetrifft, so mag Bettina meinetwegen alle Tage eine Stunde gehen, – aber nicht mit dir, – man würde darüber sprechen.«

»Wer soll denn darüber sprechen? Wir sind doch wie Geschwister – kein Mensch wird etwas dabei finden. Und ich hab' es ihr nun einmal versprochen, daß ich mit ihr gehen will und werde mein Versprechen halten. Übrigens werden mir diese Spaziergänge auch sehr wohl tun, denn ich muß jetzt sehr angestrengt arbeiten. Um mir meine Zeit nicht zu zerreißen, gehe ich gleich nach Tisch mit ihr. Willst du aber ganz beruhigt sein, so schlage ich dir vor, gehe mit uns. Sollst mal sehen, wie nett das wird.«

Frau Adolfine machte ein sehr verdrießliches Gesicht.

»Du weißt, daß ich nach Tisch an meinen Mittagsschlaf gewöhnt bin, wie dein Vater auch. Es würde mir nicht gut bekommen, müßte ich darauf verzichten.«

In Ernsts Augen zuckte der Schalk. Er hatte diesen Mittagsschlaf wohlweislich in Berechnung gezogen.

»Ach richtig – verzeihe, daran dachte ich nicht. Schade! Aber natürlich geht deine Bequemlichkeit vor. Du kannst ja auch ganz unbesorgt sein, es wird niemand einfallen, sich darüber aufzuhalten.«

Frau Adolfine dachte nach. Sie wollte Ernst nicht durch das Versagen seiner Bitte reizen, denn er hatte nun einmal einen unseligen Hang, das zu tun, was er nicht sollte. Aber diese Spaziergänge mit Bettina erschienen ihr gar nicht so unbedenklich. Wenn sich da gar eine Liebelei anbandelte? Das wäre durchaus nicht nach ihrem Sinn. Noch schien er ja sein Verhältnis zu Bettina sehr brüderlich aufzufassen. Versagte man ihm ihre Gesellschaft, so reizte ihn das natürlich erst recht. Am Ende war es doch das klügste, ihn gewähren zu lassen. Dann konnte man immer noch die Augen offen halten. Vielleicht war es auch möglich, Bettina irgendwie zu beeinflussen. Am besten wäre es freilich, wenn sie aus dem Hause ginge. So ein Mensch wie Ernst war unberechenbar. Aber wie sie auf gute Art los werden? Man hatte doch eine Menge Unannehmlichkeiten mit diesem Mädchen. Das war nun der Dank dafür, daß sie die Waise in einer großmütigen Aufwallung ins Haus genommen hatte. Dazu war sie auch nur gekommen, weil sie damals so töricht gewesen war, etwas wie Reue zu empfinden, daß sie Hans Sörrensen das Geld nicht geliehen hatte. Aber wozu Reue? Ihr Mann hätte ihr die Summe doch nicht gegeben, er verlieh grundsätzlich kein Geld an leichtsinnige Menschen, und er tat recht daran. Ob er mit Hans Sörrensen wohl eine Ausnahme gemacht hätte, weil er ihr Verwandter war? Scheußlich – diese Bettina rief ihr immer wieder diese unbehaglichen Geschichten in das Gedächtnis zurück.

»Nun, Mutter – ich habe doch deine Erlaubnis, nicht wahr?«

Sie schrak zusammen. Hatte sie doch ganz vergessen, daß sie nicht allein war.

»Was willst du?« fragte sie unsicher.

»Deine Erlaubnis, Bettina jeden Tag eine Stunde ins Freie führen zu dürfen. Nur diesen Sommer. Nächstes Jahr ist doch vielleicht keine Gelegenheit mehr. Vielleicht bin ich dann schon verheiratet.«

Frau Adolfine horchte auf.

»Hast du denn schon Heiratspläne?«

Er lachte.

»Na, Mutter, – verstell' dich doch nicht, – du möchtest mich doch auch gern unter die Haube bringen.«

Sie lachte verlegen.

»Also bist du nicht abgeneigt, zu heiraten?«

»Bewahre – im Gegenteil.«

»Und hast gar im stillen schon gewählt?«

»Ganz im stillen – ja, ich glaube wohl.«

»Und ich kenne sie, deine Auserkorene, nicht wahr?« fragte sie eifrig. Er lachte und wußte ganz genau, daß er die Mutter auf falsche Fährte lockte. Aber er wollte sie von Bettina ablenken. Bevor er mit dieser nicht im klaren war, durfte die Mutter nicht Verdacht schöpfen.

»Freilich kennst du sie.«

»Sag' mir doch den Namen.«

»Nein, Mutter – erst muß ich ihr Jawort haben, dann sollst du die erste sein, die ihn erfährt. Also nicht wahr, ich darf mit Bettina gehen?«

»Meinetwegen denn, wenn dir so viel daran liegt.«

Er hörte ihre Unruhe heraus.

»Es ist ja nur, weil ich es ihr versprach, und weil ich Großtanting mein Wort gegeben habe, mich ihrer anzunehmen.«

»Tante Emma hätte etwas Klügeres tun können,« dachte Adolfine verdrießlich.

Wohl war ihr gar nicht bei dem Gedanken an Bettina. Sie mochte das junge Mädchen überhaupt nicht mehr leiden, seitdem Großtanting Bettina so reich in ihrem Testament bedacht hatte. Sie glaubte, Bettina habe sich das Geld erschmeichelt und erschlichen. Auf keinen Fall gönnte sie es ihr, und wenn Bettina nicht eine so brauchbare und billige Arbeitskraft im Haushalt gewesen wäre, hätte Frau Adolfine sicher schon einen Vorwand gefunden, sie zu entfernen. Und nun schien es wirklich ernstlich notwendig zu sein, Bettina aus dem Hause zu bringen. Sie verstand es so gut, sich einzuschmeicheln, und Ernst war ein unberechenbarer Charakter. Schließlich ließ er sich von ihr gar in Fesseln legen. – Nein – das durfte um keinen Preis geschehen, da mußte sie streng auf der Hut sein.

Trotzdem konnte sie vorläufig nichts dagegen tun, daß Ernst und Bettina fast täglich um die Mittagszeit spazieren gingen. Für das junge Mädchen wurde dadurch das Leben reich und schön – wie sie es nie gekannt hatte. Mit allen Sinnen nahm sie diese Feierstunden in sich auf und genoß sie voll Dankbarkeit gegen das Schicksal. Sie waren ihr etwas Köstliches, Wundervolles, was auf ihr ganzes ferneres Leben einen Glanz werfen würde. Sie wollte jetzt nicht daran denken, daß ihr Los Entsagung hieß, und lebte nur in der Gegenwart, in der Stunde, da sie täglich mit ihm draußen im Walde war und die geheimnisvollen Wunder der erwachenden Natur wie eine Offenbarung des Schönen, Herrlichen in sich aufnahm.

Sie ahnte nicht, daß in Ernsts Herzen ein gleiches Empfinden emporwuchs, wußte nicht, daß sein Blick viel lieber auf ihr ruhte, als auf den Schönheiten der Natur. War sie ihm doch selbst das Lieblichste, Wunderbarste, was aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen war.

Bettina war glücklich wie nie in ihrem Leben, und selbst Tante Adolfines Tadel und Vorwürfe vermochten sie nicht aus dieser seligen Stimmung zu reißen.

Noch hatte Ernst mit keinem Wort verraten, welche Wünsche er inbezug auf Bettina im Herzen trug. Bettina verstand sich so gut zu beherrschen, daß er noch immer nicht wußte, ob sie ihm mehr als eine ruhige verwandtschaftliche Neigung entgegenbrachte. Aber ungeduldig wurde er bereits. Nun sich der Wunsch nach Bettinas Besitz in ihm geregt, fiel es seinem ungestümen Sinn schwer, sich zu beherrschen. Lange würde er nicht mehr warten können. Nur die Sorge um Bettina hielt ihn noch zurück, das entscheidende Wort zu sprechen. Wenn sie ihn abweisen mußte, ihn nicht liebte, wie peinvoll war dann ihre Stellung im Hause.

So waren einige Wochen vergangen. Eines Tages – Frau Adolfine hatte großen Hausputz angeordnet – stand Bettina im Arbeitszimmer Onkel Peters und stäubte Bücher ab. Sie trug über ihrem Kleid eine große Schürze und hatte das blonde Haar mit einem weißen Tuch verhüllt, damit es vor Staub geschützt war. Neben dem Arbeitszimmer befand sich die Bibliothek, ein kleiner, achteckiger Raum, der rings an den Wänden mit Büchergestellen versehen war. Durch die abgeschnittenen Ecken des im Grunde viereckigen Zimmers waren kleine gemütliche Leseecken entstanden, in denen man sich durch Zuziehen eines Vorhanges ganz absondern konnte. Als Bettina im Arbeitszimmer fertig war, ging sie in die Bibliothek, um auch dort das Abstäuben der Bücher vorzunehmen. Die beiden Räume waren nur durch einen Vorhang getrennt, der jetzt zur Hälfte zurückgezogen war.

Eifrig war sie bei ihrer Arbeit, während ihre Gedanken bei Ernst weilten. Da hörte sie plötzlich im Nebenzimmer jemand eintreten und vernahm zugleich Onkel Peters Stimme.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr von Bühren, ich stehe zu Diensten.«

Bettina erschrak. In dem Aufzug konnte sie sich vor Bühren nicht sehen lassen, und die Bibliothek hatte keinen anderen Ausgang als den durch Onkel Peters Zimmer. Schnell huschte sie in eines der Leseeckchen, um sich zu verbergen. Sie hoffte, die Herren würden sich bald entfernen. Es war ihr sehr unangenehm, daß sie ihre Unterhaltung mit anhören mußte, es gab jedoch keine Wahl für sie.

Durch einen schmalen Spalt im Vorhang konnte sie Bühren sitzen sehen, und es kam ihr vor, als sähe er furchtbar blaß aus. Sie hatte ihn lange nicht gesehen und wunderte sich, daß er so verändert schien. Und als sie ihn mitleidig schärfer betrachtete, fiel ihr ein eigentümlicher Ausdruck in seinen Augen auf. Sie blickten so verstört, so starr und doch voll Angst und Erregung – wo hatte sie doch denselben Ausdruck schon gesehen? Und da zuckte sie plötzlich zusammen – mit einem Male wußte sie es. So hatte sie ihr Bruder Hans angesehen an jenem Abend, da sie ihm die Treppe hinableuchtete, als sie ihn das letzte Mal lebend sah. Sie preßte die Hand aufs Herz. All die traurigen Bilder aus ihrer Vergangenheit stiegen in ihr empor und wurden lebendig. Sie lauschte jetzt angestrengt auf das, was die beiden Herren sprachen. »Ich komme in einer verzweifelten Lage zu Ihnen, Herr Aßmann, und kann mir nicht anders helfen. Allezeit habe ich versucht, mit meiner knappen Zulage auszukommen, die mir eine Schwester meiner Mutter gewährt, trotzdem sie selbst nur über eine bescheidene Pension als Witwe eines Beamten verfügen kann. Im letzten Jahre traten allerhand größere Ausgaben an mich heran, – trotz aller Gegenwehr geriet ich in Schulden, und um diese Schulden tilgen zu können, ließ ich mich – das erste Mal in meinem Leben – zum Spiel verleiten. Wie es gekommen ist – ich weiß es selbst nicht mehr – genug – ich muß bis morgen mittag zwölf Uhr dreitausend Mark zahlen, ich habe mich ehrenwörtlich verpflichtet dazu. Ich habe mir alle Mühe gegeben, das Geld aufzutreiben – es ist mir nicht gelungen. Meine Tante besitzt nichts als ihre Pension – wo ich sonst anklopfte, wurde ich abgewiesen. Ich war auch bei Ihrem Sohn Georg in der Fabrik. Er ist mein Freund, und ich hoffte, er werde mir helfen. Auch vergeblich. Er sagte mir, daß er Ihnen versprochen habe, nie mehr als hundert Mark an Freunde zu verleihen. Nun komme ich zu Ihnen, Herr Aßmann. Man sagte mir in der Fabrik, daß ich Sie hier treffen würde. Ich bitte und beschwöre Sie, leihen Sie mir die Summe, sonst bin ich verloren, Sie sind mein letzter Rettungsanker.«

Bettina zitterte. Was würde Onkel Peter antworten? war es nicht, als wenn da drüben ihr Bruder Hans säße und um Rettung flehte? So mußte auch er damals von einem zum andern gelaufen sein, um die Summe aufzutreiben, von der sein Leben abhing.

Peter Aßmann hatte mit unbehaglichem Gesicht zugehört, was Bühren vorbrachte. Nun zuckte er die Schulter.

»Es tut mir leid, Herr von Bühren – ich kann und will Ihnen nicht helfen. Als Kaufmann habe ich meine Grundsätze. Ich verleihe niemals Geld ohne genügende Sicherheit, am wenigsten einem – Spieler.«

»Ich spielte das erste und letzte Mal in meinem Leben,« sagte Bühren verzweiflungsvoll bittend.

»Das sagt jeder, vielleicht haben Sie auch jetzt die feste Absicht, es nicht wieder zu tun, aber es wird dennoch geschehen. Wie wollen Sie auch das Geld an mich zurückzahlen, da Sie ja selbst sagen, daß es Ihnen unmöglich ist, mit Ihrer Zulage auszukommen. Wenn ich Ihnen heute das Geld gebe, sind Sie in absehbarer Zeit wieder so weit wie heute. Nein – Herr von Bühren, ich gebe Ihnen das Geld nicht, selbst nicht auf die Gefahr hin, daß Sie des Königs Rock ausziehen müssen.«

Peter Aßmann war ein gründlicher und etwas nüchtern denkender Kaufmann. Er hatte kein Mitleid mit diesem nach seiner Meinung leichtsinnigen jungen Mann. Klare, ehrliche Verhältnisse waren ihm Lebensbedingung, für Leichtsinn hatte er kein Verständnis. Wie konnte man Geld verspielen, das man nicht besaß? Bühren würde ihm das Geld nie zurückzahlen können, und dreitausend Mark an einen fremden Menschen zu verschenken, dazu war er zu genau. Ganz war Frau Adolfines Sparsamkeit doch nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben.

Bettina sah mit großen Augen in Bührens Gesicht. Er hatte sich langsam erhoben und nestelte an seinem Degengehänge. Sein Gesicht war noch blasser und starrer als zuvor, und der Blick, der aus seinen Augen brach, war so verzweifelt, daß Bettina die Lippen zusammenpreßte, um nicht aufzuschreien. Bührens Schicksal schien sich ihr in eins zu verschmelzen mit dem ihres Bruders. Wie durch einen Schleier sah sie, daß sich Bühren verneigte, hörte ihn etwas wie eine Bitte um Entschuldigung stammeln und vernahm das schnappende Geräusch einer sich schließenden Tür.

Bühren war fort, und auch Onkel Peter hatte das Zimmer verlassen. Aber Bettina stand mit auf die Brust gepreßten Händen noch lange reglos in ihrem Versteck. Ihre Gedanken folgten Bühren. Wie mochte es in ihm aussehen? Immer mehr schien er ihr eins zu werden mit dem Bruder. Wenn er nun bis morgen das Geld nicht auftrieb – und er hatte es ja schon überall vergeblich versucht – dann blieb ihm auch nur der letzte, furchtbare Ausweg. – Das sollte sie geschehen lassen, sollte ruhig mit ansehen, wie so ein junges Menschendasein um ein paar tausend Mark zugrunde ging? O, wie hartherzig waren doch die Reichen mit der satten Moral eines gefüllten Magens, eines gefüllten Geldbeutels! Sie konnten gut zu Gericht sitzen über so einen armen Schlucker, der sich nicht mehr zu helfen wußte. Aber sie hatte all dies Elend an ihrem eigenen Bruder erlebt, und sie war ja jetzt reich – gottlob – gottlob – ach Großtanting – Liebe, Gute – erst jetzt freue ich mich dieses Vermächtnisses. Mit dreitausend Mark kann ich ein Menschenleben retten – ach, gottlob – gottlob. Er soll das Geld haben – heute noch – denn morgen könnte es zu spät sein. Ich brauche ja nur in die kleine eiserne Kassette zu greifen, nichts weiter. – Aber halt – wie soll ich es ihm zukommen lassen? Wo wohnt er denn? Ach – die Adresse finde ich in Tante Adolfines Notizbuch, wo ich immer die Adressen für Einladungen herausschreiben muß. Aber wie nun – wie kommt es in seine Hände? Ach – dachte sie denn gar nicht an Ernst? So dumm von ihr. Natürlich – Ernst, natürlich – Ernst würde helfen. Er war nicht so starr und hart wie die andern. Sie brauchte ihm nur alles zu sagen, ihn zu bitten, dann würde er schon alles in Ordnung bringen. Ach – nun war ihr so leicht und frei zumute. Wie spät war es denn? Zwei Uhr gleich – da mußte ja Ernst zu Tisch nach Hause kommen. Aber wie es ihm unbemerkt sagen? Des Hausputzes wegen mußten sie einige Tage auf die gemeinsamen Spaziergänge verzichten. So war ihr diese Gelegenheit, ihre Bitte unbemerkt von den anderen vorzubringen, abgeschnitten. Nun – es mußte auch so gehen. Wenn es keine andere Möglichkeit gab, würde sie unten im Hausflur warten, bis Ernst wieder in sein Bureau ging. Dann konnte sie es ihm sagen. –

Sie wurde nun ruhiger, ein froher Glanz trat in ihre Augen. Sie ging, um sich zum Mittagessen zurecht zu machen. Draußen hörte sie zu ihrem Schrecken, daß Ernst eine Absage geschickt hatte. Er kam zu Tisch nicht nach Hause. Nun mußte sie bis zum Abend warten. Das machte sie unruhig. Während sie am Nachmittag mit fieberhafter Eile arbeitete, lauschte sie immer, ob nicht ein glückliches Ungefähr Ernst nach Hause brachte. Vergeblich. Und sie wurde die unruhigen Gedanken an Bühren nicht los. Wenn es nur nicht zu spät wurde zur Hilfe. – Am liebsten wäre sie fortgelaufen, zu Ernst, aber sie fürchtete Tante Adolfines Schelten. So kam in heimlicher Angst und Unruhe der Abend heran. Onkel Peter war schon da, Georg trat eben ein, nur Ernst fehlte noch. Da berichtete Georg, Ernst habe ihm nach der Fabrik telephoniert, daß er noch notwendig zu tun habe und deshalb zum Abendessen auch nicht nach Hause kommen könne.

Bettina erschrak. Was nun? Sie hatte so fest auf Ernst gerechnet. Nun kam er nicht. Und daß die Nacht nicht verstreichen durfte, ehe Bühren geholfen wurde, das fühlte sie mit Sicherheit. Im Laufe des Tages hatte er vielleicht noch einige Versuche unternommen, das Geld zu erhalten. Wenn es aber vergeblich war, und er saß dann mutlos und verzweifelt allein zu Hause – dann, – wenn die Nacht anbrach, – dann geschah das Schreckliche. O – nie würde sie wieder froh sein können, wenn sie das nicht verhinderte. Sie mußte es tun – um jeden Preis. Aber wie – wie? Hier zu Hause durfte sie nichts davon sagen, man würde sie ausschelten und nicht fortlassen, wenn sie ihr Vorhaben beichtete und Ernst aufsuchen wollte im Bureau. Aber geschehen mußte es – und gleich – sofort nach Tisch, sonst war es zu spät.

Sie hatte sich Bührens Adresse aufgeschrieben und trug schon seit dem Nachmittag die dreitausend Mark in Wertpapieren bei sich, immer hoffend, Ernst würde kommen. Sie vermochte kaum einen Bissen hinunter zu bringen und sah sehr blaß aus. Peter Aßmann fragte sie freundlich, ob sie sich nicht wohl fühle. Da stotterte sie etwas von Kopfweh hervor und bat Tante Adolfine, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen.

Die Erlaubnis wurde ihr erteilt.

»Leg dich lieber gleich zu Bett, damit du morgen wieder frisch bist. Jetzt mitten im Hausputz könnte es mir gerade noch fehlen, daß du krank würdest,« sagte Frau Adolfine verdrießlich.

Bettina ging in ihr Zimmer. Eine Weile stand sie reglos und sah vor sich hin. Was sollte sie tun? Wenn sie sich jetzt heimlich hinausschlich, um Ernst aufzusuchen? Man würde sie nicht vermissen, sie schlafend glauben. War sie erst draußen, dann war alles gut. Und wenn sie zurückkam und dann gesehen wurde – das war nicht schlimm, dann konnte sie sagen, sie habe ihres Kopfwehs wegen noch einen kurzen Spaziergang gemacht. Nur erst unbemerkt hinaus. – Jetzt kam Leben in ihre Gestalt. Sie setzte schnell ein schlichtes schwarzes Strohhütchen auf, fühlte in ihre Taschen, ob ihr Schatz noch richtig vorhanden war und öffnete leise die Tür ihres Zimmers. Draußen war alles still. Sie huschte hinaus und schloß zur Sicherheit ihr Zimmer ab, den Schlüssel zu sich steckend.

Nun eilte sie leise über den langen Korridor, glitt die Treppe hinab, durch den stillen Hausflur. Jetzt noch durch die Tür, und dann ins Freie. Die Haustür war stets verschlossen, aber jeder Hausbewohner besaß einen Schlüssel dazu. So war es ihr leicht, hinauszukommen und auch vielleicht unbemerkt heimzukehren. Nur schnell jetzt zu Ernst. Es war schon ein Viertel nach acht Uhr. Sie mußte eilen.

Voll Unruhe und Sorge um ein gefährdetes Menschenleben legte sie den Weg zurück. Der arme Bühren – wie würde er in Not und Verzweiflung die Stunden verbracht haben – so wie ihr armer Bruder Hans damals. Oh – Ernst mußte sofort zu ihm eilen und ihm das Geld bringen, und er würde es tun, wenn sie ihn dringend darum bat. – Wie lang doch der Weg war – wie lang! – Aber endlich war er doch zurückgelegt, sie stand mit klopfendem Herzen am Ziel – aber was war das? Das Bureau geschlossen – kein Mensch anwesend, der ihr hätte Auskunft geben können, wohin sich Ernst gewandt hatte. Sie lehnte sich mit zitternden Knien an die Tür und starrte vor sich hin. Was nun? – Sollte sie nun unverrichteter Dinge wieder heimkehren, Bühren seinem Schicksal überlassen? Nein – nein – das auf keinen Fall.

Wenn es denn nicht anders ging, wollte sie selbst Bühren das Geld bringen. Sie erschrak zuerst vor diesem Gedanken, aber dann sah sie im Geiste Bühren kalt und starr auf seinem Bett liegen – wie ihren Bruder Hans. Der liebenswürdige, lustige Bühren, der seine Armut bisher so tapfer getragen hatte und immer so freundlich und gut zu ihr gewesen war. Sie schüttelte sich in namenlosem Grauen. Herrgott – Herrgott – nein, das darf nicht sein. Sie mußte selbst zu ihm. War ein junges, blühendes Menschenleben nicht wert, daß man sich einmal über die gesellige Form hinwegsetzte? Und es wurde ja schon dunkel, man würde sie nicht sehen, wenn sie in sein Haus schlüpfte. Und er würde ihr sein Ehrenwort geben, niemand etwas von ihrem Besuch zu verraten. Ach – wozu überhaupt so kleinliche Bedenken – wie ein Verbrechen würde es ihr erscheinen, wollte sie darüber ein Menschenleben zugrunde gehen lassen. Vorwärts also – und schnell, sonst war es doch schließlich noch zu spät.

Entschlossen machte sie sich nun von neuem auf den Weg. Bührens Wohnung war zum Glück nicht weit entfernt. Sie befand sich in einer stillen Querstraße. Viel Menschen begegneten ihr nicht, und es war schon so dunkel, daß man niemand erkennen konnte. Gerade, als sie Bührens Wohnung erreicht hatte, sah sie, daß die Straßenlaternen angezündet wurden. Mit einem bangen Blick an der schlichten Fassade hinauf trat sie in das Haus. Zwei Fenster im ersten Stock waren erleuchtet gewesen. Ob das Bührens Zimmerfenster waren?

Mit stürmisch klopfendem Herzen stieg sie die Treppe empor. An einer Tür im ersten Stock fand sie Bührens Namen. Sie preßte die Hände gegen die Brust, als wollte sie den Aufruhr darinnen beschwichtigen. Dann zog sie tapfer entschlossen die Klingel. Nun stand sie lauschend. Aber es wurde ihr nicht aufgetan. Sie erzitterte. War es schon zu spät – lag schon ein Toter da drinnen? Die Angst schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie riß verzweifelt noch einmal in die Klingel. Und da hörte sie drinnen eine Tür gehen, vernahm einen langsamen, zögernden Schritt – die Tür wurde geöffnet. Im Halbdunkel erkannte sie nicht, wer vor ihr stand.

»Herr von Bühren?« fragte sie leise.

Er war es selbst. Mit einem Ruck öffnete er die Tür zu dem Zimmer, welches er eben verlassen hatte, das Licht der Lampe fiel hell auf ihr Gesicht. Er erschrak.

»Gnädiges Fräulein – Sie?« fragte er erstaunt, bestürzt. Er vergaß, zurückzutreten, um ihr den Eintritt freizugeben.

»Bitte, lassen Sie mich eintreten, ich habe Wichtiges mit Ihnen zu besprechen,« sagte sie, froh aufatmend, daß sie ihn lebend vor sich sah.

»Verzeihung!« sagte er und ließ sie an sich vorbei ins Zimmer treten. Sie zog selbst die Tür hinter sich zu.

Erst jetzt, als sie das maßlose Erstaunen in seinem Gesicht sah, kam ihr das Peinliche dieses Augenblicks zum Bewußtsein. Sie schloß einen Augenblick die Lider wie ein furchtsames Kind und lehnte sich ermattet an den Türpfosten. Er schüttelte seine eigene furchtbare Stimmung ab und schob ihr artig einen Stuhl zu.

»Bitte, nehmen Sie Platz, gnädiges Fräulein, und entschuldigen Sie, daß ich Sie warten ließ. Ich habe meinen Burschen für heute abend beurlaubt und wollte erst nicht öffnen. Ich konnte ja nicht ahnen, daß Sie Einlaß begehrten. Es kann nur etwas ganz Ungewöhnliches sein, was Sie zu mir führt.«

Sie ließ sich in den Stuhl gleiten und sah starr auf ein schwarzes Kästchen, das, halb verdeckt von Papieren, auf dem Schreibtisch stand. Der Lauf einer Pistole blitzte im Lampenlicht auf. Sie schüttelte sich wie im Frost und biß die Zähne zusammen. Er war ihrem Blick gefolgt und schob halb unwillkürlich die Papiere vollends über den Pistolenkasten.

Sie sah ihn an und faßte sich mühsam.

»Herr von Bühren – Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß Sie keinem Menschen verraten, daß ich bei Ihnen war, und was ich hier wollte,« sagte sie leise.

»Ich gebe es Ihnen selbstverständlich, gnädiges Fräulein.«

Sie holte tief Atem und fuhr mit ihrem Taschentuch über ihr Gesicht. Nun blickte sie mit einem rührenden Lächeln zu ihm auf.

»Ich bin ein so großer Hasenfuß und vor Angst noch ganz fassungslos!«

Er antwortete nicht, dachte nur, wie lieb und reizend sie aussah, und daß er diesen holdseligen Anblick mit hinübernehmen wollte in das Schattenreich, das er aufsuchen mußte, weil ihm kein anderer Ausweg blieb aus seiner Not.

Sie fuhr nun tapfer fort:

»Herr von Bühren – ein Zufall ließ mich heute zum Zeugen Ihres Gespräches mit meinem Onkel werden.«

Er zuckte zusammen und sah an ihr vorbei.

»Verzeihen Sie, daß ich das berühren muß, Herr von Bühren. Mein Bruder Hans, den Sie ja gekannt haben, war einst in gleicher Lage wie Sie. Ich hatte ihn so lieb, er war so jung und lebensfroh. Auch er fand nirgends Hilfe und – und mußte sterben. Daran mußte ich denken, als ich heute hörte, was Sie zu Onkel Peter führte. – Mein Bruder hatte auch bei Tante Adolfine um das Geld gebeten, das ihn retten sollte, vergeblich. Leichtsinnigen Menschen helfen sie nicht, diese kaltherzigen reichen Leute. Sie nennen Leichtsinn, was oft nur bittere Not ist. – Und nun hörte ich, daß Sie in gleicher Lage waren wie mein armer Bruder. Da hatte ich so große Angst um Sie, und ich beschloß, Ihnen zu helfen. Wie, wußte ich nicht. Zuerst dachte ich an meinen Vetter Ernst. Er ist gut und weichherzig. Wenn Sie sich an ihn gewandt hätten, er würde Sie nicht abgewiesen haben wie Georg. Ich wollte Ernst bitten, zu Ihnen zu gehen, Ihnen das Geld zu bringen. Aber gerade heute kam er nicht nach Hause. Und als ich ihn vorhin in seinem Bureau aufsuchen wollte, fand ich es schon verschlossen. Da bin ich denn selbst gekommen und will Sie herzlich bitten, nehmen Sie das Geld von mir. Ich hab' es Ihnen gleich mitgebracht.«

Er trat einen Schritt zurück und hob die Hände empor. In seinen umschatteten Augen zitterten unruhige Lichter.

»Nein – gnädiges Fräulein – nein, das kann Ihr Ernst nicht sein,« rief er fassungslos.

Sie sah ihn bittend an.

»Ach – mir ist gar nicht zum Scherzen zumute, das können Sie mir glauben. Ich hab' mich doch so sehr gebangt herzukommen, – es ist – es ist doch – aber nein – ich konnte nicht daran denken, was sich schickt oder nicht – es ging um ein Menschenleben – ich weiß es. Dort der Kasten – Sie haben ihn versteckt, aber ich weiß nun doch, daß es die höchste Zeit war, wenn ich Ihnen helfen wollte. Und nicht wahr, Herr von Bühren, Sie nehmen das Geld von mir, ich hab' ja fünfundzwanzigtausend Mark von Großtanting geerbt, heute freut es mich zum ersten Male, weil ich Ihnen nun helfen kann. Da – nehmen Sie – bitte – kein Mensch soll davon erfahren. Mein Wort darauf.«

Sie hatte die Wertpapiere aus der Tasche gezogen und hielt sie ihm mit bittendem Ausdruck hin. Er sah verwirrt, errötend in ihr süßes, liebes Gesicht. Um ihren Mund zuckte ein tapferes Lächeln. Er hätte vor ihr niederknien mögen, so anbetungswürdig erschien sie ihm. Und zugleich fragte er sich: Warum tut sie das? Entspringt ihre Tat wirklich nur rein menschlichem Mitleid – dem Andenken ihres Bruders oder – oder empfindet sie mehr und tiefer für dich wie für andere Menschen? Würde sie das, was sie für dich tut, auch für andere tun? Er sah sie an mit brennendem Blick, fand aber keine Antwort in ihren klaren, bittenden Augen.

Er raffte sich auf.

»Gnädiges Fräulein – ich kann das nicht annehmen – so gern ich möchte. Weiß Gott – das Messer steht mir an der Kehle und – aber nein – Geld annehmen von einer Frau – nein – das geht nicht.«

Ganz zornig blickte sie ihn an.

»Ach – wie können Sie so kleinlich sein – in diesem Augenblick. Wenn Sie ins Wasser stürzen und Gefahr laufen, zu ertrinken, ist es Ihnen dann nicht gleich, ob Ihnen ein Mann oder eine Frau das Rettungstau zuwirft? Seien Sie doch vernünftig und setzen Sie sich über so kleinliche Bedenken hinweg! Lassen Sie sich doch nicht von mir beschämen! Sie wollen mich doch nicht wieder fortschicken mit dem Gelde? Ich soll doch nicht gehen mit der gräßlichen Angst, daß Sie dann doch tun, was ich um jeden Preis hindern wollte? Nein – das dürfen Sie einfach nicht, das wäre unritterlich. Da – nehmen Sie – Sie zahlen es mir zurück, wenn Sie später mal in bessere Verhältnisse kommen. Ich brauche es ja nicht.«

Er atmete gepreßt.

»Es könnten lange Jahre vergehen, ehe ich es Ihnen zurückzahlen könnte. Und eine Sicherheit kann ich Ihnen auch nicht bieten. Nein, es geht nicht.«

»Hätten Sie meinem Onkel mehr Sicherheit geben können? Nein, nicht wahr? Nur weil er ein Mann ist, hätten Sie es von ihm genommen. Das ist doch Unsinn. – Ach Gott, halten Sie mich doch nicht so lange auf. Ich muß nach Hause. Niemand ahnt, daß ich fortgegangen bin. Nehmen Sie und gönnen Sie mir das Glück, einen Menschen vom Untergang gerettet zu haben. Wenn Sie mich abweisen, kränken Sie mich bitter. Und keine ruhige Stunde hätte ich mehr, wenn Sie – nein – ich lege das Geld einfach hier auf den Tisch und nehme es nicht wieder mit,« schloß sie energisch. Sie erhob sich und legte die Papiere auf den Tisch.

Er faßte ihre Hand und führte sie voll Ehrerbietung an seine Lippen. Seine Augen belebten sich, er atmete tief auf.

»Wenn ich das Geld nehme, so nehme ich zugleich mein Leben aus Ihrer Hand, – das sollen Sie wissen,« sagte er langsam.

»Aber Sie nehmen es?«

»Ja – Sie verstehen zu geben. Ich nehme es und bin damit auf ewig Ihr Schuldner.«

Sie seufzte tief auf und lächelte glücklich.

»Gottlob – das war aber schwer, Herr von Bühren. Aber nun muß ich schnell nach Hause zurückkehren.«

Er sah sie bewegt an. Wie ein Engel des Lichts erschien sie ihm.

»Sie gestatten mir, daß ich Sie begleite, gnädiges Fräulein. Es ist inzwischen dunkel geworden, Sie können den Heimweg nicht allein antreten.«

Er nahm seine Mütze und schnallte seinen Säbel um. Dann faßte er noch einmal ihre Hand.

»Nehmen Sie meinen innigsten Dank für Ihre Güte, mein verehrtes gnädiges Fräulein. Ich gestehe Ihnen offen ein, – ohne Ihr Dazwischenkommen wäre es zu Ende mit mir gewesen – ich wußte keinen Ausweg mehr. Und man hängt doch am Leben – trotz allem mit tausend Banden – wenn man jung ist – und stark – und gesund.«

Ihre Augen wurden feucht, seine Worte klangen so bewegt. Und wieder dachte sie an ihren Bruder Hans. Fast schwesterlich zärtlich empfand sie für den jungen Offizier. Und sie war so froh und glücklich, daß sie ihn dem Leben wiedergegeben.

Sorglich geleitete er sie dann hinaus und die Treppe hinab. Als sie aus dem Hause traten, fiel das Licht einer Laterne voll auf die beiden jungen Menschen. Drüben auf der anderen Straßenseite, die mehr im Schatten lag, gingen einige Herren in lebhafter Unterhaltung. Bühren zog Bettina schnell mit sich fort aus dem Bereich der Laterne. Er wollte nicht, daß man seine Begleiterin erkannte. Es war aber schon zu spät gewesen. Zwei der Herren drüben lösten sich aus der Gruppe und blieben einige Schritte zurück, wie auf Verabredung. Sie hatten scharf nach dem Paar hinübergespäht. Es waren Ernst und Georg, die eben mit einigen anderen Herren auf dem Wege zum Klub zusammengetroffen waren. Ernst war gleich nach Bettinas Verschwinden nach Hause gekommen, hatte von ihrem vermeintlichen Unwohlsein gehört und war dann mit Georg aufgebrochen. Jetzt sahen die Brüder mit sehr verschiedenen Gefühlen hinter dem enteilenden Paare her.

»Donnerwetter, das war doch Bettina, die da eben mit Bühren aus seiner Wohnung kam,« zischte Georg in Ernsts Ohr.

Dieser war beim Anblick des Paares zusammengezuckt. Auch er glaubte Bettina erkannt zu haben, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Das konnte, durfte nicht sein. Aber ein würgendes Gefühl stieg ihm im Halse empor.

»Unsinn,« stieß er hervor.

Georg zuckte die Achseln.

»Na, bitte, – ich hab doch meine Augen. Laß uns hier einbiegen und quer durchschneiden – dann kommen wir ihr zuvor und können uns vor unserem Hause überzeugen, ob sie es wirklich war. Ich wette zehn gegen eins darauf.«

Ernst starrte mit düsteren Augen dem Paare nach und wandte nichts ein, als Georg den vorausgehenden Herren zurief, sie möchten nur vorgehen, er käme mit seinem Bruder nach in den Klub. Er ließ sich auch willig mit fortziehen. Ein dumpfer Druck schnürte seine Brust zusammen. Bettina und Bühren? – Bettina, zu dieser Stunde mit Bühren aus seiner Wohnung kommend? – War sie es wirklich gewesen? Er mußte Gewißheit haben.

»Es kann Bettina nicht gewesen sein,« stieß er plötzlich hervor.

Georg zuckte die Achseln.

»Warum nicht? Die Frauen sind alle gleich. Und stille Wasser sind tief.«

»Nein – ich glaube es nicht.«

»Du wirst gleich Gewißheit haben. Schnell hier quer durch, wir sind mindestens fünf Minuten eher am Hause und können uns dem Eingang gegenüber im Schatten der Bäume verstecken.«

Ernst wußte nicht, was in ihm vorging. Er kämpfte vergeblich gegen die niederdrückende Stimmung in seinem Herzen. Jetzt erst wurde ihm ganz klar, wie tief seine Liebe zu Bettina in seinem Herzen wurzelte.

Mit fest zusammengepreßten Lippen stand er dann neben Georg unter den Bäumen und starrte nach der anderen Straßenseite hinüber. Es dauerte nicht lange, da sahen sie von weitem Bühren mit Bettina um die andere Ecke biegen. Seine Uniformknöpfe blitzten im Laternenlicht. Nun blieb er stehen und verabschiedete sich von Bettina. Sie eilte allein die Straße herab, während er stehen blieb, um zu warten, bis sie im Hause verschwunden war.

Ernsts Herz klopfte wild in der Brust. Mit brennenden Augen sah er der schlanken Mädchengestalt entgegen. Er erkannte sie nur zu gut. Jetzt war sie am Hause angelangt. Georg blickte höhnisch in Ernsts Gesicht.

»Nun?« flüsterte er.

Ernst antwortete nicht. Er sah, wie Bettina leise das Haustor öffnete und dahinter verschwand. Ganz deutlich hörte er das Einschnappen des Schlosses.

Georg lachte höhnisch auf.

»Das ist ja eine reizende Entdeckung. Mein Freund Bühren und das blonde Bäschen. Saubere Geschichte. Das ist schon eine ganz abgefeimte Person. Wenn die anderen Herren sie erkannt haben, das kann einen netten Skandal geben,« sagte er empört.

Ernst antwortete nicht. Er blickte nach Bettinas Fenster hinauf, als müßte ihm dort Antwort werden auf die brennende Frage, die sein Herz beklemmte. Jetzt wurde Licht in ihrem Zimmer. Er atmete tief auf und sah sich voll Zorn nach dem Offizier um. Der war verschwunden.

»Komm,« sagte er dumpf zu Georg, »die anderen dürfen nichts merken, wir müssen in den Klub und uns unbefangen stellen.«

Sie gingen schweigend davon.

Ernst hätte schreien und toben mögen, um den Druck von seiner Brust zu wälzen. Wenn dieses Mädchen nicht rein war – wenn diese klaren Augen logen – wem konnte man da noch trauen. Was hatte sie bei Bühren gewollt – wie überhaupt kam sie zu diesem Schritt? War es vielleicht nicht das erste Mal, daß sie Bühren in seiner Wohnung aufgesucht hatte? War sie schlecht, leichtfertig? Aber nein – nein – es konnte nicht sein, so sieht eine Verlorene nicht aus. Vielleicht war es nur ein unbedachter Schritt? Daß sie Bühren liebte, daran war nun wohl kein Zweifel mehr. Wer weiß, was sie zu ihm geführt haben mochte. Ach – so oder so – für ihn war sie nun verloren – und diese Erkenntnis brannte wie ätzendes Gift in seiner Seele. Jetzt erst wußte er, wie tief und heiß seine Liebe war. – Aber mochte sie zu Bühren getrieben haben, was da wollte – etwas Unreines war es nicht – nein – so konnten diese lieben blauen Augen nicht lügen.

Auch Georg hatte sich in Gedanken mit den beiden beschäftigt, nur sahen diese ganz anders aus, als die seines Bruders. Und mitten aus seiner sittlichen Entrüstung heraus sagte er plötzlich zu Ernst:

»Bühren ist doch ein schrecklich leichtsinniger Mensch, daß er das Mädchen in eine Liebschaft verstrickt. Und ehrenhaft ist sein Benehmen auch nicht – ich werde ihn zur Rede setzen. Heute vormittag war er bei mir, um dreitausend Mark von mir zu leihen zur Tilgung einer Ehrenschuld. Ich wies ihn natürlich ab, – solche Sachen, – ich danke – da laß ich mich nicht mit ein. Er ist dann auch zu Hause bei Vater gewesen und hat versucht, das Geld zu bekommen. Natürlich auch ohne Erfolg. Er führte sich wie ein Verzweifelter auf. Und abends ist er zu solchen Tändeleien aufgelegt – schrecklicher Leichtsinn.«

Ernst hatte aufgehorcht. In seinen Zügen blitzte etwas wie Verständnis auf. Da hatte er ja den Schlüssel zu Bettinas unbedachtem Schritt. Sie hatte wohl von der Not des Geliebten gehört – durch ihn selbst oder durch einen Zufall. Als Tochter eines Offiziers wußte sie, welche Bedeutung solch eine Ehrenschuld hatte – sie hatte es ja auch am eigenen Bruder mit grausamer Schärfe erfahren. Die Angst um den Geliebten hatte sie wohl zu ihm getrieben, die Sorge, daß er sich ein Leid antun konnte. Ja – so mußte es sein – so und nicht anders.

»Überlasse mir die Abrechnung mit Bühren – ich werde ihn morgen aufsuchen und die Sache in Ordnung bringen,« sagte er rauh.

»Gut – mir ist es gleich. Eine angenehme Auseinandersetzung wird das nicht. Wenn er sie wieder zu Ehren bringen will, muß er sie heiraten, und zur Heiratskaution langt das Geld nicht, das sie von Großtante ergattert hat. Na – schließlich muß er so oder so den Abschied nehmen – es bleibt ihm kaum etwas anderes übrig,« erwiderte Georg gleichmütig.

Seine kalten Worte reizten Ernst, aber er schwieg. Er war jetzt nicht in der Stimmung, sich mit dem Bruder zu streiten. Seine Gedanken flogen wieder zu Bettina. Armes, liebes Ding! Wie mußte sie sich mit ihrem zärtlichen, weichen Herzen um den Geliebten gebangt haben! Und gerade heute war er nicht zu Hause gewesen. Vielleicht hätte sie den Mut gefunden, sich ihm anzuvertrauen, und er hätte ihr helfen können. Aber dazu war es noch nicht zu spät. Großtanting hatte sie ihm ans Herz gelegt, er sollte ihr Schützer und Hüter sein. Jetzt war es an der Zeit, sein Wort einzulösen, wie ein Bruder für sie zu sorgen. Nun er Gewißheit hatte, daß sie Bühren liebte, mußte er seine Neigung für sie unterdrücken und wenigstens ihr zu ihrem Glück verhelfen. Für ihn war sie verloren, aber er wollte dafür sorgen, daß sie ihre Liebe zu Bühren nicht scheu im Dunkel verbergen mußte. Bühren war, trotz Georgs Verdammungsurteil, ein anständiger Kerl, er würde wissen, was er Bettina schuldig war, wenn er erfuhr, daß sie mit ihm gesehen worden war. Um aus diesen beiden Menschen ein glückliches Paar zu machen, fehlte nichts als Geld – und davon besaß er mehr, als er je brauchen würde. Es würde ihm kein Opfer sein, die Heiratskaution zu stellen. Nur daß er sie einem andern in die Arme führen mußte, – das war ein Opfer, welches ihm Herzblut kosten würde. Aber für ihn war sie doch verloren, – da sie einen andern liebte. Und wie mußte sie ihn lieben, daß sie alle weibliche Scheu beiseite gesetzt hatte und heimlich zu ihm gegangen war. Nur die Angst um sein Leben konnte sie so weit getrieben haben. Armes, liebes Geschöpf – so allein, so schutzlos in der Welt. Er wollte ihre Sache führen – und nicht nur, weil er Großtanting versprochen hatte, für sie zu sorgen, sie zu schützen. Aber leichter wurde ihm bei alledem nicht zumute. Ihm war, als habe er einen köstlichen Schatz verloren, der ihm durch nichts ersetzt werden konnte.

Nur mit Mühe konnte er sich im Klub beherrschen und scheinbar unbefangen und vergnügt sein. Die anderen Herren schienen die beiden jungen Menschen zum Glück nicht erkannt zu haben. Sie gaben sich zu harmlos und unbefangen. Ernst war froh, als er aufbrechen konnte. Georg schloß sich ihm auch auf dem Heimweg an. Aber sie sprachen kein Wort mehr über die Angelegenheit. Ernst nicht, weil er es nicht mit anhören konnte, wie geringschätzig Georg von Bettina sprach, und Georg nicht, weil er sich vorgenommen hatte, gleich morgen früh seiner Mutter von dem ›skandalösen Vorfall‹ Bericht zu erstatten, und weil er fürchtete, Ernst würde ihm sein Wort abfordern, den Eltern nichts zu sagen.

Sie trennten sich zu Hause mit flüchtigem Gruß und suchten ihre Zimmer auf.

Ernst fand nicht viel Schlaf in dieser Nacht. Bettinas Schicksal und seine vernichtete Liebeshoffnung ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Bettina hatte ihr Zimmer erreicht, ohne jemand im Hause begegnet zu sein. Schnell ging sie zu Bett. Erst jetzt überkam sie die Furcht. Es war doch ein Wagnis gewesen, Bühren in seiner Wohnung aufzusuchen. Wenn sie gesehen worden wäre? Sie schauerte zusammen und schloß die Augen. So lange sie von dem Drange beseelt gewesen war, zu helfen, einem Menschen das Leben zu retten, hatte sie den Mut gehabt. Nun ihr Werk gelungen war, malte sie sich erst in furchtsamer Scheu aus, welche Folgen ihr Schritt hätte für sie haben können. Gottlob, daß sie unbemerkt wieder in ihr Zimmer gelangt war. Warum war ihr nur jetzt noch so bange zumute? Sie konnte doch froh und zufrieden sein, Bühren war gerettet, und man hatte zu Hause nichts von ihrem Vorhaben gemerkt. Und nie würde jemand erfahren, daß sie bei Bühren war. Er hatte ihr sein Ehrenwort gegeben; und sie würde das ihre halten und niemand verraten, daß sie ihm das Geld gebracht hatte. Nun war ja alles gut.

Aber sie fand lange den gewöhnten Schlaf nicht. Einmal setzte sie sich auf und sah in das helle Mondlicht hinaus. Es war so schön und klar, wie an jenem Abend, als Großtanting starb. Großtanting! »Nicht wahr, du heißt es gut, was ich heute getan habe?« flüsterte sie und sah mit großen Augen in die glänzende Mondscheibe. Dann legte sie sich zurück und faltete die Hände.

»Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht.«

Lächelnd schlief sie ein.

Als sie aber am nächsten Morgen aufwachte, waren ihre Gedanken gleich wieder bei ihrem Erlebnis von gestern abend. Und in das Frohgefühl, ein gutes Werk vollbracht zu haben, mischte sich doch immer wieder die nachträgliche Unruhe über den ungewöhnlichen Schritt, den sie getan hatte. Gleichwohl sagte sie sich auch jetzt noch, daß sie im gleichen Falle genau so handeln würde. Schnell kleidete sie sich an und ging ihren häuslichen Geschäften nach. Tante Adolfine sagte ihr mürrisch wie sonst guten Morgen und bemerkte: »Es ist gut, daß du wieder auf dem Platz bist, es gibt heute viel Arbeit.«

Am Frühstückstisch ging es meist sehr still und ruhig zu, aber heute schien eine besondere Verstimmung auf allen zu liegen. Onkel Peter hatte schlecht geschlafen – vielleicht hatte ihn die Angelegenheit mit Bühren doch ein wenig beklemmt. Tante Adolfine hatte Hausputzfieber und trommelte nervös auf dem Tischtuch herum.

Georg warf Bettina hämische Seitenblicke zu, und um seinen Mund lag ein gehässiger, verkniffener Zug, und Ernst, der sonst immer einige freundliche Blicke und Worte für sie hatte, hob die Augen nicht von seiner Tasse, trank sie hastig leer und ging mit einem allgemeinen flüchtigen Gruß schnell davon. Er sah blaß und übermüdet aus, und über der Nasenwurzel hatte sich auf der Stirn eine düstere Falte zusammengezogen, als leide er heimliche Schmerzen.

Was mochte mit ihm sein? War er krank? Die Sorge um ihn ließ Bettina alles andere vergessen. Eine bange Unruhe um ihn erfüllte ihr Herz.

Georg pflegte sonst gleich nach Ernst aufzubrechen. Heute blieb er noch ruhig sitzen, bis Bettina das Frühstücksgeschirr hinausgetragen hatte und draußen an ihre Arbeit gegangen war. Seine Mutter sah ihn erstaunt an.

»Nun, Georg – gehst du nicht in die Fabrik?«

Georg richtete sich auf, als habe er nur auf diese Frage gewartet.

»Ich habe euch etwas mitzuteilen – etwas sehr Unangenehmes.«

Peter Aßmann legte seine Zeitung zusammen und sah ihn erwartungsvoll an. Auch seine Frau fragte gespannt: »Nun?«

Georg betrachtete aufmerksam seine krallenartigen Fingernägel.

»Es betrifft Bettina. Wißt ihr, daß sie gestern abend ausgegangen ist?«

Frau Adolfine sah sehr erstaunt aus.

»Bettina? Bewahre – du weißt doch, daß sie zeitig vom Abendtisch ging, um sich niederzulegen.«

Georg schnippte wegwerfend mit den Fingern.

»Schwindel. Sie ist aus gewesen, wir haben sie gesehen, Ernst und ich.«

Frau Adolfine erhob sich.

»Aber das ist doch nicht möglich, da will ich doch Bettina gleich –«

Georg hielt sie fest.

»Bleib' noch, Mutter, höre erst alles. Bettina hat Leutnant von Bühren gestern abend in seiner Wohnung besucht, wir sahen sie mit ihm das Haus verlassen und folgten ihr unbemerkt, um uns zu überzeugen, daß sie es war.«

Jetzt fuhr auch Peter Aßmann aus seinem Stuhl empor.

»Das ist unmöglich,« rief er ungläubig.

»Es ist doch so. Ein Irrtum ist ausgeschlossen.«

Jetzt fand Frau Adolfine die Sprache wieder. Jeder Zoll an ihr war sittliche Entrüstung. Und zugleich frohlockte sie innerlich. Das war eine gute Gelegenheit, Bettina los zu werden.

»Das ist ja empörend – ich bin außer mir – solch eine Person in meinem Hause. Ich finde keine Worte vor Entrüstung. So etwas muß man erleben für seine Gutmütigkeit – ah – ich habe längst geahnt, daß ihre scheinheilige Miene nur Verstellung war. So eine Person – so eine Person!«

Georg lachte ingrimmig.

»Ja, sie hat uns alle genarrt.«

»Sie muß aus dem Hause, sofort, ich dulde sie keinen Tag länger in meiner Umgebung. Wer weiß, wie oft sie schon bei ihm war. Wenn das jemand gesehen hat – dieser Skandal – nein, sofort sage ich ihr, daß sie aus dem Hause muß.«

Sie wollte hinaus. Peter hielt sie zurück.

»Nichts übereilen, Adolfine. Ich meine, man müßte Bettina erst hören, ehe man sie verurteilt.«

»Ich bitte dich, – wenn unsere Söhne mit eigenen Augen sahen, wie sie mit Bühren aus dem Hause kam?«

»Gleichviel – man richtet niemand, den man nicht gehört hat. Erst frage sie, ob sie schuldig ist.«

Sie lachte schneidend auf.

»Natürlich wird sie leugnen.«

»Dann kann man sie überführen.«

»Nun gut – ich werde sie rufen.«

Adolfine schritt zur Tür, – ganz strenge Richterin, – ganz Erbarmungslosigkeit. Georg rückte sich bequem in einem Sessel zurecht, als wolle er mit Behagen ein interessantes Schauspiel genießen, und Peter Aßmann setzte nervös seinen Kneifer zurecht. Ihm war die ganze Angelegenheit sehr peinlich, und er wünschte, daß Bettina sich rechtfertigen möchte.

Auf Frau Adolfines Ruf erschien Bettina sofort. Ahnungslos, was man von ihr wollte, blickte sie auf. Drei forschende, scharfblickende Augenpaare sahen ihr entgegen. Betroffen flogen ihre Blicke von einem zum andern.

»Was wünschest du, Tante Adolfine?«

Diese rückte sich steif empor.

»Ich wünsche zu wissen, wo du gestern abend gewesen bist, als du dich angeblich wegen Kopfweh auf dein Zimmer zurückgezogen hattest?«

Bettina zuckte zusammen und wurde glühend rot. Ihre Hände krampften sich zusammen, und gleich darauf wich die Röte einer fahlen Blässe. Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Zu unerwartet kam ihr diese Frage. Sie rang nach Fassung.

»Nun – du antwortest nicht? Also ist es wahr, was ich mit Entrüstung von Georg hören mußte. Du hast Leutnant von Bühren in seiner Wohnung besucht?«

Noch immer vermochte Bettina nichts zu sagen. Sie zitterte am ganzen Körper und warf hilfeflehende Blicke um sich.

»So antworte doch,« herrschte sie Frau Adolfine an.

Georg lachte zynisch auf.

»Ich denke, einen besseren Beweis für das böse Gewissen kann niemand geben als sie.«

Bettina sah ihn schmerzlich an. Seine Worte gaben ihr jedoch die Fassung wieder, sie wußte jetzt, woher der Schlag kam, der sie traf. Georg mußte sie gesehen haben.

»Ich habe kein böses Gewissen, denn ich habe nichts Böses getan,« sagte sie leise.

Georg fuhr auf.

»Was, du willst leugnen, bei Bühren gewesen zu sein? Das spare dir nur. Ernst und ich, wir haben dich mit eigenen Augen mit ihm aus seinem Hause kommen sehen.«

Bettina griff schwankend nach einer Stuhllehne.

»Ernst auch?« fragte sie erschauernd und wußte nun mit einem Male, weshalb er sie heute morgen gar nicht angesehen, weshalb er so finster geblickt hatte.

»Ja, Ernst auch,« äffte ihr Georg nach. »Willst du nun noch immer leugnen?«

Bettina atmete tief auf. Groß und offen sah sie ihre drei Richter an. Aber sie war plötzlich sehr ruhig geworden. Was konnte ihr nun noch Schlimmeres geschehen? Ernst wußte, was sie getan, und er verurteilte sie, stumm, aber um so schärfer, ohne sie nur zu fragen, ob sie schuldig war.

»Ich habe nicht die Absicht gehabt, zu leugnen. Ja – ich bin gestern abend bei Herrn von Bühren gewesen.«

Frau Adolfine trat dicht an sie heran und bebte vor sittlicher Entrüstung.

»Schamloses Geschöpf – pfui über dich! Noch heute packst du deine Sachen und verläßt unser Haus. Ich mag dich nicht mehr sehen, – geh' –.«

Jetzt griff Peter ein. Bettina machte ihm so gar nicht den Eindruck einer schamlosen Person.

»Sag' doch, wie du dazu gekommen bist, Bettina. Was wolltest du bei Bühren?«

»Darüber kann ich nicht sprechen, Onkel Peter. Ich hab' mein Wort gegeben.«

Wieder lachte Georg verächtlich auf.

»Galante Abenteuer plaudert man nicht aus,« sagte er boshaft.

Bettina sah ihn groß und ernst an.

»Was hab' ich dir denn getan, daß du mich so kränkst?« fragte sie traurig.

»Schweig' still,« fuhr Frau Adolfine zornig auf sie los. »Es ist eine himmelschreiende Frechheit von dir, daß du nicht vor Scham zu Boden sinkst. Ich will nichts mehr hören – wir sind fertig miteinander. Für Personen deines Schlages ist unter unserem Dach keine Heimat. Geh'.«

Bettina erbebte. Sie empfand die Schmach, die man ihr antat, wie einen körperlichen Schmerz. Aber sie war machtlos diesen Schmähungen gegenüber. Der Schein war gegen sie, und diese Menschen würden ihr nie glauben, daß ihr Besuch bei Bühren harmloser Natur gewesen war. Auch Ernst nicht, – Ernst – Sie hätte aufschreien mögen vor namenlosem Jammer. Hilflos sah sie von einem zum andern. Onkel Peter sah aus, als wäre ihm etwas sehr Widerwärtiges begegnet. Georg betrachtete sie mit unverschämt frechen, durchdringenden Blicken, und Tante Adolfine sah aus wie die leibhaftige sittliche Entrüstung. Was half da alles Wehren? Sie mußte wie eine Geächtete in die Verbannung gehen.

Niemand hielt sie zurück, als sie sich langsam zum Gehen wandte.

Die drei Menschen sahen ihr schweigend nach. Peter Aßmann fuhr sich durch das Haar. Er fand, seine Frau sei zu hart gewesen. Aber Frauen urteilen eben in solchen Fällen unnachsichtig und streng, und er konnte nicht verlangen, daß sie Bettina im Hause behielt. Dank Tante Emmas Fürsorge brauchte sie ja auch schließlich keine Not zu leiden. Und leichtsinnig war es ohne Zweifel, daß sie sich in eine Liebelei mit Bühren verstrickt hatte. Da konnte er eben nichts für sie tun. Er stieß pfeifend die Luft zwischen den Zähnen hindurch.

»Na – dann kann ich ja nun in die Fabrik gehen,« sagte er unbehaglich.

»Ich gehe mit,« rief Georg.

So blieb Frau Adolfine allein zurück und wußte nicht, ob ihre Empörung über Bettina größer war als die Genugtuung, sie los zu werden. Ernst würde ja nun gründlich von seiner gefährlichen Vorliebe für diese leichtfertige Person geheilt sein. Mochte diese nun sehen, wie sie sich draußen im Leben zurecht fand. Alt genug war sie ja nun, um auf eigenen Füßen zu stehen. Wie sich wohl Bühren bei der ganzen Sache verhalten würde? Heiraten konnte er sie natürlich nicht, selbst wenn er wollte. Er war ja arm. Und man würde sich hüten, etwas für die beiden zu tun – auf keinen Fall – was gingen sie diese Menschen noch an – nichts – gar nichts. Sie wollte Bettina ganz aus ihrem Leben streichen. Genug hatte sie schon für sie getan. Nun mochte sie sich selbst weiterhelfen. – – –

Bettina saß wie vernichtet in ihrem Zimmer am Fenster und sah mit trostlosen Augen vor sich hin. Fort aus diesem Hause sollte sie. – Wie eine Ehrlose, Verworfene jagte man sie hinaus, ohne sich die Mühe zu nehmen, zu ergründen, ob sie schuldig war oder nicht. Und Ernst war gegangen, sie stumm verurteilend. Auch er glaubte an ihre Schuld. Nun mußte sie hinaus in die Welt – die sie nicht kannte, vor der sie sich fürchtete, in der sie sich schwer zurecht finden würde. Wo sollte sie hingehen, wohin zuerst ihre zagenden Schritte lenken?

Sie schlug die Hände vor das blasse Gesicht und schluchzte auf.

»Großtanting, – Liebe, – Teure, – daß du noch am Leben wärst. Du hättest mich nicht verdammt. Du kanntest mich und hättest mir so Schlimmes nie zugetraut,« flüsterte sie vor sich hin.

Und dann jagten ihr die Gedanken wieder durch das schmerzende Hirn. Ob sie noch einmal hinüberging zu Tante Adolfine und sie bat, bleiben zu dürfen? Ob sie ihr alles beichtete? Aber nein – sie durfte ihr Wort nicht brechen, sie hatte Bühren versprochen, daß niemand erfahren sollte, daß sie ihm das Geld gebracht hatte. Und schließlich half es ihr auch nichts. Tantes kalter, strenger Sinn würde ihre Handlungsweise nie verstehen und verzeihen. Nur neuen Demütigungen würde sie sich aussetzen.

Und es war auch besser, wenn sie ging – wenn sie Ernst nicht mehr wiedersah. Es würde ihr furchtbar sein, seine schweigende Verachtung zu ertragen. Da war es doch besser, sie traf gar nicht mehr mit ihm zusammen.

Tränen stürzten aus ihren Augen. Vorbei war es nun mit ihrem stillen, scheuen Glück, das sie im täglichen Verkehr mit ihm gefunden hatte. Wie schön und herrlich war es gewesen, wenn sie mit ihm spazieren gehen durfte, wenn er sich so liebevoll und brüderlich mit ihr beschäftigte. Ach – sie hatte ja nie mehr vom Leben verlangt als diese stillseligen Stunden. Nun war es aus damit. Grau und öde lag ihr Weg vor ihr. Sie erhob sich müde und begann ihre Sachen zusammenzupacken. Und dabei sann sie unruhig darüber nach, wo sie hingehen sollte. Sie hatte ja keinen Menschen auf der Welt, der ihr hätte raten und helfen können. Natürlich mußte sie fort aus der Stadt. Gottlob, daß sie Geld hatte. Ach, gutes, liebes Großtanting – nun werde ich es brauchen, das Geld, das du mir in unerschöpflicher Güte hinterlassen hast. –

Vielleicht konnte sie zuerst einmal eine der so oft in Zeitungen angepriesenen Pensionen aufsuchen. Wo hatte sie denn neulich erst davon gelesen? Ach ja – auf einem Druckbogen – einer Zeitungsbeilage. Wo hatte sie die hingetan? Halt – hier im Tischkasten vielleicht. – Sie kramte mit zitternden Händen das Blatt hervor und überflog die Anzeigen. Richtig – hier: »In einer Pension, herrlichste Lage des Thüringer Waldes, finden Familien und auch einzelne Damen angenehmen, nicht zu teuren Aufenthalt für kürzere und längere Zeit. Näheres bei Frau Dr. Hartung, Ilmenau.« Das war wohl für sie passend – wie gut, daß sie sich das Zeitungsblatt aufbewahrt hatte. – Sie wollte es als einen Schicksalswink betrachten und zuerst dorthin ihre Schritte lenken, bis sie fähig war, Pläne für die Zukunft zu schmieden.

Etwas wie Ruhe kam über sie, als sie diesen Entschluß gefaßt hatte. Sie begann nun eifrig ihre Sachen zusammenzusuchen. Das nötigste packte sie in einen alten Lederkoffer, in dem einst ihre wenigen Habseligkeiten hier ins Haus geschafft wurden. Sie hatte sich nie von ihm trennen mögen. Nun sollte er mit ihr hinaus in die Verbannung. –

Wie oft war ihr das Leben hier im Hause schwer und drückend erschienen. Nun sie aber fort sollte, war ihr zumute, als müsse sie eine liebe, teure Heimat verlassen. Hatte sie doch neben manchen trüben auch lichte und schöne Stunden hier erlebt. Großtantings Liebe und Güte hatte ihr viele geschaffen und in letzter Zeit auch Ernst. –

Ernst! – Heiße Tränen überfluteten wieder ihr Antlitz. Es war doch das schwerste, daß sie von ihm gehen mußte – von ihm verachtet und verurteilt.

*

Ernst war, als er das Haus am Morgen verlassen hatte, nicht in sein Bureau gegangen. Erst lief er eine Stunde im Freien herum, um sich einen klaren Kopf zu schaffen. Dabei überlegte er sich, wie er Bühren entgegentreten und überhaupt Bettinas Schicksal sichern sollte.

Schon nach zehn Uhr stand er dann vor Bührens Wohnung. Der Bursche sagte ihm, sein Herr wäre vom Dienst noch nicht nach Hause zurückgekehrt, er müsse jedoch bald heimkommen. Ernst beschloß, zu warten, und der Bursche ließ ihn eintreten.

Eine Viertelstunde später kam Bühren. Er stutzte betroffen, als er seinen Besucher erkannte.

»Sie, Herr Baumeister?«

Ernst hatte sich erhoben und sah ihn fest und forschend an. Dann sagte er langsam und schwer:

»Gestern abend gegen neun Uhr ging ich mit meinem Bruder und einigen anderen Herren auf der gegenüberliegenden Straßenseite an Ihrer Wohnung vorüber – und sah Sie mit einer Dame das Haus verlassen.«

Bühren fuhr erblassend zurück. Seine Augen wurzelten jedoch fest und furchtlos in denen seines Besuchers. Er antwortete aber nicht. Ernst sah ihn düster an.

»Haben Sie mir nichts zu sagen, Herr von Bühren?«

Dieser erwiderte seinen Blick jetzt groß und ruhig.

»Nein,« sagte er fest.

Ernst holte tief Atem.

»Mein Bruder und ich – wir haben die Dame erkannt – hoffentlich nicht auch einer der anderen Herren. Wir beide wissen bestimmt, daß die Dame unsere Base Bettina Sörrensen war. Wir sind Ihnen gefolgt, sahen, daß Sie unsere Verwandte bis an die Straßenecke begleiteten, und daß diese Dame unser Haus betrat. – Haben Sie mir immer noch nichts zu sagen, Herr von Bühren?«

Seine letzten Worte klangen drohend. Bühren sah sehr bleich aus. Es war ihm ein furchtbarer Gedanke, daß Bettina Mißdeutungen ausgesetzt war. Er atmete schwer.

»Ich wollte, ich dürfte sprechen, Herr Baumeister – aber mein Ehrenwort bindet mich,« sagte er gepreßt.

Ernst fuhr sich wild durchs Haar. Die äußere Ruhe kostete ihn viel. Er lief einige Schritte auf und ab. Dann blieb er vor Bühren stehen.

»Eigentlich dürften wir jetzt nur noch mit den Waffen in der Hand die Angelegenheit behandeln. Aber ich will zuvor versuchen, ob wir nicht zu einem friedlichen Abschluß kommen. Sie bindet ein Ehrenwort, das Ihnen jedenfalls Fräulein Sörrensen abgefordert hat. Sie ist von einer geliebten Verstorbenen meinem Schutz anvertraut worden – und ich weiß – ich glaube bestimmt, daß sie nicht so schuldig ist wie es den Anschein hat.«

Bühren fuhr auf.

»Fräulein Sörrensen ist rein und schuldlos wie ein Engel. Ich zolle ihr die ehrerbietigste Hochachtung, sie steht mir hoch über allen Frauen, glauben Sie mir das. Mein Ehrenwort, daß ich jeden vor meine Waffe fordere, der es wagt, ihre Reinheit anzuzweifeln,« rief er mit Wärme und voll tiefen Empfindens.

Ernst atmete auf, als sei ihm eine schwere Last von der Seele genommen.

»Ich zweifle nicht an ihr. Daß sie aber bei Ihnen war, steht fest, und es gibt für mich nur eine Erklärung. Ich verlange natürlich nicht, daß Sie Ihr Ehrenwort brechen. Aber ich will Ihnen sagen, wie ich mir das alles erklärt habe. Mein Bruder erzählte mir von Ihrer Verlegenheit. Sie hatten ehrenwörtlich eine bestimmte Summe zu beschaffen. Ich denke mir nun, Bettina erfuhr von Ihrer Not auf irgend eine Weise. Sie liebt Sie, und die Angst um Sie trieb sie hierher. Ihr stand wohl das Schicksal ihres Bruders vor Augen, und sie wagte das Äußerste, Sie vor einem ähnlichen Schritt zu bewahren. So erkläre ich mir ihren unbedachten Schritt. Hätten Sie beide doch Vertrauen zu mir gehabt. – Sie sind arm – Bettina besitzt nur wenig, eine Verbindung zwischen Ihnen wäre eine Unmöglichkeit gewesen. Nach dieser Sache jedoch darf es keine Unmöglichkeit in diesem Sinne mehr geben. Ich hoffe, Sie wissen, welcher Weg Ihnen einzig und allein bleibt, um die Ehre meiner Base wieder herzustellen. – Nein – sprechen Sie noch nicht – hören Sie mich noch eine Weile an. Es fehlt Ihnen beiden also nur an Geld, um glücklich werden zu können. Dies Hindernis will ich beseitigen. Ich stelle die Heiratskaution. Meine Base ist mir teuer wie eine Schwester – ich bin reich genug, ihr von meinem Vermögen abzutreten, was sie zu ihrem Glücke braucht. Ich denke, mehr braucht es zwischen uns beiden nicht, um uns zu verständigen. Mein Vater ist von ein Uhr an zu Hause anzutreffen. Wenn Sie um Bettinas Hand anhalten wollen, werden Sie noch heute zu ihm gehen. Nicht wahr?«

Bührens Gesicht hatte sich gerötet. Ein lockendes Zukunftsbild stieg vor ihm auf. Seit gestern abend hatte er Bettinas süßes Gesicht nicht mehr vergessen können – und immer hatte er sich gefragt: Warum tat sie das? Er glaubte fast selbst, daß sie ihn liebte, und dieser Glaube erfüllte ihn mit unruhiger Freude, der sich stille Trauer beimischte, weil sie ihm unerreichbar war. Und nun wurde ihm plötzlich eine Möglichkeit geboten, sie sich fürs Leben zu eigen zu machen. Sollte er sich da noch lange bedenken? Nein – nein – da griff er zu mit beiden Händen, um das Glück festzuhalten.

»Ich werde um ein Uhr bei Ihrem Herrn Vater sein,« sagte er bewegt. »Willigt Fräulein Sörrensen ein, meine Frau zu werden, so fühle ich mich glücklich und hochgeehrt, denn sie ist ein hochherziges Geschöpf, und ich habe sie sehr liebgewonnen. Selbst wenn Sie mir nicht so überaus gütig Ihre Hilfe angeboten hätten, wäre ich nach diesem unseligen Zufall, der Sie an meiner Wohnung vorüberführte, sofort zu Ihrem Herrn Vater gegangen, um von ihm die Hand Fräulein Sörrensens zu erbitten. Freilich wäre mir dann nichts übrig geblieben, als den Abschied zu nehmen. Und es wäre mir schmerzlich gewesen, sie mit mir in eine ungewisse, sorgenvolle Zukunft zu reißen. Mir bleibt keine Wahl – ich nehme Ihr großherziges Anerbieten an – Bettinas wegen darf ich nicht kleinlich sein.«

Ernst seufzte auf und reichte ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen.«

»Dazu habe ich mehr Veranlassung.«

»Wenn Sie das glauben, so machen Sie Bettina glücklich. Dann sind wir quitt.«

Bühren sah forschend in Ernsts blasses, düsteres Gesicht. Eine Ahnung stieg in ihm auf, daß dieser Bettina wohl inniger zugetan sein könnte, als es sonst zwischen Verwandten üblich ist. Ernst bemerkte seinen forschenden Blick und nahm sich zusammen.

»Wir sind also friedlich ins Klare gekommen, Herr von Bühren. Ich will nun mein Bureau aufsuchen und hoffe, Sie heute mittag zu Hause als Bettinas Verlobten begrüßen zu können. Aber halt – noch eins. Ich wünsche nicht, daß meine Eltern erfahren, daß ich die Heiratskaution stellen will. Es würde unnötiges Hin und Her geben. Sagen Sie, durch eine unverhoffte Erbschaft – oder sonst einen Glücksfall – sind Sie in Besitz der nötigen Summe gekommen. Da Sie gestern meinen Vater und meinen Bruder um ein Darlehen angingen, müssen Sie natürlich eine Erklärung über Ihre veränderten Vermögensverhältnisse abgeben.«

»Ich werde in Ihrem Sinne handeln, Herr Baumeister.«

Die beiden Männer sahen sich fest ins Auge und reichten sich die Hand. Dann ging Ernst.

Er war ruhiger geworden, nun er für Bettina getan hatte, was er tun konnte. Zugleich aber kam eine tiefe Niedergeschlagenheit über ihn, die er nicht hinweg philosophieren konnte. Er vergrub sich förmlich in seine Arbeit. Sie brachte ihm aber heute keine Befreiung. Seine Gedanken ließen sich nicht abwenden von dem Verlust, der sein Herz betroffen.

*

Peter Aßmann war eben aus der Fabrik nach Hause zurückgekehrt, als ihm Bühren gemeldet wurde. Der alte Herr war in verdrießlicher Stimmung, seine Frau hatte ihm auf seine Frage nach Bettina eben erklärt, daß diese fertig mit Packen sei und zwei Uhr dreißig Minuten abreisen würde. Sie blieb also bei ihrem Entschluß, das junge Mädchen zu entfernen, und das gefiel dem alten Herrn gar nicht. Er empfing Bühren sofort in seinem Arbeitszimmer, hoffend, dieser würde Aufklärung in die Angelegenheit bringen.

»Ich darf wohl hoffen, daß Sie gekommen sind, um mir eine Erklärung zu bringen über das seltsame Vorkommnis. Meine Söhne haben unsere junge Verwandte mit Ihnen aus Ihrer Wohnung kommen sehen. Wie verhält sich das?« fragte er sofort.

Bühren war erstaunt, daß Peter Aßmann bereits um die Angelegenheit wußte. Wahrscheinlich hatte Georg geschwatzt. Ihm traute er es zu. Er nahm eine förmliche Haltung an.

»Ich habe die Ehre, Sie um die Hand Ihrer Verwandten, Fräulein Bettina Sörrensen, zu bitten – das ist meine Erklärung.«

Peter Aßmann riß die Augen auf und sah Bühren erstaunt an.

»Sie sehen mich einigermaßen außer Fassung, Herr von Bühren. Diese im Grunde einfachste Lösung habe ich nicht erwartet. So sehr mich auch einerseits Ihre Werbung freut, da sie allein imstande ist, Bettinas Ehre wiederherzustellen, haben Sie mir andernteils gestern Ihre Verhältnisse so geschildert, daß ich nicht annehmen kann, sie seien im Besitz der Mittel, einen Hausstand zu gründen. Und Bettina besitzt auch nur ein kleines Kapital von fünfundzwanzigtausend Mark.«

Bührens Brust hob sich im tiefen Atemzug.

»Seit gestern haben sich meine Verhältnisse durch ein Ereignis, das ich nicht voraussehen konnte, geändert. Ich bin heute in der glücklichen Lage, die Heiratskaution stellen zu können, und bitte Sie nochmals um Ihre Zustimmung zu meiner Werbung.«

Peter Aßmann war entschieden freudig erregt.

»Das ist etwas anderes, – natürlich, – das ändert die Sache. Gottlob, daß diese scheußliche Situation zu Ende ist. Gewiß gebe ich meine Einwilligung. Es wäre mir persönlich schmerzlich gewesen, Bettina wie eine Verlorene aus meinem Hause jagen zu lassen. Und meine Frau ist sehr streng – Bettina hat bereits ihre Sachen packen müssen.«

Bühren trat entsetzt zurück.

»Nicht möglich!«

»Doch – es ist so.«

Bühren war außer sich.

»Wie hat Ihre Frau Gemahlin von dieser Sache erfahren?«

»Durch meinen Sohn Georg. Er hat uns heute morgen natürlich Bericht erstattet über diese Angelegenheit.«

Der junge Offizier atmete gepreßt.

»Ich bin untröstlich, daß Fräulein Sörrensen dadurch Unannehmlichkeiten hatte, und bitte Sie herzlich, mir sofort eine Unterredung mit ihr zu gestatten,« sagte er hastig.

Heiß stieg es in ihm empor. Das arme liebe Mädchen – wie schwer hatte sie für ihre Güte büßen müssen! Wenn nun Ernst Aßmann nicht bei ihm gewesen wäre – er hätte keine Ahnung gehabt, wie sehr Bettina zu leiden gehabt hätte für ihn. Gottlob, daß er noch zurecht kam, sie aus der peinlichen Lage zu erlösen. Gleichviel, ob sie seine Werbung annahm oder nicht – sie mußte ihm nun sein Ehrenwort zurückgeben, damit er erklären konnte, wie rein und schuldlos sie war.

Peter Aßmann lud Bühren ein, Platz zu nehmen.

»Ich werde Bettina gleich selbst herbeiholen,« sagte er und ging hinaus. Zuerst machte er Adolfine Mitteilung von Bührens Werbung und schickte sie zu ihm hinein. Sie begrüßte den jungen Offizier sehr kühl und mit strengen Blicken. Sie konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine geharnischte Strafpredigt über ›unverantwortlichen Leichtsinn und unerhörte Unschicklichkeit‹ vom Stapel zu lassen. Bühren konnte nur mühsam ihren Ausfällen gegenüber den artigen Ton festhalten, den ein Herr unter allen Umständen einer Dame gegenüber aufrecht erhalten soll. Er wollte etwas zu Bettinas Verteidigung sagen, aber sie ließ ihn gar nicht dazu kommen. Im Grunde war sie heilfroh, so billig bei dieser Sache wegzukommen. Als Bührens Braut war Bettina noch unschädlicher, und außerdem schnitt man allem Gerede die Spitze ab. Einigermaßen hätte man sich doch in ihren Kreisen gewundert über Bettinas Fortgang. Nun mochte sie bis zur Hochzeit im Hause bleiben. Man konnte vielleicht noch zum Ausdruck bringen, daß man nur mit schwerem Herzen so streng gewesen war. Sie gab Bühren gleich eine Schilderung, wie furchtbar es ihr gewesen sei, gegen Bettina so hart sein zu müssen. Aber in solch einem Falle sei Milde einfach ein Verbrechen. Bühren sah unruhig nach der Tür. Aus Frau Adolfines Reden merkte er ungefähr, wie sich die Szene am Morgen abgespielt hatte. Er sehnte sich fieberhaft nach Bettinas Anblick. Ihr nur erst sagen dürfen, daß er für sie eintreten würde mit jedem Atemzug. –

Peter Aßmann hatte inzwischen an Bettinas Zimmertür geklopft. Sie tat ihm sofort auf. Er blickte freundlich in ihr blasses Gesicht.

»Herr von Bühren ist hier, Bettina, er wünscht dich zu sprechen.«

Sie erschrak. Was war geschehen?

»Herr von Bühren?« murmelte sie.

»Ja, komm nur – du brauchst dich nicht zu erschrecken. Es wird noch alles gut.«

Sie faßte sich und ging still mit ihm in sein Zimmer hinüber. Tante Adolfine war endlich mit ihrer Rede fertig geworden und saß ganz erschöpft in einem Sessel. Bühren trat schnell auf Bettina zu und führte ihre Hand mit Ehrerbietung an seine Lippen.

»Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre, Sie herzlichst zu bitten: Werden Sie meine Frau und gestatten Sie mir, Sie von heute ab als meine Verlobte zu betrachten,« sagte er mit bebender Stimme.

Bettina zuckte zusammen und trat von ihm zurück. Dunkle Röte schoß in ihr Gesicht. Betroffen sah sie ihn an, ohne eine Antwort zu finden.

»Du kannst Gott auf den Knien danken, daß Herr von Bühren dich durch seine Werbung wieder zu Ehren bringt,« rief Frau Adolfine ihr zu.

Bühren trat unwillkürlich schützend zwischen Bettina und ihre Tante.

»Sie können sich denken, gnädiges Fräulein, wie glücklich ich bin, Ihnen sagen zu dürfen, daß ich durch ein glückliches Ungefähr in den Stand gesetzt bin, die nötige Kaution zu stellen, so daß ich ohne Sorge für Ihre Zukunft meine Werbung vorbringen kann. Ich werde sehr glücklich sein, wenn Sie mir Ihr Jawort geben wollen.«

Adolfine fand, daß er zu viel Umstände machte und wollte eben wieder hineinreden. Da legte Peter nachdrücklich und warnend seine Hand auf ihren Arm und bat sie durch einen Blick, zu schweigen. Bettina sah mit umflortem Blick in Bührens Gesicht. Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden.

»Ich weiß nicht, wie Sie zu diesem Schritt gedrängt worden sind, Herr von Bühren. Jedenfalls danke ich Ihnen. Sie wollen damit meine Unbesonnenheit wieder gutmachen. Aber ich kann und will dieses Opfer nicht annehmen.«

Peter Aßmann und seine Frau fuhren in maßlosem Erstaunen auf.

»Bettina – was soll das heißen?« rief Tante Adolfine entrüstet.

»Das soll heißen, daß ich mich weigere, Herrn von Bührens Werbung anzunehmen, – schon weil sie erzwungen ist.«

»Das ist ein Irrtum Ihrerseits, gnädiges Fräulein,« sagte Bühren warm. »Ich habe Sie immer sehr gern gehabt – meine Wünsche durften sich Ihnen nur nie nahen. Seit gestern abend weiß ich, daß ich Sie liebe von ganzem Herzen. Und ich bin glücklich, in der Lage zu sein, Sie ohne Sorge um die Zukunft um Ihre Hand bitten zu dürfen. Niemand hat mich zu diesem Schritt gezwungen, also kann von einem Opfer keine Rede sein. Ich liebe Sie und bitte nochmals um Ihr Jawort.«

Bettina strich mit der Hand über ihre Stirn. Da stand ein Mann vor ihr, der sie zur Frau begehrte, der ihr Schutz und Schirm sein würde vor allem Bösen. Sie brauchte nur ja zu sagen und hatte dann eine Heimat gefunden am Herzen eines Mannes. Niemand konnte sie dann hinaustreiben in die fremde kalte Welt. Wies sie ihn ab, dann war ihres Bleibens hier nicht länger, Tante Adolfine sah unbarmherzig und kalt zu ihr herüber. Aber trotzdem – nein – nein – sie konnte nicht mit der Liebe zu einem andern im Herzen eine Ehe eingehen. Es würde ein Unrecht sein an sich selbst und an Bühren, der mit so bittenden, ehrlichen Blicken in ihre Augen sah. Entschlossen richtete sie sich auf.

»Es tut mir leid, Herr von Bühren, – ich kann Ihre Frau nicht werden, so ehrenvoll mir Ihr Antrag auch ist. Ich muß Ihnen ehrlich bekennen, daß ich Sie nicht liebe, und ohne Liebe werde ich nie eine Verbindung fürs Leben eingehen. Seien Sie mir nicht böse – ich kann nicht anders – und Offenheit muß zwischen uns herrschen.«

Bührens Gesicht bekam einen schmerzlich betroffenen Ausdruck. Sie liebte ihn nicht, kein wärmeres Gefühl als schlichte Menschenliebe hatte sie getrieben, ihm zu helfen. Diese Erkenntnis war ihm sehr bitter. Zugleich aber stieg Bettina noch mehr in seiner Hochachtung, und der Wunsch, Sie von jedem unlauteren Verdacht zu befreien, erfüllte sein Herz.

Während er noch mit dem bitteren Gefühl der Enttäuschung rang, war Frau Adolfine wütend von ihrem Sitz emporgefahren und überschüttete Bettina mit Vorwürfen.

»Wie kannst du es nur wagen, Herrn von Bühren abzuweisen? Du müßtest ihm Dank wissen, daß er dich nach allem noch zur Frau begehrt. Ich verstehe nicht, wie du dich da noch bedenken kannst, verstehe dich überhaupt nicht.«

Bettina sah sie ernst an. Eine große Ruhe war über sie gekommen.

»Nein, Tante Adolfine, – du verstehst mich nicht, – hast mich nie verstanden. Ich muß darauf verzichten, dir meine Handlungsweise überzeugend zu erklären, das weiß ich. Gib es auf, mich überreden zu wollen – ich werde niemals Herrn von Bührens Frau.«

Peter Aßmann schüttelte den Kopf, er wurde nicht klug aus der Geschichte. Aber seine Gattin gab den Kampf noch nicht auf. Diese Bettina schien gefährlicher, als sie geglaubt hatte. Auf jeden Fall mußte sie unschädlich gemacht werden.

»Glaub' nur nicht, daß du noch fernerhin in unserem Hause bleiben darfst. Ein Mädchen, das sich nicht schämt, zu einem Herrn in die Wohnung zu laufen und sich dann noch weigert, seine Frau zu werden, behalte ich nicht in meiner Umgebung,« sagte sie giftig.

Bettina schüttelte den Kopf.

»Nein, Tante – nach alledem wünsche ich selbst nicht mehr zu bleiben. Ich gehe, wie es schon zuvor beschlossen war.«

Bühren wandte sich an Peter Aßmann.

»Würden Sie die Güte haben, mir ein paar Worte unter vier Augen mit Fräulein Sörrensen zu gestatten?«

Der alte Herr nahm mit ehrlich bekümmertem Blick auf Bettina den Arm seiner Frau und zog sie mit sich hinaus.

Bühren trat, als er mit Bettina allein war, auf sie zu.

»Gnädiges Fräulein – ich will jetzt nicht davon reden, wie weh es mir tut, daß Sie mich abweisen. Ich weiß, Sie konnten nicht anders. Furchtbar ist mir aber der Gedanke, daß Sie durch Ihre Herzensgüte in eine so peinliche Lage geraten sind. Bitte, geben Sie mir mein Wort zurück und gestatten Sie mir, daß ich Ihren Verwandten alles erkläre.«

Bettina lächelte schmerzlich-bitter.

»Glauben Sie, daß ich meinen Verwandten dann weniger schuldig erscheine? Man wird mich nicht weniger hart verurteilen. Vielleicht noch mehr. Verstehen wird mich keiner.«

»Doch vielleicht. Als heute morgen Ihr Vetter bei mir war –«

Bettina fuhr auf.

»Mein Vetter war bei Ihnen? Welcher?«

»Der Baumeister.«

Bettina preßte die Hand aufs Herz und wurde dunkelrot.

»Er,« flüsterte sie, und ein Beben flog über ihre Gestalt.

Bühren sah sie forschend an. Ein sonderbarer Ausdruck verdunkelte seine Augen. Ihm war plötzlich klar geworden, warum ihn Bettina nicht lieben konnte.

Diese faßte sich.

»Also mein Vetter Ernst war bei Ihnen und – und er hat Sie gezwungen, mir Ihre Hand anzubieten – nicht wahr?« forschte sie herzklopfend.

»Nein, nicht gezwungen. Er hat mir nur großherzig die Kaution zur Verfügung gestellt, weil er glaubte, Sie liebten mich, ich liebte Sie. Er wollte uns in seiner Güte den Weg zum Glück ebnen.«

Das junge Mädchen strich sich mit zitternder Hand das lose Haar aus der Stirn.

»Er war wohl sehr böse auf mich?« fragte sie leise.

»Nein, – er glaubt an Ihre Schuldlosigkeit und hat keine Ahnung, daß man bereits hier Gericht über Sie gehalten hat. Trotzdem ich ihm keine Erklärung geben konnte, hielt er Sie einer unehrenhaften Handlung für unfähig. Er nahm an, Ihre Liebe zu mir und die Angst um mein Leben habe Sie zu einem unbesonnenen Schritt gedrängt. Und ich – ich war so vermessen, auch an diese Liebe zu glauben. Die ganze schlichte Größe Ihrer Tat ist mir erst jetzt klar geworden. Und nicht wahr – Sie geben mir mein Wort zurück? Wenigstens Ihrem Vetter Ernst möchte ich die ganze Wahrheit sagen dürfen. Ich glaube bestimmt, er wird Sie verstehen.«

Ein süßes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Ja, – ihm sollen Sie alles sagen, – auch daß ich gestern den ganzen Tag auf ihn gewartet habe und noch in seinem Bureau war, ehe ich zu Ihnen kam. Er sollte Ihnen das Geld bringen, und nur weil ich ihn nicht fand, kam ich selber. Sagen Sie ihm auch, – ich weiß nicht, wann er nach Hause kommt, ob ich ihn noch einmal sehe – sagen Sie ihm, ich lasse ihm herzlich danken für all seine Güte, und er soll mir nicht böse sein, daß ich – daß ich Ihre Frau nicht werden kann.«

Bühren lächelte wehmütig.

»Ich glaube nicht, daß er Ihnen deshalb böse sein wird und will ihm gern alles sagen.«

»Herzlichen Dank. Und nicht wahr, Sie sind nun nicht traurig, daß ich Ihnen Nein sagen mußte. Sie finden später gewiß eine liebe Frau, die Sie liebt und Sie glücklich macht. Und glauben Sie nicht, daß ich bereue, was ich gestern abend getan habe. Unter gleichen Umständen tät' ich heute dasselbe. Zu sorgen brauchen Sie sich auch nicht um mich. Ich weiß schon, wo ich ein Unterkommen finde.«

»Und kann ich sonst gar nichts für Sie tun?«

»Nein, ich danke Ihnen.«

»Wie aber soll ich Ihnen Ihr Geld zurückzahlen?«

Sie lächelte.

»Ich melde mich schon, wenn ich einmal höre, daß es Ihnen recht gut geht.«

Er sah ihr ernst und sinnend in das liebe Gesicht, und dabei dachte er:

»Sie liebt ihren Vetter Ernst – und er liebt sie, wenn ich mich ein wenig auf Seelenkunde verstehe. Diese beiden Menschen haben mich durch ihre Güte beschämt – vielleicht kann ich mich ihnen jetzt dankbar erweisen. Und wenn es weh tut – mag es drum sein – er hat auch nicht nach seinen eigenen Schmerzen gefragt, als er mir die Möglichkeit bot, sie zu heiraten. Jetzt kann ich ihm seinen Edelmut zurückzahlen.«

Bettina hatte einen Blick auf die Uhr geworfen. Es war Zeit, daß sie zum Bahnhof aufbrach, wenn sie den festgesetzten Zug erreichen wollte. Und da sie einmal gehen mußte, war es besser, sie schob ihre Abreise nicht länger auf. Es hätte nur ihre Qual verlängert. Vor allen Dingen fürchtete sie sich, Ernst noch einmal zu begegnen. In ihrem jetzigen Seelenzustand hatte sie vielleicht nicht mehr die Kraft, sich zu beherrschen. Und wenn sie ihm verraten würde, was sie für ihn fühlte, würde sie die Scham umbringen. Er hatte sie Bühren in die Arme führen wollen; – wenn sie je in ihren kühnsten Träumen daran gedacht hätte, daß er ihre Liebe erwidern könnte, – dieser Umstand hätte sie überzeugen müssen, daß er sie nicht anders liebte, denn als eine Schwester.

Sie rief Tante und Onkel herbei, damit sich Bühren verabschieden konnte. Die alten Herrschaften gaben sich sehr kühl und benommen und erwiderten auf Bührens Bitte um Verzeihung wegen der bereiteten Unannehmlichkeiten nur wenige, steifklingende Worte.

Bühren küßte Bettina ehrerbietig die Hand und ging, um sofort Ernst aufzusuchen und ihn zu Bettinas Schutz nach Hause zu schicken. Er wußte, dieser vermochte mehr für sie zu tun als er.

Bettina wandte sich nach seinem Fortgehen an Frau Adolfine und Peter.

»Gestattet mir, daß ich euch gleich jetzt Lebewohl sage. Ich muß sofort aufbrechen, wenn ich meinen Zug erreichen will,« sagte sie leise.

Peter Aßmann sah sie bekümmert an.

»Mußtest du uns das antun? Konntest du Bührens Werbung nicht annehmen? Dann war alles gut.«

»Ich konnte nicht anders handeln, als ich es getan habe. Seid mir nicht böse, laßt mich in Frieden scheiden. Ich bin nicht schuldig in dem Sinne, als ihr glaubt, ich war nur unbesonnen und wußte mir nicht anders zu helfen.«

»Du möchtest uns natürlich eine romantische Erklärung auftischen für deine Leichtfertigkeit,« sagte Frau Adolfine giftig.

»Nein, Tante, das will ich nicht. Es hat ja auch keinen Zweck. Du hast ein Recht, mich aus deinem Hause zu weisen, denn ich habe gegen die Regeln verstoßen, die dir maßgebend sind. Auch habe ich lange genug Eure Güte in Anspruch genommen. Ich danke Euch herzlich und innig für alles, was ihr mir Gutes getan habt. Alt genug bin ich ja, um mich nun auf eigene Füße zu stellen.«

»Und wo willst du hingehen jetzt?« fragte Peter besorgt und sah seine Frau heimlich forschend an, ob sie ihren strengen Richterspruch nicht rückgängig machen wollte. Adolfine schien jedoch ungerührt.

»Ich begebe mich zunächst in eine Pension nach Thüringen. Vorläufig nehme ich nur meine nötigsten Sachen mit. Weiß ich erst, wo ich dauernd bleibe, dann schreibe ich dir, Tante Adolfine, und bitte dich, mir meine übrigen Sachen nachsenden zu lassen.«

»Es ist gut,« antwortete Adolfine kalt.

Kalt war auch ihre Hand, die steif und reglos einen Augenblick in der Bettinas lag. Onkel Peter drückte jedoch warm die Hand des jungen Mädchens.

»Wenn du je in Not kommen solltest, ich werde dir immer beistehen,« sagte er bewegt.

Sie sah ihm mit feuchten Augen in das Gesicht und beugte sich schnell über seine Hand, diese mit ihren Lippen berührend. Dann eilte sie aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Peter Aßmann sah ernst in das Gesicht seiner Frau.

»Adolfine – warst du nicht zu hart?«

Sie kniff die Lippen zusammen. Dann sagte sie kalt:

»Der Handkuß hat dich wohl schwach gemacht? – Ja – sie versteht es, sich einzuschmeicheln. Ich sehe weiter als du. Bettina muß aus dem Hause. Denke daran, daß du zwei erwachsene Söhne hast. In welchem Verhältnis sollten sie in Zukunft mit ihr stehen, nachdem sie sich durch ihren Leichtsinn selbst in schlechten Ruf gebracht hat?«

Peter sah nachdenklich aus.

»Daran hab' ich freilich noch nicht gedacht. Aber ich meine, wir hätten die ganze Angelegenheit erst aufklären sollen. Bettina macht mir in keiner Weise den Eindruck einer Schuldigen.«

»Um so schlimmer. Laß dir sagen, daß Ernst eine bedenkliche Vorliebe für Bettina an den Tag legte. Bleibt sie im Hause, ist es nicht unmöglich, daß sich da eine Liebelei entwickelt – deshalb war ich so ›hart‹, wie du es nennst. Ich nenne es nur ›vernünftig‹.«

Dagegen konnte Peter nichts mehr einwenden. –

Und so verließ Bettina das Haus, in dem sie lange Jahre eine Heimat gefunden hatte. Um ihren Hals trug sie unter dem Kleide das Goldkettchen mit der Türkisenkapsel, welche ihr Großtanting einst mit Segenswünschen geschenkt hatte. Ehe sie es umlegte, hatte sie dieselbe geküßt. »Mein Talisman,« flüsterte sie dabei leise, und eine große Ruhe kam über sie. Sie war um Jahre gereift in diesen Stunden der Not.

*

Bühren fand Ernst noch im Baubureau. Dieser hatte es noch nicht über sich vermocht, nach Hause zu gehen, wo ein glückliches Brautpaar auf seine Glückwünsche wartete. Erstaunt und betroffen sah er auf, als er Bühren mit ernstem, nichts weniger als frohem Gesicht vor sich sah. Sofort erhob er sich.

»Nun?« fragte er erwartungsvoll. »Ist alles in Ordnung? Darf ich – darf ich Ihnen Glück wünschen?«

Bühren schüttelte den Kopf.

»Nein. Fräulein Sörrensen hat mich mit meiner Werbung abgewiesen.«

Ernst zuckte zusammen.

»Abgewiesen – abgewiesen? Das – nein, das verstehe ich nicht.«

Bühren stellte seinen Helm auf die breite Zeichentafel, an der Ernst lehnte.

»Fräulein Sörrensen liebt mich nicht und will keinem Mann angehören, den sie nicht liebt.«

Ernst fuhr sich aufgeregt durch das Haar und konnte nur mit Mühe seine Fassung bewahren.

»Bettina liebt Sie nicht? Ja, um Himmels willen – warum ist sie dann bei Ihnen gewesen? Was soll das alles heißen?«

»Um Ihnen alles zu erklären, bin ich zu Ihnen gekommen. Auf meine Bitte hat mir Fräulein Sörrensen mein Wort zurückgegeben. Ihnen soll ich alles sagen, denn von Ihnen verkannt zu werden, schien ihr das Bitterste.«

Ernst sah Bühren mit dunklen Blicken an.

»So sprechen Sie, – ich bitte, – sprechen Sie,« stieß er erregt hervor.

Bühren sah den gequälten Ausdruck in den Augen dieses Mannes. Und es wurde ihm nun zur Gewißheit, daß Ernst Aßmann und Bettina Sörrensen sich liebten. Er holte tief Atem und erzählte dann alles, was sich am vergangenen Abend zugetragen hatte, auch, daß Bettina so dringend gewünscht hatte, Ernst zu ihm zu schicken, und ihn nicht gefunden hatte.

Der Baumeister hörte reglos zu, nur in seinen Augen zuckte heißes, flammendes Leben. Zum Schluß sagte Bühren:

»Ich gestehe offen, daß ich auch von dem Wahn befangen war, Fräulein Sörrensen hege ein tieferes Interesse für mich. Gleich Ihnen glaubte ich, so etwas tue eine Frau nur, wenn sie liebt. Aber wir haben beide die schlichte Seelengröße der jungen Dame nicht begreifen können. Aus rein menschlichem Erbarmen ist sie zu mir gekommen, um mich vor dem Schicksal zu behüten, welches ihren Bruder einst betroffen hatte. Mit heißen Wünschen klammerte ich mich ans Leben, das mir plötzlich doppelt hold und schön erschien, als ich Fräulein Sörrensen sah und an ihre Liebe glaubte. Ich nahm das Geld an – sie bat mich so dringend und herzlich darum. Und dabei war sie so ängstlich und unruhig, weil sie wußte, daß sie einen Verstoß gegen die gute Sitte beging. Es war ihr nicht leicht geworden, aber sie hatte sich nicht anders zu helfen gewußt. Ich wollte sie nicht allein in der Dunkelheit nach Hause gehen lassen und begleitete sie. Das ist alles.«

Ernst atmete tief auf und lief aufgeregt hin und her. Schließlich blieb er vor Bühren stehen und drückte ihm die Hand.

»Sie wissen nicht, was Sie mir Gutes getan haben mit dieser Erklärung,« rief er mit bebender Stimme.

Bühren sah ihm ernst und offen in die Augen.

»Doch – ich weiß es. Und weil ich es weiß, will ich Sie bitten, gehen Sie schnell nach Hause. Fräulein Sörrensen braucht Ihren Schutz.«

Ernst fuhr auf.

»Meinen Schutz? Was ist geschehen?«

»Als ich zu Ihren Eltern kam, war bereits Gericht über Fräulein Sörrensen gehalten worden. Ihr Bruder Georg hatte Ihren Eltern gleich heute morgen erzählt, daß Sie die junge Dame mit mir meine Wohnung verlassen sahen.«

Ernst ballte die Hände.

»Er ist ein Waschweib,« knirschte er zornig zwischen den Zähnen hervor. »Aber bitte, sprechen Sie weiter, was geschah?«

»Ihre Frau Mutter verlangte, daß Fräulein Sörrensen das Haus verläßt, und ich fürchte, da sie meine Werbung nicht annahm, wird Ihre Frau Mutter auch jetzt noch darauf bestehen. Ich bat Fräulein Sörrensen, Ihren Eltern alles erklären zu dürfen, aber sie wollte nicht und behauptet, diese Erklärung würde sie nicht entlasten in den Augen Ihrer Eltern. Jedenfalls will sie das Haus verlassen, und da sie annahm, daß zwischen Ihnen und ihr vielleicht kein Wiedersehen mehr stattfinden würde, bat sie mich, Ihnen ihren Dank auszusprechen für alle Güte, und – Sie sollen ihr nicht böse sein, daß sie meine Frau nicht werden kann. Weiter brauche ich Ihnen wohl nichts zu sagen?«

Ernst riß seinen Hut von dem Haken herab.

»Nein – ich weiß genug. Und meinen herzlichsten Dank – aber jetzt muß ich Sie verlassen – Bettina darf nicht fort.«

Damit stürmte er hinaus, unbekümmert, ob ihm Bühren folgte oder nicht. Dieser sah ihm mit trübem Blick nach.

»Der Beneidenswerte – er hat alles, was das Leben zu bieten hat. Einen Beruf, der ihn ausfüllt und ihm Ruhm und Reichtum einbringt, – ererbtes Vermögen, – und nun auch noch die Liebe dieses einzigen Mädchens. Das Schicksal teilt seine Lose recht willkürlich aus,« dachte er wehmütig, als er langsam seine kahle Junggesellenwohnung wieder aufsuchte. Mit freudigem, unruhigem Hoffen war er fortgegangen, vor sich ein rosiges Zukunftsbild. Arm und enttäuscht kehrte er zurück. Grau und nüchtern lagen seine Tage wieder vor ihm. Die ›Armeleutnantsmisere‹ hüllte ihn wieder ein.

*

Ernst kam atemlos zu Hause an. Er trat aufgeregt in das Wohnzimmer, wo sich seine Eltern stumm gegenüber saßen und den Kaffee einnahmen, den sie nach Tisch hier zu trinken pflegten. Georg hatte nur hastig zu Mittag gegessen und war wieder fortgegangen. Er fühlte dunkel, daß er keine glänzende Rolle in der Sache gespielt hatte, und wollte Ernst vorläufig aus dem Wege gehen.

Bei Ernsts unerwartetem Eintritt sahen die Eltern unbehaglich auf.

»Wo ist Bettina?« rief dieser heftig ohne alle Einleitung.

Seine Mutter sah ihn vorwurfsvoll an.

»Aber Ernst – ist das eine Art, einzutreten? Du solltest doch etwas Rücksicht nehmen. Man erschrickt ja.«

Er fuhr sich ungeduldig durchs Haar.

»Verzeihe, Mutter. Aber wo ist Bettina?«

Frau Adolfine machte ein hochmütiges Gesicht.

»Sie hat unser Haus verlassen und ist bereits abgereist. Georg hat uns erzählt, daß sie Bühren in seiner Wohnung besucht hat, und nach diesem konnte ich sie natürlich nicht mehr im Hause dulden.«

»Georg ist ein boshafter Schwätzer,« fuhr Ernst heftig auf.

»Mein Sohn, du solltest dich besser beherrschen und nicht in diesem Tone von deinem Bruder sprechen.«

Ernst bewahrte nur mit Mühe seine Ruhe.

»Wo ist Bettina hingegangen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Das weißt du nicht? Mutter, du läßt das arme Mädchen schutzlos in die Welt hinausgehen und weißt nicht einmal, wohin sie ihre Schritte lenkt?«

Adolfine machte ein unnahbares Gesicht.

»Das arme Mädchen ist eine leichtfertige Person. Außerdem ist sie alt genug, sich selbst zu schützen.«

»Eine leichtfertige Person? Das soll Bettina sein? Nein, Mutter, sie ist ein großherziges, gütiges Geschöpf. In ihrer Herzensgüte und in Angst und Sorge um ein gefährdetes Menschenleben ließ sie sich zu einem Schritt hinreißen, den allerdings die gestrenge Moral verbietet. Sie hat Bühren aufgesucht und ihm das Geld gebracht, das er brauchte, um eine Ehrenschuld einzulösen. Ein Zufall hatte ihr seine Not verraten. Ohne ihre großherzige Tat wäre heute ein junges Menschenleben ausgelöscht gewesen. Sie sah Bührens Schicksal mit vom Leid geschärften Augen vor sich, als sie hörte, daß ihm Vater die Summe verweigerte, die er brauchte. Sie sah ihn gleich ihrem geliebten Bruder mit durchschossener Brust im Geiste vor sich. In ihrer Angst nahm sie von ihrem Gelde und suchte mich auf. Ich sollte es Bühren bringen. Sie fand mich nicht und mußte nun selbst gehen, wollte sie nicht zu spät kommen mit ihrer Hilfe. Schwer genug mag es ihr geworden sein. So – das ist die ›leichtfertige‹ Person, Mutter. Ich kann Bettina nur höher achten dafür.«

Peter Aßmann war blaß geworden bei Ernsts Erklärung. Er fühlte sich nicht ganz schuldlos bei dem Gedanken an Bühren. Hätte er ihm doch helfen sollen?

Frau Adolfine aber blieb unbewegt.

»Das kann ich mir denken,« sagte sie schneidend. »So etwas bewunderst du, solch eine sinnlose Handlungsweise. Wie unweiblich sich Bettina dabei benommen, kommt dir gar nicht zur Einsicht.«

»Unweiblich – Mutter – nennst du das unweiblich? Wäre es dir weiblicher erschienen, sie hätte mit Seelenruhe in der Sicherheit ihres Zimmers die Nachricht abgewartet, daß Bühren sich erschossen hat? Dann hast du einen schlechten Begriff von Weiblichkeit, Mutter.«

Frau Adolfine fuhr empört auf.

»Ich muß sehr bitten, mein Sohn, daß du nicht in diesem Tone zu mir sprichst. Deine Erziehung ist leider durch mancherlei Einflüsse eine sehr mangelhafte geworden, das beweist dein Benehmen. Bettinas Verhalten hat gegen die gute Sitte verstoßen, – aus welchem Grunde ist Nebensache, – und ich dulde zweifelhafte Personen nicht in meiner Umgebung. Übrigens scheint es mir höchste Zeit, daß dieses Mädchen aus dem Hause kommt. Du wirfst dich in einer Weise zu ihrem Ritter auf, die mir nicht unbedenklich erscheint.«

Ernst richtete sich auf und sah die Mutter fest an.

»Ja, ich werfe mich zu ihrem Ritter auf, weil sie unschuldig leidet, und dann auch, weil ich sie liebe. Ich habe die Absicht, sie zu meiner Frau zu machen, wenn sie mich wiederliebt.«

Die Eltern erhoben sich gleichzeitig aus ihren Sesseln und sahen ihn betroffen an. Frau Adolfine wurde ganz blaß. »Du bist von Sinnen,« rief sie, außer sich vor Schrecken.

»Nein, Mutter, ich bin klar und ruhig. Bettina ist mir schon lange lieb und teuer, aber erst seit gestern, seit ich fürchten mußte, daß sie mir verloren war, weiß ich, wie stark und tief meine Liebe zu ihr ist. Ihr Besitz wird mich glücklich machen, und ich hoffe, ihr gebt mir eure Einwilligung.«

»Nie – niemals,« rief Adolfine zornig. »Ein Mädchen, das einen Leutnant in seiner Wohnung besucht, meine Schwiegertochter – nein – nein, das leide ich nicht. Eine Person, die ich aus Gnade und Barmherzigkeit in mein Haus aufgenommen habe und die zum Dank meinem Sohne den Kopf verdreht, nein – niemals gebe ich dazu meine Einwilligung.«

Ernst wandte sich an seinen Vater und sah ihn schmerzlich forschend an.

»Und du, Vater? Du auch nicht?«

Der alte Herr schien mit sich zu kämpfen. Sein Gesicht verriet starke innere Unruhe. Endlich trat er vor seinen Sohn hin und stützte die Hand auf den Tisch. Dann sagte er ruhig:

»Wenn sich alles so verhält, wie du sagst, dann kann ich keine Schuld an Bettina finden. Sie hat ein zu weiches Herz, – bei einem Manne ist das ein Fehler, – bei einer Frau eher das Gegenteil. Wenn Bettinas Besitz zu deinem Glück notwendig ist – meinen Segen hast du.«

»Peter!«

Es war ein wahrer Entsetzensschrei, den Frau Adolfine ausstieß. Ernst aber faßte seines Vaters Hand.

»Vater, lieber Vater,« rief er bewegt.

Seine Mutter stand zitternd und bebend vor Entrüstung vor den beiden Männern.

»Peter, besinne dich doch, das willst du zulassen? Magda Wendheim wartet nur darauf, daß sich Ernst erklärt; die glänzendsten Partien könnte er machen, und du willst gestatten, daß Ernst eine Bettlerin heiratet?«

Peter sah zum erstenmal in seinem Leben seine Frau zornig an. Und diesem Zorn war ein tiefer Schmerz beigemischt.

»Erstens ist Ernst in dem Alter, wo er unsere Einwilligung zu einer Ehe nicht mehr nötig hat. Er würde also gegen unseren Willen heiraten, und ich habe keine Lust, mir meinen Sohn wieder auf Jahre hinaus zu entfremden. Und was Bettinas Armut betrifft – muß ich dir ins Gedächtnis zurückrufen, daß auch du einst ein armes Mädchen warst?«

Adolfine taumelte erbleichend zurück. Ihre Mundwinkel sanken schlaff herab. Sie starrte ihren Mann mit verstörtem Gesichtsausdruck an.

»Das wirfst du mir vor?« stieß sie heiser hervor.

»Ich werfe dir nichts vor. Nur erinnern will ich dich daran, damit du nicht ungerecht bist. Ernst hat es ebensowenig nötig, nach Geld zu heiraten, als ich. Er ist der Mann, durch eigene Tüchtigkeit sein Vermögen zu vergrößern. Ich will nicht sagen, daß es mir unangenehm wäre, wenn er ein reiches Mädchen heiratete. Geld ist Macht, und als Kaufmann verkenne ich diese Macht durchaus nicht. Aber sein Lebensglück ist mir wichtiger als Geld. Bettina ist nichts vorzuwerfen, als eine gutmütige Unbesonnenheit, an der ich mich nicht ganz schuldlos fühle. Hätte ich Bühren das Darlehen bewilligt, das er von mir erbat, dann wäre sie nicht auf den Gedanken gekommen, ihm zu helfen. Das soll mir eine Warnung sein, nicht immer auf meinen Grundsätzen bestehen zu bleiben. Leid hat er mir auch getan, und wenn ich geahnt hätte, daß es ihm an das Leben gehen sollte – dann hätte ich ihn vielleicht nicht gehen lassen ohne Hilfe. Ich glaubte, das schlimmste, was ihn treffen könnte, sei ein schlichter Abschied. Bettina hat infolge ihrer traurigen Erfahrung weiter gesehen als ich. Und kurz und gut – sie ist mir als Schwiegertochter willkommen. Sie ist all die Jahre fleißig, bescheiden und liebenswürdig gewesen. Tante Emma, die eine große Menschenkennerin war, hat sie wert gehalten und lieb gehabt. Ich denke, Adolfine, du bist vernünftig und gibst deinen Widerstand auf, mit dem es dir wohl gar nicht so ernst ist.«

Adolfine hatte fassungslos zugehört. In solchem Tone hatte ihr Mann noch nie mit ihr gesprochen. Und daran war bloß diese Bettina schuld. Ein wilder Grimm gegen das Mädchen stieg in ihr auf.

»Mir scheint, ihr habt euch alle zusammen die Köpfe von der scheinheiligen Person verdrehen lassen,« sagte sie höhnisch. »Ich gebe jedenfalls meine Einwilligung zu dieser Ehe nicht, – es ginge gegen meine Überzeugung. Schlimm genug, daß sie meinen Sohn bestrickt. Daß du gegen mich ihre Partei ergreifst, ist empörend. Ich habe, wie es scheint, nur allein meinen klaren Blick bewahrt.«

Und wie eine beleidigte Königin, die ihre Vasallen in höchster Ungnade verläßt, ging sie zur Tür hinaus.

Vater und Sohn sahen sich stumm in die Augen. Endlich atmete Peter Aßmann tief auf.

»Mutter besinnt sich schon noch, – sie meint es so schlimm nicht. Sie scheint immer härter, als sie ist,« sagte er begütigend.

Ernst begriff, daß der Vater ihm das Verhalten der Mutter in milderem Lichte erscheinen lassen wollte. Er kannte sie aber gut genug, um nicht[???streichen?] zu wissen, daß sie Bettina nie gütig entgegenkommen würde, und er beschloß in dieser Stunde, seine junge Frau – wenn Bettina das erst sein würde – der Mutter möglichst fernzuhalten. Auf keinen Fall würde er mit ihr im elterlichen Hause wohnen. Aber so weit war er leider noch nicht. Er drückte seinem Vater die Hand.

»Ich bin dir so dankbar, lieber Vater.«

Peter lächelte.

»Weißt du, mein Sohn, ich hatte noch eine alte Schuld an dir gut zu machen. Damals hätte ich es nicht leiden sollen, daß du aus dem Hause gingst. Ich denke, wir sind nun quitt.«

Sie schüttelten sich die Hände und sahen sich voll herzlicher Liebe in die Augen.

»Was gedenkst du nun zu tun?« fragte Peter Aßmann nach einer Weile.

»Zuerst muß ich in Erfahrung bringen, wohin sich Bettina gewandt hat. Kannst du mir keinen Fingerzeig geben?«

»Leider nicht. Ich weiß nur, daß sie zwei Uhr dreißig Minuten in der Richtung nach Thüringen abgereist ist. Sie wollte eine Pension in Thüringen aufsuchen.«

»Weiß Mutter Näheres?«

»Nein. Aber Bettina will, wenn sie erst über ihre Zukunft beschlossen hat, ihre Adresse schreiben, damit ihre Sachen nachgeschickt werden können.«

»Das kann lange Wochen dauern. Solange halte ich es nicht aus, in Unruhe über ihr Schicksal zu bleiben. Und Gewißheit will ich haben, ob sie mich liebt.«

Peter Aßmann zuckte die Achseln.

»Da kann ich dir freilich keinen Rat geben.«

Ernst ging sinnend auf und ab. Plötzlich blieb er stehen.

»Ich will zu Bühren gehen, vielleicht hat sie ihm verraten, wohin sie gehen will.«

»Tue das – und Glück auf den Weg.«

Sie trennten sich mit festem Händedruck. – –

Bühren konnte Ernst auch keine Auskunft geben. Mit Bedauern hörte er, daß dieser zu spät gekommen war, Bettinas Abreise zu verhindern. Auch er gab Ernst den Rat, zu warten, bis Bettina ihre Adresse angeben würde. Das war aber gar nicht nach Ernsts ungestümem Sinn. Er fand jetzt nicht eher Ruhe, als bis er wußte, daß Bettina ihn so liebte, wie er von ihr geliebt sein wollte. Und seine Sehnsucht nach ihr wuchs mit jeder Minute, die ihn fern hielt von ihr.

*

Bettina hatte in der [Pension] der Frau Dr. Hartung in Ilmenau Wohnung und freundliche Aufnahme gefunden.

Frau Dr. Hartung war die Witwe eines Arztes, der sich hier einen Wirkungskreis geschaffen hatte.

Bettina war ziemlich spät abends bei ihr eingetroffen und hatte um Aufnahme gebeten. Die alte Dame hatte sich im Laufe der Jahre im Verkehr mit Personen aller Stände eine scharfe Menschenkenntnis angeeignet. Das schlanke blonde Mädchen mit dem traurigen Gesicht und dem schwarzen Kleid gefiel ihr sehr. Sie bekam ein schönes, helles Zimmer mit einem reizenden Ausblick nach dem Kickelhahn, und die alte Dame half ihr selbst, sich wohnlich einzurichten.

Bettina teilte ihr mit, daß sie sich einige Wochen hier aufzuhalten gedenke. Der Pensionspreis war nicht gar zu hoch, wenn er auch bedeutend das überstieg, was Bettina an Zinsen von ihrem kleinen Vermögen zu verbrauchen hatte. Sie tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, daß sie sich später sparsamer einrichten und auf irgendeine Weise noch etwas hinzuverdienen konnte. Vorläufig atmete sie auf, daß sie wieder ein schützendes Dach über ihrem Kopf hatte. Sie war sehr bedrückt und verzagt gewesen auf der Fahrt hierher, und ihr Kopf schmerzte von allem Denken und Sinnen, was nun aus ihr werden sollte.

Sie fand die erste Nacht einen tiefen, festen Schlaf, da sie von allen Aufregungen sehr erschöpft war. Am andern Morgen wurde sie von fröhlich plaudernden Stimmen unter ihrem Fenster geweckt. Sie erhob sich schnell und kleidete sich an. Verstohlen blickte sie durch die Gardinen hinab. Ein hübscher kleiner Garten lag vor ihren Augen. Darinnen saßen an verschiedenen sauber gedeckten Tischen Herren und Damen beim Frühstück. Ihre Pensionsgenossen. – Es waren meist ältere Ehepaare, einige in Begleitung junger Mädchen, und einzelne Damen in verschiedenen Altersstufen. Man rief sich von Tisch zu Tisch freundlich guten Morgen zu und wechselte einige höfliche Redensarten über das Wetter, geplante Ausflüge und ähnliche Allgemeinheiten. Die gewöhnliche Sommerfrischen-Unterhaltung. Für Bettina war das ganz neu – sie kannte ein derartiges Leben und Treiben nicht. Onkel Peter und Tante Adolfine hatten zwar jedes Jahr auf einige Wochen irgend ein Bad oder eine Sommerfrische aufgesucht, aber Großtanting war nie mehr gereist, seit Bettina im Hause war, und so war sie nie mit herausgekommen. –

Als Frau Dr. Hartung später das junge Mädchen in den Garten führte und sie den übrigen Hausgästen vorstellte, richtete sich natürlich aller Aufmerksamkeit auf sie. Bettina war verlegen, als so viele Blicke auf ihrem Gesicht ruhten, aber gerade diese Verlegenheit ließ sie nur um so reizender erscheinen. Die Trauerkleidung tat das übrige. Man kam ihr gleich herzlich und freundlich entgegen und war sehr nett zu ihr. – –

Nun war sie schon länger als acht Tage hier. Man hatte sie verschiedentlich aufgefordert, Ausflüge mitzumachen. Sie war einige Male mit oben auf dem Kickelhahn gewesen, hatte auch einen verträumten Sommernachmittag oben in der Nähe des Goethe-Häuschens auf einer Bank gesessen und ihre traurigen Gedanken in die alte Heimat schweifen lassen, – zu ihm, – den ihre Seele aller Vernunft zum Trotz nicht lassen konnte.

Auch hinüber nach Paulinzella war sie mitgefahren und hatte mit staunenden Augen die Klosterruine betrachtet. Von Paulinzella fuhr man mit der Bahn nach Schwarzburg. Überwältigend und in aller Lieblichkeit bezaubernd erschien ihr das herrliche Landschaftsbild, das sie vom Trippstein aus durch das Fenster der Borkenhütte vor sich sah. Ringsum tiefgrüne Wälder auf den Bergen, und drunten auf einer Hügelinsel das Schloß mit seiner malerischen Wirkung. Um den Schloßberg schmiegte die Schwarza die schlanken, silberhellen Arme. Die springenden Wellchen blitzten im Sonnenschein.

Bettina atmete auf. Wie schön war die Welt! Und rings um sie her fröhliches Lachen und Plaudern, köstliche Daseinsfreude, Herzen, die sich suchten und fanden. Nur sie war allein. – Am liebsten blieb sie auch für sich, nur wenn man sie ganz dringend aufforderte, schloß sie sich den andern an. Waren sie alle fort, dann saß sie still für sich im Garten und ließ ihre Blicke ins Weite schweifen. Oder sie stieg hinauf auf den Kickelhahn, auf den Aussichtsturm, von dem das ganze Panorama des Thüringer Waldes zu übersehen war. Da stand sie und schaute – schaute – bis ihr die Augen brannten.

Da draußen – irgendwo – da weilte er, der ihrem Herzen so teuer war – und den sie nicht vergessen konnte, an den sich all ihre Gedanken klammerten. Vergeblich suchte sie sich davon loszureißen. Sie mußte doch nun ernstlich ihre Zukunft ins Auge fassen. So konnte sie nicht lange weiterleben, erstens weil es zu teuer war, und dann fehlte es ihr auch an einer Tätigkeit, die ihre Zeit ausfüllte, sie in Anspruch nahm, damit sie etwas anderes zu denken hatte, als immer nur das eine.

Eines Tages vertraute sie sich Frau Dr. Hartung an. Sie sagte ihr, daß sie verwaist sei, bis jetzt bei Verwandten gelebt habe und nun versuchen wolle, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie sei im Besitz eines kleinen Kapitals, dessen Zinsen nicht reichten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie wolle auf irgend eine Weise hinzuverdienen. Ob ihr Frau Dr. Hartung einen Rat geben könne.

Die alte Dame hatte ruhig zugehört. Nun sah sie lächelnd in Bettinas Gesicht.

»Hätten Sie Lust, bei mir zu bleiben?«

Das junge Mädchen machte ein verlegenes Gesicht. Schließlich sagte sie aber tapfer:

»Dazu reichen eben leider meine Mittel nicht aus.«

Die alte Dame schüttelte den Kopf.

»Nein – so meine ich es nicht. Sehen Sie, liebes Fräulein Sörrensen, ich werde alt, und manchmal wird es mir ein bißchen viel Arbeit. Zumal im Sommer, wo ich immer das Haus voll Gäste habe. Wenn Sie bei mir bleiben wollten, um mir einen Teil der Arbeit abzunehmen, dann wäre uns vielleicht beiden geholfen. Sie sind mir sympathisch, und ich muß jemand haben, dem ich ganz vertrauen kann. Hohes Gehalt könnte ich Ihnen freilich nicht zahlen, das bringt meine Pension nicht ein, denn im Winter ist stille Zeit. Aber sie hätten doch freien Aufenthalt und ein kleines Taschengeld. Da brauchen Sie am Ende Ihre Zinsen gar nicht auf und können für spätere Tage zurücklegen. Und wenn Sie sich nicht verheiraten sollten aus irgend einem Grunde – vielleicht übernehmen Sie dann nach Jahren das Haus selbst, denn ich bin eben nicht mehr die jüngste. Meine einzige Tochter ist an einen Arzt in Berlin verheiratet – die würde, sterbe ich einmal, froh sein, eine Nachfolgerin für mich zu finden. Überlegen Sie sich das einmal.«

Bettina faßte ihre Hand.

»Da gibt es nichts zu überlegen, Frau Doktor. Gern sage ich ja. Da brauche ich doch nicht weiter zu suchen und zu grübeln, wenn Sie mich wollen – ich bleibe von Herzen gern.«

Die alte Dame lachte.

»Nein – überlegen sollen Sie sich erst alles, so schnell will ich Sie nicht beim Wort nehmen. Bis nächsten Sonntag sollen Sie Bedenkzeit haben. Da bleiben Ihnen noch fünf Tage.«

»Weil Sie es so wollen, soll es so sein. Ich werde mich aber nicht anders bedenken, das weiß ich.«

»Dann soll es mir lieb sein. Aber jetzt entschuldigen Sie mich, Kindchen, ich muß in die Küche.« – – –

Von den fünf Tagen waren schon drei verstrichen. Bei Bettina stand es fest, daß sie das Anerbieten von Frau Doktor Hartung annehmen wollte. Es war ein heißer, schwüler Sommertag. Das junge Mädchen saß in ihrem Zimmer am offenen Fenster mit einer Handarbeit beschäftigt. Da kam das freundliche Zimmermädchen zu ihr herein und meldete, daß ein Herr im Besuchszimmer auf sie warte. Bettina erschrak und sprang empor.

»Ein Herr?«

»Ja, gnädiges Fräulein.«

»Er verlangt mich zu sprechen?«

»Ja, gewiß, Fräulein Sörrensen. Ob Sie hier wohnen und ob Sie zu Hause seien, fragte er.«

»Und sein Name?«

»Den habe ich nicht verstanden. Der Herr sprach sehr undeutlich, und ich wollte nicht noch einmal fragen.«

Daß ihr der Herr ein festes rundes Etwas in die Hand gedrückt und ihr gesagt hatte: »Meinen Namen brauchen Sie nicht zu nennen, ich will Fräulein Sörrensen überraschen, sie ist eine Verwandte von mir,« das verriet das Mädchen nicht.

Bettinas Herz klopfte unruhig. Wer mochte sie sprechen wollen? Hier kannte sie doch niemand als ihre Pensionsgenossen. Und von daheim? Onkel Peter? Oder Bühren? Oder gar – er – Ernst? Ach nein – nein – die wußten ja alle nicht, wo sie war. Wie töricht von ihr, so zu erschrecken – wer weiß – irgend ein fremder – ein gleichgültiger Mensch in einer ebensolchen Angelegenheit.

Sie ging langsam hinüber in das Besuchszimmer und öffnete die Tür. Und da flog ein Zittern über ihre Gestalt. Kaum vermochte sie die Tür hinter sich zuzuziehen. Vor ihr stand Ernst.

Eine Weile sahen sie sich reglos an. Dann trat er mit einem tiefen, befreienden Atemzug auf sie zu und faßte ihre Hände.

»Endlich habe ich dich gefunden, Bettina.«

Es lag ein Ausdruck in seinen Worten, der sie erbeben machte und ihr glühende Röte in das Gesicht trieb. Und seine Augen sahen sie so seltsam heiß und dringend an.

»Bettina – warum gingst du, ohne mir Lebewohl zu sagen? Warum ließest du mich nicht wenigstens wissen, wohin du gegangen?«

Sie sah ihn zagend an. »Ich fürchtete, du wärst mir böse und wolltest nichts mehr von mir wissen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum sollte ich dir böse sein? Ich wußte doch, daß du schuldlos warst.«

»Weil ich nicht Bührens Frau werden wollte. Du hattest es so gut gemeint mit mir. Aber ich konnte nicht.« Er sah sie wieder lange und mit heißem Forschen an.

»Du – du – sag' mir doch – warum wolltest du Bührens Frau nicht werden?«

Sie erschauerte und sah von ihm fort.

»Ich – ich konnte nicht – ich liebe ihn nicht.«

Er faßte ihre Hände wieder und zog sie dicht an sich heran.

»Weil du einen andern liebst, Bettina. Ist es so?«

Sie wollte ihre Hände befreien.

»Nein – nein – laß mich doch,« bat sie leise.

Aber er hielt sie fest, ihre holde Verwirrung weckte jubelndes Hoffen in ihm.

»Du – sieh mich an – sieh mir in die Augen und sag' es mir noch einmal, daß du keinen andern liebst,« bat er mit gepreßter Stimme.

Sie sah hilflos, bezwungen zu ihm auf, eine heiße Bitte um Schonung in den Augen.

Da umfaßte er sie fest und zog sie in seine Arme.

»Bettina – liebst du mich? Willst du mein inniggeliebtes Weib werden?«

Der Vollklang der Liebe tönte aus seinen Worten. Da ging das leise Widerstreben ihrer Gestalt in haltlose Schmiegsamkeit über. Sie sah ihn an mit einem Blick, der all ihre schrankenlose Liebe verriet.

»Ich hab' dich so lieb – so lieb,« sagte sie leise, willenlos.

Da preßte er seine Lippen auf die ihren.

»Mein Lieb – meine Bettina – mein Weib.«

Sie schloß unter seinem leidenschaftlichen Blick die Augen, und ihre Hände glitten leise über sein Gesicht, ihm die Lider schließend.

»Bist du mein?« fragte er selig und hielt sie fest – fest an seinem Herzen. Sie drängte sich ihm entgegen im Übermaß seligen Empfindens.

»Dein – ich könnte sterben an meiner Liebe.«

Da riß er sie empor in ungestümer Wonne, daß ihr in jähem, süßem Erschrecken fast die Sinne schwanden.

»Du – du.«

Das Mädchen erschauerte vor der Liebesfülle, die diese beiden kleinen Worte bargen. Jubelndes Glück, freudiger Stolz und das instinktive Zagen des liebenden Weibes erfüllten ihre Seele. Still-selig erwiderte sie seine Küsse in scheuer, aber heißer Zärtlichkeit.

Endlich löste sie sich errötend aus seinen Armen und strich sich ordnend über das gelockerte Haar. Jetzt erst kam ihr voll zum Bewußtsein, was geschehen war.

»Wie hast du mich gefunden, Ernst?« fragte sie leise.

Er zog mit übermütigem Lachen ein Zeitungsblatt aus der Tasche.

»Hier ist der Verräter, Liebste. Dies Blatt fand ich vor der Tür deines Zimmers, als man es gestern aufräumte. Und da las ich die Anzeige, die dir wahrscheinlich den Weg hierher auch gezeigt hat. Ich war schon ganz verzweifelt, daß ich deine Spur nicht fand. Das Warten fiel mir so schwer – es war ja nie meine starke Seite. Und nun hatte ich einen Fingerzeig. Wie ich ging und stand, bin ich zum Bahnhof gegangen – und nun habe ich dich und halte dich. Ach Mädchen – du weißt nicht, wie lieb ich dich hab'. Hast du es denn nie gemerkt?«

Sie schüttelte verträumt den Kopf.

»Nein – ich glaubte, du fühltest nur Mitleid für mich.«

Er preßte sie wieder fest an sich und küßte ihren zuckenden Mund.

»Du – sieht so Mitleid aus?«

Sie lächelte glücklich.

»Nein – nein. Das ist Liebe – ach – ich liebe dich schon lange – ich glaube, schon ehe ich dich kannte. Wenn ich mit Großtanting von dir sprach, klopfte mir das Herz immer so stark.«

Er lachte glücklich.

»Süßer blonder Schatz! Wenn uns Großtanting jetzt sehen könnte! Glaubst du nicht, daß sie sich freute?«

Bettina machte plötzlich ein ängstliches Gesicht.

»Großtanting? O ja – die wohl. Aber deine Eltern – ach Ernst, deine Eltern, deine Eltern, was werden die sagen, wenn sie hören, daß du mich heiraten willst.«

Er strich ihr zärtlich das Haar aus der Stirn.

»Kleiner Furchthase, bist du schon wieder bange. Meine Eltern wissen schon, daß du meine Frau wirst.«

Sie sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an.

»Sie wissen es schon? Ach Gott – da sind sie gewiß sehr böse.«

Er lachte.

»Kleines Mädel, nicht bange sein, jetzt stehe ich neben dir, und kein böses Wort, kein strenger Blick soll dich mehr kränken. Übrigens sei ruhig – meines Vaters Einwilligung habe ich schon, er gibt uns seinen Segen. Mutter schmollt noch – sie wollte mich durchaus nach ihrem Sinn unter die Haube bringen, aber wenn sie sieht, daß all ihr Schmollen nicht hilft, wird sie schon vernünftig sein. Und wenn nicht – so ist sie mehr im Verlust, als ich. Wahrscheinlich werden wir uns in Berlin ein Heim gründen, dort bin ich besser am Platze als zu Hause. Und wenn Mutter sich nicht gut zu dir stellt, so ist es ihr eigener Schaden. Wir zwei sind uns ja selbst genug. Oder nicht?«

Sie schmiegte sich in seine Arme.

»Du bist meine Welt. Kann es denn wahr sein, gibt es solch ein Glück für mich?«

Er lachte.

»Du – wer weiß, ob das ein so großes Glück für dich ist. Ich bin ein wilder, ungebärdiger Gesell, ungestüm und voller Ansprüche. Alles will ich dir sein – mit niemand und nichts deine Liebe teilen – ich werde dich gar noch quälen mit meiner Liebe. Wird dir nicht angst, furchtsames kleines Mädel?«

Sie lachte glücklich.

»Quäle mich nur, – du – ich kann ja sonst die Größe meines Glückes gar nicht fassen.«

»Und weißt ganz genau, daß du mich trotz meiner Ungebärdigkeit um den Finger wickeln kannst, wenn du mich so ansiehst, wie eben jetzt.«

Lange saßen sie dann plaudernd beisammen, bis sich Bettina besann, daß sie Ernst Frau Dr. Hartung vorstellen und ihr mitteilen mußte, daß sie sich verlobt habe.

Die alte Dame wurde gerufen und hörte die Mitteilung lächelnd an. Sie beglückwünschte das Brautpaar freundlich und sagte dann scherzend:

»Sehen Sie, Fräulein Sörrensen, es war doch gut, daß ich Ihnen Bedenkzeit ließ.«

Bettina faßte Ernsts Hand.

»An solch einen Zwischenfall dachte ich freilich nicht,« sagte sie neckend.

Ernst blieb bis zum Abend. Er hatte noch allerlei mit Bettina zu besprechen wegen der gemeinsamen Zukunft. Bettina sollte vorläufig ruhig bei Frau Dr. Hartung bleiben. Er wollte, wenn es irgend einzurichten war, jeden Sonntag nach Ilmenau kommen, trotz der langen Eisenbahnfahrt. Zur Not fuhr er jedesmal mit dem Nachtzug zurück. Jedenfalls hielt er jetzt eine lange Trennung von Bettina für eine Unmöglichkeit. Auf eine lange Verlobungszeit wollte er sich überhaupt nicht einlassen. Sobald er die notwendigsten Vorarbeiten für den Theaterneubau abgeschlossen hatte, wollte er heiraten. Inzwischen würde er in Berlin eine passende Wohnung suchen und sie für sein junges Weib traulich einrichten. –

»Du sollst dich so wohl und heimisch darinnen fühlen, daß du dich nie daraus fortsehnst,« sagte er zärtlich.

»Das würde ohnedies nie geschehen, wenn du bei mir bist,« erwiderte sie und schmiegte sich wohlig in seine Arme.

*

Im September war die Hochzeit. Frau Adolfine grollte noch immer, aber Peters dringende Ermahnungen hatten doch erreicht, daß sie die Hochzeitsfeier im eigenen Hause veranstaltete – der Leute wegen. Man glaubte in Aßmanns Bekanntenkreisen, Bettina sei fortgegangen, weil sie als Ernsts Braut doch nicht mit ihm in einem Hause leben konnte. Diese Lesart hatte Peter verbreitet, um allem Gerede auszuweichen.

So kehrte Bettina noch einmal in das alte Patrizierhaus am Fluß zurück, diesmal als der Mittelpunkt der festlichen Veranstaltung. Frau Adolfine sprach nur mit ihr in Gegenwart anderer Menschen, und Georg hatte ein unausstehlich boshaftes Lächeln für sie, wenn Ernst nicht an ihrer Seite war.

Dafür war Peter Aßmann doppelt herzlich und lieb zu seiner Schwiegertochter.

Bettina nahm auch all die kleinen Bitterkeiten gern mit in den Kauf. Ihr junges Herz wäre wohl sonst nicht imstande gewesen, die Glücksfülle zu bergen. Sie sah holdselig und lieblich aus in dem weißen Kleide von weicher Seide. Auch heute trug sie Großtantings ›Talisman‹ unter ihrem Kleide.

»Er hat dich zu mir geführt, ganz sicher,« sagte sie zu Ernst, als er sie nach der Trauung einige Augenblicke für sich allein hatte.

Er nickte und sah entzückt in ihr liebes Gesicht.

»Du – Liebste – jetzt bin ich froh, wenn wir diese Feier glücklich hinter uns haben. Solch ein Hochzeitsschmaus ist doch eine gräßliche Veranstaltung, zumal für das Brautpaar.«

Sie führte seine Hand schmeichelnd an ihre Wange.

»Auch das geht vorüber.«

Er umschlang sie mit leidenschaftlicher Innigkeit, und sie sahen sich stumm in die strahlenden Augen. –

Für Frau Adolfine brachte dieser Tag doch noch eine kleine Genugtuung. Georgs Verlobung mit Fräulein Elina Hagemann wurde bei der Tafel verkündet. Das war ein kleiner Trost auf die Wunde, die ihrem Stolz geschlagen worden war.

Magda Wendheim befand sich trotz ihrer getäuschten Hoffnung als Gast bei der Feier. Sie flirtete sehr auffällig mit einem Kameraden Bührens. Auch dieser war zugegen, und Ernst und Bettina plauderten eine lange Zeit herzlich und freundschaftlich mit ihm. Er gab sich auch alle Mühe, heiter zu scheinen, so schwer es ihm fiel, angesichts des hellen Glückes, das aus der beiden Menschen Antlitz leuchtete.

Als Ernst mit Bettina abends zur Bahn fuhr, zog er sie fest in seine Arme.

»Froh bin ich doch, daß wir Bühren nicht oft begegnen müssen. Du sollst mir allein gehören – mir ganz allein – auch nicht einen Gedanken sollst du an ihn verschwenden, denn er liebt dich.«

Bettina preßte seine Hand an ihr Herz.

»Du Unband.«

»Siehst du – jetzt geht die Not schon los,« neckte er.

Sie küßte verstohlen seine Hand.

»O – die große, große Not. Liebster, die will ich selig leiden.«

Innig umschlungen fuhren sie dem Glück entgegen.

 

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